Fridays 4 Future - linke zeitung für politik und kultur in celle gratis!
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gratis! linke zeitung für politik und kultur in celle Nr. 94 April/Mai 2019 Fridays 4 Future _________________________________________________________________________________________________ revista Nr. 94, April/Mai 2019 1
INHALT Neue Mietwerttabelle für Hartz IV-Haushalte Konsequenz: umziehen oder zuzahlen 3 Miet-Lücke „spart“ Millionen 4 Wir streiken, bis ihr handelt Fridays 4 Future in Celle 6 Celle wird KEIN sicherer Hafen Hallo werte Leser*innenschaft, Seebrücke – Sichere Fluchtwege jetzt 10 AKH: Beschäftigte sollen Krise ausbaden 11 die Schüler*innenbewegung #fridays4future hat nicht nur unsere vollste Sympathie, sondern gibt uns auch Ostumgehung trotz Verkehrswende? 12 ein klein bisschen Hoffnung auf bessere Zeiten. Die Von Platanen, Maulwürfen und Menschen 13 Klimaschutzbewegung („Ende Gelände“) war – wenn wir ehrlich sind – weit davon entfernt, in der Gesell- Verstrahlte Panzerwracks auf TrÜbPl Bergen 14 schaft in die Nähe einer kritischen Masse zu kommen. Meldungen 16 Mit FFF kann das anders werden: The Times They Are a-Changin. Dass das nicht Selbsttäuschung sein Laternen: Neues von der Schwarzen Null 18 muss, zeigt ein Blick in die Chefetage von VW. Der Otto Haesler als Bauhaus-Architekt (2) Abschied vom Verbrennungsmotor hat dort begonnen. Dessen bloßer Ersatz durch batteriegetriebene E-Mo- Siedlung Blumläger Feld 20 bilität ist aber der falsche Weg; der Abschied von der „Schmutziger“ Strom aus Polen und Frankreich? imperialen Lebensweise ist das Terrain der Auseinan- dersetzung um die Zukunft. Anmerkungen zu Alltagslügen 22 Interview zu Critical Mass in Celle 23 Einige unserer Leser*innen werden registriert haben, dass sich unser Redaktions-Team erweitert hat. Um Jugend forscht – Regionalwettbewerb zwei weitere weiße alte Männer, die sich schwer- Forschen statt Prinzessin Lillifee 24 punktmäßig um die Themenfelder Kultur bzw. Tech- nik kümmern. Interview zu Arbeit – Leben – Kunst Wie geht das im „freien“ Fall? 26 Traurig dagegen stimmt uns, dass Holger das Café Wichtig im April aufgeben will – es ist ein Ort, den Erklärung der Vielen / Einige bleiben draußen 29 wir vermissen werden. Hier deshalb ein Dank an Hol- Rezensionen: Kopmann: Dorfidioten, Schäfer-Richter: ger & das Beste für die nächsten Jahre. Hinter Schloss und Riegel, Manneke: Guter Hirte – böse Wölfe, Barth: Kulturgutschutz 32 Eure revista Kino, Veranstaltungen & Konzerte 34 ___________________________________________________________________________________________________ 2 revista Nr. 94, April/Mai 2019
Kreisverwaltung senkt Mietobergrenze für Hartz IV-Empfänger*innen Neue Mietwerttabelle: umziehen oder zuzahlen Panik geht um in vielen Hartz IV-Haushalten im auf gestoßen, dass dies in Stadt und Landkreis Celle im Landkreis Celle. Sie sollen umziehen, weil ihre Mieten Jahr 2017 für 1.031 Haushalte sowieso schon so war. nicht „angemessen“ sind. Die Alternative: Sie zahlen die Das waren 13,4 % aller Bedarfsgemeinschaften. Ihnen Miet-Lücke aus ihrem Regelsatz. wurden monatlich rund 80 Euro weniger als die tatsäch- liche Miete erstattet. Der Landkreis „sparte“ so 987.000 Anfang Januar setzte der Landkreis Celle eine neue Euro. Diese katastrophale Situation hatte sich dabei zu- Mietwerttabelle in Kraft. Diese spiegelt die Angemes- letzt sogar Jahr für Jahr entschärft (siehe Tabelle auf der senheitsobergrenzen, d.h.: Teurer als die dort angegebe- nächsten Seite). Doch jetzt dürfte es einen Rückschlag in nen Beträge darf die Miete nicht sein. Das Ganze ist die andere Richtung geben. dann differenziert nach Haushaltsgrößen und Vergleichs- räumen. Eine Wohnung in Celle darf also mehr kosten als eine in Lachendorf, und ein Vier-Personen-Haushalt darf höhere Wohnkosten haben als ein Zwei-Personen- Haushalt. Das völlig Überraschende bei der neuen Mietwertta- belle ist: Das Wohnen in Stadt und Landkreis Celle soll im unteren Segment billiger geworden sein. Einige Bei- spiele: • In Celle bekommt ein Ein-Personenhaushalt nur noch 380 statt wie bisher 410 Euro Miete (inkl. der kalten Nebenkosten) ersetzt. • In Hermannsburg sinkt die Obergrenze für einen Ein-Personenhaushalt von 456 auf nur noch 364 Euro, ein Minus von 92 Euro oder 20 Prozent. • Ein Zwei-Personenhaushalt in Celle bekommt die Verantwortlich dafür ist die Kreisverwaltung, die in Miete statt bis zu einer Obergrenze von 458 die einer Arbeitsgemeinschaft als Teil des „Jobcenter im Bruttokaltmiete nur noch bis zu 410 Euro erstattet. Landkreis Celle“ für die „Kosten der Unterkunft“ zu- ständig ist. Sie hat bei der Hamburger Firma Koopmann • Ein Fünf-Personenhaushalt in Wietze hat jetzt eine Analytics ein Gutachten in Auftrag gegeben, Titel: „Er- Obergrenze in Höhe von 591 Euro statt 638 Euro. stellung eines schlüssigen Konzepts zur Ermittlung der angemessenen Kosten der Unterkunft SGB II/XII - Me- Was passiert, wenn die aktuelle Miete über den neuen thodenbericht 2019“. Auf Grundlage dieses rund 80.000 Obergrenzen liegt? Die Personen oder Familien – im Euro teuren Berichts sind dann die neuen Zahlen zustan- Amtssprech: Bedarfsgemeinschaften – erhalten eine de gekommen. Kostensenkungsaufforderung. Das Jobcenter im Land- kreis Celle fordert die Betroffenen auf, sich in den Am 26. Februar 2019 stellte der Chef des Unterneh- nächsten sechs Monaten eine Wohnung zu suchen, deren mens diesen Bericht den Mitgliedern des Sozialaus- Miete unterhalb der Obergrenzen der neuen Mietwertta- schusses des Kreistages vor. Die Mietwerte waren bereits belle liegt. Bis dahin wird die alte Miete weitergezahlt – seit dem 1. Januar gültig. Dies hatte Behiye Uca (Die vorausgesetzt, es können die Bemühungen zur Suche ei- Linke) schon vor der Ausschusssitzung kritisiert. Sie for- ner günstigeren Wohnung nachgewiesen werden. Wenn derte einen Bestandsschutz, mit dem Zwangsumzüge dieser Nachweis nicht gelingt, kann gekürzt werden. In verhindert würden. Doch ihr Antrag erhielt genauso we- der Regel dürfte dies aber nach spätestens nach sechs nig eine Mehrheit wie jener der SPD, die ein Gegengut- Monaten der Fall sein. achten einforderte, oder jener mit dem die FDP über- raschte. Die (Neo-)Liberalen hatten nicht nur beantragt, Was ist die gesellschaftliche Realität? Kein vernünfti- die alte Tabelle wieder in Kraft zu setzen, sondern diese ger Mensch wechselt eine Wohnung, in der man/frau sogar noch mit einem 10 %-igen Aufschlag zu versehen sich wohlfühlt oder in deren Umfeld die Kinder einen (wegen Inflationsausgleich). Freundeskreis haben, weil das Amt künftig 30 oder 50 Euro weniger erstattet. Die Miet-Lücke wird also aus der Die Kreisverwaltung vertrat im Übrigen die Ansicht, Regelleistung selbst gezahlt – egal, ob das Geld dann an- dass „die Politik“ das Ganze nichts angehen würde – es derswo fehlt. sei Teil der laufenden Verwaltung. Auf den nächsten bei- den Seiten werden wir das Thema für Interessierte noch Im Zusammenhang mit dieser Recherche sind wir dar- weiter auffächern. _________________________________________________________________________________________________ revista Nr. 94, April/Mai 2019 3
