"Landschaft wird zur flirrenden Inszenierung der Existenz, zum Panorama der Ängste".1 Zum Naturbild im Werk von Herta Müller

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pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXI (2021), Peter Lang, Bern | H. 2, S. 125–146
Yang Yu

„Landschaft wird zur flirrenden Inszenierung der Existenz,
zum Panorama der Ängste“.1
Zum Naturbild im Werk von Herta Müller

Seit dem Entstehen des Ecocriticisms im anglo-amerikanischen Raum in den 1970er Jahren
und seiner Rezeption sowie Weiterentwicklung durch die kulturwissenschaftliche Aus-
arbeitung in der Germanistik erlebt die Beziehung zwischen Mensch und Natur, zwischen
Kultur und physischer Umwelt eine Hochkonjunktur in der Forschung.2 Die ökologisch
orientierte Literaturwissenschaft erweitert ihren Untersuchungsbereich von nicht-fiktiven
Texten – „nature writing“ – auf die gesamte Literatur und fokussiert thematisch „den ge-
samten Planeten Erde, seine Zukunft und damit das Überleben der Menschheit“.3 Auch
methodisch zeichnet sich der Ecocriticism durch Pluralität aus, indem er Bezug auf diverse
theoretische Vorgehensweisen, wie feministische, postkoloniale, soziologische, anthropo-
logische, phänomenologische oder naturwissenschaftliche Ansätze u. a., nimmt.4
   Gerade vor diesem Hintergrund hebt sich die Behandlung der Naturthematik im Werk
Herta Müllers von der anderer zeitgenössischer Autoren ab. Weder geht es ihr dabei in erster
Linie um die Reflexion der ökologischen Krise, wie sie Günter Grass im Roman Die Rättin
(1986) in einem apokalyptischen Szenario vorführt und dadurch die Konsequenzen der Dia-
lektik der Aufklärung in der Tradition der Modernitätskritik darlegt, noch stehen bei Müller
die geschlechtliche Codierung der Natur sowie die Parallelisierung der Dominanzverhält-
nisse Mensch – Natur und Mann – Frau im Vordergrund wie in der Erzählung Kassandra
(1983) von Christa Wolf. Zwar weisen die Naturdarstellungen in ihren Texten eine politische
Dimension auf, diese jedoch wurzelt in ihrer Erfahrung mit der diktatorischen Herrschaft
in Rumänien, rekurriert also nicht auf Das Prinzip Verantwortung (1979) gegenüber der
Um- und Nachwelt im Sinne von Hans Jonas oder auf den Anspruch aller Menschen auf
eine gesunde Umwelt im Sinne des Environmental Justice Ecocriticism, der sich für die Be-
seitigung sozialer Ungleichheiten im Hinblick auf Klassen, Nationen oder Staaten einsetzt.5
1 Müller (2003, 173): Der König verneigt sich und tötet (fortan zitiert unter der Sigle K mit Seitenzahl).
2 Die Etablierung und Verbreitung des Ecocriticism als neuerer Literaturtheorie erkennt man an der inzwischen
  kaum noch überschaubaren einschlägigen Forschungsliteratur und dem Erscheinen einer Reihe von Einfüh-
  rungen, Monographien, Grundlagenwerken und Anthologien in den letzten Jahren. Um nur ein paar Beispiele
  zu nennen: Garrard (2014), Clark (2011), Coupe (2000), Glotfelty, Fromm (1996). In der Germanistik
  tragen vor allem die Werke von Böhme, Goodbody und Bühler zur Anerkennung und Achtung des Ecocriticism
  bei, siehe z. B. Böhme (1988), Goodbody (1998, 2007), Bühler (2016). Sie bemühen sich vor allem um die
  Integration dieser neueren Forschungsrichtung in die Arbeitsfelder der Kulturwissenschaft, wie Bühler in der
  Einleitung seines Buchs herausstreicht: „Der Ecocriticism erweist sich […], und das ist eine Grundthese dieser
  Einführung, als Paradigma für eine kulturwissenschaftlich erweiterte Germanistik“ (Bühler [2016, X]).
3 Bühler (2016, 27).
4 Goodbody und Rigby bemerken z. B., die von ihnen herausgegebenen ökokritischen Beiträge „explore approaches
  ranging from Russian structuralism to German phenomenology, from British Marxism to French feminism,
  from poststructuralism and reception theory to chaos theory and biosemiotics“ (Goodbody, Rigby [2011, 3]).
5 Vgl. Bühler (2016, 41).

© 2021 Yang Yu - http://doi.org/10.3726/92169_125 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0
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Der Dualismus von Land und Stadt liegt Müller ebenso fern wie der Wechsel zwischen öko-
logischer Utopie und Dystopie, den die umweltbezogene Literatur sonst häufig thematisiert.
    Dennoch ist es unübersehbar, dass die Naturdarstellungen bereits in Müllers Debüt
Niederungen eine tragende Rolle spielen und eine gewichtige Stellung sowohl in ihren litera-
rischen als auch essayistischen Texten einnehmen. Die Immer-Wiederkehr der Naturmotivik
in ihren Erzählungen, Romanen wie ihrer autobiographisch ausgerichteten Autorpoetik
belegt einerseits den engen Zusammenhang zwischen Lebenswirklichkeit und Kunstwerk,
andererseits verweist sie auf den traumatischen Charakter6 der Müller’schen Naturerleb-
nisse, die durch ihre Extremität bzw. Eindimensionalität, d. h. unverkennbar pejorative
Konnotationen, auffallen. Noch in ihrem neuesten Essayband Immer derselbe Schnee und
immer derselbe Onkel (2011) pointiert Müller die Signifikanz bzw. nachhaltige Wirkung der
ersten Naturbegegnung7 für ihre Erkenntnis über sich und die Welt: „Die Landschaft der
Kindheit legt Spuren für den Landschaftsblick aller weiteren Jahre. Die Kindheitslandschaft
sozialisiert ohne Hinweis. Sie schleicht sich in uns hinein.“8 De facto ist ihr episches sowie
lyrisches Werk durchzogen von Naturbeschreibungen, die immer wieder das Kernthema
ihres literarischen Schaffens – existenzielle Angst – variieren.
    Aus ihrer Naturbegegnung ergibt sich Müllers Einsicht, dass die Natur ein angstbesetztes
Zeichen des Todes abgibt, das die Vergänglichkeit und unaufhebbare Fremderfahrung des
Menschen auf der Welt spiegelt. Sie nimmt all dies als Zeichen für Realität und bringt
folglich das Todesmotiv wiederholt anhand der Naturmetaphorik in ihren Texten zum
Ausdruck (I.). Ferner wird der Natur eine politisch-ethische Dimension verliehen, indem
sie der herrschenden Macht zur Beherrschung und Überwachung des Einzelnen verhilft
und sich gegenüber dem menschlichen Elend indifferent verhält (II.). Das Naturbild trägt
nicht nur maßgeblich zu Müllers Thematik, sondern auch zur Entwicklung ihrer poeto-
logischen Prinzipien bei. An ihm kristallisieren sich die Motivation und Zielsetzung ihres
literarischen Schaffens sowie die Charakteristika der literarischen Sprache heraus (III.).
Kurzum: Ihre Einstellung zur Natur wird eins mit ihrer Weltanschauung und beeinflusst
weiterhin ihr politisches sowie literarisches Selbstverständnis. Als durchgreifendes Thema
gewährt uns die Naturdarstellung einen Einblick in die innere Kohärenz bzw. Intratext-
ualität von Müllers Werken.

