Macht auf Zeit in Lateinamerika - Stiftung Wissenschaft und Politik
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SWP-Aktuell Einleitung Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Macht auf Zeit in Lateinamerika Zur Wiederwahl und Absetzung von Präsidentinnen und Präsidenten Claudia Zilla Zwei Trends bei den Verfassungsreformen haben seit den 1990er Jahren das plebiszi- täre Moment in den lateinamerikanischen Präsidialsystemen gestärkt: die verbreitete Einführung der Option einer Wiederwahl sowie der Ausbau direktdemokratischer Mechanismen, zu denen auch das Abberufungsreferendum gehört – mit dem eine wei- tere Flexibilisierung der Amtszeit einhergeht. In der politischen Praxis entfalten diese Elemente eine besondere Dynamik und sorgen gleichzeitig für größere Kontinuität in der Exekutive. Diese Kombination ist heute in drei Fällen besonders gut zu erkennen: Während es Evo Morales in Bolivien beim Plebiszit vom 21. Februar 2016 misslungen ist, die zweifache konsekutive Wiederwahl verfassungsrechtlich zu verankern, drohen Nicolás Maduro in Venezuela ein Abberufungsreferendum und Dilma Rousseff ein Impeachment-Verfahren im brasilianischen Parlament. Fixe Amtszeiten und das Alternieren in der Amtsenthebungsverfahren bzw. Impeach- Regierungsausübung sind zentrale Aspekte ment anzustrengen. von Demokratien. Repräsentative Rollen Die lateinamerikanischen Regierungs- sind befristet, die hierarchische Herrschafts- systeme, die im 19. Jahrhundert nach US- beziehung ist mithin kontingent. Die Vorbild konzipiert wurden, sahen weitere Möglichkeit der Abwahl soll die vertikale Mechanismen zur Machtstreuung und Ab- »accountability« und Responsivität der federung wechselnder Mehrheiten vor. Das Regierenden gegenüber der Bevölkerung ursprünglich entworfene Zusammenspiel fördern. von »checks and balances« wurde jedoch Eigentümlich für den Präsidentialismus durch Verfassungsreformen und die poli- sind die Identität von Staats- und Regie- tische Praxis sukzessive modifiziert. Zen- rungsoberhaupt sowie die getrennte demo- trale Maßnahmen waren die Abschwächung kratische Legitimierung von Exekutive und des Verbots der Wiederwahl des Präsiden- Legislative: Die Regierung ist nicht vom Par- ten/der Präsidentin, die Herstellung von lament abhängig; weder Vertrauensfrage Ad-hoc-Mehrheiten über Plebiszite bzw. noch Misstrauensvotum sind möglich. Ver- Referenda sowie Verfahren, die eine früh- fassungsrechtlich verankert ist in vielen zeitige Abberufung des Staatsoberhaupts Ländern die Option der Legislative, ein erleichtern. Dr. Claudia Zilla ist Leiterin der Forschungsgruppe Amerika SWP-Aktuell 15 März 2016 1
Jüngere Verfassungsreformen die tatsächliche Wiederwahl der Staats- oberhäupter einher: In Argentinien wurden Die unmittelbare Wiederwahl Carlos Menem (Initiator der Reform) und Im Unterschied zur Verfassung der Ver- Cristina Fernández de Kirchner jeweils ein- einigten Staaten, die bis zum Inkrafttreten mal wiedergewählt, in Bolivien Evo Morales des 22. Zusatzartikels im Jahr 1951 keine zweimal, in Brasilien zunächst Fernando Begrenzung der Amtsperioden der Präsi- Henrique Cardoso (Urheber der Reform), denten vorsah, waren viele lateinamerika- dann Luiz Inácio Lula da Silva und schließ- nische Verfassungen in dieser Frage von An- lich Dilma Rousseff jeweils einmal, in der fang an restriktiver ausgestaltet. Die Argu- Dominikanischen Republik Leonel Fernán- mente für ein uneingeschränktes Angebot dez einmal, in Ecuador Rafael Correa zwei- an Kandidaten und eine größere Rechen- mal, in Kolumbien Álvaro Uribe (Initiator schaftspflicht durch die Möglichkeit der der Änderung) und später Juan Manuel Wiederwahl hatten weniger Gewicht Santos jeweils einmal, in Venezuela Hugo als die Sorge vor einer »Verewigung der Chávez dreimal. Macht«. In manchen Ländern ist ungeachtet des