Hunderte Betroffene zahlen schon jetzt selbst drauf statt umzuziehen Miet-Lücke „spart“ Millionen Einige hundert Familien dürften in den letzten Wo- Im Bereich des Jobcenter Celle waren es 2017 genau chen Post vom Jobcenter im Landkreis Celle bekommen 1.031 Bedarfsgemeinschaften, die im Jahr fast eine Mil- haben. Im Betreff: „Kostensenkungsaufforderung – An- lion Euro aus ihrer Regelleistung zugeschossen haben. hörung“. Mitgeteilt wird zum Beispiel: Interessant: Die Zahl der selbst zuzahlenden Bedarfs- „Ab 01.01.2019 haben sich die Angemessenheitsgren- gemeinschaften ist seit 2013 kontinuierlich zurückgegan- zen der Kosten der Unterkunft verändert (Wohnungs- gen. Vor neun Jahren waren es noch über 1600 Bedarfs- marktgutachten).“ Dann kommt viel Allgemeines, bevor gemeinschaften – und damit über ein Fünftel aller Hartz es irgendwann auf der zweiten Seite heißt: „Ihre Kosten IV-Haushalte. Die zugezahlten monatlichen Beträge be- der Unterkunft (ohne Heizkosten) belaufen sich derzeit wegen sich seit Jahren zwischen 75 und 95 Euro. Die Ta- monatlich auf insgesamt xxx Euro. Für einen Zwei-Per- belle verdeutlicht eine Situation, den den wenigsten sonenhaushalt liegt der Höchstbetrag nach der bereits Kommunalpolitiker*innen so bekannt sein dürfte. erwähnten Mietwerttabelle jedoch nur bei 410,00 Euro.“ Und auf Seite Drei wird über die Konsequenz belehrt: „Es können daher ab dem 01.09.2019 nur noch die an- gemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung berück- sichtigt werden. Nach Ablauf der Übergangsfrist müssen Sie ggf. den unangemessenen Teil selbst bezahlen.“ Die Betroffenen werden darauf hingewiesen, dass sie sich "umgehend" darum bemühen müssten, „unangemessen hohe Kosten zu senken.“ Haben Sie es beim ersten Lesen verstanden? Oder an- ders gefragt: Können Sie sich vorstellen, dass Menschen, die vor vier Jahren aus Syrien oder Afghanistan gekom- men sind, problemlos verstehen, worum es geht? Aber wer es versteht, wird in Panik geraten. Denn es Fast acht Millionen Euro haben Hartz IV- steht eine Entscheidung an: Entweder sich eine Wohnung Empfänger*innen im Landkreis Celle in den Jahren 2012 zu suchen, die im behördlichen Mietspiegel als „ange- – 2017 zu ihren Mieten zugeschossen. Vor diesem Hin- messen“ ausgewiesen ist, oder künftig die Miet-Lücke tergrund ist es sicher keine gänzlich absurde These zu aus der Regelleistung zu bezahlen. behaupten, dass der Landkreis Celle mit seiner neuen Betroffen sind Menschen, die Leistungen nach dem Mietwerttabelle die jährlich eingesparten Ausgaben wie- Sozialgesetzbuch II (Hartz IV), Sozialgesetzbuch XII der über die Millionenschwelle bringen will. Warum? (Grundsicherung im Alter) oder dem Asylbewerberleis- Nur etwa 35 – 40 % der Kosten werden durch den Bund tungsgesetz (AsylbLg) bekommen. Die Diskussion dar- erstattet. über, dass die Regelleistung zu niedrig ist, wird aktuell gerade wieder intensiver geführt. Sozialgerichte proble- KdU – Ärger von Beginn an matisieren seit längerem, dass es sich bei den gezahlten Von Beginn des Hartz IV-Zeitalters an sind es die Beträgen um das Existenzminimum handelt. Und das be- „Kosten der Unterkunft“ – wie im Gesetz für Miete und deutet: Jede Kürzung geht an die Existenz. Heizkosten genannt werden –, die am häufigsten die So- zialgerichte beschäftigen. Das hat den einfachen Grund Miet-Lücke „spart“ Millionen darin, dass nicht Pauschalen gezahlt werden, sondern Und doch gehört es schon jetzt für über eine halbe nach „Angemessenheit“ erstattet wird. Und darüber lässt Million Bedarfsgemeinschaften zu ihrem Alltag, dass ih- sich trefflich streiten, weil es sich um einen „unbestimm- nen die Mietkosten nicht voll erstattet werden. Im Jahr ten Rechtsbegriff“ handelt. 2017 betrug die Differenz rund 560 Millionen Euro, d.h.: Grundlage für die Frage der „Angemessenheit“ ist im Knapp ein Fünftel zahlen aus ihrer Regelleistung rund 80 besten Fall ein „Mietspiegel“. Den aber gibt es praktisch Euro monatlich bei der Miete dazu. Das ergab eine Ant- nur in Großstädten. Ersatzweise können Jobcenter mit wort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der sogenannten Mietwerttabellen operieren, an die Gerichte Fraktion DIE LINKE vom 29.06.2018 („Drucksache die Anforderung eines „schlüssigen Konzepts“ stellen. 19/2536 - Lücke bei den Wohnkosten im Arbeitslosen- Wo es weder das eine noch das andere gibt, ist die geld II“). In dieser Antwort sind auch die Werte für die Wohngeldtabelle der Maßstab, der herangezogen wird. einzelnen Arbeitsamtsbezirke aufgelistet. Diese wird vom Bund für die Berechnung von Wohngeld ___________________________________________________________________________________________________ 4 revista Nr. 94, April/Mai 2019
erstellt. Und da die Tabelle der Wirklichkeit immer etwas Kritik ohne Mehrheit hinterherhinkt, nehmen die Gerichte die Werte der Wohngeldtabelle plus 10 Prozent. Auf welch tönernen Füßen das Gutachten von Koop- mann Analytics steht, machte in der Sozialausschusssit- Die Celler Kreisverwaltung operiert seit 2009 mit ei- zung Wolfgang Pauls (SPD) deutlich. Er wies darauf hin, ner Mietwerttabelle. Damit ist sie zwar immer wieder dass der wichtigste Baustein für die „Schlüssigkeit“ vor Sozialgerichten aufgelaufen und musste am Ende die nicht erreicht sei. Koopmann Analytics hatte zwar einen in der Regel besseren Werte der Wohngeldtabelle (plus Ausgangsbestand von 4.421 Bestandsmieten, was nach 10 Prozent) zahlen. Aber eben nur an jene, die in ein eigener Berechnung rund 13 % der Mietwohnungen im Klageverfahren gehen. Denn: Bevor es zu richtungwei- Landkreis abbildet. Letztlich flossen aber nur 2.562 Mie- senden Urteilen durch das Landessozialgericht kommen ten in die Auswertung ein, u.a. weil die Gutachter über konnte, stimmte die Kreisverwaltung im Einzelfall zu. 1000 Wohnungen herausnahmen, weil sie keine Sammel- heizung hatten. Für die Gutachter ist dies ein Sub-Stan- „Schlüssiges Konzept“ erforderlich dard, weil sie davon ausgehen, diese Angabe der Vermie- Zur rechtssicheren Gewährung der Bedarfe der Unter- ter beziehe sich auf Ofenheizungen – wer den Celler kunft (KdU) (Bruttokaltmiete und Heizkosten) muss der Mietwohnungsmarkt kennt, weiß, dass es das in der Di- Leistungsträger laut der Rechtsprechung des Bundesso- mension hier nicht mehr gibt. Es ist eher von einem zialgerichts über ein schlüssiges Konzept verfügen. Für Missverständnis bei der Beantwortung der Frage durch ein solches Konzept hat die Kreisverwaltung die Ham- die Vermieter auszugehen. Fakt ist aber, dass damit ein burger Firma Koopmann Analytics beauftragt. wesentliches Kriterium des schlüssigen Konzepts nicht erreicht wurde. Das Bundessozialgericht meint, schlüssig Ausgangspunkt der Analyse muss eine statistisch sei ein Konzept nur, „wenn die Datenbasis auf mindes- transparent ausgewertete Mietwerterhebung sein. Dafür tens 10 % des regional in Betracht zu