MAGAZIN FÜR VIELFALT Sein, wer man ist Jugendliche auf dem Weg zur eigenen Identität und zu ihrem Platz in der Gesellschaft Lebensnah ...
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M AG A Z I N F Ü R V I E L FA LT HERAUSGEGEBEN VON DEN KANTONEN BE / BL / BS / GR 2/2019 Sein, wer man ist Jugend- liche auf dem Weg zur eigenen Identität und zu ihrem Platz in der Gesellschaft Lebensnah Engagierter Jungpolitiker im Porträt
EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser Seit 20 Jahren und 37 Ausgaben bereichern wir mit der MIX die Migrations- und Integra tionsdebatte – differenziert und lustvoll zu- Inhalt 2/2019 gleich. Von Beginn an in den beiden Basler Kantonen. Zwischenzeitlich mit dem Aar- gau, Solothurn und Zürich. Seit 2007 bzw. EDITORIAL 2012 und bis heute mit Bern und Graubün- den. Eine Partnerschaft, die nicht nur den He- NACHGEFRAGT rausgeberinnen, sondern hoffentlich auch 3 Jovita dos Santos Pinto fordert ein neues Gesellschaftsverständnis Ihnen so manch neue Erkenntnis, so man- chen Lacher und so manchen Lichtblick be- THEMA schert hat. 4 Sein, wer man ist Junge Menschen mit Migrations Dabei ist die MIX stets mit den gesellschaft- lichen Veränderungen mitgegangen. Sie hat hintergrund prägen selbstbewusst die sich von der Schwarz-Weiss-Zeitung zum farbigen Magazin entwickelt, auch mal den hiesige Jugendkultur. Eine Ode an Namen geändert, den Sprung ins Web ge- wagt und auf Social Media von sich reden ge- die Vielfalt ≥ Seite 4 macht. Immer gab sie dabei Migrantinnen 8 Drei Jugendliche im Gespräch über ihr Erwachsenwerden und Migranten selbst eine Stimme, gewich- 11 Verschwitzt ankommen: Jugendfreizeitprojekt in Chur tete deren Perspektiven genauso wie dieje- 12 Der Redebedarf ist gross: offene Jugendarbeit in Basel nigen der Wissenschaft, der Politik, der Be- 13 Schlupfhuus Zürich: Jugendliche in Krisensituationen hörden oder der Wirtschaft. Das eröffnete 14 Die Jugend von heute, gestern und vorgestern: drei Porträts der breiten Leserschaft zusätzliche Blick- winkel auf eine Thematik, die letztlich alle LEBENSNAH etwas angeht. Diese Horizonterweiterung 16 Junge Politik möchten die beteiligten Kantone künftig in Kaiwan Nuri weiss, was es bedeutet, individuellerer Form bieten, weshalb sie be- schlossen haben, ihre MIX-Kooperation per anders zu sein. Auch politisch Ende Jahr zu beenden. In bewährter Form weiterhin erscheinen wird die MIX ab Herbst geht er seinen eigenen Weg ≥ Seite 16 2020 im Kanton Graubünden als «MIX Maga- zin für Vielfalt Graubünden». MIXER 18 Carte blanche von Fatima Moumouni Grund genug, in die Zukunft zu blicken und die letzte gemeinsame Ausgabe dem Nach- DÉJÀ-VU wuchs in unserem Land zu widmen. Wir 18 Bürgerschreck Haartolle beleuchten die Sorgen und Herausforderun- Transnationale Jugendbewegungen gen der jungen Menschen auf dem Weg zum Erwachsenwerden, aber vor allem auch ihr gibt es nicht erst seit «Fridays for Future» Potenzial, das die Schweiz so bereichert und ≥ Seite 18 zu dem spannenden, vielfältigen Zukunfts- labor macht, das sie heute ist. MIX 2000–2019 Wir danken Ihnen herzlich für die jahre 19 Bis zur letzten Ausgabe im lustvollen Dienst der Integration lange Treue und freuen uns, wenn Sie un- IMPRESSUM sere Arbeit auch künftig und auf anderen Kanälen interessiert und kritisch verfolgen. MARTIN BÜRGIN, MICHAEL WILKE, DIJANA TAVRA UND PATRICIA GANTER; INTEGRATIONSDELEGIERTE DER KANTONE BASEL-LANDSCHAFT, BASEL-STADT, BERN UND GRAUBÜNDEN 2 MIX 2/2019
FOTO: ZVG NACHGEFRAGT JP: Viele Erfahrungen teilen wir. Etwa, dass im Tram der Platz neben uns leer bleibt, dass jemand konsequent Hochdeutsch mit uns spricht, obwohl wir auf Schweizer- deutsch antworten, oder dass wir als übermässig sexuell dargestellt werden. Es gibt aber auch Unterschiede. Momentan wird oft über Racial Profiling gesprochen. Da wird meistens von kriminellen Männern ausgegangen. Schwarze Frauen sieht man im Vergleich eher als unge bildete Opfer. Wir gehen auch oft in feministischen und Gleichstellungsdiskussionen unter. Meiner Meinung nach wurde hier noch zu wenig darüber nachgedacht, was Frauen tatsächlich verbindet und was sie unterscheidet. Aufgrund von Rassismus sind nicht weisse Männer und Frauen beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt nochmal markant schlechter positioniert. Aber in Gleichstellungs- statistiken sieht man das nicht. MIX: Erinnern Sie sich an Ihre erste diskriminierende oder «Wir müssen Ungleichheit rassistische Erfahrung? JP: Nein, es gab kein sogenanntes Erweckungserlebnis, in ihrer Vielfalt anerkennen» das war ein Bewusstwerdungsprozess. Die Genderforscherin Jovita MIX: Inwiefern hat Sie das Schwarzsein schon als Jugendliche geprägt? dos Santos Pinto arbeitet im JP: Durch meinen älteren Bruder kam ich früh in Berüh- rung mit Vereinen und Aktionen von People of Colour, Netzwerk Bla*Sh mit schwarzen also nicht weissen Menschen. Mit 16 begann ich mich selbst aktiv zu engagieren. Etwa zur selben Zeit wechselte ich von einem Einwanderungsquartier aufs Gymnasium, wo Frauen an einem neuen Gesell- ich die einzige schwarze Schülerin war. Deshalb waren diese Gruppierungen wesentlich für mich. Sie halfen mir schaftsverständnis. meine Ausgrenzungserfahrung innerhalb von grösseren gesellschaftlichen Zusammenhängen zu verstehen. INTERVIEW: MIX: Frau Pinto, was unterscheidet Bla*Sh von anderen MIX: Ist es für Sie kein Dilemma, einerseits als selbstver PHILIPP GRÜNENFELDER Netzwerken wie etwa der internationalen BlackLivesMatter- ständlich «schwarz» angesehen werden zu wollen und sich Bewegung? andererseits explizit als schwarze Frau hinstellen zu müssen? Jovita dos Santos Pinto (JP): BlackLivesMatter ist in aller JP: Gar nicht. Wir müssen aufhören damit, so zu tun, Munde, dabei geht oft die Vielfalt von schwarzen femi als gäbe es ein Patentrezept für alle, und verstehen lernen, nistischen