Seit den 1990er Jahren haben verschiede- Verbots der unmittelbaren Wiederwahl ne Staaten der Region – auch im Kontrast die alternierende Wiederwahl zulässig – nach zu den USA – diese Einschränkung jedoch dem Aussetzen von mindestens einer Amts- abgeschwächt. In einigen Fällen wurde periode. Einige ehemalige lateinamerika- außerdem die Amtszeit verkürzt – wie in nische Präsidentinnen und Präsidenten Argentinien von sechs auf vier und in Bra- haben nach einer Pause ihr Glück an den silien von fünf auf vier Jahre – oder die für Urnen erneut versucht: Erfolg hatten dabei einen Wahlsieg erforderliche Stimmenzahl Michelle Bachelet in Chile, Alan García in gesenkt; so genügt etwa in Nicaragua nun Peru und Tabaré Vázquez in Uruguay; die relative Mehrheit in einem einzigen keinen Erfolg hatte Antonio Saca in El Wahlgang. Salvador. In einigen Ländern wurde die unmittelbare Schließlich gab es Fälle, in denen trotz Wiederwahl eingeführt: 1993 in Peru, 1994 Personalwechseln bei der Regierungspartei in Argentinien, 1997 in Brasilien, 1999 in Kontinuität herrschte. Dies belegen die Venezuela, 2008 in Ecuador und 2009 in jüngsten aufeinanderfolgenden Regierun- Bolivien. In Kolumbien wurde sie elf Jahre gen des Frente para la Victoria in Argenti- nach Einführung 2015 erneut abgeschafft. nien (N. Kirchner–C. Kirchner), des Partido In Nicaragua ist diese Form der Wiederwahl dos Trabalhadores in Brasilien (Lula–Rous- 2010 eingeführt und – nach zwischenzeit- seff), des Partido Socialista Unido de Vene- licher Abschaffung – 2014 erneut in der zuela (Chávez–Maduro) und des Bündnisses Verfassung festgeschrieben worden. Frente Amplio in Uruguay (Vázquez–Mujica– In Ecuador, Nicaragua und Venezuela Vázquez). ging die Flexibilisierung der Amtsperioden Für diesen »continuismo«, der insgesamt so weit, dass heute nicht nur eine einmalige, ein breites ideologisches Spektrum umfasste, sondern sogar die unbegrenzte unmittel- war die Unterstützung durch die Wähler- bare Wiederwahl zulässig ist. In Guatemala, schaft unabdingbar. Vor allem seit Anfang Honduras, Mexiko, Paraguay und nun auch des neuen Jahrtausends wurden lateiname- in Kolumbien dagegen dürfen gewählte Prä- rikanische Regierungen belohnt, die dank sidenten und Präsidentinnen nie wieder für des Rückenwinds der für die Region extrem dieses Amt kandidieren. günstigen globalen Konjunktur (Rohstoff- Es waren in der Regel Regierende mit boom) imstande waren, die Armut und die guten Wiederwahlaussichten, die diese soziale Ungleichheit signifikant zu reduzie- Reformen vorantrieben. So ging mit der ren und die Kaufkraft der Bevölkerung zu institutionellen Ermöglichung meist auch steigern. SWP-Aktuell 15 März 2016 2
Mehrere strukturelle Faktoren können diese Option eine Flexibilisierung der Amts- zum Wahlerfolg regierender Kandidatin- zeit. In Ecuador, Venezuela und Bolivien nen und Kandidaten beitragen: darunter betrifft diese Möglichkeit der Abberufung der Einsatz öffentlicher Ressourcen für den durch Referendum seit den jeweiligen Ver- Aufbau klientelistischer Netzwerke, den fassungsreformen von 1998, 1999 und 2009 Stimmenkauf und den eigenen Wahlkampf auch den Staatspräsidenten bzw. die Staats- sowie der ungleich höhere Bekanntheits- präsidentin. grad des Staatsoberhaupts und dessen Das regionale Gesamtbild lässt erkennen, dominante Präsenz in staatlichen Medien. dass die große Mehrheit der in den zwei Auch wenn die beschriebene Kontinuität letzten Dekaden umgesetzten DDM »top- nicht nur auf die Möglichkeit der unmittel- down« initiiert wurden. Die meisten (der baren Wiederwahl zurückzuführen ist, hat seltenen) »bottom-up«-DDM fanden in Uru- deren verbreitete Einführung durch poli- guay statt, einer der stabilsten repräsenta- tische Kräfte unterschiedlicher Couleur die tiven Demokratien Lateinamerikas. Peru personelle Beständigkeit in