ziehenden Miet- müssen sogenannte „Vergleichsräume“ gebildet werden wohnungsbestandes beruht“. Das hat Koopmann Analy- (siehe in der Tabelle die drei „Regionen“). Über eine Be- tics mit seinem letztlich verwandten Datensatz deutlich fragung von Wohnungsbaugesellschaften und Vermie- verfehlt. ter*innen (freiwillig) wurden Bestandsmieten ermittelt sowie Mietangebote ausgewertet. Behiye Uca (Die Linke) forderte einen Bestands- schutz. Sie argumentierte, dass doch nicht Familien zum Am Ende kam eine Tabelle heraus, die die „Mieten im Umzug aufgefordert werden dürften, denen einmal amts- einfachen Wohnungsmarktsegment“ abbilden soll. Die seitig bescheinigt worden sei, ihre Miete sei angemessen. Werte (siehe die Tabelle unten) sind in keinem Fall höher Im Sozialausschuss fanden aber Anträge von Pauls, ein als 2017 und in gerade mal zwei Fällen unverändert. Be- Gegengutachten einzuholen, sowie der Bestandsschutz- sonders gravierend sind mit 10 – 25 % die Absenkungen Antrag von Behiye Uca keine Mehrheit. im Bereich der Wohnungen für Haushalte mit sechs und mehr Personen ausgefallen. Mit einer Senkung um 25 % Wie sich wehren? sind zudem alle Ein-Personenhaushalte im Nordkreis massiv betroffen. Die Betroffenen haben ein Problem: Gegen die Kos- tensenkungsaufforderung kann kein Rechtsmittel einge- legt werden. Dies ist erst möglich, wenn die Kürzung er- folgt ist. Folgendes Vorgehen ist deshalb sinnvoll: Die „Wohnungssuche“ muss dokumentiert werden, d.h.: Zeitung kaufen und Immo-Scout beobachten und notie- ren: Wann habe ich auf welches Angebot hin angerufen. In den Bescheiden gibt es die Aufforderung, diese Nach- weise jeden Monat beim Jobcenter einzureichen. Wir sind der Auffassung, dass dies rechtswidrig ist und Nach- weise erst nachträglich erbracht werden müssen, wenn nach sechs Monaten keine Kostensenkung erfolgt ist. Wie lange das Jobcenter dieses Spiel treiben will, bleibt abzuwarten. Sollte trotz aller dokumentierten Be- mühungen eine Kürzung erfolgen, muss ein Widerspruch eingelegt werden – und nach Möglichkeit mit der Hilfe einer Beratungsstelle eine einstweilige Anordnung beim Sozialgericht angestrengt werden. Besser aber wäre selbstverständlich, wenn Proteste und Kritik aus dem Kreistag die Verwaltung zumindest zu einem Bestandsschutz veranlassen würde, d.h.: Nie- mand soll wegen der neuen Tabelle umziehen müssen. _________________________________________________________________________________________________ revista Nr. 94, April/Mai 2019 5
Wir streiken, bis ihr handelt Fridays 4 Future in Celle Seit Anfang des Jahres formiert sich in Deutschland Nicht selbstzufrieden stehen bleiben die Schüler*innen-Bewegung „Fridays4Future“ deutlich sichtbar mit Demonstrationen am 15. Februar und 15. In bin unglaublich stolz heute sehen zu können, wie viele März. Nachdem sich in den vergangenen Jahren bei uns Leute wieder weiter gegangen sind, Stolz, wie viele neue der Eindruck verfestigt hatte, das einzige, was Celler sich uns angeschlossen haben, stolz, dass wir wieder weiter Schüler*innen gesellschaftlich interessiert, seien Abi- gehen werden. Aber wir alle können heute stolz sein, für das einzustehen, woran wir glauben - und mit dem Stolz Ball und Abi-Umzug, waren wir über die Beteiligung an und der Würde können wir auch alle Kritik und Konsequen- den Demos überrascht: Jeweils knapp 500 Schüler*innen zen tragen. Doch heute wollen wir für einen Moment ste- gingen auf die Straße. (Um das einordnen zu können: henbleiben und nach vorne schauen: Ein Jahrgang an den vier Celler Gymnasien – also ohne Fachgymnasien – hat etwa 500 Schüler*innen.) Während Wo ist das Ziel? Worauf arbeiten wir zu? Wohin werden wir allerdings in anderen niedersächsischen Städten die Zah- weitergehen? len bei der März-Demonstration die vom Februar zum Es ist so, als ob wir am Tor einer neuen Welt stehen und ge- Teil deutlich übertrafen, ging es in Celle – gefühlt – rade hineinschauen können. leicht zurück. Wir müssen für die Zukunft der Celler Stadt mitdenken. Wichtig dürfte in den kommenden Wochen sein, wie Uns weiter selber informieren über Klimawandel und Nach- die Bewegung ihre Dynamik erhalten kann, wobei es haltigkeit, bei der Zukunft der Celler Stadt mitreden. Den zum einen die Aneignung unterschiedlicher Protestfor- Dialog suchen, besonders auch zur Politik. Gemeinsam men (Sternmarsch, Fahrraddemonstration, „Karneval“ überlegen, diskutieren, verändern - jetzt die Zukunft der …) für die zentralen Aktionen geht, zum anderen darum, Celler Stadt mitgestalten. dazwischen mit verschiedenen Initiativen den sozialen Dazu Verschwendung vermeiden, Verzicht bewusst nutzen, und politischen Zusammenhang zu stärken und regional Verantwortung beim Kaufen übernehmen. [...] und bundesweit zu vernetzen. Wir werden in dieser neuen Welt ein Haus des Umwelt- Immerhin gibt es für den 27. September 2019 schon schutzes aufbauen. Das Grundbewusstsein für die Notwen- die Idee eines weltweiten (einstündigen?) Generalstreiks digkeit von Klimaschutz in unserer Gesellschaft bildet das – damit gibt’s eine spannende Aktionsform, auf die hin- Fundament. Darauf müssen wir politische Strukturen als ein gearbeitet werden könnte. Grundgerüst schaffen, damit jeder von uns, durch sein eige- nes Handeln, Tag für Tag, Stein für Stein, dieses Haus wei- Die Reden auf der Demonstration am 15. März 2019 ter bauen und beleben kann. zielten darauf, dass JETZT politisch und gesellschaftlich Entscheidungen getroffen werden müssen, und dass das Wir werden, um die Schlucht zwischen dem Reden und eigene Denken und Handeln Teil dieser Entscheidungen Handeln (beim Umweltschutz) zu überwinden, informieren, ist. Die Organisatorinnen haben uns vier Redemanu- diskutieren und übertragend jeden Tag einen Stein mehr skripte besorgt, die wir im folgenden – ungekürzt – do- mitnehmen. Aber nicht, um Scheiben einzuschmeißen und kumentieren. mit dem Finger anklagend auf die Politik zu zeigen, son- dern um das Haus des Umweltschutz weiter auszubauen, bis es fest steht, tief in unserem Gesetz verankert. Nimm deshalb jeden Tag metaphorisch einen Stein mit, mach also jeden Tag eine Sache, die zum Klimaschutz beiträgt, erst- mal egal wie viel, Hauptsache überhaupt, auch, wenn es manchmal schwer ist, diesen Stein zu tragen. Doch wenn wir in den letzten Monaten nach Venezuela, in die Türkei und gestern nach Neuseeland schauen, wenn wir die Augen in der heutigen Welt aufmachen. Dann lasst uns in der neuen Welt auch ein Gebäude der Gerechtigkeit er- richten, ein Eigenheim der Einigkeit erbauen, eine Bleibe für Frieden und Freiheit schaffen. Lasst uns ein Zuhause der Nächstenliebe errichten, ein Wohnsitz der Würde des Menschen erschaffen, einen Guts- hof der Gleichheit aufbauen. Lasst uns deshalb niemals den Glauben an die Demokratie verlieren, denn sie ist das Fun- dament, auf dem all das steht. Diese Vision von einer neuen Welt muss von unseren Köp- ___________________________________________________________________________________________________ 6 revista Nr. 94, April/Mai 2019