6   Wie Lyn Marven mit Recht feststellt, besitzt die Wiederholung bestimmter Erinnerungen in Müllers literari-
    schen und essayistischen Arbeit traumatische Züge, die allerdings auf die politische Verfolgung zurückzuführen
    seien: „The reiteration marks these [memories] as traumatic, recurring images […][.] The imbrication of life and
    writing in Müller’s case is, moreover, intimately linked to the traumas under the Ceauşescu regime” (Marven
    [2013, 209]).
7   Der Begriff „Natur“ wird in der vorliegenden Untersuchung im weiteren Sinne verwendet. Er bezieht sich sowohl
    auf die von der menschlichen Existenz und Entwicklung unabhängige organische und unorganische Welt wie
    Pflanzen, Tiere oder Heide als auch auf die im gewissen Grade kultivierte, zivilisierte Natur wie Ackerland oder
    Garten.
8   Müller (2011, 128): Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel (fortan zitiert unter der Sigle S mit
    Seitenzahl).

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I. Natur und die existentielle Angst. Im Essay Wie Wahrnehmung sich erfindet (1991) nimmt
Müller das besondere Erkenntnisvermögen der Kinder, die Welt intuitiv zu erfassen, in
den Blick und hebt deren außergewöhnliche Exaktheit hervor:

       Weil man als Kind so klein ist, sucht man sich, um die Welt zu begreifen, die gröbsten Maschen
       aus. Und weil es die gröbsten Maschen sind, sind es immer auch die feinsten. Es ist eine Verkürzung
       der Dinge, die keine Maßstäbe hat und auch keine braucht. Eine verblüffende Eigentlichkeit, die
       die Welt zu dem macht, was hinter der Stirn geschieht.9

Die Kinder versuchen nicht mithilfe von „Maßstäben“ wie Logik, Begrifflichkeit, Urteilen
und sogar Sprachen, sondern anhand der gröbsten und feinsten „Maschen“, d. h. der Ima-
ginationen und Gefühle, die Welt zu verstehen. Diese Gefühle sind gerade bei Kindern „so
konkret wie der Körper selbst“10 und helfen ihnen, eine unsagbare, emotionale Verbindung
mit der Welt herzustellen. Mit dieser „Verkürzung der Dinge“ und „verblüffende[n] Eigent-
lichkeit“ nähern sie sich der Essenz der Welt an. Das Medium, das Müller das Wesen der
Welt bzw. das eigene Verhältnis dazu nahebringt, ist eben die Natur. Ihre Heimat Nitzkydorf
befindet sich in der Tiefebene Rumäniens. Die meiste Zeit ihrer Kindheit verbrachte sie in
den „riesigen sozialistischen Maisfelder[n]“ (V, 7) oder am Flusstal, wo sie die Rinder hütete.
Dennoch verschaffte ihr der tagtägliche Umgang mit der Natur und scheinbar idyllischen
Landschaft nie Nähe und Geborgenheit, weder Sinn für Harmonie noch für Schönheit.
Sie „haßte das sture Feld“, wie sie sich in der Vorlesung der Tübinger Poetikdozentur mit
dem Titel In jeder Sprache sitzen andere Augen (2001) zurückerinnerte:

       [J]eder Acker war das randlos ausgebreitete Panoptikum der Todesarten, ein blühender Leichen-
       schmaus. Jede Landschaft übte den Tod. Blumen ahmten die Hälse, Nasen, Augen, Lippen, Zun-
       gen, Finger, Näbel, Brustwarzen der Menschen nach, gaben keine Ruhe, liehen sich wachsgelb,
       kalkweiß, blutrot oder fleckenblau die Körperteile aus, vergeudeten, mit Grün gepaart, was ihnen
       nicht gehörte. Den Toten zogen diese Farben dann durch die Haut, wie sie wollten […]. Ich kannte
       vom Besuch der Toten die blauen Fingernägel, den gelben Knorpel in grünlichen Ohrläppchen,
       wo die Pflanzen schon die Zähne drin haben, ungeduldig mit der Verwesungsarbeit loslegen […].
       Ich sah immer, daß das Feld mich nur ernährt, weil es mich später fressen will. Es blieb mir ein
       Rätsel, wie man sein Leben einer Umgebung anvertrauen kann, die einem auf Schritt und Tritt
       zeigt, daß man ein Kandidat fürs Panoptikum des Sterbens ist. (K, 12 f.)

Der Mensch und die Natur sind also in einem reziproken Verhältnis miteinander verwo-
ben. Die Todesdrohung und die Feindseligkeit der Welt sind aus der Natur herauszulesen
– Müller erlebt den „Ur-Sprung“ im Sinne von Walter Benjamin, also den ersten Sprung,
den Bruch mit und den Riss in der Welt,11 wie sie es später in ihrer Zürcher Poetikvorlesung
Gelber Mais und keine Zeit (2007) vorführt:

       Kindheitslandschaften sind die ersten großen Bilder, die uns mit unserem Körper konfrontieren.
       Wir sind winzig und spüren, dass unser Fleisch ein vergängliches Material ist. Landschaften zeigen
       uns schon als Kind diese Vergänglichkeit. Als Kind hat man zum Glück so ein Wort nicht. Dennoch

 9 Müller (1991, 11): Der Teufel sitzt im Spiegel (fortan zitiert unter der Sigle T mit Seitenzahl).
10 Müller (2014, 10): Mein Vaterland war ein Apfelkern (fortan zitiert unter der Sigle V mit Seitenzahl).
11 Vgl. Menke (2011, 211).

Peter Lang                                                           Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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        spürt man dieses Wort, ohne es zu kennen. Man steht in der Ungleichheit. Das Landschaftsbild
        meiner Kindheit ist die erste große Niederlage, die ich kenne. Die ungleiche Beschaffenheit hat
        sich gezeigt. Allein in der Landschaft hab ich mich oft gefürchtet. Die Landschaft ist die erste
        große grundlose Ausweglosigkeit, an die ich mich erinnern kann. (S, 128)

Den dargestellten Kindheitserlebnissen von Müller in den angeführten zwei Ausschnitten
ist zu entnehmen, dass ihre Erfahrungen in und mit der Natur maßgebend auf ihre späte
Thematik einwirken:
    1. Die Natur signalisiert ihr das Telos bzw. Wesen der menschlichen Existenz, nämlich
die „große grundlose Ausweglosigkeit“, den Tod, dem man wehrlos ausgesetzt ist und der
überwältigend, rätselhaft bleiben wird. Die Todesangst als zentrales Motiv wird in der
Müller-Forschung zumeist politisch begründet und aus ihren Erlebnissen im repressiven
banat-schwäbischen Dorf und später im diktatorischen Regime abgeleitet, findet jedoch
de facto ihren ersten Niederschlag in ihrer Naturbegegnung während der Kindheit, die
dezidiert und permanent ihre Auffassung von Welt und Menschen prägt. Im Gespräch mit
Klammer verweist Müller ausdrücklich darauf hin, dass sie bis dato die Menschentypen
nach der Art unterscheide, „wie sie Landschaft spüren“ (V, 8), weil es die Art und Weise
bestimme, wie man sich und die Welt verstehe und behandele. Landschaften fungieren für
sie als Koordinaten zur Selbstverortung und als Mittel zur Selbstkenntnis und -reflexion:

        Pflanzen definieren für mich einen Ort, bis heute. Es ist ja nicht egal, was an einem Ort wächst. So
        wie es nicht egal ist, ob jemand aus einer Gebirgsgegend kommt oder aus dem Flachland oder ob
        er an einem Meer aufgewachsen ist. Die Landschaft ist das erste Bild, das uns – auch unbewusst –
        schon im Kindesalter existentiell infrage stellt. An diesem Bild prüfen wir, wer wir sind. (V, 216 f.)

