Leseprobe Rosa Luxemburg Ein Leben - Penguin Random House ...

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Leseprobe Rosa Luxemburg Ein Leben - Penguin Random House ...
Leseprobe

                                  Professor Dr. Ernst Piper
                                  Rosa Luxemburg
                                  Ein Leben

                                  »Ausführlich, sanft und sachlich.« BR Kultur

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Seiten: 832

Erscheinungstermin: 25. Januar 2021

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Konsequente Internationalistin, distanzierte Feministin,
emanzipierte Jüdin – wer war Rosa Luxemburg?

Rosa Luxemburg war die bedeutendste Frau, die jemals in der
europäischen Arbeiterbewegung gewirkt hat. 1871 im russischen Teil
Polens geboren, fand sie nach dem Studium in Zürich mithilfe einer
Scheinehe ihre politische Heimat in Deutschland, wo sie auf SPD-
Parteitagen die einzige Frau mit einem Doktortitel war. Luxemburg gilt als
die größte marxistische Denkerin ihrer Zeit. Sie kämpfte für die Diktatur
des Proletariats, aber zugleich gegen den autoritären Zentralismus Lenins.
Ihre Revolutionstheorie, ihr Freiheitsbegriff und ihr unbedingter
Internationalismus ließen sie zur Ikone des weltweiten Protests der
1968er-Bewegung werden. Ihr berühmter Satz »Freiheit ist immer Freiheit
der Andersdenkenden« wurde eine Parole der Bürgerrechtler in der
untergehenden DDR. Zum 150. Mal jährt sich 2021 der Geburtstag von
Rosa Luxemburg, in deren Gedanken- und Ideenwelt vieles zu finden ist,
was auch heute, in einer Zeit des wieder erwachenden Nationalismus,
anregend und wichtig ist.
Ernst Piper
                        ROSA LUXEMBURG
                                                Ein Leben

                                                 Pantheon

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Inhaltsverzeichnis

         Einleitung 9

         I Zamość 21

         II Warschau 33
         Kongresspolen, Depolonisierung, Novemberaufstand, Januaraufstand 33,
         Jüdischer Wohnbezirk, Pogrom von 1881 35, Kindheit, Krankheit, Schule 38,
         Oppositionsgeist, Proletariat 44

         III Zürich 53
         Arbeitervereine, Emigrantenszene, Universität 57, Die Schweizer Landschaft,
         Leo Jogiches, Georgi Plechanow 64, 3. Kongress der Sozialistischen Internationale
         in Zürich, Gründung der SDKP 75, Promotion, Tod der Mutter, Scheinehe,
         Übersiedlung nach Berlin 97

         IV Die polnische Nation 107
         Allein in Berlin, die nationale Frage, die Industrialisierung Polens 110,
         Nationalitätenfrage und Autonomie 130

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V Berlin 137
        Wohnungssuche, Wahlkampf 140, Revisionismusstreit, SPD-Parteitag 1898 156,
        Ferien in der Schweiz, Clara Zetkin, Wiedersehen mit dem Vater, Luise Kautsky,
        SPD-Parteitag 1899 182, Leo Jogiches kommt nach Berlin 191

        VI Die polnische Sozialdemokratie 199
        Provinz Posen, PPS, Leo Jogiches 204, SPD-Parteitag 1902, Wahlkampf,
        Majestätsbeleidigung 221

        VII Massenstreik 233
        Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund, Auseinandersetzungen mit Lenin,
        die Russische Revolution von 1905 236, Jogiches in Krakau, Władysław Feinstein,
        Redakteurin des Vorwärts 248, Generalstreik 267, Reise Warschau, Verhaftung,
        Rückreise 283, Rückkehr, SPD-Parteitag 1906, Mannheimer Abkommen 295

        VIII Kostja Zetkin 305
        Parteitag der SDAPR in London, Kongress der Sozialistischen Internationale
        in Stuttgart 317, Lehrtätigkeit an der Parteischule der SPD 330,
        Auseinandersetzungen mit Karl Kautsky 352

        IX Dem Krieg entgegen 363
        SPD-Parteitag 1910, Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus,
        Streit mit Lenin 366, Zweite Marokkokrise 379, Der Fall Radek 398, Spaltung der
        SDKPiL 406, Die Akkumulation des Kapitals 412, Preußischer Wahlrechtskampf,
        der Fall Radek, der Tod August Bebels 419, Leipziger Volkszeitung,
        Soldatenmisshandlungen, Paul Levi, Sozialdemokratische Korrespondenz 435,
        Die letzten Tage vor dem Kriegsausbruch 450

        X Burgfrieden oder Klassenkampf 455
        Das Ja zu den Kriegskrediten, Karl Liebknecht 457, Lenin in der Schweiz,
        Liebknechts Nein zu den Kriegskrediten, Mathilde Jacob, Internationale Sozialistische
        Frauenkonferenz in Bern, »Die Internationale« 475, Zimmerwalder Konferenz,
        Erste Reichskonferenz der Gruppe Internationale, Kientaler Konferenz, Bildung

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der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft 501, Die Krise der Sozialdemokratie,
         Anti-Kriegskundgebung am 1. Mai 1916 519, Verhaftung von Karl Liebknecht,
         Spartakus-Briefe 519, Polizeigefängnis am Alexanderplatz, militärische Sicherungshaft,
         Februarrevolution, Gründung der USPD, Tod von Hans Diefenbach 538,
         Oktoberrevolution, Januarstreik, Frieden von Brest–Litowsk 564

         Exkurs: Die Russische Revolution 586

         XI Die Deutsche Revolution 615
         Abdankung von Kaiser Wilhelm II., Friedrich Ebert wird Reichskanzler, Kriegsende,
         Arbeiter- und Soldatenräte 615, Spartakusbund, Die Rote Fahne, Kampf gegen
         die Wahlen zur Nationalversammlung, Blutbad am 6. Dezember 625,
         Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte, Gründung der KPD 641,
         Januaraufstand, Ermordung von Liebknecht und Luxemburg 655

         XII »Ich war, ich bin, ich werde sein« 675

         Editorische Notiz 693

         Anmerkungen 694

         Bibliografie 784
         Unpublizierte Quellen 784, Schriften von Rosa Luxemburg 785,
         Publizierte Quellen und Literatur 786

         Abkürzungen 818

         Bildnachweis 821

         Personenregister 824

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Einleitung

        R    osa Luxemburg war eine charismatische Persönlichkeit. Schon ihr ers-
             ter öffentlicher Auftritt, im August 1893 in Zürich, erregte großes Auf-
         sehen. Damals war die 22-jährige Studentin noch völlig unbekannt. Aber
         wer miterlebte, wie diese kleine Person, die auf einen Stuhl steigen
         musste, um sich Gehör zu verschaffen, darum kämpfte, am Kongress der
         Sozialistischen Internationale als Delegierte teilnehmen zu können, dem
         blieb ihre Erscheinung im Gedächtnis. Luxemburg zog schon früh Emo-
         tionen der unterschiedlichsten Art auf sich, gleichgültig ließ sie kaum
         jemanden. Zahlreiche Männer verfielen ihrer Ausstrahlung – das war
         ein Thema, das sie zeitlebens begleitete. Als leidenschaftliche Kämpferin
         für die von ihr als richtig erkannten Positionen begeisterte sie bei zahl-
         losen Gelegenheiten ein großes Publikum. 1898 absolvierte sie, kaum in
         Deutschland angekommen, für die SPD eine Wahlkampftournee durch
         die Provinz Posen, die ihren legendären Ruf als brillante Rhetorikerin be-
         gründete.
            Aber ihre Kompromisslosigkeit rief mit den Jahren auch eine wach-
         sende Zahl von Gegnern innerhalb der sozialistischen Bewegung auf den
         Plan. Sie hatte große Kontroversen mit so unterschiedlichen Politikern
         wie Eduard Bernstein, Lenin oder Karl Kautsky. Einer ihrer passioniertes-
         ten Gegenspieler war Victor Adler, der sie im Lauf der Jahre mit einer
         Vielzahl von Kosenamen belegte. So beschwerte er sich 1910 bei seinem
         Freund August Bebel über die »zwei hysterischen Weiber Rosa u. Klara«1.