Lasst uns losgehen fen in unsere Hände übergehen, jeden Tag ein Stückchen Es ist einen Monat her, dass wir uns hier in Celle das erste mehr. Nicht um alles richtig zu machen, sondern um im Mal versammelt haben und unsere Meinung zur Klimapoli- Streben nach dieser neuen Welt das größte Glück zu finden. tik verdeutlicht haben. Nun ist es wieder an der Zeit, denn wir wissen alle, dass sich Zustände nicht von heute auf • zuhause gar nichts machen oder zur Demo gehen morgen verändern. Deswegen müssen wir Druck machen, • immer den Status Quo behalten oder Informationen um überhaupt einen Umbruch zu erreichen, wir als Zu- kunftsgeneration. Wir dürfen nicht ansatzweise akzeptieren, selber beschaffen dass die Wirtschaft und die Politik bestimmen dürfen, wie • Ausreden finden oder den Dialog suchen unsere morgige Welt auszusehen hat. Wir sind entweder in der Schule, in der Uni oder am Arbeitsplatz, um der Wirt- • unnötigerweise viel zu viel kaufen oder umweltfreund- schaft und dem Wachstum zu dienen. Warum zu dienen? lich verzichten können Wir genießen doch unsere Entscheidungs- und Entfaltungs- • viel CO2 verursachen oder Fahrrad fahren und Fernrei- freiheit. Oder können wir gar nicht anders? Was passiert, sen vermeiden wenn wir nicht gut in der Schule oder in der Uni sind? Was passiert, wenn wir kein Geld verdienen? Wir werden gesell- • alles wegschmeißen oder altes wiederverwerten schaftlich abgewertet, als Taugenichts bezeichnet und klein- • eher die Faulheit schönreden oder die eigene Verant- gehalten in einem so reichen Staat. Was folgt daraus? Feh- lende Motivation, Leistungsdruck und extrem viel Arbeit? wortung sehen All diese negativen Gefühle nicht genug zu sein? Reicht das • alles kritisieren aus dem Sessel der Bequemlichkeit nicht? Warum wird dann noch unsere Zukunft, unser Planet, oder sich konstruktiv am Umweltschutz beteiligen durch sämtliche Art von Verschmutzung zerstört? • das den Profis überlassen oder persönlich Verantwor- Erst unsere Emotionen, nun unser Lebensraum. Ich finde, tung übernehmen. es reicht. Es muss endlich mehr Wert auf die Klimapolitik gelegt werden, die Politik darf nicht mehr weggucken! Wir Wenn du nur eine Sache aus meiner Rede mitnimmst, dann dürfen nicht mehr weggucken. Wir müssen lernen, bewuss- lass es diese sein. Egal ob du 8, 18 oder 80 bist: Lasst uns ter mit unseren Ressourcen umzugehen, es ist allemal mög- mit diesen Entscheidungen jeden Tag in jedem Alltag ein Stückchen näher, ein Schritt weiter, ein Stein mehr, danach streben, dass diese Welt Wirklichkeit wird. Lasst uns nicht selbstzufrieden stehen bleiben. Lasst uns (vielmehr) mit unseren persönlichen Entscheidungen, die so bedeutungslos scheinen, doch so bedeutungsvoll sind, im- mer wieder einen Stein weiterbauen. Bis wir eines Tages mit unseren Brüdern und Schwestern aus aller Welt durch die Straßen dieser Stadt laufen können. Wir werden weitergehen, bis diese Welt Wirklichkeit wird. Johannes Schurian _________________________________________________________________________________________________ revista Nr. 94, April/Mai 2019 7
lich. Wollen wir eines Tages unseren Kindern ins Gesicht ganz offensichtlich den Ernst der Lage nicht begriffen, schauen, die, die wir über alles lieben, und wissen, dass sie wenn ihr das, was wir tun, als “so ein bisschen Umwelt- in einer üblen, verschmutzten Welt aufwachsen müssen? schutz” abtut. Es geht uns hier um unser Überleben! Ihr Und wollen wir eines Tages auf die Frage, warum alles so werdet die Auswirkungen der Klimakrise nicht mehr miter- dreckig sei, antworten müssen, dass wir unseren Wohlstand leben müssen, wir schon! “Die Auswirkungen des Klima- auf Kosten der Umwelt genossen haben? Und nicht ein wandels werden frühestens 2100 zu spüren sein.” Das bisschen kritische und sparsamer gelebt haben? Ich hoffe stimmt schon mal nicht, wir merken die verdammten Aus- wir kommen nicht in diese Situation. Also lasst uns dafür wirkungen schon jetzt. Dürresommer 2018, die Überflutun- sorgen, lasst uns losgehen und etwas verändern! gen 2017? Die ständig ansteigende Zahl von Wetterextre- men; Hurricanes, Erdrutschen, Tsunamis? Das alles kommt Roman Sander nicht von ungefähr. Und selbst wenn die Auswirkungen erst ab 2100 zu spüren sein werden? Was ist das für ein lächerli- ches und bescheuertes Argument? Eure Kinder, unsere Kin- der, einige von uns werden dann noch am Leben sein! 80 Jahre sind nicht viel! Und hört doch bitte auf mit der Selbstbeweihräucherung! Deutschland ist kein Klima Vorbild! Ein Land, in dem auf jeden Einwohner und jede Einwohnerin 12 Tonnen CO2 kommen und es eigentlich unter 1 Tonne sein müsste, ein Land, dessen Einwohner zu den reichsten 10% der Welt ge- hören, die für 50% der globalen Emissionen verantwortlich sind, ein Land, das seinen Müll in andere Länder verschifft, von wo aus er dann ins Meer und auf die Müllhalden ge- langt, ein Land, das sich anschließend Bilder aus diesen Ländern anguckt und sagt, dass die ja auch nix für den Kli- Wir verlangen eine Zukunft maschutz tun würden, und wir deswegen auch nichts tun müssten, so ein Land ist. kein. Vorbild. Greta Thunberg hat gesagt: Wir wollen nicht eure Hoff- nung, wir wollen eure Taten! Dies ist keine Zeit für Hoff- Und da hilft auch die Ausrede nichts, dass solche Themen nung, dies ist eine Zeit fürs Handeln. Wenn wir jetzt han- für die Leute einfach nicht greifbar genug sind, wenn sie deln, wird die Hoffnung folgen. nicht im eigenen Land Relevanz haben. Was ist mit den Bauern, die wegen der Dürre letzten Sommer um ihre Exis- Ich will heute keine große Rede darüber halten, dass schon tenz gekämpft haben? Was ist mit den Leute aus Keyen- alles gut werden wird und wir bloß Hoffnung brauchen. berg, Kuckum und Berverath im rheinischen Braunkohlere- Nein! Ich will, dass ihr wütend werdet! Und ich will, dass vier, deren Dörfer vom Abriss bedroht sind, weil RWE die ihr, dass wir alle endlich anfangen zu handeln. Wir sind die letzte Generation, die die Klimakrise noch auf ein erträgli- ches Maß reduzieren kann. Also lasst uns konsequent wer- den. Lasst uns konsequent handeln. Lasst uns konsequent leben. Lasst uns konsequente Politik machen! Denn auch wir sind Teil der Klimakrise. Wir sind die Zukunft und wir können dafür sorgen, dass un- sere Kinder nicht auf die Straße gehen müssen, weil wir, ihre Großeltern und ihre Ur-Großeltern es verbockt haben. Wir gehen heute hier einen ersten und wichtigen Schritt, in- dem wir zeigen, dass uns unsere Zukunft nicht egal ist und wir nicht tatenlos zusehen werden, wie sie verspielt wird. Aber vor allem möchte ich heute die Erwachsenen anspre- chen: Liebe Erwachsene! Es ist wirklich schön, dass ihr unser En- gagement “Ja so toll findet” aber spart euch eure gutge- meinten Kommentare und macht was! Geht im Sinne der Jugendlichen, die es nicht dürfen, wählen, achtet auf euren Konsum, euren Stromanbieter, stoßt Gespräche in eurer Umgebung an. Auch ihr könnt Widerstand leisten. Und an alle, die sagen, dass sie unser Engagement zwar unterstüt- zen, wir aber doch lieber in unserer Freizeit demonstrieren sollen, oder, dass unsere Proteste doch viel wirkungsvoller wären, wenn wir samstags demonstrieren würden: 1. Ver- steht ihr uns entweder nicht oder unterstützt ihr uns nicht, habt zumindest das Rückgrat das zuzugeben und 2. Habt ihr ___________________________________________________________________________________________________ 8 revista Nr. 94, April/Mai 2019