den nationalen verzeichnet die weltweit höchste Zahl an Exekutiven gefördert. Abberufungsreferenda auf lokaler und regionaler Ebene. Referenda zur Abberufung des Staats- Direktdemokratische Mechanismen oberhaupts wurden 2004 in Venezuela (bot- Mit dem erklärten Ziel, die repräsentative tom-up) und 2008 in Bolivien (top-down) Demokratie partizipativer zu gestalten, wur- abgehalten – in beiden Fällen wurden die den auch direktdemokratische Mechanis- Präsidenten im Amt bestätigt. Aktuell ver- men (DDM) wie Referenda, Plebiszite, Volks- sucht die Opposition in Venezuela, der abstimmungen etc. – oft auch als Synonyme Regierung Maduro über ein Abberufungs- verwendet – eingeführt bzw. gestärkt. Aller- referendum ein vorzeitiges Ende zu setzen. dings zeigt die politische Praxis, dass sie Eine institutionelle, nicht-direktdemo- auch als Mechanismus zur Schlichtung kratische Alternative zu einem Abberufungs- zwischen Exekutive und Legislative bzw. als referendum ist das Amtsenthebungsverfah- Druckmittel in den Beziehungen zwischen ren durch die Legislative (juicio político). Ein Regierung und Opposition fungieren können. solches Impeachment führte zuletzt 2012 Bei den Regelungen und der Praxis von das Parlament Paraguays gegen den im Jahr DDM herrscht in der Region eine ausgepräg- 2008 gewählten Präsidenten Fernando Lugo te Varianz. Unterschiedlich ist die für ihre durch, unter allerdings zweifelhaften Bedin- Gültigkeit notwendige Höhe der Wahlbetei- gungen. Zum dritten Mal in der Geschichte ligung; bisweilen sind sie an Themen ge- Brasiliens wird auch dort zurzeit ein Im- koppelt und bei bestimmten Fragen sogar peachment-Verfahren angestrengt. konstitutionell zwingend; je nach Land können sie »top-down« von der Exekutive und/oder der Legislative bzw. »bottom-up« Aktuelle Fälle in Südamerika von der Zivilgesellschaft initiiert werden. Letztere können in manchen Ländern zum Die Wiederwahl in Bolivien Ziel haben, Gesetze der Legislative oder »Sind Sie damit einverstanden, dass Artikel Dekrete der Exekutive aufzuheben. 168 der Politischen Verfassung des Staates Einen besonderen Typ von plebiszitärem dahingehend reformiert wird, dass die Prä- Mechanismus bildet das in einigen Ländern sidentin oder der Präsident und die Vize- eingeführte Abberufungsreferendum: Da- präsidentin oder der Vizepräsident zweimal mit können Inhaber und Inhaberinnen von in Folge wiedergewählt werden können?« – Exekutivämtern auf lokaler und regionaler so lautete die Frage, auf die in Bolivien am Ebene abgesetzt werden (revocatoria de man- 21. Februar 2016 51,3 Prozent der Wählen- dato). Neben der Wiederwahl bewirkt auch den (bei einer Wahlbeteiligung von über 80 SWP-Aktuell 15 März 2016 3
Prozent) mit »Nein« antworteten. Von die- gann nach dem Wahlsieg 2014 und endet sem Referendum hatte sich Evo Morales die im Januar 2020. explizite Zustimmung zu seiner vierten auf- Ermutigt durch überwältigende Wahl- einanderfolgenden Präsidentschaftskandi- ergebnisse und hohe Zustimmungswerte datur erhofft. Nun erleidet er – ihm fehlten bei der Bevölkerung strebte Morales über lediglich 135 000 Stimmen – seine erste eine Wiederwahl die vierte Amtszeit an. Wahlniederlage in zehn Jahren. Verloren Hierfür reichte aber Verfassungsdeutungs- hat er in sechs von neun Departements, vor akrobatik nicht mehr aus, eine Reform war allem in den urbanen Zentren, unter jun- folglich unabdingbar. Kurz vor dem Refe- gen Menschen und den im Ausland leben- rendum kam ihm jedoch ein Korruptions- den Bolivianerinnen und Bolivianern. skandal in die Quere: Es besteht der Ver- Kein Präsident in Bolivien hat so lange dacht, dass Gabriela Zapata – seine ehemali- regiert und sich durch Wahlen sowie (Auto- ge Partnerin, CEO des chinesischen Unter- nomie-, Abberufungs- und Verfassungs-) nehmens CAMC Engineering und nun in Referenda