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Das war nicht weit entfernt von einem Polizeibericht aus dem gleichen
        Jahr. Clara Zetkin hatte in Berlin auf einer Versammlung zur preußischen
        Wahlrechtsreform gesprochen und den Massenstreik als politisches
        Kampfmittel propagiert. Eingefunden hatten sich etwa 700 Personen, in
        der Mehrheit Frauen. Am Rand des Berichts des Kriminal-Schutzman-
        nes, der die Veranstaltung beobachtet hatte, findet sich der Kommentar:
        »Die Frauen Zetkin, Luxemburg u. a. sind (wieder einmal) radikaler als
        die Männer. Da werden Weiber zu Hyänen.«2
           Die rhetorisch so begabte Luxemburg war ein ganz besonderes Hass-
        objekt. Schon im Kontext der ersten Massenstreikdebatte sprach die libe-
        rale Presse von der »blutigen Rosa«,3 ein sprachliches Bild, das sich rasch
        etablierte. Dass sich auch der 1904 gegründete Reichsverband gegen die
        Sozialdemokratie dieser Metapher bediente, war nicht überraschend.4 Er-
        staunlicher war es schon, ihr auch in der linksliberalen Weltbühne zu be-
        gegnen: »In Berlin tobt der Bürgerkrieg, und die blutige Rosa ist, als das
        Pulverfass in Berlin explodierte, ins Reich gefahren, um auch hier die
        Brandfackel in die aufgeregten Massen zu schleudern. Röslein, Röslein,
        Röslein rot; Deutschland steht in Flammen!«5 Mit diesen Worten schloss
        ein Porträt aus Erich Dombrowskis Serie »Politiker und Publizisten«; es
        erschien am 16. Januar 1919, einen Tag nach Luxemburgs Ermordung.
        (Und um auch das zu erwähnen: »Ins Reich gefahren« war sie nicht.)
           Es gab aber außerhalb des sozialistischen Lagers auch Stimmen, die ein
        differenzierteres Wahrnehmungsvermögen erkennen lassen. So berichtet
        Theodor Heuss in seinen Lebenserinnerungen: »Ich merkte sehr bald,
        dass etwa Rosa Luxemburg eine ungewöhnlich intelligente Frau war, mit
        einem scharfen Verstand, der dem dialektischen Spiel die sicherste Form
        zu geben wusste. […] Karl Liebknecht, der sich damals, mit dem väter-
        lichen Namen gestärkt, auf dem Wege wusste, den Kampf um die Nach-
        folge Bebels einzuleiten, hat mich nicht zu beeindrucken verstanden.
        Seine aggressive Beredsamkeit verbarg kaum, dass er eigentlich wenig zu
        sagen hatte.«6 Mit diesem Urteil, das über Karl Liebknecht so ganz anders
        ausfiel als über Rosa Luxemburg, stand Heuss nicht allein. Kurt Eisner,
        der die beiden naturgemäß viel besser kannte, sah die Dinge ganz ähnlich.

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In der Ministerratssitzung vom 9. Januar 1919 erklärte er, Liebknecht, den
         er bei anderer Gelegenheit sogar als »geistig minderwertig«7 bezeichnet
         hatte, sei »unmöglich. Die einzig Vernünftige ist vielleicht Luxemburg.«8
         Diese Aussage korrespondiert in gewisser Weise mit einem häufig zitier-
         ten Tagebucheintrag von Harry Graf Kessler, in dem er ein Gespräch mit
         Georg Bernhard über die Folgen des Januaraufstandes wiedergibt: »Dass
         diese discreditierte, blutbespritzte Regierung sich noch lange halten
         könnte, ist nach Bernhards Ansicht ausgeschlossen. Nur sei bei den Kom-
         munisten Niemand, der als Staatsmann in Frage komme. Rosa Luxem-
         burg sei der einzige Staatsmann der Partei gewesen, die vielleicht Deutsch-
         land hätte regieren können.«9
            Ob Luxemburg sich tatsächlich zum Staatsmann (oder zur Staatsfrau)
         geeignet hätte, kann hier dahingestellt bleiben. Dass sie in der frühen
         Führungsriege der KPD, von der späteren ganz zu schweigen, eine Per-
         sönlichkeit von herausragendem Format war, ist nicht zu bestreiten. Und
         Nettl hat völlig recht, wenn er feststellt, dass sie »politischer [war] als die
         meisten Menschen in Deutschland«.10 Sie war ein durch und durch poli-
         tischer Mensch, kein reiner Theoretiker wie Marx oder auch Kautsky,
         aber auch kein Parteibürokrat, wie es mit fortschreitenden organisatori-
         schen Erfolgen viele gab in der sozialdemokratischen Bewegung. Dabei
         muss offenbleiben, wie ihre politischen Positionen sich weiterentwickelt
         hätten, wenn sie länger gelebt hätte. Die Unabgeschlossenheit ihres Wer-
         kes bietet Raum für die unterschiedlichsten Interpretationen. Während
         etwa Ulla Plener die Auffassung vertritt, bei allen Kontroversen zwischen
         Luxemburg und Lenin seien doch die Gemeinsamkeiten das Entschei-
         dende gewesen, und sich gegen eine »dogmatische Entgegenstellung« Lu-
         xemburgs gegen Lenin wehrt,11 betont François Furet Luxemburgs »Ab-
         lehnung der leninistischen Auffassung der Revolution, gemäß der man
         die Macht mit allen Mitteln ergreifen und festhalten kann, sofern dies die
         geschichtlichen Umstände einer Avantgarde, so klein sie auch sein mag,
         ermöglichen«12. Hermann Weber, der als junger Mann selbst einige Jahre
         Mitglied der KPD war und sein Forscherleben der Geschichte des deut-
         schen Kommunismus gewidmet hat, vertritt die These, dass Luxemburg

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eine eigene Spielart des Kommunismus begründet habe, den »demokrati-
        schen Kommunismus«13. Diesen Begriff würden andere wiederum für ei-
        nen Widerspruch in sich selbst halten. Bernd Faulenbach, bis 2018 Vor-
        sitzender der Historischen Kommission der SPD, hält denn auch eine
        Zuordnung Rosa Luxemburgs für schwierig: »Sie war keine Anhängerin
        der Leninschen Parteidiktatur, doch auch keine Anhängerin der Demo-
        kratie, wie wir sie heute verstehen.« Für Sozialdemokraten sei der
        Sozialismus nur als »vollendete Demokratie« denkbar, sie dürfe ihm nicht
        nachgeordnet sein.14
            Willy Brandt, dem wir einen sehr schönen Essay über Rosa Luxemburg
        verdanken, vermutet, dass sie, anders als ihr Freund Paul Levi, sich nicht
        für eine »Rückkehr zur sozialdemokratischen Mutterkirche«15 entschieden
        hätte. Das mag sein. Aber in der stalinisierten KPD wäre kein Platz für
        Luxemburg gewesen. Die Brandleristen, wie die nach Heinrich Brandler
        benannten Anhänger des »Luxemburgismus« hießen, wurden alle aus der
        Partei vertrieben. Die Sozialdemokratie blieb dauerhaft gespalten, aller-
        dings nicht in drei Parteien, da die zunächst überaus erfolgreiche USPD
        bald in der Bedeutungslosigkeit verschwand, aber in zwei Parteien. Man-
        che von Luxemburgs Weggefährten kehrten zur SPD zurück, neben Levi
        z. B. Karl Kautsky, andere, wie Paul Frölich, schlossen sich der linkssozia-
        listischen Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) an (auch der
        zitierte Willy Brandt wechselte 1931 von der SPD zur SAP).
            Rosa Luxemburg wollte zeitlebens politisch wirken, schon ganz früh,
        als Gymnasiastin, schloss sie sich einer politischen Gruppierung mit dem
        Namen »Proletariat« an. Im Laufe der Jahre kamen noch sechs weitere
        Parteien hinzu. Es ist schwer vorstellbar, dass sie sich, hätte sie länger ge-
        lebt, mit der Rolle einer Einzelgängerin, die nur publizistisch tätig gewe-
        sen wäre, begnügt hätte.
            Als sie am 15. Januar 1919 ermordet wurde, gehörte sie noch der KPD
        an, die die Tote stets für sich reklamiert, zugleich aber ihre Ideen und
        Überzeugungen vehement verurteilt hat. Die Sozialdemokraten, die mit
        der ehemaligen Genossin nichts mehr zu tun haben wollten, haben es den
        Kommunisten leicht gemacht, diesen Anspruch durchzusetzen. Rosa Lu-