ten geliefert? Früher baute man Gurken im eigenen Gar- ten an und heute werden Gurken mit umweltschädli- chen Transporten um die hal- be Welt gebracht. Neulich habe ich doch tat- sächlich geschälte Orangen gesehen, welche in einer Plastikverpackung waren. Als hätten die Orangen nicht schon von selbst einen Schutz. Aber die Menschheit wird halt einfach zu faul. Vor allem, wenn es darum geht, etwas gegen Klimawandel zu tun, sind wir faul. Dabei ha- ben wir nur diesen einen Pla- neten zum Leben. Und ich möchte mir keine Braunkohle gekauft hat, die unter ihren Häusern liegt? Die Gedanken darüber machen, wie teuer das Leben auf einem ohne Vorwarnung aus ihren Häusern geschmissen werden anderen Planeten wäre. dürfen, damit noch weitere Dörfer für die Braunkohle zer- Wenn jetzt nichts gegen den Klimawandel getan wird, kann stört werden können? Der Dreckigsten Möglichkeit Energie es passieren, dass die Welt nicht so bleibt, wie wir es uns zu gewinnen? Wo bleibt der große Aufschrei, wenn es um für die Zukunft wünschen. Wenn der Kohleausstieg tatsäch- Menschen geht, deren Existenz im Namen des Profits be- lich erst 2038 vollständig beendet sein soll, dann sind das droht wird? Wenn ihr euch dafür doch bloß so sehr wie für noch 6.867 Tage. Der Wahnsinn, dass die Politiker denken, unsere Bildung interessieren würdet! das sei früh genug. Wenn wir bis dahin jeden Monat auf die Was bringt euch dieser ganze Profit noch, wenn dann erst- Straßen gehen und demonstrieren müssen wir noch 225 mal die Meeresspiegel steigen, die Temperaturextreme zu- Tage auf die Straße. Das wären dann auch 225 Tage an de- nehmen und die Naturkatastrophen immer mehr und immer nen wir Unterricht bzw. unsere Arbeit verpassen. So viele katastrophaler werden? Tage hat ein Schuljahr nicht mal. Aber na ja. Wenn wir die Bildung nicht genießen können, werden wir halt Politiker. Wenn wir so weitermachen wie jetzt, könnt ihr eure Profite vergessen, dann sind wir nämlich alle am Arsch. Finn Also, alle die ihr heute hier seid: Werdet endlich wütend! Konfrontiert “die Erwachsenen” mit ihrem Verhalten. Mit ihren Kommentaren. Mit ihrem Diebstahl unserer Zukunft. Es reicht uns nicht, wenn Angela Merkel sagt, dass das En- gagement der jungen Leute ja ganz toll sei. Wir wollen, nein, wir verlangen eine Zukunft! Wir verlan- gen, dass die Politik endlich anfängt, auf die Wissenschaft zu hören! Und wir verlangen Taten! Also behaltet eure Hoffnung! Die werden wir wieder krie- gen, wenn wir endlich Taten sehen! Paula Wir haben nur diesen einen Planeten Man unterstellt uns Kunden ja immer, wir würden immer nur die perfekte Ware wollen. Doch habe ich jemals in ei- nem Supermarkt die Wahl gehabt, eine gebogene oder eine gerade Gurke zu kaufen? Stattdessen landet die nicht per- fekte Ware im Müll vom Supermarkt. Dann habt ihr also das, was ihr braucht, gefunden, fällt ei- nem direkt das nächste auf. Die Gurken sind in einer Plas- tikfolie verpackt. Warum verkauft man die Ware nicht ein- fach so oder warum werden Gurken aus weit entfernten Or- _________________________________________________________________________________________________ revista Nr. 94, April/Mai 2019 9
Celle wird KEIN sicherer Hafen Seebrücke – Sichere Fluchtwege jetzt! Fast 50 Städte und Landkreise haben sich in Resolu- Großdemonstration in Hannover tionen zum „Sicheren Hafen“ erklärt. Angestoßen von der Bewegung SEEBRÜCKE geht es vor allem darum, Aufruf dass die Seenotrettung im Mittelmeer nicht länger krimi- nalisiert wird, sondern die Schiffe der NGOs sich wieder […] Weltweit müssen zur Zeit nach Zahlen der Vereinten Nationen mehr als 68 Millionen Erwachsene und Kinder frei bewegen und die nächstgelegenen Häfen anlaufen durch gewaltsame Vertreibung fliehen. Gleichzeitig schot- können. In Celle hatte die Initiative LIST einen entspre- ten sich die europäischen Staaten, wie auch Deutschland, chenden Beschluss angeregt. SPD, Bündnis '90/Die Grü- immer weiter vor den hilfesuchenden Menschen ab. Euro- nen, WG, Die Linke, BSG und Die Partei brachten ge- pas Außengrenzen werden immer tödlicher, Europa wird meinsam einen entsprechenden Antrag ein. Im Bündnis immer mehr zur Festung ausgebaut. mit der AfD und unterstützt von dem Verwaltungsvor- Es fehlen dadurch sichere Wege, über die Geflüchtete sich stand ließ die rechte Seite im Rat den Antrag scheitern. vor Krieg, Hunger und Elend retten können. Die Fluchtrou- Für die Antragsteller hatte Bernd Zobel (B '90/Die te über das Mittelmeer ist zu der tödlichsten Seeroute der Grünen) klargestellt, worum es im Kern geht: „Wir wol- Welt geworden, mit tausenden Toten jährlich. Gleichzeitig len nicht mehr wegsehen, wenn im Mittelmeer tausende werden Seenotrettungsorganisationen immer stärker krimi- Menschen ertrinken, Hilfsorganisationen kriminalisiert nalisiert und an der Rettung von Menschen gehindert. Als Folge davon steigen die Zahlen der ertrinkenden Menschen werden und die Mitgliedsstaaten der Europäischen Uni- im Mittelmeer aktuell auf dramatische Weise an. on dieser Tragödie tatenlos zusehen. Diesem Trauer- spiel, diesem Armutszeugnis der EU setzen wir etwas Die auch militärische Verschärfung des europäischen entgegen. Wir sagen, dass auch Celle bereit ist, Geflüch- Grenzregimes geht Hand in Hand mit einer autoritären For- tete aufzunehmen.“ mierung im Inneren Europas, die sich unter anderem in Deutschland in neuen Polizeigesetzen zeigt, die in einigen Für die Verwaltung hatte Kultur- und Sozialdezernen- Bundesländern schon umgesetzt sind. [...] tin Susanne McDowell den Kurs so bestimmt: „Die Diese politischen Entwicklungen sehen wir auch als Teil ei- Stadt Celle sollte keine Anreize für illegale Migration nes global zu beobachtenden Rechtsrucks, dem wir uns als schaffen, falsche Hoffnungen wecken und unter Umstän- antirassistische und solidarische Bewegung entgegen stel- den damit noch das Schleppertum befördern.“ Behiye len. Zugleich sind sie auch innerhalb einer kapitalistischen Uca (Die Linke) brachte es auf den Punkt: „Das heißt Logik zu begreifen, in der das Leben von Menschen nur doch nichts anderes als: Lassen wir sie ersaufen.“ Wert besitzt, wenn es ökonomisch verwertbar ist. [...] Die Beiträge von Vertretern von CDU, FDP und Un- Stoppt das Sterben im Mittelmeer! Sichere Fluchtwege abhängigen waren schlicht und einfach niveaulos. Es jetzt! Kampf der Festung Europa! kam nicht der Eindruck auf, dass sie sich auch nur für 27. April um 13 Uhr - Hannover, Start: Ernst August wenige Minuten ernsthaft mit dem Anliegen beschäftigt Platz (vor dem Bahnhof) – Abfahrt in Celle mit dem hatten. Das ganze Elend lässt sich Nachhören im Podcast NDS-Ticket um 12.47 Uhr (Bildung von Gruppen bit- der Ratssitzung auf der Website der Stadt unter „Rathaus – Politik – Mitschnitte aus den Ratssitzungen“. te bis 12.30 Uhr) Foto: Begrüßung der Ratsmitglieder vor der Ratssitzung ___________________________________________________________________________________________________ 10 revista Nr. 94, April/Mai 2019