Organisationsformen – auch auf dem europäi dass unsere Identitäten, Privilegien und Benachteiligun- schen Kontinent – unter. Ein Vergleich mit ADEFRA gen mit Ungleichheiten, wie Sexismus, Rassismus oder in Deutschland, Mwasi in Frankreich oder etwa dem Treff- Klassismus zu tun haben. Anstatt über diese Unterschiede punkt Schwarze Frauen in Zürich passt eher: Wir wirken hinwegzusehen, müssen wir Ungleichheit in ihrer Viel- lokal und bemühen uns vor allem darum, eine Austausch- falt anerkennen. Für mich ist das die Voraussetzung, plattform von und für schwarze Frauen zu sein. Unser um gesellschaftliche Benachteiligungen abzuschaffen. Ziel ist es, uns gegenseitig kennenzulernen und zu stärken. Nichtsdestotrotz organisieren wir gelegentlich auch kul- turelle Veranstaltungen wie Lesungen zu Kinderbüchern, Diskussionsrunden oder Performances. MIX: Zu dieser Arbeit gehört auch die Auseinandersetzung mit Alltagsrassismus. Was erleben schwarze Frauen anders als schwarze Männer? MIX 2/2019 3
THEMA Sein, wer man ist Jugendliche mit Migrationshintergrund prägen selbstverständlich die hiesige Jugendkultur. Ihre Sprache, ihre Musik und ihr Habitus sind in den Strassen und auf den Pausen plätzen genauso allgegenwärtig wie in Shisha-Bars. Eine Ode an die Vielfalt. H TEXT: GÜVENGÜL ey moruk, das isch jo voll nice», sagt der Blonde kopfni- verfremdeten Studenten die deutsche Sprache, indem sie KÖZ BROWN; FOTO: DONATA ETTLIN ckend zum Sound, den sein mediterran aussehender lateinische und griechische Begriffe kombinierten. Etliche Freund auf dem iPhone abspielt. «Ich weiss, oğlum, weitere Wörter aus früheren Zeiten, wie pumpen, mogeln er het swag…», erwidert dieser sichtlich geschmeichelt, als oder anschleppen, sind mittlerweile fester Bestandteil unse wäre sein guter Musikgeschmack das Eintrittsbillett für den res Wortschatzes. Damals wie heute bestand die spielerische sonst unerreichbaren Hip-Hop-Himmel. Das 8er-Tram von Sprachverfremdung insbesondere darin, sich von der Er- Kleinhüningen in die Basler Innenstadt ist voll besetzt. Die wachsenenwelt und anderen Jugendgruppen bzw. -szenen Jugendlichen – beide etwa 17 Jahre alt – lauschen mit Be- abzugrenzen. Innerhalb der Jugendkultur übernimmt der geisterung dem Reimtalent eines deutschen Rappers – dem Sprachstil neben Kleidung und Habitus somit eine soziale Slang zufolge einer mit Migrationshintergrund. Weder die Markierungsfunktion. Das stärkt nicht nur das Zugehörig- bösen Blicke noch das verständnislose Kopfschütteln ande- keitsempfinden, sondern ist auch identitätsstiftend. rer Fahrgäste scheinen die Teenies zu stören, als handle es sich bei ihrer Unterhaltung um eine Inszenierung, die nur Dass die aktuelle Jugendsprache in der Schweiz gespickt ist darauf gewartet hat, vor Publikum präsentiert zu werden. mit Ausdrücken aus dem Balkan und der Türkei, ist mitun- Als sie aber eine ältere Frau enerviert bittet, den Lärm end- ter der zweiten und dritten Generation zu verdanken, de- lich abzustellen, entschuldigt sich der dunklere von beiden ren Eltern in den 1980er- und 1990er-Jahren in die Schweiz in einem astreinem Baseldeutsch, grinst schlitzohrig und immigrierten. «Jugendliche aus diesen Regionen verfügen schliesst die Kopfhörer an sein Natel an. aufgrund ihrer Herkunft über ein Repertoire an mehreren Sprachen», so die Sprachwissenschaftlerin Christina Siever. Verfremdung der Sprache Das erlaubt es ihnen, aus dem Vorhandenen etwas Neues zu Wenn Jugendliche türkische, albanische oder englische Be- kreieren und zwischen mindestens zwei Sprachen zu swit- griffe wie moruk (Alter), oğlum (Mein Sohn/Kleiner), hajde chen oder mit ihr grammatikalisch zu spielen. Legendär (Komm schon!) oder swag (hat Style) virtuos in ihr Vokabu- ist bis heute der Spruch von Heshurim Aliu: «S’Bescht wos lar einbauen, verstehen Erwachsene oft nur Bahnhof. Man- je hets gits» wurde 2009 sogar zum Schweizer Jugendwort che sehen darin die Verhunzung der deutschen Sprache des Jahres gekürt. Dass der junge Mann aus dem Baselbiet oder mangelnden Integrationswillen. Andere wiederum eine KV-Ausbildung mit Berufsmatur hatte und vor der Fern- verstehen das Mischmasch als kreativen Umgang mit der sehkamera nur aus Spass so redete, wurde erst viel später Sprache. Letzteres hat Tradition. Schon im 17. Jahrhundert bekannt. MIX 2/2019 5
THEMA «Dieser sogenannte Ethnolekt wird situationsspezifisch teil- setzt sich mit Projekten und Workshops seit über 20 Jahren weise auch zu Zwecken der Selbststilisierung verwendet», auch hierzulande für die Förderung des Dialogs und den Ab- so die Expertin. Das heisst: Die Jugendlichen zelebrieren bau von Rassismus und Vorurteilen ein. «Dabei ist Identität selbstbewusst ihren Migrationshintergrund und damit ihre nichts Eindimensionales und kann daher auch nicht auf ei- Daseinsberechtigung in der Schweiz – eine wichtige Stütze nen einzigen Aspekt wie die Nationalität reduziert werden.» in einem Alltag, der je nach sozialer Schicht und Herkunft geprägt ist von Marginalisierung und Diskriminierung. In Vielfalt als Normalität den letzten Jahren hat diese Form der Kommunikation me- Die aktive Auseinandersetzung mit der Schweiz als post- dial eine regelrechte Kommerzialisie- migrantische Gesellschaft nimmt in jüngster Vergangenheit Die hiesige Rapszene rung erfahren, insbesondere wegen immer mehr Raum in öffentlichen Debatten ein – gerade wäre undenkbar ohne die Kabarettisten wie Müslüm oder Kaya in urbanen Zentren, wo die Grenzen zwischen der einhei- prägenden Einflüsse Yanar, die eigentlich perfekt Deutsch mischen und ausländischen Bevölkerung immer fliessender von Künstlerinnen und sprechen, davon aber auf der Bühne werden. Fragen wie «Woher kommst du?» sind für Jugend- Künstlern mit Migrations- in klischierten Rollen eine fehlerhaf- liche in diesem Umfeld nicht mehr so zentral und einfach te Version