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xemburg, und mit ihr Karl Liebknecht, wurde mit stillschweigender Dul-
         dung, wenn auch wohl nicht mit Billigung des Sozialdemokraten Gustav
         Noske von Angehörigen des Garde-Kavallerie-Schützen-Regiments er-
         mordet. Nichts hat die Beziehungen zwischen den beiden Arbeiterpar-
         teien in der Weimarer Republik mehr belastet als dieser ruchlose Mord.
         Hannah Arendt glaubt sogar, dass er die Spaltung der europäischen Lin-
         ken in Sozialdemokraten und Kommunisten unwiderruflich gemacht ha-
         be.16 Erfolgt wäre sie wohl auch ohne diese Tat. Aber der Graben zwischen
         den beiden deutschen Parteien wäre dann weniger tief und unüberbrück-
         bar gewesen.
                                                 *

         Wer es heute unternimmt, eine Luxemburg-Biografie zu verfassen, hat ge-
         genüber früheren Biografen den großen Vorteil, dass seit wenigen Jahren
         das Werk von Rosa Luxemburg nahezu vollständig ediert ist. Lediglich
         der achte Band der Werkausgabe fehlt noch, der die polnischen Schriften
         enthalten wird, die in Einzelausgaben aber inzwischen ebenfalls vorliegen.
         Bis dieser Punkt erreicht war, musste ein ungewöhnlich langer und steini-
         ger Weg zurückgelegt werden. Zunächst hatte die Freundin Luise Kautsky
         einen ersten Band mit Briefen herausgebracht,17 dem ein zweiter folgen
         sollte, den Kautsky mit Rosas Bruder Józef Luxemburg als Vertreter der
         Erben bereits verabredet hatte. Doch der Bruder schloss mit der KPD ei-
         nen Generalvertrag,18 sodass dieser zweite Briefband nicht erscheinen
         konnte.19 1921 setzte das Exekutivkomitee der Kommunistischen Interna-
         tionale (EKKI) ein Komitee zur Herausgabe des Nachlasses ein,20 dem
         Clara Zetkin, Adolf Warski, Julian Marchlewski und Edwin Hoernle an-
         gehörten.21 Die Redaktion der Bände lag in den Händen von Paul Frölich.
         Von der geplanten Ausgabe erschienen allerdings lediglich drei Bände:

            Bd. VI: Die Akkumulation des Kapitals, 1923
            Bd. III: Gegen den Reformismus, 1925
            Bd. IV: Gewerkschaftskampf und Massenstreik, 192822

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1928 wurde Frölich als Brandlerist aus der KPD ausgeschlossen, was den
        Fortgang der Arbeiten zum Erliegen brachte. Daneben gab es die von der
        KPD nicht autorisierten Editionsarbeiten Paul Levis, der 1922 das Manu-
        skript Die Russische Revolution23 herausbrachte und 1925 die Einführung in
        die Nationalökonomie24.
           Nach 1933 war an eine Fortsetzung der Editionsarbeit nicht zu denken.
        Als das NS-Regime überwunden und der Zweite Weltkrieg vorbei war,
        lebten von den ursprünglich an der Edition Beteiligten nur noch Hoernle
        und Frölich, die jedoch schon zu Beginn der 50er Jahre starben. Deutsch-
        land war geteilt in die antikommunistische Bundesrepublik und die sta-
        linistische DDR, was für eine erneute Luxemburg-Rezeption keine güns-
        tigen Voraussetzungen bot. Im Westen erschien in den Jahren der Stu-
        dentenbewegung eine dreibändige Auswahlausgabe, in der DDR war
        schließlich der 100. Geburtstag Luxemburgs Anlass dafür, einen ernsthaf-
        ten Anlauf für eine Werkausgabe zu unternehmen,25 die diesen Namen
        verdiente. Es dauerte fünfzehn Jahre, bis jeweils fünf Bände Werke und
        Briefe veröffentlicht waren. Ein weiterer Briefband, der auch zuvor Un-
        erwünschtes enthielt, erschien 1993, sodass die Briefausgabe, die eine
        Quelle von nicht zu überschätzender Bedeutung ist, schon wesentlich län-
        ger vollständig vorliegt als die Werkausgabe. Sie enthält insgesamt 2 696
        Briefe an 150 verschiedene Adressaten. Im Zentrum stehen die Zeugnisse
        persönlicher Verbindungen. Allein die Briefe an Leo Jogiches (938), Kostja
        Zetkin (613), Paul Levi (55) und Hans Diefenbach (22) machen gut sech-
        zig Prozent des Gesamtbestandes aus. Leider sind keine Briefe an
        Władysław Feinstein erhalten. Auch Briefe an andere wichtige Freunde
        wie Alexander Parvus und Paul Frölich liegen nicht vor.26 Ein knappes
        Fünftel der erhaltenen Briefe ging an Luxemburgs Freundinnen Clara
        Zetkin (200), Luise Kautsky (64), Mathilde Wurm (10), Marta Rosen-
        baum (35), Mathilde Jacob (153) und Sophie Liebknecht (35). Nur ver-
        gleichsweise wenige Briefe sind dagegen ganz von politischen Fragen be-
        stimmt. So gibt es z. B. ganze drei Briefe an August Bebel, einen einzigen
        an Lenin, jeweils drei an Karl Liebknecht und Wilhelm Pieck und vier an
        Karl Radek.27

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Sehr lückenhaft ist leider die Gegenüberlieferung. So müssen die zahl-
         losen Briefe von Leo Jogiches, die es offensichtlich gegeben hat, als verlo-
         ren gelten, zumal er die Empfängerin immer wieder mit der ihm eigenen
         Strenge anwies, aus Gründen der Konspiration alles nach der Lektüre zu
         vernichten. Immerhin kann man ihren Inhalt zum Teil aus Luxemburgs
         Antworten erschließen. Aber es gibt vermutlich noch Gegenüberlieferun-
         gen, die der Erschließung durch die Forschung harren. Annelies Laschitza
         hat auf dieses Forschungsdesiderat zu Recht hingewiesen.28 Sehr hilfreich
         sind, nicht nur in diesem Zusammenhang, die neuerdings vorliegenden,
         von Jörn Schütrumpf vorzüglich betreuten Editionen der Briefe und
         Schriften von Paul Levi und Clara Zetkin. Sie helfen, Licht ins weitge-
         hende Dunkel der Gegenüberlieferungen zu bringen.