Was hat sich zwischenzeitlich getan in der Krise des AKH AKH: Beschäftigte sollen Krise ausbaden Seit dem 4. März wird die AKH-Gruppe von zwei Vorsitzende Paul Stern skizziert den Zweck so: „Es Vorständen geleitet. Neben Martin Windmann ist nun muss ein unabhängiges Gremium geben, das es sich er- auch Franz Caesar als weiterer Vorstand des Unterneh- lauben kann, Dinge anzusprechen, die selbst Gewerk- mensverbundes bestellt. Die Wiedereinführung einer schaften nicht unbedingt sagen können.“ Zunächst wolle Doppelspitze war vom Aufsichtsrat bereits nach dem sich das Bündnis in die Aufarbeitung des Haushaltsskan- Ausscheiden von Ex-Vorstand Stephan Judick beschlos- dals im AKH einmischen. sen worden. Der 60-jährige Caesar war mehr als 25 Jahre als Verwaltungsleiter und zuletzt Geschäftsführer des Kreiskrankenhauses Uelzen. Stephan Judick wiederum hat seinen Posten als Vor- standssprecher des Klinikum Herford bereits nach gut ei- nem Jahr – in gegenseitigem Einvernehmen – wieder ge- räumt. Judick soll unbestätigten Angaben zufolge zuletzt über mehrere Wochen nicht im Dienst gewesen sein. Gegenüber der „Neue Westfälische“ erklärte der AKH-Aufsichtsratvorsitzende Klaus Wiswe, dass man unter Zuhilfenahme von Anwälten und Wirtschaftsprü- fern feststellen lasse, ob Regressforderungen gegen Ju- dick gestellt oder Boni zurückgefordert werden könnten. Eine Bonuszahlung stehe zudem noch aus. Bei der Aufarbeitung der Finanzkrise des AKH wird immer deutlicher, dass ein Investitionskredit zweckwid- Verblüffend ist wirklich, wie es angesichts des ange- rig und unzulässigerweise ganz überwiegend als Be- richteten Desasters gelingt, einerseits den Informations- triebsmittel eingesetzt worden ist. Die Verantwortung da- anspruch der Öffentlichkeit einfach zu unterlaufen und für liegt eindeutig bei Judick. Tatsächlich hätten nach der andererseits den Aussichtsrat und besonders seinen Vor- Rückforderung der Bank die Dezembergehälter nicht ge- sitzenden Landrat Wiswe aus der Kritik zu halten. Ehr- zahlt werden können, wenn nicht der Landkreis Celle lich gesagt: Wieso wird diesem Mann noch zugetraut, mit einem Liquiditätskredit in Höhe von 12 Millionen die Kreisverwaltung führen zu können? Der Aufsichtsrat, Euro eingesprungen wäre. dessen Vorsitzender ist, hat schließlich komplett versagt – mit einem Schaden in Millionenhöhe für die Gesell- In der Öffentlichkeit gibt es dagegen keine Eindeutig- schaft und das Ansehen des AKH. keit hinsichtlich der Frage, wieso das AKH in die Situati- on der Zahlungsunfähigkeit gekommen ist. Im Kern ist Und Wiswe ist nicht einmal bereit, sich ein bisschen es aber anscheinend nicht die Frage der Wertberichti- mehr auf die Finger schauen zu lassen. Behiye Uca (Die gung von Forderungen an die Krankenkassen, sondern Linke) hatte Anfang Januar beantragt, dass der Landrat allgemein die Ertragslage des Krankenhauses. mindestens einmal im Jahr im Finanzausschuss über die Situation der AKH-Gruppe berichten sollen. Wiswes Re- Aber nichts Genaues weiß man nicht. Auf dieser Basis aktion: Weil es keine Beteiligung des Landkreises am gelingt es leicht, das AKH als Sanierungsfall darzustel- AKH gäbe, habe „eine Gremienberatung über die Situa- len. Es müssten Erträge gesteigert und/oder Kosten ge- tion [...] in der Regel nicht [zu] erfolgen.“ Was heißt senkt werden. Ende April soll das Sanierungsgutachten das? Klaus Wiswe, der ja nicht Aufsichtsratsvorsitzender vorliegen, das als Legitimation für weitere „Einschnitte“ ist, weil er so ein schlauer Kopf ist, sondern weil er von herhalten dürfte. den Bürger*innen zum Landrat gewählt wurde, weigert Schon bestätigt wurde die Ausgliederung der Küche in sich die ebenfalls durch die Bürger*innen gewählten eine Servicegesellschaft. Betroffen sind 74 Mitarbei- Kreistagsabgeordneten über das AKH zu informieren. ter*innen, denen ein Übergang in die Servicegesellschaft Und das mit einer rein formalen Argumentation, die im angeboten würde – bei Wirksamkeit ihrer bisherigen Ta- Rechtsamt der Stadt Celle in Bezug auf den Oberbürger- rifverträge, behauptete AKH-Sprecher Ralf Kuchenbuch. meister als stellvertretendem Aufsichtsratvorsitzenden Dass es danach die Bereiche Logistik und Reinigung übrigens anders beurteilt wird. treffen kann/wird, erwarten viele Mitarbeiter*innen. Das nächste Treffen des Pflegebündnisses ist am Mittwoch, Ende Februar hat sich auf Initiative von ver.di hin in 10. April, 16.30 Uhr, in der ver.di-Geschäftsstelle in der Trift. Celle ein „Pflegebündnis“ gegründet. Der Celler DGB- _________________________________________________________________________________________________ revista Nr. 94, April/Mai 2019 11
Die Einwendung wird in allen Punkten zurückgewiesen Ostumgehung trotz Verkehrswende? Für zwei Wochen lag im März der „Änderungsplan- werden, das langfristig nachhaltig sei. Die Planung gehe feststellungsbeschluss zum 3. Bauabschnitt der Ostum- von einer Wachstumsökonomie aus, jedoch sei auf einem gehung Celle“ zur Einsichtnahme im Neuen Rathaus aus endlichen Planeten mit endlichen Rohstoffen kein unend- (bzw. auf der Webseite der Landesbehörde für Straßen- liches Wachstum möglich. Es sei eine Entwicklung nötig, bau und Verkehr zum Download). Der Änderungsbe- die eine Reduktion der Klimagase und des Rohstoffver- schluss war erforderlich geworden, weil das Niedersäch- brauchs durch eine Verkehrswende zur Folge hat, um sische Oberverwaltungsgericht im April 2016 den Plan- damit die Klimaziele zu erreichen. Das Vorhaben wider- feststellungsbeschluss für rechtswidrig und nicht voll- spräche diesen Anforderungen. Das Bauvorhaben werde ziehbar erklärt hatte, weil der Fledermausschutz unzurei- ethisch, moralisch und ökologisch verurteilt. chend war. Dieser wurde jetzt mit großem Aufwand Die Einwendung wird zurückgewiesen. Die Aussagen nachgebessert. Bis zum 14. April kann geklagt werden. zur Klimaentwicklung und zum Rohstoffverbrauch sind in dieser Allgemeinheit schon nicht einlassungsfähig. Im Übrigen ist über den Bedarf des Vorhabens bereits an anderer Stelle entschieden worden.