In der Topographie spiegelt sich nicht nur die individuelle Weltanschauung, sondern auch
die Verunsicherung und Bedrohung der eigenen Existenz wider. Die Natursicht ist hier
ontologisch wie epistemologisch von fundamentaler Bedeutung.
   2. Die Natur veranschaulicht die Kurzlebigkeit und Fragilität des Menschen, konfron-
tiert ihn mit seinem Körper, dem vergänglichen Fleisch und begrenzten Dasein. Während
Goethe in der Natur die grenzenlose Produktivität und Vitalität, also die natura naturans,
sieht12 und bewundernd bemerkt: „Aus der Natur, nach welcher Seite hin man schaue,
entspringt Unendliches“,13 nimmt Müller allzu schaudernd diese Unendlichkeit der Natur
zur Kenntnis, weil sie die „Endlichkeit“ und Sterblichkeit des Menschen demonstrativ zur
Schau stellt: „Du siehst [in der Natur] deine ganze Endlichkeit“. (V, 10) Das Thema der
Endlichkeit geht seitdem bei ihr immer mit der Todesthematik einher.
   3. In der Naturbegegnung wird von Müller nachdrücklich auf die Unvereinbarkeit von
Mensch und Natur, auf das Fremdsein und -bleiben des Menschen verwiesen: „Ich bin
ständig mit diesen Pflanzen allein und gehöre noch immer nicht dazu. Ich bleibe fremd
und bin für sie schwer zu ertragen“. (V, 10) Der winzige und vergängliche Mensch und die
gewaltige und unendliche Natur stehen in einem fixen, ungleichen, diametralen Verhältnis

12 Vgl. Goethe (1998, 369).
13 Goethe (1998, 365).

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zueinander. Das Scheitern aller Versuche, diesen antagonistischen Widerspruch beizulegen
und beide Parteien in Eintracht zu bringen, ist geradezu prädestiniert.
   Im Folgenden wird anhand der oben genannten drei Aspekte vorgeführt, wie Müller in
der Naturmetaphorik das zentrale Todesmotiv mit all seinen Variationen durchspielt. Für sie
werden die Natur und Landschaft „zur flirrenden Inszenierung der Existenz, zum Panorama
der Ängste“ (K, 173), und folglich wird das Todesmotiv in ihren Werken vielschichtig in
den Naturdarstellungen behandelt oder mit ihnen kombiniert. Die Natur wird als Vorlage
oder Personifikation des Todes eingesetzt. Aus dem polymorphen semantischen Gebilde
der Pflanzen- und Tierwelt sticht vornehmlich ihre Funktion als Todessymbole und -träger
heraus. Im Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992) kommt z. B. mehrmals
„Distelflaum“ vor, der für die Kissen der Toten verwendet wird, vergleichbar der „faule[n]
Birne“ in den Erzählungen Niederungen (1984), die einen starken Geruch der Verwesung
ausstrahlt.14„In den roten Dahlienblättern“ sieht die Protagonistin Adina im ersteren Roman
„das Blut der Melonen“,15 das wiederum auf die Menstruationsblutung und Schmerzen, auf
den Kreislauf von Leben und Tod anspielt.16 Durch die Wortauswahl „rot“, „Blut“, die Vor-
stellung von der unerträglichen Schwere der Melonen sowie die symbolträchtigen Dahlien
wird die Assoziation mit dem Tod unwillkürlich heraufbeschworen bzw. bekräftigt. In der
Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt (1986) kommen abermals die bei-
den Sinnbilder „Dahlien“ und „Melonen“ parallel zum Vorschein: Im Garten des Tischlers
„blühte eine weiße Dahlie“, „die Mutter des Tischlers roch an der Dahlie. Sie roch sehr lange
an den weißen Blättern. Sie atmete die Dahlie ein“. Bildlich saugtsie so den verführerischen
und sinisteren Tod ein, der ihr seither anhaftet: „[I]n ihren Augen war etwas von der Dahlie
gewesen“. Dem entspricht die Einschätzung des Tischlers: „Die Dahlie ist ihr Verhängnis
gewesen“.17 Kurz vor ihrem Tod vollbringt seine Mutter zwei rituell anmutende Vorgänge,
um ihre Angst, ihren Hass und ihre Rebellion gegenüber dem Tod zur Schau zu stellen:
Zunächst hat sie „die weiße Dahlie mit dem großen Messer geschnitten“ und begraben, und
im Folgenden wird mit demselben Messer eine Melone „geschlachtet“:

       Sie stach mit der Messerspitze in die grüne Schale. Sie drehte den Arm mit dem großen Messer im
       Kreis und schnitt die Melone in der Mitte durch. Die Melone krachte. Es war ein Röcheln. Die
       Melone hatte […], bis ihre beiden Hälften auseinanderfielen, noch gelebt[,] […] der Saft tropfte
       von der Messerschneide. Ihre Augen schauten klein und gehässig auf das rote Fleisch […][,] mit
       der Messerspitze bohrte sie das rote Fleisch heraus […][,] das rote Wasser hatte über den Küchen-
       tisch getropft. Tropfte ihr aus den Mundwinkeln. Tropfte ihr an den Ellbogen herunter. (M, 14)

„Messer“, „stechen“, „bohren“, „krachen“, „röcheln“, die jeweils wiederholte Betonung vom
„roten Fleisch“ und „roten Wasser“ illustrieren den blutigen, mörderischen Akt, durch

14 Vgl. Müller (2010a, 104–112): Niederungen (fortan zitiert unter der Sigle N mit Seitenzahl).
15 Müller (2009b, 85): Der Fuchs war damals schon der Jäger (fortan zitiert unter der Sigle F mit Seitenzahl).
16 An einer anderen Stelle im Buch wird „das Blut der Melonen“ genauer expliziert: „Wenn die Frauen Watte
   zwischen den Schenkeln tragen, haben sie das Blut der Melonen im Bauch. Jeden Monat die Tage der Melonen
   und das Gewicht der Melonen, es schmerzt.“ (F, 77)
17 Müller (2009c, 13): Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt (fortan zitiert unter der Sigle M mit
   Seitenzahl).

Peter Lang                                                         Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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den sich des Tischlers Mutter ihrem eigenen fatalen, unabwendbaren Ende zu widersetzen
trachtet und an den Dahlien und der Melone rächt, in denen sie ihren morbiden, im Verfall
begriffenen Zustand und die Fresslust der Flora erkennt. Trotz des starken (Über)Lebens-
willens – „Sie hat die süchtigsten Augen gehabt“ (M, 14) – erliegt sie der Pflanzenwelt und
wird letztendlich zu deren Speise. Aus demselben Grund will die Protagonistin im Roman
Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (1997) das Grab ihrer besten Freundin Lilli nicht
besuchen, weil „ihre roten Grabblumen“ für sie „Fleischblumen“ sind, „rote Stiele, Blätter,
Blüten, jede Pflanze bis in die Spitzen eine Handvoll Fleischfetzen. Lilli fütterte sie“.18 Lilli
wurde auf der Flucht an der Landesgrenze erschossen, sie lag da, „so rot wie ein ganzes
Beet Klatschmohn“. Die Ich-Erzählerin dachte, als sie davon erfuhr, „in dem Moment
an Kirschen“ (H, 70) „Grabblumen“, „Klatschmohn“ oder „Kirschen“ suggerieren durch
die gemeinsame rote Farbe ihre blutrünstige, fressbegierige Beschaffenheit. Anhand der
Kettenassoziationen wird der mannigfaltigen Pflanzenwelt immer wieder der Todescode
aufgeprägt. Sterben bedeutet hier nicht die Wiedervereinigung mit einer friedvollen und
heilsamen Natur, sondern dass der Mensch von der Natur gefressen wird.
   Auf ähnliche Weise dienen auch die zahlreichen Tiergestalten in Müllers Texten als Chif-
fren, entweder um „die unterschiedlichen menschlichen Daseinsformen im diktatorischen
Staat“ zu bespiegeln19 oder eben die Todesverfallenheit der Welt zu allegorisieren. Die in
mehreren ihrer Texte immer wiederkehrende Eule z. B. führt nach dem Volksglauben in
ihrer Heimat den Tod herbei, wenn sie sich auf ein Hausdach setzt. Allein in der Erzählung
Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt kommt sie siebenmal in den einschlägigen
Todesszenen vor, so dass die Hauptfigur Windisch und der Nachtwächter resümieren: „Die
Eulen haben keine Ruh […][.] Wenn sie krepiert, kommt eine andere Eule ins Dorf. Eine
junge, dumme, die sich nicht auskennt. Die setzt sich auf alle Dächer […][.] Dann sterben
wieder junge Leute […][.] Dann ist es wieder wie im Krieg“. (M, 68) Mittels der Schilderung
des Wechsels von alten und jungen Eulen werden das natürliche Todesphänomen in der
Menschheitsgeschichte sowie das unnatürliche in den menschengemachten Katastrophen
allegorisiert. Unverändert bleibt die Tatsache, dass die Eule, sprich der Tod, „keine Ruh“
hat und kein Ende findet. Auf den immerwährenden Tod verweisen auch die anderen
Tiere im Text, wie Todesfliegen oder Kohlweißlinge. Und selbst die harmlos scheinenden
Kaninchen machen der Erzählerin Irene in Reisende auf einem Bein (1989) „mehr Angst
als die Gewehre. Es sind verwandelte Tote“.20
   Nicht nur in den Darstellungen der organischen Naturwelt, sondern auch der unorga-
nischen, insbesondere der Landschaften in Müllers epischen Werk, finden sich Spuren und
das Duplikat ihrer Naturbegegnung in der Kindheit: In ihrem Prosaband Niederungen ist
die Ebene „vollgehängt mit schwarzen Betten“ (N, 112) (sprich: Särgen). „Niederungen“
stehen hier topographisch wie metaphorisch für den Tod. Der Protagonist Georg im Roman