bzw. Volksentscheide so häufig Untersuchungshaft – von großzügigen dem Votum der Mehrheit gestellt wie Mora- öffentlichen Aufträgen profitiert und dabei les, der 2005 erstmals zum Präsidenten Morales’ Einflussnahme eine Rolle gespielt gewählt wurde. In seiner ersten Amtszeit hat (delito de tráfico de influencias). Zu den Kor- leitete er einen verfassunggebenden Prozess ruptionsskandalen im Umfeld der Regierung ein, der in die Constitución Política del gehört ein weiterer Fall, in den das Fondo- Estado Plurinacional de Bolivia mündete. Indígena-Amt, Führungspersönlichkeiten Ein Jahr bevor diese Verfassung 2009 durch indigener und Bauernorganisationen sowie ein Plebiszit angenommen wurde, über- Mitglieder des regierenden Movimiento al standen Morales und sein Vizepräsident Socialismo (MAS) verwickelt sind. Álvaro García Linera ein Abberufungs- Auch wenn Bolivien zurzeit im regio- referendum, das die Exekutive (top-down) nalen Vergleich aufgrund guter makro- initiiert hatte. Ein solcher von den Betroffe- ökonomischer Daten heraussticht und der nen selbst in Gang gesetzter Mechanismus Präsident die gegen ihn erhobenen Korrup- kann als funktionales Äquivalent einer tionsvorwürfe als Kampagne des schmutzi- Vertrauensfrage verstanden werden, die im gen Kriegs zu entkräften versucht, den die Präsidentialismus aber nicht dem Parla- neoliberale Rechte und die USA gegen ihn ment, sondern der Wählerschaft gestellt führen, scheinen sie doch einen Stim- wird. Damit kann die Regierung ihre plebis- mungswechsel bei Teilen der Wählerschaft zitäre Legitimierung erneuern und ihre gefördert zu haben. Die Regierung hat den Position gegenüber der Legislative stärken. Ausgang des Referendums akzeptiert und Lediglich eine einzige unmittelbare als Ablehnung einer Modifikation der Ver- Wiederwahl von Präsident/Präsidentin und fassung interpretiert, nicht aber der Regie- Vizepräsident/Vizepräsidentin ist im neuen rung Morales oder der Revolution. Es stellt Verfassungstext vorgesehen. Von ihr mach- sich jedoch die Frage, inwiefern sie auch ten Morales und García Linera bereits Ge- die Begrenzung ihrer Macht durch Zeit- brauch, als sie 2009 erneut mit Erfolg für die begrenzung nachhaltig anerkannt haben. Nationalexekutive kandidierten. Im Jahr Sollte dies der Fall sein, steht die regierende 2013 gab der bolivianische Verfassungs- MAS nun vor der Aufgabe, eine Führungs- gerichtshof in einem Urteil grünes Licht für figur als Alternative zu Morales aufzubauen. die zweite (nicht verfassungsmäßige) Wie- Eine solche ist bisher nicht auszumachen. derwahl der beiden. Die Begründung laute- Daher sind Nachfolgekämpfe innerhalb te, dass sie seit der Neugründung des Staa- der heterogenen Bewegung nicht unwahr- tes formell nur eine Amtsperiode absolviert scheinlich. Diese Konstellation erhöht die hätten und ihnen daher eine weitere frei- Erfolgschancen der Opposition bei zukünf- stünde. Diese faktisch dritte Amtszeit be- tigen Wahlen. Dabei fehlt der Opposition, SWP-Aktuell 15 März 2016 4
die zurzeit stark fragmentiert ist, ihrerseits den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« eine Integrationsfigur. nach seinem Wahlsieg im Jahr 2013 fort. Die aktuelle politische, ökonomische und soziale Krise, die mit schwerwiegenden Die Abberufung in Venezuela Versorgungsengpässen und extrem großer Den höchsten Grad an Kontinuität in der öffentlicher Unsicherheit einhergeht, sowie Regierung seit der dritten Welle der Re- der überwältigende Sieg der Opposition bei demokratisierung in Lateinamerika (das den Parlamentswahlen vom Dezember 2015 Kuba der Castros ist demnach ausgenom- werfen jedoch die Frage auf, wie lange sich men) weist Venezuela auf, wo sich der »Cha- der »Chavismo« noch an der Macht wird vismo« seit 1999 an der Macht hält. Dort halten können. Auf wackligen Füßen steht sind zugleich die Urnengänge