“ [Seite 60] Die ursprünglich für den 5,3 km langen Abschnitt ge- planten Kosten lagen 2003 noch bei 37 Mio. Euro, aktu- ell sind die Baukosten mit knapp 58 Mio. Euro angege- ben – und wir können sicher sein, dass sie sich gegen- über 2003 verdoppeln werden. Die gesamte Ostumge- hung wird am Ende mehr Geld gefressen haben, als die Stadt Celle in den vergangenen 50 Jahren an Schulden aufgehäuft hat: nämlich mehr als 160 Mio. Euro. Aber schauen wir auf die 70 Millionen, die jetzt in die Zerstörung von Naturschutz- und Erholungsgebieten ver- Sich auf die Planungsdetails einzulassen, verstellt den baut werden: Damit wären selbstverständlich erhebliche Blick auf die grundsätzliche Frage. Und die besteht dar- Verbesserungen für Alternativen zu PKW-Verkehren er- in, ob unhinterfragten Mobilitätsansprüchen einfach so reichbar – und die wären im Unterschied zum Straßen- Naturschutz- und Naherholungsgebiete „geopfert“ wer- bau nachhaltig. den sollen? Politisch und gesellschaftlich scheint es hier- für klare Mehrheiten zu geben. Aber: Der Bewertungsho- Die einzigen Menschen, die dies zu recht nicht „über- rizont hierfür ist im vergangenen Jahrhundert verhaftet. zeugt“, sind die Anwohner*innen der „Alten Dorfstraße“ Die Mobilität steht nicht nur auf dem Prüfstand, sondern in Altencelle. Niemand möchte an einer derart befahre- angesichts des Klimawandels und der tatsächlich Proble- nen Straße leben. Aber: In zehn, fünfzehn Jahren wird me in den Ballungsgebieten muss die Verkehrswende der Verkehr geringer sein – und vor allem: Es wird er- kommen. Angesichts der Bedeutung der deutschen Auto- heblich weniger Lärm und erheblich weniger Abgase mobilindustrie ist dies auch eine Machtfrage. Aber: In produziert. der Chefetage von VW hat man sich anscheinend ent- Leider haben sich Bundes- und Landespolitiker*innen schieden. Der Umbau auf E-Mobilität soll kommen und in die „Scheinlösung“ Ostumgehung regelrecht verbissen er soll schnell kommen. Dazu kommt: Jede Studie zu zu- und leider gibt es in der Stadtgesellschaft einen fast reli- künftiger Mobilität zielt auf weniger Individualverkehr, giös zu nennenden Glauben daran, dass alle Probleme zielt auf weniger Güterverkehr auf der Straße. Das heißt: verschwinden würden, wenn's nur endlich die Ostumge- Wenn der mittlere Bauabschnitt der Ostumgehung in Be- hung gäbe. Das hat mit Vernunft nur wenig zu tun, son- trieb genommen wird, haben wir eine Situation, die mit dern ist eher ein Fall für die Couch. den Ursachen für die Planung nichts mehr zu tun hat. An Hoffnung bleibt: Für Straßenbauplaner, die wir uns leider als bornier- teste Exemplare unserer Spezies vorstellen müssen, ist Der Wahnsinn wird durch eine Klage erneut verzö- das bedeutungslos. „Erledigt“ wurden im aktuellen Ver- gert. Der BUND will aber nur klagen, wenn auch Ge- fahren die auf die Klimakatastrophe abhebenden Ein- winnchancen bestehen. wendungen zum Änderungsplanfeststellungsbeschluss: Oder: Die Fledermäuse nehmen die für sie gebauten „Die Einwender erheben Bedenken bezüglich des Brücken nicht an. Denn tatsächlich werden vor dem Vorhabens allgemein. [...] Der Rohstoff-, Ressourcen- Straßenbau diese Bauwerke in die Gegend gestellt und und Landschaftsverbrauch müsse auf ein Niveau gesenkt evaluiert, ob die Tiere sie annehmen. ___________________________________________________________________________________________________ 12 revista Nr. 94, April/Mai 2019
xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx ???????? VORHER Im Wald und auf der Heide #24 NACHHER Von Platanen, Maulwürfen und Men- schen Und – Umweltschutz neu gedacht Nach allerhand Protesten aus der Tier-, Pflanzen- und Menschenwelt, ausgelöst zunächst durch das Wegsägen „Nur eine saubere Umgebung sorgt dafür, dass die einer Platane auf der Allerinsel, dann verstärkt vorgetra- Müllentsorgung über die dafür vorgesehenen Müllstatio- gen in der ganzen Republik nach dem Einsatz von Gift- nen erfolgt und nicht Reifen, Matratzen, Gartenabfälle gas gegen die Maulwürfe im Französischen Garten, hat und so weiter auf fremden Grundstücken kostenlos ent- der Rat der Stadt Celle nun in seiner unendlichen Weis- sorgt werden. Das war unsere Intention.“ So kommen- heit beschlossen, doch wenigstens die Platane, wenn tierte Renate Sigwart, Geschäftsführerin der Firma Mö- schon die Maulwürfe nicht wiederzubeleben sind, wieder bel Wallach, einen von ihr veranlassten Kahlschlag auf aufzurichten, andernfalls ja erst 4-5 Generationen später einem ehemaligen Gärtnereigelände zwischen Wilhelm- ein solch erhabener Baum zu bewundern wäre. Wie aus Heinichen-Ring, Kortenumstraße und An der Hasen- gut unterrichteten Kreisen zu hören ist, wurde von „der bahn. Das Gelände gehört der Firma Wallach – Eigentum Würde eines solchen Baums, vom Respekt, der diesem verpflichtet. Lebewesen zu zollen sei“, geraunt. Hierfür sei der Rat einmal ausdrücklich gelobt. Nach dem Stammumfang von ca. 6,2 m in 1,5 m Höhe zu urteilen, kann der Baum also durchaus ein Alter von bis zu 250 Jahren haben, und es lässt sich gut ein wenig herumphantasieren, dass vielleicht ein französischer Sol- dat während des Siebenjährigen Krieges diese Platane schon bemerkt hat, mit ein paar melancholischen Gedan- ken an sein Dorf im Sinn, oder noch vielleichter erholte sich König Jérôme von Westphalen, ein Bruder Napole- ons, nach seinem ersten Celle-Besuch in ihrem Schatten. Nun denn, jetzt steht sie ja wieder an ihrem angestamm- ten Platz und wir können über sie bei unseren sonntägli- chen Spaziergängen durch den romantischen Hafen den Kindern und Enkeln was erzählen. Und, die überlebenden Maulwürfe werden weiterhin das tun, was sie am besten können: Maulwürfe sein. _________________________________________________________________________________________________ revista Nr. 94, April/Mai 2019 13
Initiative Biosphärengebiet Hohe Heidmark Verstrahlte Panzerwracks auf TrÜbPl Bergen Balzende Birkhähne, wiedervernässte Moore - auf den Auf das Thorium in der Steuerungsvorrichtung der ersten Blick ist der NATO-Truppenübungsplatz Bergen Milan-Lenkrakete stieß ein Mitglied der „Ärzte gegen an vielen Stellen richtig idyllisch und die Bundeswehr den Atomkrieg“ (IPPNW), als er sich für den Report stellt sich deshalb auch bei jeder sich bietenden Gelegen- "Die gesundheitlichen Folgen von Uranmunition" (2012) heit als bester Naturschützer im Lande dar. mit dem Kapitel "Salto di Quirra" beschäftigte. Auf je- nem NATO-Schießplatz im Südosten Sardiniens waren Die Idylle ist jedoch möglicherweise trügerisch. Denn bis zum Jahr 2000 mindestens 1000 Milan "getestet" was kaum bekannt ist - die von der Bundeswehr wohl worden. Die auffälligen Häufungen von Fehlbildungen auch in Bergen verschossene Panzerabwehrrakete „MI- und Krebs bei Mensch und Tier hatten zu Obduktionen LAN“ enthält radioaktives Material. von an Krebs verstorbenen Hirten geführt - überraschend Die Rakete „MILAN“ (Missile d′Infanterie léger anti- fand man in den Skeletten nicht das erwartete Uran-238, char) stammt aus deutsch-französischer Produktion und sondern Thorium-232. ist ein echter Verkaufsschlager. Nach Angaben des Seit Jahren fordert deshalb u.a. die IPPNW die Bun- Greenpeace Magazins sind mittlerweile mehr als desregierung aufgrund der radioaktiven Gefahren zu ei- 360.000 MILAN-Raketen an Abnehmer in aller Welt ge- nem Export-Stopp der Milan-Raketen auf. gangen. Hunderte dieser Waffen wandern heute auf ver- schlungenen Wegen von Krieg zu Krieg. Aufgrund dieser Meldungen begann sich die „Initiati- ve Biosphärengebiet Hohe Heidmark e.V.