18 Müller (2009d, 146): Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (fortan zitiert unter der Sigle H mit Seitenzahl).
   Zu den Grablumen und ihren Todeskonnotationen macht Müller in einem Gespräch klar: „Ich kann nie einen
   Friedhof mit einer inneren Leichtigkeit verlassen. Oder sagen: die schönen Blumen. Oft habe ich gedacht, die
   Toten blühen, die Wurzeln nehmen sich die Toten, es ist eine ungeheuerliche Welt“. (V,160)
19 Vgl. Li (2016, 96).
20 Müller (2010b, 172).

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Herztier (1994) beobachtet bei einem Spaziergang Gräser im Feld und stellt fest: „[D]iese
Gräser sind schön, aber mitten in ihnen, wohin man auch sieht, öffnen die Felder, so scheint
es, das Maul“.21 Müller erläutert dieses Angstgefühl in einem Interview explizit: „Der Tod
hat für mich immer bedeutet, dass die Erde einen frisst. Und ich habe mir gedacht, die
Erde ist so dick, weil so viele Menschen […] schon gestorben sind“. (V, 11)
   Das Bedrohungsgefühl, gefressen zu werden, rührt nicht nur von der Erde her, sondern
auch vom Wasser, das bei Müller nie als Quelle des Lebens angesehen wird. Ihre Flüsse,
Seen und Meere sind zumeist finster, schwermütig und unheilvoll, durchsetzt mit Todes-
implikationen. In der Tübinger Poetikdozentur mit dem Titel Wenn wir schweigen, werden
wir unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich (2001) beschreibt Müller ihre erste
Begegnung mit dem Meer im Alter von 17 Jahren folgendermaßen:

       Mit meinem dorfgrünen Blick war es für mich die größte glatte Wiese […][.] Eine Wiese voll
       zum Überlaufen. Ich kannte das zum Himmelrand stoßende, große grüne Weideland […][.] Eine
       Übersichtlichkeit, in der man vor allem für sich selber ungeschützt sichtbar wurde, von den Zehen
       zu den Fingern so durchsichtig, daß einen der Himmel schluckte[.] (K, 95)

Das Meer verwandelt sich auf der Stelle in das ihr bekannte überdimensionale Weideland.
Dieselbe Weit- und Übersicht konfrontieren sie erneut mit der Winzigkeit und Zerbrech-
lichkeit ihres ungeschützten Daseins und drohen, sie zu verschlingen. Sie „brach ein im
Kopf“ und ging unbewusst „aufs Grasland ins tiefe Wasser hinein“, „der Boden war weg,
aus der Wiese zum Überlaufen hoch wurde Wasser zum Untergehen tief. Ich versuchte gar
nicht zu schwimmen, dachte nur noch, jetzt frißt mich das Meer“. (K, 95 f.) Das Meer, die
Felder und der Himmel haben alle ein großes „Maul“, ein Bild, das bei Müller keine Am-
bivalenz besitzt. Es drückt nicht die Ess- und Lebenslust des Menschen und somit dessen
Sieg über die Natur mit karnevalesker Freude der Rabelais’schen Prägung aus, sondern es
verweist unverkennbar auf die Todesdrohung aus der Natur, deren Unendlichkeit ihren
„grenzenlosen“ Hunger auf (Menschen)Fleisch spiegelt. (K, 96)
   Berggipfel mit weitem Ausblick bewirken bei Müller statt Begeisterung oder Behagen
ebenfalls Gefühle von Enge und Todesnähe, wie sie es in dem langen Gespräch Mein Vater-
land war ein Apfelkern (2014) hervorhebt:

       Ich gehör zu den Verlorenen, mir schnürt sich der Hals zu. Je größer der Ausblick ist, desto beengter
       und bedrängter bin ich. Als könnte ich gleich hopsgehen, mein Vorhandensein wird völlig infrage
       gestellt. Ich glaub, das passiert wegen der Unendlichkeit, in die ich mich sofort hineinversetze,
       und vor der bin ich im Grunde nichts. Ich schaue in eine weite Landschaft und spüre mich in
       einer großen Ausweglosigkeit. (V, 8)

Die Kindheitserfahrung wird abermalig bestätigt. Die Unermesslichkeit der Natur jagt
Todesangst ein und macht die eigene Unbedeutendheit und Ausweglosigkeit bewusst, an-
statt zur Genese des erhabenen Gefühls zu führen, wie es Kant in der Kritik der Urteilskraft
ausführt. Nach ihm sind die Furcht und ihre Unterdrückung temporär, weil das Gefühl
„der Unzulänglichkeit unseres (sinnlichen) Vermögens“, die Unendlichkeit der Natur zu