extrem häu- nicht nur ein Erfolg bei der nächsten Präsi- fig – allerdings in einem abnehmend kom- dentschaftswahl im Jahr 2019, sondern petitiven Kontext. auch der ordnungsgemäße Abschluss der Seit Chávez das Präsidentschaftsamt laufenden Regierungsperiode. Denn zu den übernommen hat, wurden neben den regel- erklärten Absichten der in der Mesa de la mäßigen Wahlen und regionalen Volks- Unidad Democrática (MUD) vereinigten Op- abstimmungen sechs nationale Referenda position gehört die Absetzung des amtieren- durchgeführt. Zu Letzteren gehören das den Präsidenten. Laut Verfassung ist sie erst (top-down) Referendum zur Einberufung nach Abschluss der ersten Hälfte der Amts- einer Verfassunggebenden Versammlung zeit möglich: Stichtag ist der 19. April 2016. im Jahr 1999 (erfolgreich) und das im glei- Bereits während ihrer Kampagne zu den chen Jahr folgende (top-down) Referendum Parlamentswahlen erklärte die MUD, dass zur Annahme des neuen Verfassungstextes eine verfassungskonforme frühzeitige Ab- (erfolgreich). Diese Referenden wurden setzung Maduros notwendig sei – allerdings nach den Bestimmungen der Verfassung ohne den hierfür in Frage kommenden Me- von 1961 und des Organischen Gesetzes zu chanismus zu nennen. Vor allem die radi- Wahlrecht und Politischer Partizipation kaleren Parteien in ihren Reihen, etwa die vom Jahr 1997 abgehalten, welches das kon- Voluntad Popular (VP) um den politischen sultative Referendum einführte. Es folgten Gefangenen Leopoldo López, drängten – im neuen Verfassungsrahmen – das (top- unter dem Motto »La Salida« (Der Ausgang) down) Referendum über die Erneuerung auf eine solche Initiative. Die Tatsache, dass der Führung in den Gewerkschaften im die Wählerschaft der MUD eine Zweidrittel- Jahr 2000, die zwei misslungenen Versuche mehrheit im Einkammerparlament ver- (bottom-up) zur Abhaltung eines Referen- schafft hat, wurde im Oppositionsbündnis dums zur Abberufung von Chávez 2002 unterschiedlich interpretiert. Während die und 2003, das schließlich gegen ihn durch- einen daraus den Wunsch nach dem Ende geführte (bottom-up) Abberufungsreferen- des »Chavismo« herauslasen, deuteten die dum im Jahr 2004 (gescheitert), das (top- Moderateren dies (lediglich) als Forderung down) Referendum zur Annahme einer nach einer Korrektur des ökonomischen umfassenden Verfassungsreform im Jahr Kurses durch die chavistische Regierung. 2007 (gescheitert) und das (top-down) Mitte Februar versprach Parlaments- Referendum zur Einführung der uneinge- präsident Henry Ramos Allup der sozial- schränkten Wiederwahl des Staatsober- demokratischen Acción Democrática (AD), haupts im Jahr 2009 (erfolgreich). die ebenfalls der MUD zugehört, bald offi- Diese letzte Reform erlaubte es Chávez, ziell zu verkünden, welcher Mechanismus die vierte Präsidentschaftswahl in Folge zu zur Absetzung Maduros genutzt werden gewinnen. Die Amtszeit von sechs Jahren soll. In der Diskussion stand auch eine wurde nicht verkürzt. Der von Chávez be- Reduzierung der Amtszeit auf vier Jahre im stimmte Nachfolger, Nicolás Maduro, setzte Wege einer Verfassungsreform: Präsident- SWP-Aktuell 15 März 2016 5
schaftswahlen würden dann im laufenden Das Impeachment in Brasilien Jahr stattfinden. Seitdem in Brasilien die Möglichkeit der Henrique Capriles, zweifacher Präsident- Wiederwahl besteht, haben sämtliche schaftskandidat, Führungsfigur der Partei Staatsoberhäupter (drei an der Zahl) zwei Primero Justicia (PM) und des moderaten Präsidentschaftswahlen in Folge gewonnen. Flügels innerhalb der MUD, bereist derzeit Von dieser Option profitierte zuletzt der das Land, um für ein Referendum zur Ab- Partido dos Trabalhadores (PT) im Zentrum berufung Maduros zu werben. einer Vielparteienkoalition. Der PT machte Die Option des Abberufungsreferendums seine erste Regierungserfahrung mit Lula ist in Artikel 