inszenieren. Auch die hie- zu beantworten wie für die ältere Generation. «Die meisten hintergrund. sige Rapszene wäre undenkbar ohne meiner Freunde sind hier geboren, und mindestens ein die prägenden Einflüsse von Künstlerinnen und Künstlern Elternteil kommt ursprünglich irgendwie von irgendwoher. mit Migrationshintergrund. Gerade für Digital Natives sind Das ist für uns Normalität, deshalb auch nicht das Wich- sie wichtige Identifikationsfiguren – unabhängig von ihrer tigste in unserem Alltag», erklärt Malik. In den letzten Jah- Herkunft. «Jugendliche ohne Migrationshintergrund imi- ren wären deshalb auch nicht seine dunkle Hautfarbe sein tieren den Ethnolekt und stellen dadurch u. a. ihre eigene grösstes Problem gewesen, sondern die Schule. «Wenn ich Medienkenntnis unter Beweis», so Siever. Das verbinde. zurückblicke, habe ich das Gefühl, dass ich in der Puber tät bewusst alles darangesetzt habe, meine Zukunft zu ver- Mehrfachzugehörigkeit masseln», resümiert er fast ein bisschen verlegen. Er habe Hybrid ist heute nicht nur die Sprache von jungen Secondas nichts mehr für die Schule gemacht, ungenügende Noten und Secondos, sondern oft auch ihre Identität. Festlegen in praktisch allen Fächern geschrieben und dadurch in auf eine Nation, das kommt für viele längst nicht mehr Kauf genommen, keine Lehrstelle zu finden. Rückblickend infrage. Sie fühlen sich zwei oder mehreren kulturellen nicht nur für ihn eine aufreibende Zeit, sondern genauso Räumen gleichermassen zugehörig. In einer Gesellschaft, für seine Familie, die nicht verstehen konnte, wie aus einem in der knapp 46 Prozent der hier geborenen Kinder Eltern so neugierigen Kind ein desinteressierter Teenager werden mit unterschiedlicher Nationalität haben, ist das auch nicht konnte. Heute ist Malik 19 Jahre alt und mehr als glück- verwunderlich. «Meine Eltern sind beide ursprünglich aus lich darüber, dass er doch noch die Kurve gekriegt hat. «Ich der Türkei. Während meine Mutter in der Schweiz geboren bin im zweiten Lehrjahr und möchte die Ausbildung 2021 und aufgewachsen ist, hat mein Vater seine Kindheit in den erfolgreich abschliessen, um danach mit Weiterbildungen Niederlanden verbracht», erzählt Jiyan. Er selbst sei im Jahr beruflich voranzukommen. Plötzlich ist mir meine Zukunft 2000 in Basel geboren und lebe seither mit seinen Eltern in wichtig», sagt er schmunzelnd und schüttelt den Kopf – als der Region. «Mein Leben ist so multikulturell, dass ich mich könne er selbst nicht glauben, wie vernünftig es inzwischen nie über eine einzige Nation definieren könnte, denn in ers- aus ihm spricht. ter Linie fühle ich mich als Mensch.» (vgl. Interview S. 8). Ob man will oder nicht: Irgendwann steht der Ernst des Le- Dass sich Menschen gleichzeitig mit mehreren Heimaten bens vor der Tür und fordert vom Nachwuchs, die Weichen verbunden fühlen können und ihre Loyalität gegenüber für sein zukünftiges Leben zu stellen. Für Claus Koch, Psy- der Schweiz dadurch nicht geringer ist, belegt auch eine chologe und Autor des Buches «Pubertät war erst der Vor im vergangenen Jahr von der Eidgenössischen Migrations- waschgang», ist die Lebensspanne zwischen 18 und 30 Jah- kommission publizierte Studie zu Chancen und Risiken ren die härteste überhaupt. Das habe u. a. damit zu tun, der Doppelbürgerschaft. In Auftrag gegeben wurde sie, dass in dieser Phase die gewohnten Leitplanken wie Schule nachdem Xherdan Shaqiri und Granit Xhaka während der und Eltern wegfallen würden. Plötzlich müsse man selbst letzten Fussball-Weltmeisterschaft mit ihren Händen den al- Entscheidungen treffen, die vielleicht lebenslang Spuren banischen Doppeladler geformt hatten. «Medial und in der hinterlassen, so der Experte in einem Interview mit der Öffentlichkeit wurde die Aktion als Verrat an der Schweiz gesehen», erinnert sich Andi Geu, Co-Geschäftsleiter von Identität ist nichts Eindimen NCBI Schweiz. Die internationale Nichtregionsorganisation sionales und kann daher auch nicht auf einen einzigen Aspekt wie die Nationalität reduziert werden. 6 MIX 2/2019
THEMA «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». «Und das weitgehend negativen und als demütigend empfundenen Erfahrungen, ohne Hilfe von aussen. Man ist auf sich zurückgeworfen. die sie in dieser Lebensphase gemacht hätten – so etwa bei Man muss sein Leben neu ordnen und ihm eine Perspektive der Lehrstellensuche, vor dem Eingang eines Nachtclubs geben. Auch die Sinnfrage stellt sich.» oder aufgrund ausländerfeindlicher Initiativen, die an der Urne klar angenommen wurden. Dazu zählen namentlich Chancen und Ungleichheitsdimensionen diejenigen gegen den Bau von Minaretten, für die Ausschaf- Wer wie Malik die Sinnfrage u. a. über die Bildung beant- fung verurteilter Ausländer sowie die Initiative gegen die worten will, hat in der Schweiz auch mit Migrationshinter- Masseneinwanderung. Solche Erfahrungen hätten bei den grund gute Chancen, beruflich Karriere zu machen. Denn Jugendlichen einerseits Angst ausgelöst und andererseits hierzulande funktioniert die Integration über die Arbeit im das Gefühl hinterlassen: «Die wollen uns ja gar nicht!» Dass Vergleich zu anderen Ländern grundsätzlich besser. Gemäss sich Jugendliche unter diesen Umständen von der Schweiz einer OECD-Studie von 2015 gehen 75 Prozent der Zugewan- entfremden und in den Kreis der Familie oder ihrer Commu- derten einer Arbeit nach – europaweit liegt diese Quote bei nities zurückziehen, kann auch Andi Geu nachvollziehen: 62 Prozent. Der Erfolg im Beruf spiegelt sich laut der Studie«Sie fühlen sich dort sicherer, weil sie einen Platz haben, der auch in einer guten Integration der Kinder wider. Das gilt nicht hinterfragt wird.» aber längst nicht für alle, denn auch in der Schweiz hängen die tatsächlichen Bildungschancen stark von der sozialen Auch wenn einige der Befragten heute studierten oder über