21 Müller (2009a, 224): Herztier (fortan zitiert unter der Sigle HT mit Seitenzahl).

Peter Lang                                                          Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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erfassen, bald durch „einen anderen nicht-sinnlichen Maßstab“ (nämlich unser Vernunft-
vermögen) ersetzt wird, „welcher jene Unendlichkeit selbst als Einheit unter sich hat, gegen
den alles in der Natur klein ist, [wir] mithin in unserem Gemüte eine Überlegenheit über
die Natur selbst in ihrer Unermeßlichkeit fanden“.22 Diese auf unser Gemüt bezogene
Erhabenheit setzt allerdings eine „Konzeption des Subjekts als eines Fürsichseienden und
virtuell in sich Unendlichen“ voraus,23 was offenbar nicht auf Müller zutrifft. Für sie ist es
nicht nachvollziehbar, „dass andere sich erhaben fühlen, sie stellen sich auf einen Berg und
schauen mit den Augen und Zehen ins Tal und sind glücklich. Wie geht das bei denen?“
(V, 8) Wie Karl Kraus verweigert sie sich „dem Kultus großartiger Landschaft“, hegt wie
er tiefe „Skepsis gegen große Natur“, die dem Betrachter eher etwas zuwendet, „was an die
Ohnmacht des allmenschlichen Getriebes erinnert“.24
   Die Unendlichkeit der Natur im Hinblick auf ihre Räumlichkeit, Formen, Menge und
Größe legt die „ganze Endlichkeit“ (V, 10) des Menschen dar. Da dem menschlichen Leben
eine Grenze gesetzt wird, ist Müller bestrebt, dieses Leben sowie den Tod mit einem Maß-
stab zu messen, zu kalkulieren bzw. zu quantifizieren, um diese Lebens- wie Todesgrenze
auszukundschaften, was ihrer Logik und Formel zufolge so aussieht: „Die Leute pflanzen
etwas, es wächst, dann ernten sie und essen es. Ich dachte, man isst in seinem Leben das
Mehl von vielleicht dreißig Sack Weizenkörnern oder fünfzig oder hundert, der Weizen
ernährt dich so lange, bis die Erde dich frisst“; oder sie „dachte auch, dass alle Atemzüge,
die man tut, gezählt werden. Dass sie sich wie Glaskügelchen auf einer Schnur auffädeln
und eine Kette bilden. Und wenn die Atemkette eine Länge hat, die vom Mund bis zum
Friedhof reicht, dann stirbt man“. (V, 11) Müller hat nicht, wie behauptete, „für alles ein
richtiges Maß gesucht“, „es ging immer um die Frage, wie lange jemand lebt.“ (V, 11)
   Folglich wird das Leben in ihren Texten immer wieder mit messbaren, wiegbaren und
berechenbaren Gegenständen gleichgesetzt bzw. ausgetauscht. Im Roman Der Fuchs war
damals schon der Jäger fragt Adina ihren Friseur: „[W]ann stirbt der Mann, der die Katze
weggeworfen hat,“ er erwidert: „[W]enn von einem Mann so viele Haare geschnitten sind,
daß sie einen Sack füllen […][,] einen gestampften Sack. Wenn der Sack so schwer ist wie
der Mann, dann stirbt der Mann“. (F, 19) Adina sieht das sofort ein und beginnt „bei der
Schneiderin das Leben der Frauen am Gewicht der Stoffreste zu messen […][.] Sie wußte,
bei welcher Frau die Stoffreste bald den Sack füllten, einen gestampftvollen Sack, der so
schwer ist wie die Frau. Daß die Frau aus dem Schlachthaus noch vier Kleider brauchte,
bis sie starb“. (F, 20) Damit will Müller „der Zeit ein Maß anhängen, damit sie ein Gegen-
stand wird, den man sieht, mit dem man hantieren kann. Aber das richtige Maß kannte
ich nie […][,] diese ganzen unsinnigen, ergebnislosen Rechnungen machten auch noch
mehr Angst“ (V,11) – Angst vor dem Tod. Das Leben ist endlich und begrenzt, dennoch
lässt sich das es erfassende Maß nicht ausmachen und erkennen, so dass man jederzeit die
Grenze überschreiten und ‚überendlich‘ werden kann. Endlichkeit und Überendlichkeit

22 Vgl. dazu Kant (2009, 129 f.).
23 Vgl. dazu Adorno (2003, 103).
24 Zur Haltung von Karl Kraus zum Kantischen Begriff „das Erhabene“ vgl. Adorno (2003,109 f.).

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Yang Yu: Zum Naturbild im Werk von Herta Müller | 133

bilden mithin zwei Seiten derselben Medaille, verweisen beide auf das Sterben und darauf,
von der Unendlichkeit der Natur verschluckt zu werden.25
   Die Kluft zwischen der unvergänglichen und zeitlosen Natur und der sterblichen und
vorübergehenden Existenz des Menschen ist nicht zu überbrücken. Der Mensch ist kein
ebenbürtiger Kontrahent der Natur. Von vornherein wird die Natur von Müller als „gna-
denlos“, „feindselig“, als „körperliche Drangsalierung“ apostrophiert: „[S]ie friert, brennt
und du brennst oder frierst mit“, „du kannst dich nicht wehren“, „das Material, aus dem
du bist, hält der Natur nicht stand, es ist lächerlich, vergänglich“. (V, 8) In Hinsicht auf
die Stärke und Feindseligkeit der Natur versuchen die Menschen wie die Dorfbewohner
in Niederungen, sich dieses Feindbild einzuprägen und eine klare Grenze zwischen Mensch
und Natur zu ziehen, wie es der Großvater der kleinen Ich-Erzählerin beibringt26: „Der
Großvater, der sagte, vom Ringelgras wird man dumm, das darf man nicht essen“, und
„Akazienblüten darf man nicht essen […,] es sitzen kleine schwarze Fliegen drin, wenn
die dir in den Hals kriechen, dann wirst du stumm“ (N, 17), oder „wenn dir eine Biene
in den Mund fliegt, stirbst du“. (N, 21) Auf der anderen Seite trachtet man die Natur zu
erobern und zu domestizieren, indem die Erde zum Ackerland, zur „Nutzfläche“ kultiviert
(V, 9) und damit zum Aktionsobjekt wird; oder man versucht, die Naturwelt mit Gewalt
untertänig zu machen und zu zerstören, was am Verhalten der Erwachsenen und Kinder
im Dorf gegenüber den Tieren deutlich abzulesen ist. Diese peinigen und töten die Tiere
mit Willkür und Genugtuung. Kätzchen werden von Mädchen erdrosselt, „kriegen dicke
trübe Augen, und dann rinnt Speichel und käsige Kotze aus dem Maul“, Kinder „jagen die
Kohlweißlinge“ und „warten auf ihren Schrei, wenn [sie] sie auf die Stecknadel spießen“, die
Kohlweißlinge „flattern sich auf der Nadel zu Leichen“ (N, 18); Raupen und Ratten werden
zertreten, Spinnen zerquetscht, Spatzennester zerstört; und „es ist immer Angst in diesen
Hundeaugen, in diesen Hundeschädeln. Fußtritte bekommen die Hunde sowohl von den
Männern als auch von den Frauen […][.] Von diesen Tritten sind die Hunde augenblicklich
tot und liegen dann tagelang gekrümmt oder ausgestreckt und steif neben den Wegen und
stinken unter den Fliegenschwärmen“. (N, 24)
   Die Unterjochung und Knechtung der Natur machen die Menschen jedoch nicht zu
Siegern und Herrschern, sondern sie führen zu deren Untergang, der in Niederungen durch
die immer wieder auftretende „Totenstille“, „Kiste“, „tiefen Schlaf“, „Mohn“, „Begräbnis“,
„Friedhof“ oder „Sackdunkel“ versinnbildlicht und schließlich in der visionären Wahr-
nehmung der Ich-Erzählerin anhand der Darstellung der die Gewalt und Rache der Natur
symbolisierenden Sintflut ausgemalt wird:

       Ich hatte […] das Gefühl, dass der Hügel, auf dem sich das Dorf befindet, tiefer liegt als das Tal
       und dass das Grundwasser langsam und kalt in die Straßen steigt. In der Luft lag der Gestank von
       den tausend toten kleinen Tieren, die immer dort lagen, wo man sie nicht sehen konnte[.] (N, 100)

25 Im Herztier taucht das Wort „überendlich“ mehrmals in suizidalen Szenen auf. Zum Ende des Romans weist
   die Ich-Erzählerin nochmals auf den Konnex zwischen Überendlichkeit und Tod hin: „Ich wußte nicht, wie das
   Wort überendlich hierher auf den Friedhof kam. Aber ich wußte an diesem Grab, was es immer schon bedeutet
   haben mußte.“ (HT, 248)
26 Siehe auch Günter (2009, S. 40–42).