72 der venezolanischen Ver- und wird sich mit Rousseff als dessen Nach- fassung vom Jahr 1999 verankert. Zwar folgerin insgesamt über vier Amtszeiten, bedarf das Verfahren keiner Begründung; also 16 Jahre lang, an der Macht gehalten jedoch müssen die Unterschriften von 20 haben, falls die Präsidentin ihre zweite Prozent der Wählerschaft vorliegen, bevor Amtszeit zu Ende führen kann. Und das ist es abgehalten werden kann. Im Falle eines unsicher, denn ihr droht eine Absetzung – Scheiterns darf in derselben Amtszeit keine nicht durch ein Abberufungsreferendum zweite Initiative lanciert werden. Ein Ab- (das in Brasiliens Verfassung nicht vor- berufungsreferendum ist nur dann gültig, gesehen ist), sondern durch ein Impeach- wenn sich mindestens 25 Prozent der Wahl- ment im Parlament. berechtigten an der Abstimmung beteiligen. Ein solches Amtsenthebungsverfahren Zeitdruck für die Opposition erzeugt Ver- wegen Amtsvergehen kann durch den fassungsartikel 233: Wenn das mittels Refe- Antrag einer Bürgerin bzw. eines Bürgers rendum abberufene Staatsoberhaupt sein bei der Legislative in Gang gesetzt werden. viertes Regierungsjahr bereits abgeschlos- Bevor es aber durchgeführt werden kann, sen hat, besetzt der/die von ihm ernannte sind vier Schritte zu vollziehen: (1) Zunächst Vizepräsident/in das vakant gewordene Amt muss der Impeachment-Antrag vom Parla- – Neuwahlen finden dann nicht statt. ment angenommen und in einem Sonder- In der vorgegebenen Frist muss die Oppo- ausschuss überprüft werden, in dem alle sition also knapp vier Millionen Unter- Fraktionen vertreten sind. (2) Wenn der An- schriften sammeln. Hinzu kommen zwei trag nach Prüfung für gültig erklärt wird, weitere Hürden: Zum einen obliegt es dem hat das Staatsoberhaupt hierzu Stellung zu Consejo Nacional Electoral (CNE), der cha- nehmen. (3) Dem folgt eine Abstimmung vistisch dominierten Wahlbehörde, die (für bzw. gegen das Impeachment) im Ple- Unterschriften für gültig zu erklären. Da num jener Kammer, in der das Verfahren die Unterschriftenlisten veröffentlicht wer- initiiert wurde. (4) Wenn diese Abstim- den müssen und die Regierung in der Ver- mung (mit zumindest Zweidrittelmehrheit) gangenheit mehrfach Vergeltungsaktionen zu Ungunsten des Präsidenten bzw. der Prä- gegen »aufgelistete Personen« unternom- sidentin ausfällt, muss der Senat (bei Amts- men hat, zögern zum anderen viele Staats- delikten) bzw. der Oberste Gerichtshof (bei bedienteste in Verwaltung und Unter- allen anderen Straftaten) das endgültige nehmen, sich am Abberufungsverfahren Urteil sprechen. zu beteiligen. In der brasilianischen Geschichte gab es Angesichts der Komplexität der aktuellen bereits zwei Präzedenzfälle: Das erste Im- Situation sind zwei Fragen offen: Wie wird peachment-Verfahren wurde gegen Getúlio sich das Militär, tragende Säule des Systems, Vargas eingeleitet. Die große Mehrheit des im Falle einer bevorstehenden Abberufung Abgeordnetenhauses votierte im Jahr 1954 Maduros verhalten? Und wer würde von schließlich für den Präsidenten. Noch grö- einer Abberufung am meisten profitieren – ßer war im Jahr 1992 die Mehrheit der Ab- der »Chavismo«, die Opposition und/oder geordneten, die sich für die Absetzung des die venezolanische Demokratie? Staatsoberhaupts entschied: Fernando Col- SWP-Aktuell 15 März 2016 6