                                                 *

         Ein Wissenschaftler ist kein wie eine Maschine akademische Prosa pro-
         duzierendes Neutrum, sondern ein Mensch mit subjektiven Neigungen
         und persönlichen Überzeugungen. In den Geisteswissenschaften ist das
         naturgemäß noch stärker spürbar als in den Naturwissenschaften. Die
         drei wichtigsten Luxemburg-Biografien zeigen das sehr deutlich. Peter
         Nettl war ein junger Linker, vom revolutionären Geist seiner Zeit durch-
         drungen, der sich Rosa Luxemburg, ihrem Wollen und Wirken, mit gro-
         ßer Sympathie und einer bemerkenswerten geistigen Durchdringung
         genähert hat. Dabei zeigte er sich offen für Diskussionen und nahm in
         sein Buch sogar einen längeren Brief von Karl Kautsky junior auf, der
         sich darüber beschwerte, dass Nettls Buch seinem Vater nicht in allem
         gerecht werde. Nettls weit ausgreifende Darstellung, die ins Deutsche,
         Französische, Italienische, Spanische, Türkische und Ungarische über-
         setzt wurde, hatte eine enorme Resonanz und gab den wohl wichtigsten
         Anstoß für die Wiederentdeckung Luxemburgs in der Umbruchphase
         der 1968er-Jahre, der die intensive Auseinandersetzung mit ihrem Den-
         ken in der Zeit des Eurokommunismus folgte. Er war ein »linksbürger-
         licher« Autor und stellte für die Orthodoxie der DDR-Historiografie

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eine große Herausforderung dar. Nettls Biografie ist die bis heute bedeu-
        tendste. Es ist bewundernswert, wie weit seine Darstellung noch immer
        trägt, wenn man bedenkt, dass ihm nur ein Bruchteil der heute bekann-
        ten Quellen zur Verfügung stand. Peter Nettl war ein ungewöhnlich be-
        gabter junger Wissenschaftler, leider ist er 1968 mit 42 Jahren tödlich
        verunglückt.
           Elżbieta Ettinger hat von allen Biografen die empathischste Lebensbe-
        schreibung vorgelegt. Die biografischen Parallelen sind unübersehbar. Et-
        tinger war 1925 in Warschau zur Welt gekommen. Sie überlebte wie durch
        ein Wunder die nationalsozialistische Verfolgung. Es gelang ihr, aus dem
        Warschauer Getto zu fliehen. Sie schloss sich dem polnischen Widerstand
        an und arbeitete nach dem Krieg für das polnische Außenhandelsminis-
        terium. Als nach dem Sechstagekrieg 1967 die Staaten des Ostblocks von
        einer Welle des Antisemitismus erfasst wurden, emigrierte sie in die USA,
        wo sie als Hochschullehrerin tätig war und u. a. Biografien über Hannah
        Arendt und Rosa Luxemburg verfasste. Ettinger zeichnet, mit deutlich er-
        kennbarer Sympathie, das Bild einer bedeutenden polnisch-jüdischen In-
        tellektuellen, das sich durch große Lebendigkeit auszeichnet, faktogra-
        fisch allerdings nicht immer zuverlässig ist. Ettinger hat, ausweislich ihrer
        Bibliografie, in vielen Archiven gearbeitet und mit vielen Personen spre-
        chen können, die inzwischen verstorben sind, darunter auch Verwandten
        von Rosa Luxemburg. Leider ist oftmals nicht nachvollziehbar, wie sie
        ihre Erkenntnisse gewonnen hat.
           Annelies Laschitza hat ihr langes Forscherleben im wissenschaftlichen
        Umfeld des ZK der SED verbracht und sich sehr große Verdienste
        um die Rosa-Luxemburg-Forschung erworben. Dabei hat auch das je-
        weils politisch erwünschte Luxemburg-Bild Eingang in ihre Darstellun-
        gen gefunden, was sie inzwischen in einigen Veröffentlichungen auch
        selbstkritisch reflektiert hat.29 Allerdings ist auch ihre nach dem Ende
        der DDR verfasste Biografie von einem ideologisch geformten Ge-
        schichtsbild geprägt. Und es finden sich dort Sätze wie diese: »Einen fes-
        ten Halt gab ihr die Partnerschaft mit Leo Jogiches, der sie unbändig
        liebte und nicht selten als der weiter und schärfer Blickende wie ein

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theoretisches und praktisches Gewissen für sie war. Mitunter wurde dies
         ihr lästig, führte zu kleinen Reibereien, letztendlich aber forderte sie die
         Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit ihm zu ungewöhnlichen Leistun-
         gen heraus.«30 Wir erfahren weiter, dass Jogiches ein Revolutionär im
         edelsten Sinne des Wortes war, der als große Mannespersönlichkeit in
         treuer, beglückender Kameradschaft eine große Weibespersönlichkeit
         neben sich zu ertragen vermochte, sodass auch aus Luxemburg eine
         kühne Revolutionärin werden konnte.31 Diese Klassenkampfprosa trans-
         portiert nicht nur Tatsachenbehauptungen, die keiner Überprüfung
         standhalten. Sie offenbart auch ein Frauenbild von abenteuerlicher
         Antiquiertheit.
            Alle drei Biografien sind von starken, jeweils ganz unterschiedlichen
         Sympathien für Rosa Luxemburg geprägt. Sie beleuchten deshalb auch in
         ganz unterschiedlicher Weise ihre Persönlichkeit und ihren Lebensweg.
         Wer sich intensiv mit ihr beschäftigen will, kann sie auch heute noch alle
         drei mit Gewinn zur Hand nehmen, idealerweise in Kombination. Dane-
         ben gibt es auch Wissenschaftler, die keine Biografien verfasst, aber den-
         noch bedeutsame Forschungserträge vorgelegt haben, die Wesentliches
         beitragen zu dem, was wir heute über Rosa Luxemburg wissen. Ich nenne
         stellvertretend Klaus Gietinger, Holger Politt, Ottokar Luban und Feliks
         Tych.
            Auch ich bin als Wissenschaftler kein Neutrum. Ich vertrete – als Wis-
         senschaftler wie als Mensch – Überzeugungen, die in den Bewertungen,
         die in ein Buch wie dieses unweigerlich einfließen, auch sichtbar werden.
         Schon als Student habe ich mich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung
         beschäftigt, und als ich 1988 den Fragebogen des FAZ-Magazins auszufüllen
         hatte, habe ich auf die Frage »Ihre Heldinnen in der Geschichte?« geant-
         wortet: »Rosa Luxemburg und ihre Schwestern im Geiste«,32 was mir
         damals einige antikommunistisch eifernde Leserbriefe eingebracht hat.
         Ich finde – wie so viele Menschen – Rosa Luxemburg bis heute faszinie-
         rend, bin aber deshalb noch lange kein Anhänger der Idee der Diktatur
         des Proletariats. Im vorliegenden Buch habe ich mich wie in all meinen
         Büchern bemüht, das Geschehene differenziert darzustellen und dabei

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meine eigenen Überzeugungen so vorzutragen, dass auch erkennbar wird,
        was Anhaltspunkte für eine abweichende Bewertung der Ereignisse sein
        könnten. Ob mir das immer gelungen ist, möge der geneigte Leser33 ent-
        scheiden.

                                                 *

        Viele Menschen haben zum Gelingen dieses Buches beigetragen. Ganz
        besonderen Dank schulde ich Ottokar Luban, dem langjährigen General-
        sekretär der Rosa-Luxemburg-Gesellschaft, der mich in ganz ungewöhn-
        lich liebenswürdiger Weise an seinem unerschöpflichen Wissen teilhaben
        ließ. Das hat mir den Einstieg in dieses Buchprojekt erheblich erleichtert.
        Jörg Becken habe ich für die Vorbereitung und Organisation meiner Ar-
        chivreise nach Polen zu danken. Julia Pohlmann hat mir sehr geholfen bei
        der Übersetzung der polnischen Quellen und Literatur, da ich der Mut-
        tersprache von Rosa Luxemburg leider nicht mächtig bin. Sehr zu Dank
        verpflichtet bin ich auch den Mitarbeitern der Archive, in denen ich gear-
        beitet habe, ganz besonders denen des Archivs für soziale Demokratie
        (Bonn), deren Hilfsbereitschaft ich sehr strapaziert habe. Für wichtige
        Hinweise, Unterstützung und Informationen danke ich außerdem:
        Prof. Dr. Alexander Gallus, Dr. Manfred Jehle, Sven Felix Kellerhoff, Dr.
        Anja Kruke, Prof. Dr. Helmut Milz, Dr. Max Roehl, Prof. Dr. Benjamin
        Ziemann.
           Ein Werk wie dieses Buch kann nicht ohne viele Helfer auskommen.
        Mein Verleger Holger Kuntze hat das Projekt von Anfang an mit dem
        Enthusiasmus begleitet, ohne den kein Autor auskommt. Ihm, meinem
        Lektor Edgar Bracht und den anderen Mitarbeitern des Blessing Verlags
        danke ich sehr für ihre Unterstützung. Auch mein Agent Peter Fritz hat
        den Fortgang der Arbeit stets mit wachem Interesse begleitet. Die Zusam-
        menarbeit mit dem Bildredakteur Dr. Manfred Jehle, mit dem ich schon
        viele schöne Buchprojekte realisieren durfte, war auch diesmal wieder
        eine große Freude. Ulrike Plessow von BuchContact hat gemeinsam mit
        ihren Mitarbeiterinnen einmal mehr großartige Öffentlichkeitsarbeit ge-