Peter Lang                                                         Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
134 | Yang Yu: Zum Naturbild im Werk von Herta Müller

Im Kontrast zu den Dorfbewohnern im Werk wie im Leben hält Müller die Überlegenheit
der Menschheit in der Entgegensetzung von Natur und Mensch immer für Trug und die
Natur für die ewige Siegerin: „Wir stellen das vergängliche Material unseres Körpers einer
Landschaft zur Verfügung, einer Umgebung, die immer da ist. Auch wenn Pflanzen im
Winter nicht da sind, kommen sie im Frühjahr wieder. Aber wir verschwinden einfach unter
die Erde“. (V, 217) Mit Blick auf den Umgang mit der Natur entschließt sie sich weder zum
Distanzhalten noch zur gewalttätigen Unterdrückung, im Gegenteil, sie bemüht sich, mit
der Natur eins zu werden, um sich mit ihr zu versöhnen und eine eigene, bessere Existenz
zu ermöglichen:

        Und ich glaubte auch, wenn ich genug von den Pflanzen gegessen hab, dann gehör ich vielleicht
        dazu, weil der Körper, mit dem ich herumlaufe, sich den Pflanzen anpasst. Ich hoffte, dass die
        gegessenen Pflanzen meine Haut, mein Fleisch so verändern, dass ich besser zum Tal passe. Es
        war schon der Versuch, mich pflanzennah zu machen, zu verwandeln[.] (V,10)

Dieser Verwandlungsversuch zieht zwangsläufig die Entgrenzung des Körpers, d. h., die
Überschreitung seiner Endlichkeit bzw. die „Überendlichkeit“, nach sich, die in Müllers
Texten, wie oben ausgeführt, immer den Tod zur Folge hat. Demzufolge verquickt sich
die Sehnsucht der Ich-Erzählerin in Niederungen nach der Verschmelzung mit der Natur
stets mit ihrer Vorstellung vom Sterbevorgang. Die Vergeblichkeit und das Scheitern dieser
Bemühungen um Integration sind determiniert. Anfangs schien der Einigungsprozess mit
der Natur allerdings reibungslos zu laufen:27

        Ich ging an den Fluss und goss mir Wasser über die Arme. Es wuchsen hohe Stauden aus meiner
        Haut. Ich war eine schöne sumpfige Landschaft. Ich legte mich ins hohe Gras und ließ mich in
        die Erde rinnen. Ich wartete, dass die großen Weiden zu mir über den Fluss kommen, dass sie ihre
        Zweige in mich schlagen und ihre Blätter in mich streuen. Ich wartete, dass sie sagen: Du bist der
        schönste Sumpf der Welt, wir kommen alle zu dir. Wir bringen auch unsere großen schlanken
        Wasservögel mit […][.] Ich wollte weit werden, damit die Wasservögel mit ihren großen Flügeln
        Platz in mir haben, Platz zum Fliegen. (N, 85)

Das Adjektiv „schön“ und sein Superlativ „schönste“ signalisieren hier eine erotische
Erfahrung, die die Ich-Erzählerin macht, nämlich die Entdeckung des eigenen Körpers
(ihrer inneren Natur). Das versetzt sie in einen narzisstischen Wahrnehmungszustand,
in dem sie „weit werden“ möchte, d. h., über die Grenzen des Körpers hinausgehen und
mit der Umwelt eins werden. Zu Recht bemerkt Adorno zu solchem Zustand: „sich an
die Umgebung zu verlieren, anstatt sich tätig in ihr durchzusetzen, den Hang, sich gehen
zu lassen, zurückzusinken in Natur. Freud hat sie den Todestrieb genannt“.28 In der Tat
fallen hier Narzissmus und Todestrieb zusammen. Denn sogleich treten die Schmerzen
des Todes ein, was der Ich-Erzählerin schnell bewusst wird. Sie bleibt nämlich nicht lange
liegen, sondern beginnt, „die aufgebrochenen Muschelschalen“ zu sammeln, trägt sie ans
Wasser und trinkt daraus:

27 Vgl. Johannsen (2008, 202).
28 Adorno, Horkheimer (2000, 282).

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       Ich hatte Sand zwischen den Zähnen. Ich zerbiss ihn, und es knirschte und kratzte mir zwischen
       Zunge und Gaumen. Ich wusste auf einmal, wie schmerzhaft es sein muss, wenn Muscheln sterben.
       Ich hatte Sand in der Hose. Er rieb mich beim Gehen auf, und es war der gleiche Schmerz, wie
       wenn Muscheln sterben. (N, 85 f.)

Der Tod der Muscheln erinnert sie an ihren eigenen, sie „hatte dabei den Eindruck, etwas
Verbotenes zu tun, aber es sah mich ja niemand“. Dieser Gedanke erinnert sie wiederum
an den oft wiederholten Satz im Religionsunterricht: „Gott ist überall“, doch sie findet „in
der großen weiten Welt den Bart Gottes nicht“. (N, 86) Durch die Infragestellung der Un-
endlichkeit und Allmächtigkeit Gottes wird zugleich der eigene Versuch, in die unendliche
und allmächtige Natur integriert zu werden, ad absurdum geführt.
  Die Desillusion stellt sich gleich ein: Der Großvater entdeckt im Fluss eine Schlange und

       hob mich blitzschnell aus dem Wasser heraus […][.] Sie war schön und eklig und so tödlich, dass
       ich Angst bekam um ihr Leben und ihr nicht den Tod wünschen konnte. Großvater hackte ihr
       mit seiner Schaufel den Kopf ab. Ich wollte auf einmal kein Sumpf mehr sein. (N, 87 f.)

In dieser Szene taucht zum dritten Mal das Adjektiv „schön“ auf, allerdings in Kombination
mit „eklig“ und „tödlich“, um die Schlange zu bezeichnen, in der die unterdrückte Natur
der Ich-Erzählerin, ihre Haßliebe gegenüber dem eigenen Körper, verwandelt zurückkehrt.
Die Verführung und Tod symbolisierende Schlange zeigte exakt das Paradoxon des Wunschs
nach der Verschmelzung mit der Natur. Das „Ich“ wird anfangs angezogen von der schönen
Schlange (der eigenen Begierde), selbst wenn „sie“ tödlich ist, macht sich Sorgen um sie und
geht gern ein Risiko ein, aber dass der die symbolische Ordnung repräsentierende Großvater
die Schlange erschlägt, bringt das „Ich“ zur Realität zurück, so dass es die Integration in
die Natur entschieden aufgibt: „Ich wollte auf einmal kein Sumpf mehr sein“. Der abge-
hackte Kopf der Schlange versinnbildlicht den Bruch mit der äußeren wie inneren Natur.
Adornos Aussage zum Kunstschönen als Maske der ausgebeuteten Natur lässt sich auch
hierher übertragen: „Schönheit ist die Schlange, die die Wunde zeigt, wo einst der Stachel
saß“.29 Der Mensch und die Natur bleiben unvereinbar und unversöhnlich.

II. Die korrumpierte Natur. Die Natur gilt bei Müller nie als neutral, als frei von mora-
lischen Urteilen, als Geschöpf an und für sich. Sie fungiert als Komplize der Macht und
gewinnt an politischer Bedeutung, indem sie der Macht freiwillig dient.
   Aufgrund der Kontamination durch die Macht verliert die Natur ihre kreatürliche Un-
schuld. Müller betont in ihrer Rede Von der gebrechlichen Einrichtung der Welt zur Verleihung
des Kleist-Preises 1994 mit Nachdruck, dass die Natur nach dem NS- und stalinistischen
Regime und dem rationalen Massenmord durch den Staat ebenfalls in Bluttaten und Er-
mordungen involviert und nicht mehr unbewusst, harmlos und schuldfrei sei wie der Bär
in Kleists Über das Marionettentheater:

       Selbst die Pflanzen waren nicht mehr für sich da. Die lebenden Zäune aus Thuja oder Tannen
       wuchsen um die Häuser der Macht. Sie blieben auch da immer grün. Sie behüteten etwas, was

29 Adorno, Horkheimer (2000, 311).

Peter Lang                                                     Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
136 | Yang Yu: Zum Naturbild im Werk von Herta Müller

        für die meisten Menschen im Land nicht zu ertragen war. Sie waren aus der Reihe der Pflanzen
        übergelaufen zum Staat. Und nicht nur sie, auch die roten Nelken, auch die roten Rosen. Sie hielten
        Farben, Formen, Düfte hin und schmückten die Auftritte der Macht.30