Zugehörigkeit und von den vorhandenen Ressourcen im eine abgeschlossene Berufslehre verfügten, «einfach hatten Elternhaus ab – weniger von der Herkunft, Religion oder sie es während der Schulzeit und Lehrstellensuche nicht», so Kultur. Überspitzt gesagt: Die Tochter eines Ärztepaars aus Mey. Für jugendtypische «Durchhänger» oder Suchphasen, Polen hat es in ihrem Bildungsver- wie es Malik durchlebte, blieb kaum lauf sicherlich einfacher als ein erit- Die Tochter eines Ärztepaars Spielraum. Und auch wer viel lernte reisches Kind, dessen Eltern nur die aus Polen hat es in ihrem und gute Noten schrieb, musste im Ver- Primarschule besucht haben, oder Bildungsverlauf sicherlich gleich zu den Schweizer Mitschülern ein Kind mit Schweizer Eltern, die einfacher als ein eritreisches deutlich mehr Bewerbungen schrei- als Working Poor von mehreren Jobs Kind, dessen Eltern nur die ben und Abstriche in der Berufswahl gleichzeitig leben müssen. Es gibt also Primarschule besucht haben. hinnehmen. «Für viele war es schwer verschiedene Ungleichheitsdimensio- zu akzeptieren, dass sie in migranten- nen, die Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund typischen Berufsfeldern wie der Pflege oder dem Bau ge- auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden zusätzlich prägen landet sind – so haben sie sich den sozialen Aufstieg nicht bzw. ihnen den Start erschweren. Das beobachtet auch die vorgestellt.» Solche Knicke im Integrationsprozess gelte Soziologin Eva Mey: «Im Bildungsbereich bleiben die Chan- es zu verhindern, auch wenn sie nur eine kleine Gruppe cen auf Erfolg tatsächlich ungleich verteilt. Das Risiko auf tangiere, sagt Mey und fordert nebst dem verbesserten Zu- der Strecke zu bleiben, ist bei Secondas und Secondos aus gang zu politischen Rechten eine strukturelle Reform des sozial schwachen Milieus entsprechend höher.» Mit einem Schweizer Bildungssystems, damit Kinder aus unteren sozi- wechselnden Forschungsteams hat sie im Rahmen einer bio- alen Schichten die gleichen Chancen auf gesellschaftliche grafischen Studie über einen Zeitraum von zehn Jahren Teilhabe hätten. (2006–2016) bei insgesamt 34 Jugendlichen aus zugewander- ten Arbeiterfamilien den Übergang ins Erwachsenenalter Zukunft ist heute vertieft untersucht. «In Gesprächen wollten wir bei dieser Mutige Reformen kommen aber nicht von heute auf mor- spezifischen Zielgruppe in Erfahrung bringen, wie die Me- gen – dessen ist sich auch Mey bewusst. Was sich aber bereits chanismen und Muster im Zusammenspiel von beruflicher, radikal verändert hat, ist das Gesicht unseres Landes. Noch sozialer und politischer Positionierung zwischen dem nie war es so vielfältig wie heute: Schweizer Mutter, italie- 16. und 26. Lebensjahr funktionieren», erklärt Mey, die heu- nischer Vater, nigerianischer Onkel. Gerade Jugendliche im te an der ZHAW Soziale Arbeit im Institut für Vielfalt und urbanen Umfeld wachsen mit dieser Realität ganz selbstver- gesellschaftliche Teilhabe forscht und lehrt. Dafür wurde ständlich auf. Das macht Andi Geu und Eva Mey Mut – trotz bewusst die Luzerner Gemeinde Emmen gewählt, die mit den Herausforderungen, die sich nicht von heute auf mor- ihrer industriellen Vergangenheit und ihrer sozialen Zu- gen in Luft auflösen werden. sammensetzung mit hohem Ausländeranteil (über 30%) für viele Agglomerationsgemeinden der Schweiz steht. Nicht zuletzt die Einstellung zur Einbürgerung habe sich in die- sem Zeitraum teilweise stark verändert. «Während viele Be- fragten in der ersten Phase, sprich als Teenager, noch den Wunsch hatten so schnell wie möglich den Schweizer Pass zu erwerben, hatte man dieses Vorhaben vier Jahre später oftmals aufgegeben.» Zurückzuführen sei dies u. a. auf die MIX 2/2019 7
THEMA «In China essen sie Hunde» Drei Jugendliche Jiyan, Ian und Shahira (v.l.n.r.) aus Basel erzählen, was Erwachsenwerden in einem globalisierten Umfeld bedeutet und warum sie über klischierte Ausländer witze selbst lachen können. INTERVIEW: GÜVENGÜL KÖZ BROWN; FOTO: DONATA ETTLIN 8 MIX 2/2019
THEMA MIX: Ian, Shahira, Jiyan. Das sind keine wie «In China essen sie Hunde» anhören Shahira: Ich weiss nicht, ob es Zufall ist Vornamen, die man als «typisch» schweizerisch (lacht). Bei ihnen stört mich das aber über- oder gewollt, aber alle meine Freundinnen bezeichnen würde. Wie schweizerisch fühlt haupt nicht, weil wir uns alle gegenseitig und Freunde haben entweder ausländische ihr euch? über die jeweilige Herkunft lustig machen. Wurzeln oder sind wie ich Mischlinge. Jiyan: Ich fühle mich in erster Linie Was ich aber nicht akzeptiere, ist wenn Aber auch das ist kein Thema, mit dem ich als Mensch und würde mich nie über eine Fremde so mit mir reden. Das ist eine mich wirklich bewusst auseinandersetze. Nation definieren. Mich interessiert es Frage des Respekts. Ich gehe ja auch nicht Ich zerbreche mir doch nicht den Kopf allgemein nicht, woher jemand kommt. zu irgendjemanden auf der Strasse und über die Herkunft von Menschen, die mir Im Vordergrund steht, ob ich die Person beleidige sie oder ihn rassistisch. wichtig sind. mag oder nicht – und das hängt oft vom Charakter ab. «Freundschaften hängen MIX: Das heisst, so wie ihr derzeit lebt, stimmt Ian: Dem kann ich mich nur anschliessen, es für euch? davon ab, wo man zur denn ich fühle mich weder zu 100 Prozent Ian: Ich kann mich nicht beschweren, bin als Taiwanese noch als Schweizer. Aber Schule geht, in welchem mit meinem Leben wirklich rundum ich muss auch gestehen, dass gerade dieses Quartier man wohnt oder zufrieden. Aber vielleicht liegt das auch Halb-Halb meine ganze Identität extrem welche Hobbys man hat.» daran, dass ich es als junger Mann mit prägt. asiatischem Aussehen einfacher habe als Shahira: Bei mir sieht es ein bisschen Shahira: Bei mir ist es tatsächlich so, dass jemand mit einer schwarzen Haut oder anders aus. Auch wenn