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leistet. Dafür bin ich sehr dankbar. Nachdem ich vor einigen Jahren eine
         Augenoperation hinter mich gebracht habe, brauche ich nach einem hal-
         ben Jahrhundert mit Brille inzwischen keine mehr. Cordula Giese danke
         ich deshalb sehr für wunderbare neue Autorenfotos.
            Heike Roehl hat meine intensive Liaison mit Rosa Luxemburg in be-
         wundernswerter Weise geduldet. Sie hat mir darüber hinaus, wenn ich
         angesichts der unerschöpflichen Fülle des Materials zu verzagen drohte,
         immer wieder die Gewissheit zu vermitteln vermocht, dass das Unterneh-
         men irgendwann zu einem guten Ende kommen würde. Dafür gebührt
         ihr ganz besonderer Dank.

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I

                                                 Zamość

        R   osa Luxemburg wurde in der Kleinstadt Zamość, etwa 250 Kilometer
            südöstlich von Warschau, geboren, die einst Jan Zamoyski gegründet
         hatte. Er gehörte einer der bedeutendsten polnischen Familien an, die in
         den letzten 500 Jahren eine Fülle bemerkenswerter Persönlichkeiten her-
         vorgebracht hat, deren jüngste der Historiker Adam Zamoyski ist, dem
         wir ein großartiges Buch über das für die polnische Geschichte so bedeut-
         same Jahr 1812 verdanken.34 Jan Zamoyski prägte über Jahrzehnte hinweg
         das politische Leben in Polen wie kaum ein anderer. Er stammte aus einer
         calvinistischen Familie, ging zum Studium nach Paris und später nach
         Padua, wo er 1563 – gerade einmal 21 Jahre alt – Rektor der Universität
         wurde. Wenige Jahre später kehrte er in die Heimat zurück, wurde 1566
         königlicher Sekretär, 1576 Kanzler, 1578 Großkanzler und 1581 Großhet-
         man der polnischen Krone. In dieser Eigenschaft befehligte er das Heer
         des Königreichs Polen und Litauen. Daneben unterhielt Zamoyski auch
         eine Privatarmee mit mehreren Tausend Soldaten. Er war im Seijm, dem
         Parlament, das unter anderem den König wählte, Anführer der Partei der
         Szlachta. Das war der niedere Adel, dem etwa ein Zehntel der polnischen
         Bevölkerung angehörte. Die Szlachta war bis zur Niederschlagung des
         Januaraufstands 1863 die maßgebliche Trägerin der politischen Willens-
         bildung in Polen.
            Zamoyski war sehr reich. Er besaß zwei Dutzend Städte und Hunderte
         von Dörfern. 1580 gründete er nahe seinem Geburtsort Skokówa die Stadt

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Zamość, in deren Namen er sich verewigte. 1588 konstituierte sich auf
        Zamoyskis Initiative dort eine jüdische Gemeinde, und 1595 wurde feier-
        lich eine Akademie eröffnet, die jungen Angehörigen der Szlachta die
        humanistische Bildung nahebringen sollte. Zamość wurde von dem vene-
        zianischen Baumeister Bernardo Morando ganz im Stil der Renaissance
        erbaut. Die Altstadt gruppiert sich um den großen, fast quadratischen
        Marktplatz, an dem auch das Rathaus steht, ein gewaltiger Bau mit einer
        großen geschwungenen Freitreppe und einem achteckigen Glockenturm.
        Den Platz säumen Häuser, deren Fassaden von großer Schönheit sind.
        Das ganze Ensemble ist bis heute erhalten und wurde 1992 von der
        UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt.
           Zamość gehörte nach der ersten polnischen Teilung 1772 zum Kron-
        land Galizien und Lodomerien und damit zum Habsburger Reich. 1809
        wurde die Stadt russisch und gehörte ab 1815 zum Königreich Polen. Das
        war ein konstitutionelles Königreich, das bei der vierten und endgültigen
        Aufteilung der polnischen Gebiete auf dem Wiener Kongress geschaffen
        wurde. Daher stammt seine umgangssprachliche Bezeichnung Kongress-
        polen. Dieses Königreich Polen war durch Personalunion mit dem Russi-
        schen Reich verbunden, und nach dem Januaraufstand 1863 wurden alle
        seine Zentralbehörden aufgelöst, sodass Kongresspolen nur noch eine
        Provinz des Zarenreiches war.
           Die Stadt Zamość entwickelte sich gut und hatte Ende des 19. Jahrhun-
        derts etwa 7 000 Einwohner, von denen die Mehrheit der jüdischen Ge-
        meinde angehörte. Die Gemeinde war von Gegnern des Chassidismus
        dominiert. Der osteuropäische Chassidismus war eine religiöse Erneue-
        rungsbewegung, die auf das Studium der Tora großen Wert legte, die aber
        auch auf kabbalistische Traditionen rekurrierte und dem religiösen Ge-
        meinschaftserlebnis hohe Bedeutung beimaß, sodass sie oftmals eine mys-
        tische Ausprägung gewann. Zamość dagegen war ein wichtiges Zentrum
        der Haskala, der jüdischen Aufklärungsbewegung, als deren bedeutends-
        ter Vertreter der deutsche Philosoph Moses Mendelssohn gilt. 1939 lebten
        mehr als 28 000 Menschen in Zamość, unter ihnen 12 500 Juden. Es
        gab zwei Synagogen und neun Bethäuser, außerdem neun Bibliotheken,

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vier Buchhandlungen und drei Druckereien. Es erschienen zahlreiche
         Zeitschriften, unter anderem die Zamoscher Shtime, die von der zionis-
         tisch-sozialistischen Partei Poale Zion publiziert wurde.35
            Nach dem deutschen Überfall auf Polen wurde Zamość am 12. Okto-
         ber 1939 Teil des Distrikts Lublin innerhalb des »Generalgouvernements
         für die besetzten polnischen Gebiete«. Schon bald gingen die Deutschen
         daran, die im »Generalplan Ost« niedergelegten Germanisierungsabsich-
         ten mit ungehemmter Brutalität in die Tat umzusetzen. Am 12. Novem-
         ber 1942 erklärte Heinrich Himmler, den Adolf Hitler zum »Reichskom-
         missar für die Festigung deutschen Volkstums« ernannt hatte, den Kreis
         Zamość zum deutschen Siedlungsgebiet. Im Zuge der »Aktion Zamość«
         sollten etwa 130 000 Polen aus der Stadt und den umliegenden Dörfern
         vertrieben werden und Platz machen für 9 000 deutsche »Neusiedler«. So
         sollte der von den Nationalsozialisten propagierte »Lebensraum im Os-
         ten« für das deutsche Volk geschaffen werden. Die Mehrheit der Polen
         konnte fliehen, viele von ihnen gingen in den Untergrund und schlossen
         sich den Partisanen an, aber 51 000 wurden deportiert.
            Für die jüdische Bevölkerung von Zamość war nicht die Vertreibung,
         sondern die Vernichtung vorgesehen. Vom 27. September bis 5. Oktober
         1939 war die Stadt in der Hand der Russen gewesen, viele Juden verließen
         mit den russischen Truppen die Stadt, für die verbleibenden 4–5 000
         wurde im Frühjahr 1941 ein Getto in der Stadt errichtet.36 Im Mai 1942
         begannen die Deportationen in das Vernichtungslager Bełżec, etwa 50 Kilo-
         meter südöstlich von Zamość. Sie waren nach wenigen Monaten abge-
         schlossen, und am 18. Oktober 1942 wurde Zamość offiziell für »juden-
         rein« erklärt. Wenn die Deutschen den Krieg gewonnen hätten, würde die
         Stadt heute »Himmlerstadt« heißen. Gott sei Dank gewannen sie ihn
         nicht.
                                                 *