“, die sich für 2014 belieferte Deutschland die kurdischen Peschmer- eine Umwandlung des TrÜbPl Bergen in ein UNESCO- ga im Nordirak mit den Raketen aus deutsch-französi- Biosphärenreservat einsetzt, Sorgen um die Gesundheit scher Produktion. Die Bundeswehr trainierte die Pe- der Anwohner*innen der Truppenübungsplätze Bergen schmerga im Einsatz mit der Waffe auf deutschen Trup- (Celle/ Heidekreis) und Munster (Heidekreis) zu machen penübungsplätzen. und begann mit eigenen Recherchen. Jede Milan-Rakete enthält in ihrem Infrarotstrahler Zunächst hieß es in einer Antwort aus dem Verteidi- des Lenkflugkörpers radioaktives Thorium 232 mit einer gungsministerium auf eine parlamentarische Anfrage der extrem langen Halbwertszeit von 14 Milliarden Jahren. Linken-Bundestagsabgeordneten Pia Zimmermann, auf Beim Einschlag der Rakete wird der Infrarotstrahler zer- den TrÜbPl Bergen und Munster seien Übungsvorrich- stört und das Thorium tritt aus. Thorium ist besonders tungen für die MILAN-Rakete vorhanden. Die Anzahl durch die in seiner Zerfallsreihe gebildeten Radionuklide der verschossenen MILAN-Lenkflugkörper werde je- gefährlich. Ähnlich wie bei Munition aus abgereichertem doch „nicht zentral nachgehalten und könne deshalb […] Uran entsteht nach dem Aufprall der Rakete ein feiner nicht beantwortet werden.“ Zu einer möglichen radioak- radioaktiver und toxisch wirkender Staub, der über Nah- tiven Kontamination heißt es in der Antwort: rung, Atmung und Trinkwasser in den menschlichen Körper gelangt. Die Folgen können schwere Gesund- „Durchgeführte Messungen haben ergeben, dass der heitsschäden wie z.B. Lungenkrebs oder Schädigung des Dosiswert nach Strahlenschutzverordnung beim Schüt- Erbguts sein. zen oder bei anderen beteiligten Personen beim Ver- ___________________________________________________________________________________________________ 14 revista Nr. 94, April/Mai 2019
schuss eines Lenkflugkörpers MILAN um mehrere Grö- blockieren – campen – demonstrieren ßenordnungen […] unterschritten wird. Nur bei häufig wiederholt beschossenen Hartzielen (v.a. Panzerwracks, d.Red.) kann die Ortsdosisleistung erhöht sein. Selbst Aktionswoche in Unterlüß dann bleibt sie jedoch noch immer im Bereich der Schwankungen des natürlichen Untergrundes.“ Erneut wird Unterlüß im September zum Zentrum an- Infolge des Moorbrandes auf einem Schießplatz der timilitaristischer Aktivitäten. Vom 1. bis zum 10. Sep- Bundeswehr in Meppen fragte die Initiative dann noch tember ist auf dem Dorfplatz ein Camp angemeldet, am einmal konkret nach möglicher Freisetzung von Radio- Samstag, den 7. September, wird es eine Demonstration aktivität bei Bränden auf dem TrÜbPl Bergen und bekam geben – und irgendwann in dieser Woche wird auch der vom „Bundesamt für Infrastruktur, Umweltschutz und Alltag in der Rüstungsschmiede von Rheinmetall mit Dienstleistungen der Bundeswehr (BAIUDBw)“ die fol- Blockaden konfrontiert sein. Der Aufruf und weitere In- gende Antwort: formationen sind ab Anfang April zu finden auf: https://rheinmetallentwaffnen.noblogs.org/ „Thoriumdioxid ist eine schwer flüchtige Verbindung mit hoher Schmelztemperatur. Der überwiegende Teil hiervon landet bei Übungen im Zielgebiet, ist aber von GKKE-Rüstungsexportbericht 2018 der Detonation des Gefechtskopfes nicht direkt betroffen. Vorsorglich wurden durch die Strahlenmessstelle Nord auf dem TrÜbPl BERGEN Messungen an Panzerwracks Kirche gegen Rheinmetall durchgeführt, die mit der Panzerabwehrwaffe MILAN beschossen wurden. Nach hier vorliegenden Erkenntnis- sen hielten sich die Messwerte innerhalb der vorgegebe- 2017 hat die Bundesregierung Rüstungsexporte an 52 nen Grenzwerte. Die Reste der Lenkflugkörper MILAN Staaten genehmigt, deren Menschenrechtssituation als werden zudem regelmäßig eingesammelt und fachge- sehr schlecht eingestuft wurde. Diesen Vorwurf erhebt recht entsorgt. Der Eintrag von Rückständen aus Glüh- der Rüstungsexportbericht 2018 der Gemeinsamen Kon- strahlern in die Luft bei Bränden stellt für MILAN-Ziel- ferenz Kirche und Entwicklung (GKKE). Durch Rüs- gebiete demnach keine radiologische Gefährdung dar.“ tungsexporte trage Deutschland auch zur humanitären Katastrophe im Jemen bei und unterstütze den Bruch des Für den Kinderarzt Winfrid Eisenberg, Mitglied der Völkerrechts. IPPNW Deutschland, sind die Aussagen keineswegs eine Entwarnung. Nach seiner Meinung entspricht der be- Im Bericht der GKKE wird scharfe Kritik an Rhein- schwichtigende Hinweis, dass sich die Strahlung „im metall geäußert. Prälat Dr. Martin Dutzmann, der evan- Bereich der Schwankungen des natürlichen Unter- gelische Vorsitzende der GKKE, fand deutliche Worte grunds" bewege, dem üblichen Kleinreden der Gefahren zur Rheinmetall AG, die über ihre ausländischen Toch- terfirmen auch kriegführende Staaten mit Waffen belie- durch ionisierende Strahlung. Jedwede zusätzliche Be- fert: „Die GKKE verurteilt diese Geschäftspraxis von lastung zur „natürlichen Hintergrundstrahlung“ erhöhe Rheinmetall auf Schärfste und fordert den Konzern dazu das Risiko. auf, keine Geschäfte mit Ländern der von Saudi-Arabien Dazu komme, dass Th 232 ein Alphastrahler ist, der angeführten Kriegs-Koalition zu machen. An die Bun- mit einem normalen Geigerzähler nicht gemessen wer- desregierung appellieren wir, bestehende Regelungs- den kann. Die mit einem solchen Gerät festgestellte lücken im Ausfuhrrecht endlich zu schließen.“ Ortsdosisleistung betrifft Gammastrahlen aus der Th- Im Bericht selbst ist zu lesen: „Die GKKE fordert Zerfallskette, z.B. des Ra 228. Dass die Bundeswehr an Rheinmetall dazu auf, keine Geschäfte mehr mit den solchen Orten die aufwändigen Apparaturen zur Alpha- Staaten der von Saudi-Arabien angeführten Kriegs- messung bzw. zur Identifizierung radioaktiver Isotope Koalition zu machen. Bomben sind, wie alle Rüstungsgü- vorhält und einsetzt, hält Eisenberg für unwahrschein- ter, keine Waren wie alle anderen.“ lich. Bei der Präsentation des GKKE-Rüstungsexportbe- Angesichts solch beunruhigender Aussagen fordert die richts 2018 forderte der Vorsitzende der „GKKE-Fach- „Initiative Biosphärengebiet Hohe Heidmark e.V.“ von gruppe Rüstungsexporte“ Dr. Max Mutschler die deut- der Bundeswehr weitere Aussagen, um die Gefahren ein- sche Bundesregierung zudem auf, sich für eine kohärente schätzen zu können. Hierzu zählen die Offenlegung der Rüstungsexportpolitik der EU-Mitgliedsstaaten einzuset- Messmethoden- und Ergebnisse sowie Aussagen über die zen: „Und zwar nicht durch die Absenkung eigener Anzahl der verschossenen Raketen. Außerdem sollten Standards, sondern durch eine Stärkung der bestehenden unabhängige Expert*innen Messungen vornehmen dür- Regelungen des Gemeinsamen Standpunkts der EU zu fen und diese Messungen sollten auch Grundwasser und Rüstungsexporten.“ Boden in der Umgebung der Schießvorrichtungen um- fassen. Der GKKE-Rüstungsexportbericht 2018 steht als Download unter www.gkke.org zur Verfügung. [M] _________________________________________________________________________________________________ revista Nr. 94, April/Mai 2019 15
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