Die Pflanzen biedern sich der Macht an und werden zu „Staatspflanzen“, daher schreibt
Müller ihnen allen „[politische] Absichten zu. Feindselig wie im Dorf der Mais wurden in
der Stadt Thuja und Tannen. Sie waren die Pflanzen der Herrschenden“, „und es gab auch
Herrentiere: die Menschenfleisch fressenden Möwen an der Donau und die Wachhunde
der Polizisten, Gefängniswachen und Grenzsoldaten“. (K, 93) Bereits an dem Titel Der
Fuchs war damals schon der Jäger ist die Verbindung zwischen der anthropomorphisierten
Tiergestalt und den herrschenden Machtverhältnissen unverkennbar.31 Die Tiere transfor-
mieren sich zu Schergen und Handlangern der Macht und quälen mithin besonders gern
die soziale Unterschicht: „Die Ameisenketten fraßen nur die Hauswände der armen Leute
hohl. Die Flöhe und Läuse plagten nur ihre Haut“. (K, 93)
   Auch die Naturphänomene werden von der Staatsgewalt instrumentalisiert, „um
Menschen zu quälen, in Gefängnissen, in Lagern. Polarkreis und Wüste, Frost und Hitze
können töten und lassen sich wie Folterwerkzeug benutzen, um Leute zu vernichten“. (V, 8)
Als Verräter liefert der Schnee der Macht das Individuum aus: Im Roman Atemschaukel
(2009) versteckt sich Trudi Pelikan „vier Tage in einem Erdloch im Nachbargarten“, um
ihrem Schicksal im Arbeitslager in Gulag zu entgehen, „doch dann kam der Schnee“, „ihre
Mutter konnte ihr nicht mehr heimlich das Essen bringen. Man konnte im ganzen Garten
die Fußstapfen lesen“. Trudi muss „freiwillig gezwungen vom Schnee“ „aus dem Versteck“
und wirft dem Schnee vor, dass er „den Russen sofort zu Diensten war“.32 Ferner müssen die
Felder und Flüsse in Müllers Texten für einen politischen Raum herhalten, indem sie zum
Sterbeort für zahllose Flüchtende oder Dissidenten mutieren und „nicht die Unbegrenztheit
eines anderen, vom Menschen unbeeinflussten Raums“ versprechen, sondern „in den Herr-
schaftsbereich eingegliedert“ werden.33 Müller zieht in einem Vortrag für das Badenweiler
Kolloquium Inselglück 2001 das Fazit: „Aus eigener Erfahrung weiß ich jedoch, daß die
Landschaft sich aus dem Staat nicht heraushalten läßt“. (K, 172)
   Die Natur wird ins Spitzelwesen des totalitären Regimes verwandelt, das furchtein-
flößend jeden kontrolliert, wie es die Ich-Erzählerin im Herztier am eigenen Leib erfährt:
„Ackerwinden rochen süß in den Abend, oder war es meine Angst. Jeder Grashalm stach
an den Waden. Dann piepste ein verirrtes, junges Huhn im Weg“, „es wird mich verraten in
seiner Angst, dachte ich mir. Jede Pflanze sah mir nach. Meine Haut klopfte von der Stirn
bis in den Bauch“. (HT, 67) Das in jedem Tier und jeder Pflanze auflauernde Belauschen
und Bespitzeln verhelfen dem Staat zur omnipräsenten, totalen und letalen Überwachung.
Dafür stehen z. B. die Pappeln in Der Fuchs war damals schon der Jäger: Sie „rücken in
alle Straßen vor“ (F, 25), „Pappellicht und Pappelschatten, bis die ganze Stadt gestreift ist“
(F, 29), „die Pappeln sind grüne Messer. Wenn Adina die Pappeln zu lange ansieht, drehen

30   Müller (1995, 10 f.): Hunger und Seide (fortan zitiert unter der Sigle HS mit Seitenzahl).
31   Siehe auch Li (2016, 101).
32   Müller (2009e, 17 f.): Atemschaukel (fortan zitiert unter der Sigle AS mit Seitenzahl).
33   Vgl. Johannsen (2017, 170).

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Yang Yu: Zum Naturbild im Werk von Herta Müller | 137

sie die Messer von einer Seite zur anderen im Hals. Dann wird ihr Hals schwindlig“ (F, 9).
Die allgegenwärtige, ominöse Überwachung versinnbildlichen außer den Pappeln noch
andere Tiere wie Krähen, Katzen, Füchse und nicht zuletzt der deutsche Frosch, der in
Müllers Texten als Aufpasser und Bewahrer der ethnischen Identität und als „ein Auge
der Macht“ jeden Einzelnen überwacht: „Der deutsche Frosch aus den Niederungen ist
der Versuch, eine Formulierung zu finden, für ein Gefühl – das Gefühl, überwacht zu
werden“. (T, 20 f.) Denn „im Land läuft der Sehnerv“, „was glänzt, das sieht“. (F, 27 f.) Je
zahlreicher sich diese anonymen und wechselnden Beobachter in und aus der Natur lautlos
einschleichen, um so unsicherer und unruhiger wird das Bewusstsein des Beobachteten,
um so verstärkter tritt die Machtmaschinerie hervor, die Benthams Panopticon im Sinne
von Foucault als „Diagramm eines auf seine ideale Form reduzierten Machtmechanismus“34
realisiert sieht und eine hierarchische, stetige und funktionelle Überwachung durch eine
Disziplinarmacht ermöglicht.35
   In der Grausamkeit der Natur den Menschen gegenüber zeigt sich zudem ihre morali-
sche Indifferenz.36 Müller berichtet in ihrer Kleist-Preis-Rede detailliert von einem Pferd,
das ein Kind in den Fluss abgeworfen und zu Tode getreten hat. Sie habe folglich „schon
sehr früh ein Bild von einem Pferd“ im Kopf getragen, das „sich von Kleists fechtendem
Bären unterscheidet“, die Vorstellung von der Grazie der unschuldigen Kreatur „hat sich
in den folgenden Zeiten“ „ihre Gültigkeit selber abgesprochen“. (HS, 9) Die Apathie der
Landschaft wird in ihrem Vortrag Die Insel liegt innen – die Grenze liegt außen (2001) ein-
dringlich reflektiert:

       Die Landschaft zeigte, wie egal es ihr ist, was mit den Menschen geschieht. Sie war […] eine vom
       Treiben der Tage abgewandte Stille, eine grüngezahnte Ahnungslosigkeit, die sich selber genügt.
       Die Überrumpelung durch Schönheit ist in der Überdrehung der Nerven nicht auszuhalten. Land-
       schaft wird zur flirrenden Inszenierung der Existenz, zum Panorama der Ängste, Verdoppelung
       der geraubten Selbstverständlichkeit. (K, 173)

Solche unerträgliche, „übergangslose Schönheit“ der Natur (K, 173) erlebt der Protagonist
in Müllers Atemschaukel im Arbeitslager. Als er sich wegen Hunger und Schwerstarbeit
vom Tod bedroht fühlt, hebt er „den Blick, da oben stille Sommerwatte, die Stickerei der
Wolken“. (AS, 87) Die Landschaft nimmt keine Rücksicht auf das Schicksal des Einzelnen
und wird somit empfunden als apathisches, „arrogantes Material, diese zeitliche Überle-
genheit: uralte Steine, das ewiglich Fließende des Wassers, die unzählbare Wiederkehr des
Laubs und der Gräser. Sie alle sind gedächtnisfrei, unbekümmert über das, was gestern
war und morgen kommt“. (K, 173)

34 Foucault (2008, 911).
35 Foucault sieht die Eigenart der Disziplinarmacht eben darin, „absolut indiskret zu sein, da sie immer und überall
   auf der Lauer ist, da sie keine Zone im Schatten läßt und das sie vor allem diejenigen pausenlos kontrolliert,
   die zu kontrollieren haben; und zugleich kann sie absolut ‚diskret‘ sein, da sie stetig und zu einem gut Teil ver-
   schwiegen funktioniert“ (Foucault [2008, 882]).
36 Vgl. dazu Meier (2014, 194).