lor de Mello trat damals »freiwillig« zurück, positiv. Der politisch-institutionelle Druck kurz bevor der Senat im nächsten Schritt wird durch die kritische Wirtschaftslage das definitive Urteil fällte. verstärkt: Die Inflationsrate lag im Dezem- Heute geht das Gespenst des Impeach- ber 2015 bei gut zehn Prozent. Für 2016 ment im Palácio do Planalto, dem Regie- prognostiziert der Internationale Wäh- rungssitz in Brasília, erneut um. Den Weg rungsfonds ein Schrumpfen der Wirtschaft hierfür ebnete im Dezember 2015 der Prä- um 3,5 Prozent. sident der Abgeordnetenkammer, Eduardo Endemische Korruption ist kein neues Cunha, indem er einen der vielen Anträge Phänomen in Brasilien; auch die Vorgän- gegen Rousseff annahm. Bemerkenswert gerregierung(en) hatten damit zu tun. So daran ist zum einen, dass Cunha zur stärk- veranlasste die Justiz Anfang März im sten brasilianischen politischen Kraft (Par- Zusammenhang mit dem Petrobras-Skandal tido do Movimento Democrático Brasileiro, die Befragung Lulas und die Durchsuchung PMDB) gehört, die an der Regierungs- seines Domizils durch die Polizei. Die tradi- koalition beteiligt ist und mit Michel Temer tionell gut geschmierte Politmaschinerie den mitgewählten Vizepräsidenten stellt. weist inzwischen Störungssymptome auf. Zum anderen ist er selbst in den milliar- Heute sind (öffentliche) Informationen denschweren Korruptionsskandal um das besser verfügbar und leichter zugänglich – Staatsunternehmen Petrobras (Operação aufgrund technischer Möglichkeiten, Lava Jato) verwickelt und wird der Geld- sozialen Drucks und verletzter Loyalitäten. wäsche beschuldigt. Nun hat der Oberste Wenn sich die Wirtschaftssituation ver- Gerichtshof einen Prozess gegen ihn er- schlechtert, ist die Bevölkerung weniger öffnet. bereit, Korruption zu tolerieren. Zudem Die kursierenden Korruptionsvorwürfe, geht die Justiz entschiedener gegen die die gegen die Regierungskoalition erhoben Politik vor. und von Medien, Politik und Justiz behan- Rousseff ist nun mit einer »Schluss da- delt werden, sind zahlreich und betreffen mit!«-Stimmung konfrontiert. Die erste nicht nur die laufende Amtszeit. Formal Phase des Amtsenthebungsverfahrens wirksam für die Einleitung des Impeach- wurde vom Obersten Gerichtshof, den ein ment-Verfahrens gegen die Präsidentin ein PT-Mitglied angerufen hatte, aus verfah- Jahr nach ihrer Wiederwahl wurde schließ- renstechnischen Gründen gestoppt. Im lich ein dreißigseitiges Dokument zweier Abgeordnetenhaus werden weitere Offen- Juristen, das an den Präsidenten des Ab- siven vorbereitet. Indessen trafen sich die geordnetenhauses, Cunha, adressiert war. Oppositionspartien am 22. Februar, um ein Darin wird der Präsidentin vorgeworfen, Impeachment-Komitee zu gründen und der zahlreiche Straftaten begangen zu haben. Initiative einen neuen Impuls zu geben – Im Zentrum der Anschuldigungen steht ein nun unter dem Vorwurf von Unregelmäßig- verwaltungstechnisches Vergehen, das sich keiten bei der Wahlkampffinanzierung. auf ihre vorherige Amtszeit bezieht: Rous- seff habe im Jahr 2014 fiskalische Gesetze verletzt und die Buchführung der Staats- Große politische Dynamik bei finanzen im Interesse einer positiveren personeller Kontinuität Darstellung manipuliert. Die Einführung der (unmittelbaren) Wie- Aus verschiedenen Umfragen, die füh- derwahl bedeutet ebenso wie die erleich- rende Meinungsforschungsinstitute (Ipsos, terte Absetzung des Staatsoberhaupts eine Datafolha, Ibope u.a.) seit März 2015 durch- Flexibilisierung fixer Amtsperioden – weil geführt haben, geht hervor, dass rund 60 nun mehrfache konsekutive bzw. kürzere Prozent der Befragten ein Impeachment Amtszeiten institutionell möglich sind. gegen die Präsidentin befürworten. Nur elf Während das verfassungsrechtlich ver- Prozent bewerten ihre Regierungsführung ankerte Impeachment-Verfahren eine län- SWP-Aktuell 15 März 2016 7