         Am 5. März 1871 kam Rozalia Luxenburg, die sich später Rosa Luxemburg
         nannte, in Zamość zur Welt. 1871 war ein historisches Schicksalsjahr. Am
         18. Januar wurde der preußische König Wilhelm I. im Spiegelsaal von Ver-

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sailles zum deutschen Kaiser gekrönt. Damit war das Deutsche Reich
        konstituiert, das ab 1898 für Rosa Luxemburg zur Stätte ihres Wirkens
        werden sollte. Vom 18. März bis zum 28. Mai 1871 herrschte in der Haupt-
        stadt des von den Deutschen besiegten Frankreich die Pariser Kommune,
        nach der Überzeugung von Karl Marx die erste Verwirklichung der Dik-
        tatur des Proletariats. Ihre außerordentlich brutale Niederschlagung
        durch französische Regierungstruppen kostete Zehntausende Menschen
        das Leben und machte die Pariser Kommune zum zentralen Erinnerungs-
        ort der europäischen Arbeiterbewegung. Oberbefehlshaber der Streit-
        kräfte der Kommune war der Pole Jaroslaw Dabrowski, ein revolutionärer
        Demokrat, der wegen Umsturzbestrebungen zu 15 Jahren Verbannung
        verurteilt worden war. Nach vier Jahren gelang ihm die Flucht aus Sibi-
        rien, und er ging nach Frankreich. Am 23. Mai 1871 fiel er beim Barrika-
        denkampf am Montmartre.
           Rosa Luxemburg, die stets gegen die Wiedererrichtung des polnischen
        Nationalstaats gekämpft hatte, ist bis heute wenig gelitten im Land ihrer
        Geburt. Den meisten Polen gilt sie als Verräterin. Dennoch gab es Mitte
        der 1960er-Jahre eine Korrespondenz zwischen der Polnischen Vereinigten
        Arbeiterpartei, wie die Kommunistische Partei in Polen hieß, und dem
        Stadtrat von Zamość. Es ging um die Einrichtung eines kleinen Museums
        in Luxemburgs Geburtshaus und um die Anbringung einer Gedenk-
        tafel.37 Das Museum wurde nie verwirklicht, die Gedenktafel gab es von
        1979 bis 2018. Allerdings war sie in der Ulica Staciza angebracht, unter
        dem Laubengang an der Südseite des Marktplatzes. Tatsächlich kam Rosa
        Luxemburg zwei Straßen weiter südlich zur Welt, in der Ulica Tadeusza
        Kościuszki. Damals, unter russischer Fremdherrschaft, war die Straße aller-
        dings nicht nach dem polnischen Nationalhelden Tadeusz Kościuszko be-
        nannt, sondern hieß einfach Ulica Ogrodowa, zu Deutsch Gartenstraße.38
           Das Haus in der Gartenstraße hatte zunächst Rosa Luxemburgs Groß-
        vater Abraham gehört. Abraham Luxenburg hatte seine Jugendjahre
        allem Anschein nach in Warschau verbracht, bevor er 1828 im Alter von
        22 Jahren Chana (Anna) Szlam heiratete und sich in Zamość niederließ.39
        Aus dieser Ehe gingen acht Kinder hervor. Nach Chanas Tod 1848 heira-

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tete Abraham Amalia Lewinsztajn (Löwenstein), die Tochter des Rabbis
         von Meseritz, die ihm zwei weitere Kinder gebar. Nach ihrem Tod heira-
         tete er Amalias jüngere Schwester Golda, die jedoch nach kurzer Zeit
         ebenfalls verstarb. Ein viertes Mal heiratete Abraham nicht. Stattdessen
         verließ er Zamość und zog nach Berlin, wo er 1872 starb.
            Abraham Luxenburg war ein erfolgreicher Geschäftsmann, der mit
         Holz handelte und internationale Verbindungen pflegte. Er war einer der
         reichsten Bürger von Zamość, hatte Verbindungen zu Angehörigen der
         Szlachta und spielte auch eine wichtige Rolle in der jüdischen Gemeinde.
         Er war ein entschiedener Vertreter der Haskala, deren Anhänger, die Mas-
         kilim, für die Trennung von Religion und Staat eintraten und für die Öff-
         nung der jüdischen Gemeinschaft gegenüber der nichtjüdischen Mehr-
         heitsgesellschaft. Die Juden in Zamość verstanden sich in ihrer großen
         Mehrheit als polnische Patrioten, die ihre christlichen Landsleute bei
         ihrem Kampf gegen die russische Fremdherrschaft nach Kräften unter-
         stützten. Als Abraham Luxenburg Zamość 1862 verließ, verkaufte er das
         Haus in der Gartenstraße an seinen erstgeborenen Sohn Edward, der seit
         1853 mit Lina Löwenstein verheiratet war, der jüngeren Schwester der
         zweiten und dritten Frau seines Vaters. Die drei Schwestern hatten auch
         einen Bruder, Bernhard, er war Rabbi der jüdischen Reformgemeinde im
         galizischen Lemberg. Sein Sohn, Rosas Cousin, war der Rechtsanwalt Na-
         than Löwenstein, der 1895 in den Landtag des habsburgischen Kronlandes
         Galizien und Lodomerien gewählt wurde und in Lemberg den jüdischen
         Bürgerklub mit begründete. Unter den Vorfahren von Lina Löwenstein
         gibt es viele Rabbiner. Der bedeutendste von ihnen war Jakob Jehoschua
         Falk, der, 1680 in Krakau geboren, Oberrabbiner in Lemberg und Frank-
         furt am Main war und 1756 in Offenbach starb. Aber genau wie Karl Marx
         sprach Rosa Luxemburg nie von den vielen jüdischen Gelehrten, die
         ihren Stammbaum schmückten.
            Edward Luxenburg (1830–1900) und Lina Löwenstein (1835–1897) hat-
         ten fünf Kinder: Chana (Anna) (1854–1925), Nathan (Mikolaj) (1855–1940),
         Maksymilian (1860–1943), Józef (1866–1934) und Rozalia (1871–1919). Ed-
         ward trat in die Fußstapfen seines Vaters, führte den Holzhandel weiter

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delte nicht nur mit Holz, wie sein Vater, sondern auch mit militärischem
         Material. Auf Wunsch von Andrzej Artur Zamoyski, einem der Führer
         des Januaraufstands von 1863, schmuggelte Edward Luxenburg Waffen
         von Schweden nach Litauen.41 Wie sein Vater gehörte auch Edward zu
         den angesehensten und reichsten Bürgern der Stadt. Das zeigt auch ein
         Dokument aus dem Jahr 1871. Es handelt sich um eine vollständige Auf-
         listung der Einrichtungsgegenstände und des Hausrats der Familie Lu-
         xemburg.42 Sie sind Zeugnis eines ausgesprochen großbürgerlichen Le-
         bensstils. Der Hausrat ist nicht nur sehr umfangreich, es gibt sieben
         Tische, 24 Stühle, sieben Schränke und Kommoden und zwölf Betten
         und Sofas. Viele Gegenstände sind auch aufwendig und hochwertig ver-
         arbeitet. Es gibt gold- und messinggerahmte Spiegel, acht gerahmte Öl-
         gemälde, Damastdecken, Bücherschränke und Skattische aus Eschenholz
         und vieles andere, was auf ein reges gesellschaftliches Leben schließen
         lässt. Entsprechend umfangreich ist die Ausstattung mit Geschirr und
         Wäsche. Natürlich ist auch ein Tallit verzeichnet, der Gebetsschal für
         gläubige Juden.
             Auf die herausgehobene gesellschaftliche Stellung von Edward Luxen-
         burg weisen vor allem zwei Positionen in der Liste hin. Er besaß einen
         doppelreihigen Delia. Das war ein prächtiger, reich verzierter Mantel, wie
         ihn die Angehörigen der Szlachta trugen. Als Wert sind zehn Rubel an-
         gegeben, etwa so viel, wie alle anderen Mäntel zusammen wert waren.
         Außerdem sind, und das ist noch viel ungewöhnlicher, zwei Thorarollen
         aufgeführt. Mit 26 Rubeln sind sie die mit weitem Abstand am höchsten
         bewerteten Gegenstände. Thorarollen waren etwas sehr Wertvolles und
         kamen in Privathaushalten kaum vor. Wir wissen nicht, ob es sich tatsäch-
         lich um Luxenburgs Privateigentum handelte oder ob er sie nur für die
         jüdische Gemeinde verwahrte, deren Vorstand er angehörte, wenngleich
         die Tatsache, dass sie in der Liste auftauchen, für Ersteres spricht. Der Ge-
         samtwert der aufgelisteten Gegenstände ist mit 497,55 Rubeln angegeben.
             Die Synagoge in Zamość wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts, kurz
         nach der Gründung der Stadt, errichtet. Der Renaissancebau gehört zu
         den eindrucksvollsten Zeugnissen jüdischer Religiosität in Polen. Das von