ich zu meinen manche aufgrund meines Aussehens davon eine Frau mit Kopftuch. Denn Rassismus arabischen Wurzeln stehe, fühle ich mich ausgehen, dass ich die deutsche Sprache hat auch immer damit zu tun, wie unbe- schon mehr als Schweizerin. Selbstver- nicht beherrsche. Dabei ist ja meine Mutter liebt jeweils eine Community ist. ständlich hat das auch damit zu tun, dass Schweizerin. Aber man lernt damit zu Jiyan: Also, ich fände es in der Schweiz ich bei meiner Schweizer Mutter aufge- leben. Entsprechend belasten mich solche noch schöner, wenn die Menschen ein wachsen bin und nicht beim Vater, der Erfahrungen nicht – genauso wenig als bisschen offener und freundlicher aufein- inzwischen wieder in Ägypten lebt. man mich in der Primarschule von Zeit zu ander zugehen würden. Mir ist die Atmo- Zeit die «Bombenlegerin» nannte. sphäre manchmal einfach zu kalt. Deshalb MIX: Wie definiert ihr Heimat? Jiyan: Bewusst wurde mir das «Anderssein» träume ich davon, irgendwann mal in Ian: Für mich ist Basel Heimat. Hier habe erst bei der Lehrstellensuche. Ich habe die USA auszuwandern – am liebsten nach ich meine Familie, meine Freunde und über 30 Bewerbungen verschickt und trotz Los Angeles, wo ich schon zweimal war. mein Leben. Jedes Mal, wenn ich länger von genügenden Noten wurde ich nur für ein Dort sind die Menschen viel entspannter, hier weg bin, merke ich, wie ich die Stadt einziges Vorstellungsgespräch eingeladen. sodass man viel schneller neue Leute ken- vermisse. Ich habe ja keine Beweise, aber ich bin nenlernt. Shahira: Das hast du jetzt aber schön überzeugt davon, dass mein Name eine Rolle für das Desinteresse gespielt hat. Aber gesagt (alle lachen). Aber du hast recht, ich «Ich fände es in der Schweiz empfinde es genauso. wie Shahira das schon gesagt hat, lasse Jiyan: Für mich sind meine Eltern Heimat. auch ich mich von solchen Erfahrungen noch schöner, wenn die Bei ihnen fühle ich mich zu Hause – egal in nicht negativ beeinflussen. Es ist ja auch Menschen etwas offener und welchem Land sie leben. Vor allem mein nicht so, dass wir täglich mit Diskriminie- freundlicher aufeinander Vater ist für mich eine sehr wichtige Bezugs- rung zu tun haben. Wir leben ja in einer zugehen würden.» person. Die Art, wie er sein Leben lebt sehr multikulturellen Stadt. oder zu seiner Familie steht, finde ich be- MIX: Und was würde euch zwei glücklich wundernswert. Für uns würde er alles tun. MIX: Ich nehme an, dass auch euer Freundes machen, Ian und Shahira? kreis entsprechend durchmischt ist. Shahira: Am glücklichsten bin ich, wenn MIX: Es ist mir bewusst, dass ihr euch selbst Ian: Klar. Der Ausländeranteil in meinem ich frei habe (lacht). als vollwertige Mitglieder der Schweizer Freundeskreis war schon immer sehr Ian: Und ich, wenn ich die Möglichkeit Gesellschaft seht. Werdet ihr aber auch von hoch. Nicht, dass ich bewusst Schweizer habe, etwas Spontanes zu unternehmen, aussen immer so wahrgenommen? gemieden hätte oder sie mich. Aber in beziehungweise Zeit habe für Sachen, die Ian: Ich muss mir sogar von meinen eigenen einer Stadt wie Basel, wo viele Menschen ich toll finde. Ganz auswandern, kommt Freunden regelmässig klischierte Witze aus der ganzen Welt leben, hängen Freund- für mich im Moment eher nicht in Frage, über meine «Schlitzaugen» oder Sprüche schaften davon ab, wo man zur Schule auch wenn ich nach der Ausbildung gerne geht, in welchem Quartier man wohnt oder welche Hobbys man hat. Ich war schon in Klassen, wo es nur ein einziges Kind gab, dessen Eltern beide Schweizer waren. Der hat deswegen sogar einmal geheult, weil er lieber zu uns gehören, also lieber ein Ausländer sein wollte. MIX 2/2019 9
THEMA IAN WILLI Alter: 19 für ein, zwei Jahre in anderen Ländern leben MIX: Kommen wir kurz zurück zum Thema Geburtsland: Taiwan Ian: Da meine würde. Solche Träume sind für unsere Sprache. Ihr beherrscht neben Deutsch auch Beruf: Schüler Mutter selbst Mutter: Taiwan; Generation aber nichts Spezielles – wir Türkisch, Arabisch und Chinesisch. Inwiefern Vater: Schweiz einen Schweizer, repräsentieren ja selbst die Globalisierung. hat euch diese Mehrsprachigkeit geprägt? sprich einen Shahira: Das stimmt. Früher hätte ich mir Ian: Ich glaube, ich spreche auch im Mann aus einem nie vorstellen können, woanders zu leben. Namen von Jiyan und Shahira, wenn ich anderen Land und einer anderen Kultur Inzwischen lasse ich mir für die Zukunft sage, dass wir Deutsch am besten be geheiratet hat, ist das bei uns zu Hause alles offen. Ich möchte mich von ihr über- herrschen. Dennoch empfinde ich es als kein Thema. Hauptsache man liebt sich, raschen lassen. ein grosses Privileg, noch mit einer zweiten lautet deshalb das Familienmotto. Sprache aufgewachsen zu sein. Einerseits, «Früher hätte ich mir nie weil ich der Überzeugung bin, dass jede MIX: Wie habt ihr die Pubertät erlebt vorstellen können, woanders zusätzliche Sprache den Horizont eines beziehungsweise überlebt? Menschen erweitert, andererseits, weil für Ian: Meine Mutter war extrem streng mit zu leben. Inzwischen möchte mich Sprache mehr als nur Vokabular ist. mir. Diskussionen wegen Ausgang und ich mich von der Zukunft wie lange ich draussen bleiben darf, waren überraschen lassen.» MIX: Wie meinst du das? omnipräsent. Gleichzeitig hatte sie extrem Ian: Na ja, ich glaube, dass eine Sprache hohe Erwartungen an meine schulischen MIX: Wie sieht es denn mit den beruflichen viel mehr über die Menschen und deren Leistungen – so wie man sich halt eine Ambitionen aus. Habt ihr in diesem Bereich Kultur verrät, als man annimmt. Das heisst, asiatische Tiger-Mama vorstellt. Ich habe Träume oder Wünsche? es ist auch eine Form, zu zeigen, wie man gegen all das rebelliert. Entsprechend Ian: Ich besuche derzeit die Fachmaturitäts- fühlt und denkt. schwierig war unsere Beziehung. Inzwischen schule mit Schwerpunkt Soziale Arbeit. Jiyan: Für mich hat das Ganze auch eine wohne ich alleine. Seither ist auch unsere Deshalb würde ich später gerne in diesem praktische Seite: Ohne Türkisch könnte Beziehung entspannter. Bereich arbeiten und Menschen helfen, ich nicht mit meinen Verwandten in die im Leben Probleme haben. Sei es, weil der Türkei kommunizieren oder mit meiner «Ich bin der Überzeugung, sie eine körperliche Behinderung haben, Grossmutter, die zwar in Basel lebt, aber mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind in den über 40 Jahren nie wirklich die dass jede zusätzliche oder schwere Schicksalsschläge erleiden Sprache gelernt hat. Insofern ist für mich Sprache den Horizont eines mussten. Türkisch vor allem die Brücke zu mei- Menschen erweitert.» Shahira: Ich möchte in einem ersten Schritt nen Verwandten, die in der Schweiz, den 2021 meine Lehre erfolgreich abschliessen. Niederlanden und der Türkei leben. Jiyan: Ich habe die Pubertät nicht schlimm Konkrete Ideen für danach habe ich im in Erinnerung, aber vielleicht müsstest Moment nicht. Ich weiss nur, dass ich meine MIX: Sind eure Eltern gegenüber anderen du eher meine Eltern fragen. Heute stelle berufliche Zukunft tatsächlich im Parfü- Minderheiten in der Schweiz genauso offen ich aber fest, dass ich angefangen habe, merie- oder Kosmetikbereich sehe. wie ihr? Oder wollen sie zum Beispiel, dass ihr klügere Entscheidungen zu fällen. Da wir Jiyan: Erfolgreich die Lehre abschliessen jemanden aus ihrem Kulturkreis heiratet? alle volljährig und gegenüber dem steht auch bei mir ganz oben auf der Liste. Jiyan: Meine Mutter, die selbst in der Gesetz erwachsen sind, bin ich mir jetzt Danach will ich unbedingt eine Weltreise Schweiz geboren und aufgewachsen ist, bewusst, dass mein Handeln immer machen und neue Länder und Kulturen würde es wohl schon freuen, wenn ich mit Konsequenzen hat. Entsprechend können kennenlernen. einer türkisch- oder kurdischstämmigen wir es uns alle beispielsweise nicht mehr JIYAN HAYIRLI Ich spare schon Alevitin zusammenkäme. Aber es ist jetzt leisten, im betrunkenen Zustand in Alter: 19 jetzt eifrig nicht so, dass sie mich daran hindern der Stadt zu pöbeln – nicht, dass ich das je Geburtsland: Schweiz für diese Zeit. würde, eine Beziehung mit einer Schwei- getan hätte (lacht). Beruf: in Ausbildung (Speditionskaufmann) zerin einzugehen. Und wenn sie es täte, Mutter: Schweiz/Türkei; würde ich nicht auf sie hören. Vater: Türkei/Niederlande Shahira: Meiner Mutter und mir ist es total egal, aus welchem Land mein künftiger ANZEIGE Freund kommt. Ich bin mir aber ehrlich gesagt nicht sicher, wie mein Vater reagie- ren würde, wenn ich SHAHIRA MAHMOUD mich in einen jüdischen Alter: 18 Mann verlieben würde Geburtsland: Schweiz Beruf: in Ausbildung (schmunzelt). (Detailhandel Parfümerie) Mutter: Schweiz; Vater: Ägypten 10 MIX 1/2019
Verschwitzt ankommen THEMA Jungen Geflüchteten fällt es oft Freizeitbeschäftigungen mit finanziellem Aufwand verbun- den, den sie sich schlicht nicht leisten könnten. «Bei unserem schwer, sozialen Anschluss kostenlosen Angebot wissen sie, dass die Freiwilligen sogar ganz bewusst etwas mit ihnen unternehmen wollen. Und sie zu finden. Ein Spiel- und Sport sind für einmal nicht mit Einheimischen konfrontiert, die ihnen etwas beibringen und erklären – sie haben Spass auf projekt des SRK Graubünden Augenhöhe», erklärt die Sozialarbeiterin. Oder in den Wor- ten von Marina: «Beim Schlittschuhlaufen mache ich auch bringt sie unkompliziert nicht gerade die bessere Figur als ein Anfänger aus Syrien.» Sie lacht. Die sportlichen Stärken der rund 20 Freiwilligen mit gleichaltrigen Einheimischen im Leiterpool sind so unterschiedlich wie ihr beruflicher Hintergrund. Marina ist Direktionsassistentin, eine Kollegin zusammen. Ein Besuch in der Ärztin, ein Kollege arbeitet als Buchhalter, ein weiterer im Tourismus. Nicht weniger Abwechslung zeichnet die Teil- nehmenden aus. Zwar sind die meisten noch in Ausbildung Turnhalle. und zum Bedauern der Organisatoren sehr wenig Frauen, sie kommen aber aus Eritrea, Syrien, dem Tibet, der Türkei; der halben Welt. «Genau das finde ich so spannend und motivierend», sagt Marina. Ob das ihre Schweizer Freundin- P TEXT: PHILIPP fosten …!», schreit es durch die Halle. Da und dort hört GRÜNENFELDER nen und Freunde genauso sehen? Sie zuckt mit den Schul- man ein «Uff!». Es wird Fussball gespielt in Chur und tern. «Nicht alle, aber denen sage ich, sie sollen doch einfach gegen 20 junge Frauen und Männer geben alles, um mal mitkommen und mitmachen, dann verfliegen ihre Vor den Ball in das richtige Tor zu spedieren – oder an dessen urteile nämlich von selbst.» Umrandung, leider. Jeden Mittwochabend wetteifert die Gruppe um Punkte oder gegen Kalorien. Beim Volleyball Spielend Deutsch lernen genauso wie beim «Affenfangis», beim Joggen oder auf den Das SRK schult die Freiwilligen für ihre Aufgabe und beglei- Schlittschuhen. Mal zwei Personen mehr, mal eine weniger, tet sie. «Dazu gehört auch der Umgang mit persönlichen aber immer mit jeder Menge Spass. «Niemand ist so vergif- Herausforderungen. Wenn sie etwa mit den teilweise grau- tet, dass es zu Streitigkeiten kommt», beschreibt Marina die samen Fluchtgeschichten ihrer Sportkolleginnen und -kolle- Atmosphäre, während sie auf ihr Handy schaut, um die ver- gen konfrontiert werden», sagt Pujol. Schliesslich sei aber ge- einbarte Wechselzeit im Auge zu behalten. Die 29-jährige rade das Ansprechen von privaten Themen vor allem eines: Bündnerin engagiert sich als Freiwillige im Jugendfreizeit- ein Vertrauensbeweis. «Toll ist, dass sich einzelne Grüpp- projekt «peer to peer» des Schweizerischen Roten Kreuzes chen auch ausserhalb unserer fixen Zeiten verabreden, auch (SRK) Graubünden. Es bietet Geflüchteten mit Bleiberecht mal eine Bergtour zusammen machen», freut sie sich. Einer, diese Möglichkeit zur