Peter Lang                                                              Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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 Das Individuum ist der Natur nicht gewachsen, spürt das permanente Fremdsein in ihrer
Umzingelung und kann die von ihr heraufbeschworene Melancholie nicht loswerden, wie
Müller es im Apfelkern akzentuiert:

        Sie [die Trauer] kam, sie war gegen mich und ließ mich nicht in Ruhe. So eine grundlose, blöde
        Trauer war da, als hätt sie jedesmal da auf dem Feld oder im Flusstal auf mich gewartet: Wie lange
        gehört dir dieser Körper, wie lange bist du am Leben? (V, 8)

Die „grundlose Trauer“ ist, mit Benjamin, „die ‚Leere der Welt‘ im melancholischen Blick“,
sie stellt die Signatur des Todes dar, die die Welt immer schon bezeichnet.37

III. Natur als poetologische Reflexionsfigur. Die der Natur innewohnende „grundlose
Trauer“ schlägt sich nicht nur in der Thematik, sondern auch in der Diktion nieder, denn
„die lange, immer in einem sitzende Angst verändert alles“, „also das, was man ‚Stil‘ nen-
nen könnte“.38 Immer wieder wird die Natur von Müller metaphorisch eingesetzt, um ihre
poetologischen Prinzipien wie „erfundene Wahrnehmung“, die „Grenzüberschreitung“ und
„den fremden Blick“ eingehender darzulegen oder die Motivation, Funktionen und Ziel-
setzung ihres literarischen Schaffens anschaulicher darzustellen. Im Folgenden werden vor
allem Müllers poetologischen Essays, Reden, Vorträge und Interviews herangezogen, die
in der Forschung als „der autobiographische Erklärungsversuch der eigenen literarischen
Arbeiten“39 gelten und „den literarischen Text als Verlängerung und Dokument einer le-
bensweltlichen Erfahrung“ beglaubigen.40 Sie demonstrieren die rege Interaktion zwischen
Text und Kontext, zwischen Literatur und Leben. Denn das literarische Naturmotiv wird
zumeist mit beinahe wortgenauen Romanzitaten oder leichten Variationen durch autobio-
graphische Rückblenden in die Autorpoetik zurückübersetzt,41 und Müllers literarische wie
poetologische Arbeiten weisen beim Thema Naturbild hohe Konvergenz auf.
   Ganz am Anfang ihres poetologisch programmatischen Essays Wie Wahrnehmung sich
erfindet wird ein folgenreiches Kindheitserlebnis zur Entstehung ihres Natur- wie Welt-
bildes dargestellt, das sich nachhaltig auf Müllers literarisches Selbstverständnis auswirkt:

        Über dem Bett meiner Großeltern hing ein Heiligenbild. Es war ein Ölbild […]. Etwas war auf
        dem Bild, das draußen kein Leben zeigt: Steine. Große braune Steine […]. Sie wurden bedrohlich,
        weil sie die Grenzen der Steine überschritten. Ich sah in diesen Steinen braune, überreife Gurken.
        Nur vor ihnen hatte ich Angst. Ich wußte jeden Abend, daß die überreifen Gurken in der Nacht
        platzen. Daß sie sich, wenn sie platzen, über das Zimmer ergießen, über das Haus. Und, daß sie
        uns alle vergiften. (T, 11 f.)

37 Vgl. Menke (2011, 220).
38 Müller (2010c, 14).
39 Lützeler (1994, 12). Lützeler deutet auf einen Paradigmenwechsel in der Autorpoetik hin, dass sich „in den
   normativen und essayistischen Poetologien vom Barock bis zur Moderne“ zwar „der subjektiver Faktor tenden-
   ziell immer stärker bemerkbar“ macht, „aber Poetologie als ein Stück Autobiographie zu verstehen, also solche
   darzustellen und durchsichtig zu machen, geschah so gut wie nie“, „in der postmodernen Kondition ist die
   autobiographische Poetik aber zur Regel geworden“ (ebd., 10 f.). Abgesehen von der Einordnung in die Post-
   moderne trifft der autobiographische Zug sicher auch auf die Poetik von Müller zu.
40 Husser (2016, 265).
41 Vgl. Husser (2016, 265).

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Yang Yu: Zum Naturbild im Werk von Herta Müller | 139

Aus dieser Beschreibung lassen sich zumindest drei Schlüsse in Hinblick auf Müllers Poetik
ziehen:
   1. Motivation und Kern des literarischen Schaffens – die erfundene Wahrnehmung. In der
obigen Bildbetrachtung lässt sich nicht übersehen, dass das kognitive Modell der Kinder
zum Erfassen der Wirklichkeit mit dem der Literatur allegorisiert wird. Beide nehmen
die reale Welt (Steine im Bild) zum Ausgangspunkt, überschreiten aber deren Grenze und
gehen dadurch in den Bereich der Imagination und Einbildungskraft (überreife und giftige
Gurken) über. Anders formuliert, versuchen sich beide durch den entscheidenden Schritt
des Erfindens der Wahrnehmung der verborgenen „Wirklichkeit“ unter der Oberfläche
der Gegenstände anzunähern. Für Müller bezieht sich die Wirklichkeit nämlich nicht
auf die objektive, „gegenständliche Wirklichkeit“ (T, 42), die durch die Wahrnehmung
zu ergreifen ist, sondern auf die subjektive Empfindung und Authentizität, die erst in der
erfundenen Wahrnehmung zutage tritt und die Müller scheinbar paradoxerweise als „lü-
ckenlose Unwirklichkeit“ bezeichnet. Sie hebt in einer Vorlesung im Rahmen der Tübinger
Poetikdozentur hervor:

       Wirklich Geschehenes läßt sich niemals eins zu eins mit Worten fangen. Um es zu beschreiben,
       muß es auf Worte zugeschnitten und gänzlich neu erfunden werden. Vergrößern, verkleinern,
       vereinfachen, verkomplizieren, erwähnen, übergehen – eine Taktik, die ihre eigenen Wege und das
       Gelebte nur noch zum Vorwand hat […][.] Man muß […] aus jeder wirklichen Straße abbiegen
       in eine erfundene, weil nur die ihr wieder ähneln kann. (K, 86)

Die erfundene Wahrnehmung macht den Kern des schöpferischen Vorgangs aus und vermag
allein das Wirkliche zu erfassen. Nur in diesem Sinne lässt sich Müllers Konklusion im
Vortrag Wie Erfundenes sich im Rückblick wahrnimmt (1989/90) nachvollziehen: „Da er aus
der lückenlosen Unwirklichkeit hervorgegangen ist, ist der Text, wenn er mal geschrieben
ist, lückenlos wirklich“. (T, 38)
    Was einen zur erfundenen Wahrnehmung, also zum Sprung vom Faktum zur Fiktion
bzw. vom Realen zum Imaginären veranlasst und antreibt, ist Müller zufolge die Angst vor
dem Tod, die in der am Kapitelanfang zitierten Passage wiederum in der bekannten Natur-
gestalt (Stein und Gurke) symbolisiert wird. Die existentielle Angst bildet die Motivation
zum Schreiben ebenso wie dessen Gehalt: „Vielleicht ist das Erfinden der Wahrnehmung,
das Selbstverständliche, das uns immer begleitet – Angst, deren Gründe sich nicht ein-
schränken, nicht benennen lassen“. (T,14) Diese unbenennbare, grundlose Angst ist, „auf
den einzelnen bezogen“, „doch immer existentielle Angst. Und in jedem Alter gibt es die
Wahrnehmung, die sich erfindet. Das, was wir sehen, überschreitet seine Grenzen“. (T, 15)
Die Steine im Bild lassen Müller im Kindesalter die der Natur entspringende Drohung
spüren, die als existentielle Angst für sie noch unbenennbar ist und somit „das Erfinden
der Wahrnehmung“ auslöst. Zu platzenden, die Häuser überschwemmenden und alles
vergiftenden tödlichen Gurken verwandeln sich in der Imagination die Steine, deren To-
desimplikationen während dieses Prozesses veräußerlicht werden.
    Schreiben gilt Müller auch als die einzige Möglichkeit und das einzige Mittel, um dieser
Lebens- und Todesangst, die für sie identisch sind, gerecht zu werden: „Und Schreiben habe
ich damals nur angefangen, um mir selber zu versichern, daß die Angst laufen lernt“, denn

Peter Lang                                                     Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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