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den Nationalsozialisten verwüstete und beschädigte Gebäude wurde nach
        dem Zweiten Weltkrieg als Lagerhalle benutzt und erst vor wenigen Jah-
        ren umfassend renoviert. Wie so viele Synagogengebäude dient es heute
        als Museum, nachdem die jüdische Gemeinde Polens im Holocaust
        nahezu vollständig ausgelöscht worden ist.
           Im Zarenreich gab es vor dem Ersten Weltkrieg etwas mehr als fünf
        Millionen Juden, das war damals etwa die Hälfte der jüdischen Weltbe-
        völkerung. Zugleich war der russische Staat der einzige in Europa, in dem
        keine Judenemanzipation stattgefunden hatte. Die Angehörigen der jüdi-
        schen Minderheit waren gezwungen, sich im sogenannten Ansiedlungs-
        rayon niederzulassen, der auf einen Erlass von Katharina II. aus dem Jahr
        1786 zurückging und in etwa die Gebiete von Litauen, Weißrussland,
        Kongresspolen, der Ukraine, Wolhynien, Podolien und Bessarabien um-
        fasste. Dort lebten die Juden in größeren Gruppen, meist in den Städten,
        wo sie sich in geschlossenen Wohnbezirken, den Schtetlech, zusammen-
        fanden, die von beachtlicher Größe sein konnten und mancherorts sogar
        den größeren Teil der betreffenden Stadt ausmachten. Im Distrikt Lublin
        betrug der jüdische Anteil an der städtischen Bevölkerung 44,6 Prozent,
        was fast genau der Situation in Zamość entsprach.43
           Es war diese Welt, in die Edward Luxenburgs Tochter Rozalia am
        5. März 1871 hineingeboren wurde. Früher ist ihr Geburtsdatum häufig
        mit dem 5. März 1870 angegeben worden.44 Dieser Irrtum beruht vermut-
        lich darauf, dass das jüdische Neujahrsfest Rosch ha-Schana mehr als drei
        Monate vom Jahresbeginn nach unserem gregorianischen Kalender ent-
        fernt liegt, was früher immer wieder zu Umrechnungsfehlern geführt hat.
        Es gibt sogar noch ein drittes Geburtsdatum. Als Rosa Luxemburg in Zü-
        rich studierte, gab sie bei der ersten Immatrikulation 1889 das Geburtsjahr
        1870, bei der zweiten Immatrikulation drei Jahre später 1871 an.45 In ihrem
        Lebenslauf nennt sie den 5. März 187146, aber als sie dann eine Scheinehe
        mit Gustav Lübeck einging, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlan-
        gen, ließ sie in die Heiratsurkunde den 25. Dezember 1870 eintragen, ein
        Datum, das sich auch noch in zwei anderen Dokumenten findet.47 Als die
        niederländischen Sozialisten Henriette und Rik Roland-Holst im Dezem-

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ber 1906 zum Geburtstag gratulierten, antwortete Luxemburg jedoch:
         »Ich danke Dir und Rik herzlich für die Geburtstagskarte, über die ich
         gelacht habe: mein ›offizielles‹ Geburtsdatum ist nämlich falsch (ganz so
         alt bin ich nicht), ich habe doch, als anständiger Mensch, keinen echten
         Geburtsschein, sondern einen ›angeeigneten‹ und ›korrigierten‹.«48 Wir
         dürfen also davon ausgehen, dass der 5. März 1871, der heute auch allge-
         mein genannt wird, das richtige Geburtsdatum ist.
            Die Familie Luxenburg lehnte die jüdische Orthodoxie ab, sie be-
         kannte sich aber zu ihrer jüdischen Identität und zugleich auch ausdrück-
         lich zur polnischen Kultur. Zu Hause wurde Polnisch gesprochen, aber
         auch Deutsch und Russisch, genau wie in den meisten jüdischen Fami-
         lien. Rozalias Mutter sprach vorzugsweise Jiddisch, eine Sprache, die die
         erwachsene Rosa Luxemburg, ebenso wie die Zionisten, als »Jargon« ab-
         lehnte. Dennoch benutzte sie das Jiddische später, um sich während der
         SPD-Parteitage Notizen zu machen, vermutlich, weil das außer ihr kaum
         jemand lesen konnte.
            Polnisch war die Sprache, in der Luxemburg sich am meisten zu Hause
         fühlte. Als sie 1887 das II. Warschauer Frauengymnasium mit einem glän-
         zenden Abschlusszeugnis verließ, erhielt sie in den Fächern Russisch,
         Deutsch und Französisch die Note »sehr gut«, in Polnisch aber »ausge-
         zeichnet«. Und 13 Jahre später, als sie schon in Berlin lebte, schrieb sie an
         ihren Geliebten Leo Jogiches, sie fürchte sich vor seiner russischen Spra-
         che, die sie gänzlich verlernt habe: »Mein Leo sollte eigentlich polnisch
         mit mir sprechen.«49 Dass sie Russisch verlernt hatte, stimmte natürlich
         nicht. Eher war es so, dass Jogiches erst auf ihre Initiative hin Polnisch ge-
         lernt hatte, es aber nicht so gut beherrschte wie Russisch, Luxemburg wie-
         derum das Russische nicht ganz so vertraut war und sie für die intime
         Kommunikation Deutsch oder Polnisch bevorzugte.
            Das zitierte Abschlusszeugnis vermerkte auch, die Schülerin Rosalie
         Luxenburg sei mosaischer Konfession.50 Später verließ sie die jüdische Ge-
         meinde. Aber sie blieb immer geprägt von ihrer Herkunft und dem mas-
         kilischen Milieu, in dem sie aufgewachsen war. Rosa Luxemburg war eine
         typische Vertreterin des assimilierten Judentums, die sich gelegentlich