gere Tradition hat, gehören Abberufungs- die Deutung seines Ergebnisses durch ver- referenda zu den jüngeren institutionellen schiedene Akteure. Mechanismen in Lateinamerika. Sie haben Die institutionelle Entwicklung, die sich in den letzten Dekaden in den Verfas- Lateinamerika in den letzten Dekaden sungen der Staaten dieser Region jedoch durchlaufen hat, zeichnet sich durch einen nicht so massiv verbreitet wie die Wieder- ausgeprägten Reformismus aus. Dafür spie- wahl. Die übliche erneute Kandidatur am- len unter anderem zwei Faktoren eine Rolle: tierender bzw. ehemaliger Präsidentinnen zum einen der nominalistische Glaube an und Präsidenten kann als Ausdruck eines die handlungsleitende Kraft formaler Insti- hohen Grads von Personalismus gedeutet tutionen bzw. die Hoffnung, neue Institu- werden. Sie stärkt zugleich die Stellung des tionen könnten fortbestehende politische Präsidentschaftsamtes im Präsidentialis- Probleme lösen; zum anderen die Versu- mus. Eine neuerliche Kandidatur wird in chung, das Spielfeld immer wieder zum Lateinamerika aber auch als Faktor betrach- eigenen Vorteil zu verschieben. © Stiftung Wissenschaft und tet, der zur Regierbarkeit beiträgt. Spielregeln werden somit fluide, zumal Politik, 2016 Die institutionelle Mechanik bei der die eingeführten Modifikationen zumeist Alle Rechte vorbehalten Wiederwahl und jene bei der Abberufung unverzüglich gelten. Dennoch waren die Das Aktuell gibt die Auf- lenken den politischen Kurs jeweils in ent- institutionellen Reformen der letzten Deka- fassung der Autorin wieder gegengesetzte Richtungen: Die eine fördert den nicht revolutionär, die verschiedenen SWP die Kontinuität, die andere den Wechsel. präsidentiellen Regierungssysteme blieben Stiftung Wissenschaft und Nimmt man aber die nationale Ebene em- in ihrer Grundstruktur erhalten. Es waren Politik Deutsches Institut für pirisch in den Blick, stellt sich heraus, dass nicht nur die formalen Änderungen, son- Internationale Politik und bisher sämtliche – das heißt geplante wie dern auch das Verhalten politischer Ak- Sicherheit durchgeführte, »top-down« wie »bottom-up« teure und deren Interpretation verbriefter Ludwigkirchplatz 34 – Referenda zur Abberufung von (mehrfach Normen, die die systemischen Beziehungen 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 wiedergewählten) Präsidenten scheiterten. zwischen den Gewalten veränderten. Fax +49 30 880 07-100 Wo Abberufungsreferenda keinen Regie- In manchen Staaten Südamerikas (etwa www.swp-berlin.org rungswechsel herbeiführen, bleiben sie in Argentinien, Bolivien und Ecuador) sind swp@swp-berlin.org dennoch nicht wirkungslos. Aus einem Ab- Präsidenten wiederholt frühzeitig zurück- ISSN 1611-6364 berufungsreferendum, das eine Präsidentin getreten, und in den 1980er und 1990er bzw. ein Präsident erfolgreich übersteht, Jahren kam es vielfach zu Machtwechseln. kann diese/r gestärkt hervorgehen. Vor diesem Hintergrund wird der hohe Zudem erzeugen nationale Referenda Grad an Kontinuität erkennbar, mit dem eine besondere Dynamik im politischen sich seit Anfang des neuen Jahrtausends Prozess. Denn zu ihnen gehört eine Wahl- politische Kräfte und Personen an der kampagne – die durch die natürliche Polari- Macht gehalten haben. Dabei hat die Ein- sierung zwischen »Ja« und »Nein« verschärft führung der Wiederwahl eine zentrale wird. Dadurch stärken sie das plebiszitäre Rolle gespielt. In derselben Zeitspanne hat Mehrheitsprinzip gegenüber Prozessen des die Häufigkeit von Urnengängen (Wahlen Verhandelns und der Konsensfindung in und Referenda) stark zugenommen, bei Institutionen. Hiervon zu unterscheiden denen die amtierenden Regierungen zu- sind Volksentscheide auf lokaler Ebene, die meist erfolgreich waren. Ihre strukturellen zur Klärung einfacher, aber wichtiger Sach- Vorteile einzuschränken und damit für grö- fragen beitragen können, zum Beispiel ob ßere Fairness im politischen Wettbewerb zu eine Brücke gebaut werden soll oder nicht. sorgen, bleibt eine wichtige demokratische Dabei beziehen sich die Wähler und Aufgabe in Lateinamerika. Wählerinnen in ihrem Abstimmungsverhal- ten nicht notwendigerweise auf die offiziell gestellte Frage. Entsprechend uneinheitlich sind das »framing« des Referendums und SWP-Aktuell 15 März 2016 8
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