Freizeitgestaltung mit gleichaltrigen der den Anschluss an die Gruppe definitiv gefunden hat, Einheimischen. «Ihre Sprach- und Arbeitsintegration ist gut ist Mahmud. «Ich bin von Anfang an mit dabei und komme strukturiert, nicht aber der Weg zur sozialen Integration», jede Woche», berichtet der 20-jährige Syrer stolz, während begründet Projektleiterin Dorothee Pujol das Angebot, zu er sich den Schweiss von der Stirne wischt. Jeden Moment dem auch eine weniger schweisstreibende Gruppe für Ge- könnte er wieder ins Spiel eingewechselt werden. Seine sellschaftsspiele am Montagabend gehört. Brüder kämen ebenfalls regelmässig und profitierten ne- ben dem geselligen Aspekt auch ganz praktisch: «Hier kann Spass auf Augenhöhe ich mein Deutsch verbessern, lerne immer wieder neue Tatsächlich sind die Hindernisse zum gesellschaftlichen Le- Wörter und das ganz ohne Druck», so der junge Mann. Sagt ben teilweise gross. «Oft fühlen sich Geflüchtete unwillkom- es und sprintet wieder aufs Feld: Er wird das Ziel treffen. So men, kennen niemanden in Vereinen oder entsprechen zu oder so. wenig den Anforderungen», weiss Pujol. Zudem seien viele ≥ srk-gr.ch ANZEIGE MIX 2/2019 11
THEMA Einfach leben können Das Zürcher Schlupf nisse der Eltern. «Es ist immer wieder be- eindruckend, wie Jugendliche Wege finden, huus bietet vorübergehende Wohnmöglichkeiten trotz solchen herausfordernden Umständen ihr Leben zu meistern.» Eva wünscht sich für Jugendliche in Krisensituationen – und nun vor allem, «dass meine Eltern verstehen lernen, dass ich das nicht alles kann in mei- damit eine Chance für den Neuanfang. nem Alter, selbst wenn ich mein Bestes gebe. TEXT: PHILIPP GRÜNENFELDER Ich möchte doch nur ein Leben ohne Gewalt und mit etwas Liebe.» Gleichzeitig plagt sie ein schlechtes Gewissen. Auch das kein Ein- E s ist schön, einmal Leute um mich zu ermöglichen ihnen, ihre Rechte wahrzuneh- zelfall. «Trotz psychischen und physischen haben, die einfach freundlich sind», men. «Gleichzeitig müssen wir sie mit der Gewalterfahrungen sind sich viele Jugend sagt die 15-jährige Eva. Sie wohnt der- Erwachsenenwelt vertraut machen und ih- liche sehr bewusst, was sie in ihrem Umfeld zeit im Zürcher Schlupfhuus, das eine nie- nen helfen, ihre Pflichten darin zu erfüllen», auslösen, wenn sie Unterstützung suchen. derschwellige Krisenintervention für Jugend- so Maissen. Wenn möglich und sinnvoll bin- In vielen Familien herrscht das Verständnis liche bietet. Sowohl ambulante Begleitungen den sie das soziale Umfeld wie Familie und vor, dass Konflikte aus Scham nicht nach wie auch stationäre Aufenthalte sind mög- Freunde in die Arbeit mit ein. Das bedinge aussen getragen werden dürfen. «In diesem lich. «Hier habe ich endlich Zeit für mich», mitunter einiges an Fingerspitzengefühl – Dilemma holen sich Jugendlichen auch bei fährt die junge Frau fort, denn zu Hause habe gerade bei interkulturellen und sprachli- massiver häuslicher Gewalt keine Hilfe, weil sie das genaue Gegenteil erlebt. «Neben der chen Hürden. sie etwa Angst haben, dass sie den Aufent- Schule musste ich mich um meine 5-jährige haltsstatus von Familienmitgliedern gefähr- Schwester kümmern und auch noch den Wertesystemen widersprechen den könnten.» Haushalt schmeissen. Und was passiert? Ich «Probleme entstehen grundsätzlich eher in werde dafür noch fertig gemacht.» Neben der Familien, wo strenge Wertesysteme mit der Überhaupt würden sich viele Jugendliche verbalen Entwertung und Erniedrigung sei jugendlichen Lebensrealität kollidieren», be- unter Druck fühlen, weil sie zwischen zwei es auch zu Gewalt gekommen. «Das habe ich tont Maissen. Bei vielen kumulieren sich wei- Welten stehen. Der elterlichen einerseits und einfach nicht mehr ausgehalten.» tere Risikofaktoren wie soziale Not, enge der gesellschaftlichen mit Freunden und Wohnverhältnisse oder traumatische Erleb- Schule andererseits. «Für Mädchen bedeute Rechte und Pflichten wahrnehmen das oft, dass sie im Teenageralter keine Be- Geschichten wie diese gehören im Schlupf- ziehungen zu Jungs aus einem anderen Kul- huus laut Institutionsleiter Lucas Maissen turkreis oder einer anderen Religionsge- leider zum Alltag. «Rund zwei Drittel un- meinschaft pflegen dürfen», so Maissen. Oder serer Jugendlichen sind junge Frauen. Sie sie müssten wie Eva überdurchschnittlich haben ein anderes Hilfesuchverhalten als viel Verantwortung im Haushalt überneh- junge Männer», erklärt er. Jungs in Krisen- men und hätten teilweise keinen altersge- situationen würden weniger Unterstützung rechten Freiraum. «Die Jugendlichen wollen holen und tendenziell eher mit dem Gesetz es den Eltern recht machen, aber auch wie in Konflikt geraten. Eva hingegen meldete die anderen Jugendlichen leben.» Eva darf sich selbst bei Maissen und seinem rund zumindest hoffen, dass ihr mutiger Schritt 20-köpfigen Team. Freiwilligkeit wird hier zu einer Besserung führt und sie daheim gross geschrieben und viel Wert auf eine einfach nur freundlich behandelt wird. wertschätzende, traumapädagogische Hal- tung gelegt. Die Sozialarbeiterinnen und ≥ schlupfhuus.ch FOTO: ZVG Sozialpädagogen orientieren sich am Willen und an den Ressourcen der Jugendlichen, Freiraum im Schlupfhuus Zürich ANZEIGE 12 MIX 2/2019