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auch zu spöttischen Bemerkungen über orthodoxe Ostjuden hinreißen
        ließ, was sie aber nicht hinderte, sich gegenüber ihrem Geliebten Leo
        Jogiches als seine Mame zu bezeichnen. Sie bewunderte die polnische
        Kultur, namentlich den großen Dichter Adam Mickiewicz, von dessen
        Versepos Pan Tadeusz, der polnischen Nationaldichtung, sie ganze Passa-
        gen zitieren konnte.51 Gleichzeitig lehnte sie jeglichen Nationalismus ent-
        schieden ab. Luxemburg machte von ihrem Judentum kein Aufhebens,
        setzte sich aber gegen Antisemitismus entschieden zur Wehr, wenn es
        nottat. 1910 begann in Polen eine Hetzkampagne gegen die SDKPiL, die
        auch nicht davor zurückschreckte, Luxemburg persönlich anzugreifen
        und sich zu der bemerkenswert geschmacklosen These verstieg, ihre kör-
        perliche Behinderung sei ein Beispiel jüdischer Degeneration.52 Gegen
        diese Kampagne ging sie mit einer ganzen Artikelserie vor, die auf Pol-
        nisch und Deutsch erschien.53
           Rosa Luxemburg fühlte sich am wohlsten unter ihresgleichen, unter
        Sozialisten, die aus jüdischen Familien stammten, die aber die Welt der
        jüdischen Gemeinden hinter sich gelassen hatten. Dies traf auf Leo Jogi-
        ches, den wir bei aller Kompliziertheit ihrer Beziehung als die Liebe ihres
        Lebens bezeichnen dürfen, genauso zu wie auf Paul Levi, mit dem sie we-
        nige Jahre vor ihrem Tod eine Liebesbeziehung hatte und der dann zu
        ihrem intellektuellen Testamentsvollstrecker wurde. Auch für weniger
        wichtige Männer in ihrem Leben wie Władysław Feinstein gilt dies und
        für Parteifreunde wie Alexander Parvus oder Karl Kautsky. Auch der zu-
        nächst von Luxemburg sehr geschätzte Karl Radek war ein »Kind der
        Haskala«54. Und es gilt, mit Ausnahme von Clara Zetkin, für alle ihre
        engen Freundinnen, für Luise Kautsky, die später in Auschwitz ermordet
        wurde, für ihre wichtigste Mitarbeiterin Mathilde Jacob und für Marta
        Rosenbaum, die beide in Theresienstadt ums Leben kamen. Viele Mit-
        glieder der Familie Luxemburg wurden nach 1939 in Konzentrationslagern
        ermordet oder von den Nationalsozialisten als Angehörige des polnischen
        Widerstands hingerichtet. Die Familie geriet nach dem deutsch-sowje-
        tischen Nichtangriffspakt von 1939 auch in die Mühlen der stalinistischen
        Vernichtungsmaschinerie. Luxemburgs Neffe Jerzy Luxemburg wurde

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1940 von den Sowjets in Katyn erschossen, andere Mitglieder der Familie
         wurden als Angehörige der Bourgeoisie nach Sibirien deportiert.55 Luxem-
         burgs Großnichte Irene Borde, die in der Sowjetunion aufgewachsen war,
         emigrierte 1973 nach Israel: »In Russland hatten wir mit dem Namen Lu-
         xemburg nur Nachteile.« Ihre Großtante sei dort als Gegnerin Lenins eine
         unerwünschte Person gewesen.56
            Zu Rosa Luxemburgs Freundinnen gehörte auch Mathilde Wurm (geb.
         Adler), die 1920 für die SPD in den Deutschen Reichstag gewählt wurde,
         1933 nach Großbritannien emigrierte und dort zwei Jahre später unter
         ungeklärten Umständen ums Leben kam. (Der Stolperstein, der in Ber-
         lin-Tiergarten für sie verlegt worden ist, spricht von einer »Flucht in den
         Tod«.) Am 16. Februar 1917 schrieb Luxemburg aus der Festungshaft in
         Wronke an die Freundin, die damals der jüdischen Gemeinde noch an-
         gehörte, einen Brief. Wurm hatte ihr den Spinoza-Roman von Berthold
         Auerbach zur Lektüre geschickt. Luxemburg antwortete ihr, sie wolle
         nicht solchen »Kitsch« lesen, und fuhr fort: »Was willst Du mit den spe-
         ziellen Judenschmerzen? Mir sind die armen Opfer der Gummiplantagen
         in Putumayo, die Neger in Afrika, mit deren Körper die Europäer Fang-
         ball spielen, ebenso nahe.« Es folgt dann ein Zitat aus einem Buch über
         die Vernichtung der Herero durch die deutschen Kolonialtruppen unter
         Führung des Generals Lothar von Trotha im Jahr 1904, ein militärisches
         Unternehmen, das heute allgemein als Völkermord gilt. Luxemburg fährt
         dann fort, dass die ungehörten Schreie der Verdurstenden in ihr so stark
         nachhallen, »dass ich keinen Sonderwinkel im Herzen für das Ghetto
         habe: Ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken und
         Vögel und Menschentränen gibt.«57
            Rosa Luxemburg war eine entschiedene Internationalistin. Die Juden-
         frage war für sie ein Resultat der Klassengesellschaft; mit ihrer Überwin-
         dung würde der Antisemitismus verschwinden, aber auch der jüdische
         Nationalismus, der Zionismus.58 Sie war sich ihrer jüdischen Herkunft
         bewusst, liebte die polnische Kultur, kämpfte für die deutsche Sozialde-
         mokratie und war eine leidenschaftlich liebende Frau, aber sie wollte auf
         keine dieser Rollen reduziert werden und lehnte den jüdischen »Sonder-

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winkel« genauso ab wie den polnischen Nationalismus oder den Feminis-
        mus. Ab 1900 führte die SPD parallel zu ihren Reichsparteitagen immer
        wieder eigene Frauenkonferenzen durch, von denen Luxemburg in all den
        Jahren nur eine, im Jahr 1911, besucht hat, ohne dort das Wort zu ergrei-
        fen. In der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift Die Gleichheit, die seit
        1892 erschien, war sie, die so viel schrieb, erstmals 1905 mit einem Beitrag
        vertreten, dessen Thema nicht etwa ein feministisches, sondern die Rus-
        sische Revolution war.59 Und zum zweiten internationalen Frauentag 1912
        hielt Luxemburg eine Rede zum Kampf um das Frauenwahlrecht. Ihr
        ging es dabei um die »Massen des weiblichen Proletariats«60. Luxemburg
        war davon überzeugt, dass die bürgerliche Gesellschaft den Frauen das
        Wahlrecht nicht zugestehen wollte, weil sie in ihrer großen Mehrheit dem
        Proletariat angehörten und so dessen politische Macht weiter stärken
        würden: »Das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht der Frauen würde
        […] den proletarischen Klassenkampf ungeheuer vorwärtstreiben und
        verschärfen.« Es ging ihr auch hier nicht um Frauenrechte, denn »durch
        den Kampf um das Frauenwahlrecht wollen wir die Stunde beschleuni-
        gen, wo die heutige Gesellschaft unter den Hammerschlägen des revolu-
        tionären Proletariats in Trümmer stürzt.«61
           Rosa Luxemburgs Ziel war die Befreiung der Menschheit durch den
        Sozialismus, nicht Rechte für einzelne Gruppen. Dafür kämpfte sie, rück-
        sichtslos gegen andere wie gegen sich selbst, und das war, so scheint es,
        schon in früher Jugend in ihr angelegt.

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II

                                                 Warschau

               Kongresspolen, Depolonisierung, Novemberaufstand, Januaraufstand

         A   ls Rosa Luxemburg zweieinhalb Jahre alt war, zog die Familie nach
              Warschau. In der Literatur wird eine Vielzahl von Gründen für den
         Umzug genannt. Dass die Präsenz der Maskilim, der Anhänger der Has-
         kala, in Zamość stark rückläufig war, sei ein Beweggrund gewesen. An-
         dere Autoren verweisen auf eine Choleraepidemie in der Provinz Lublin
         im Jahr 1873. Das mag eine Rolle gespielt haben, aber überzeugender klin-
         gen die Begründungen, die mit dem neuen Wohnort zu tun haben. War-
         schau habe für Edward Luxenburg bessere geschäftliche Möglichkeiten
         geboten, die kosmopolitischere Atmosphäre der Stadt habe ihn gereizt,
         und auch die besseren Ausbildungsmöglichkeiten für die Kinder sollen
         eine Rolle gespielt haben. Davon konnten aber nur noch die beiden
         jüngsten profitieren. Die älteren Kinder waren zum Zeitpunkt des Um-
         zugs bereits 19, 18 und 17 Jahre alt. Józef dagegen war erst sieben. Er be-
         suchte später das Gymnasium und studierte anschließend an der König-
         lichen Warschauer Universität, die der russische Zar und polnische König
         Alexander I. 1816 gegründet hatte. Die Universität war nach dem Novem-
         beraufstand 1830/31 und nach dem Januaraufstand 1863/64 jeweils für
         mehrere Jahre geschlossen worden. 1870 wurde sie wiedereröffnet, wobei

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