«Der Redebedarf ist gross» THEMA Albrecht Schönbucher ist Geschäfts zusätzliche Überzeugungsarbeit notwendig, damit sie in ein Jugi kommen dürfen. Hier führer der JuAr Basel und seit hilft auch unser Mädchentreff Mädona. fast 30 Jahren in der offenen Jugend MIX: Welche Rolle spielt der digitale Wandel in der offenen Jugendarbeit? arbeit tätig. Er weiss, was junge AS: Wir müssen nahe bei den Jugendlichen sein, und dazu gehört die digitale Welt. Menschen bewegt. Wir lernen viel von ihnen, aber müssen auch kritisch sein können, weil wir neben INTERVIEW: PHILIPP GRÜNENFELDER der Schule und dem Elternhaus für sie eine wichtige Sozialisationsinstanz sind. Gelegentlich richten wir sogar Social-Media- MIX: Herr Schönbucher, früher nachgelassen. Grundsätzlich ist die freie Zonen oder Tage ein – was durchaus in Ihren Verantwortungs Stimmung aber sehr lebendig und dis- akzeptiert wird. Ein wichtiges Thema bereich gehören u.a. sieben kussionsfreudig. Der Redebedarf ist auch in Sachen Medienkompetenz ist Cybermob- Jugendhäuser und ein bei der «Generation Wikipedia» gross. bing. Für solche Aspekte bilden wir uns Mädchentreff. Wer geht Obwohl sie fast alles zu wissen scheinen, weiter. Gemeinsam mit anderen Institutio dort ein und aus? sind die Jugendlichen in Sachen Liebe nen der offenen Jugendarbeit haben wir Albrecht Schönbucher (AS): Das kann und Sexualität so verunsichert wie eh und zudem die Basler Jugend-App entwickelt. ich nicht pauschal beantworten. Je nach je. Hierzu suchen wir als Vertrauensper Jugendliche können sich darüber ver Quartier setzen sich die Jugendlichen sonen genauso individuelle Hilfestellungen netzen, Rat suchen, aber auch der Online- anders zusammen, viele kommen aus wie für die anderen Herausforderungen Jugendredaktion beitreten oder Sackgeld- sozial schwächer gestellten Familien. Min- dieser Lebensphase. Sei es im Umgang mit jobs finden. destens die Hälfte hat einen Migrations Schule, Ausbildung, Geld, Gewalt, Alkohol hintergrund – manchmal sogar alle. und anderen Drogen. Viele unserer Besu- MIX: Sie nannten das Stichwort Cyber Ein Teil ist sehr kreativ und eignet sich cherinnen und Besucher bekommen diese mobbing. Sind auch andere Ausgrenzungs die Räume aktiv an. Durch die Eigen Unterstützung von den Eltern zu wenig. formen ein Thema? verantwortung dieser Jugendlichen und Entsprechend gut kommt unser Angebot AS: Ja, die Jugendlichen beschäftigt durch- das Engagement unserer Leute vor Ort an, und die Besuchendenzahl nehmen aus bisweilen auch Rassismus und Aus- hat sich beispielsweise das Badhuesli im kontinuierlich zu. grenzung. Entweder weil sie sich selbst St.-Johann-Quartier vom Jugi zu einem gesellschaftlich benachteiligt fühlen oder veritablen Kulturbetrieb mit eigenem Som- MIX: Das heisst, Sie müssen keine Werbung weil sie aktiv ausgegrenzt werden. Viele mermusikfestival entwickelt. Der weit machen? sind sprachlich sehr sensibilisiert, sprechen grössere Teil ist aber schlicht auf der Suche AS: Im Gegenteil. Der Erfolg ist kein Selbst- politisch korrekt. Andere wiederum wissen nach einem entspannten Ort, wo der läufer mehr und hängt stark mit der pro- um den Provokationsgehalt, wenn sie Leistungsdruck aussen vor bleiben kann. fessionellen Arbeit unserer Mitarbeitenden rassistisch gefärbt reden und damit gegen Viele wirken in den Schul- und Ausbil- zusammen. Sie suchen den Kontakt zu Tabus verstossen. Interessanterweise dungsstrukturen überlastet, haben Mühe den Schulen, in die Quartiere und insbe- kommt das oft von Jugendlichen, die selbst abzuschalten und oft auch zu Hause kein sondere auch zu den Migrantenorganisatio eher am Rand ihrer Clique stehen und eigenes Zimmer, keine Ruhe. nen. Eltern von Jugendlichen mit Migra stärkere Akzeptanz suchen. Wie bei allen tionshintergrund sind wichtige Ansprech- anderen Themen suchen wir auch hier MIX: Das heisst, es wird vor allem gechillt? partner, weil sie Angebote wie unsere aus die aktive Auseinandersetzung. AS: Auch das, ja. Das Interesse an gemein ihren Herkunftsländern oft nicht kennen. samen Aktivitäten hat im Vergleich zu Wenn es um Mädchen geht, ist manchmal ≥ juarbasel.ch ANZEIGE MIX 2/2019 13
THEMA Die Jugend von Michelina Masella (72), Rentnerin Ich habe meine Jugend verloren heute, gestern und W ie Carla Fracci wollte ich Primaballerina werden. Für meinen Vater kam das aber nicht infrage. vorgestern Vorbilder Da hätte ich gleich Prostituierte werden können – so seine Meinung. Viel arbeiten musste ich. Das war ihm als überzeugter Sozialist wichtig. Dennoch erinnere ich geben Orientierungs- mich gerne an die Zeit mit meinen Eltern, denn sie war trotz den schwierigen Umständen die unbeschwerteste in hilfe und sind Inspiration meinem ganzen Leben. Dass ich meine Mutter mit 17 und meinen Vater mit 18 Jahren verlor, habe ich bis heute zugleich. Drei Familien nicht verkraftet. Mit ihrem Tod ist auch meine Jugend gestorben. Von einem Tag auf den anderen war ich auf mich alleine gestellt. Meine Geschwister lebten in der mitglieder aus drei Schweiz und mein Verlobter, mit dem ich seit meinem 14. Lebensjahr zusammen war, in Mailand. Heiraten Generationen erzählen durften wir ohne die Genehmigung unserer Eltern nicht. Also warteten wir, bis wir 21 waren. Danach begann die klassische Migrationsgeschichte: auswandern, arbeiten, von den Idolen ihrer Kinder kriegen, sparen und mit der Hoffnung leben, bald in die Heimat zurückzukehren. Politisch bin ich in Teeniezeit – und ein biss- die Fussstapfen meines Vaters getreten, habe mich gewerkschaftlich engagiert und Streiks geführt. Er wäre chen mehr. stolz auf mich gewesen.» TEXTE: GÜVENGÜL KÖZ BROWN FOTOS: DONATA ETTLIN 14 MIX 2/2019
THEMA Aglaya Totaro (22), Studentin Ich war immer privilegiert D ie Lebensgeschichten meiner Grossmutter und meines Vaters führen mir vor Augen, wie pri Giuseppe Sgrò (47), Maler vilegiert ich aufgewachsen bin. Diskriminierungs- Vom Frieden in Marleys Songs erfahrung habe ich nie gemacht – vielleicht, weil ich nordeuropäisch aussehe und deshalb immer als Schweize- M eine Mutter vergass zu erwähnen, dass zur rin wahrgenommen werde. Das Thema Ungerechtigkeit klassischen Migrationsgeschichte auch zählte, begleitet mich dennoch seit meiner Kindheit – vor allem dass man die Kinder in italienische Schulen Ungerechtigkeit gegenüber Frauen. Angefangen hat steckte oder sie zu den Grosseltern schickte – so wie bei es bei mir mit einem Buch über ein algerisches Mädchen, mir und meinem Bruder. Das grosse Erdbeben in Neapel das für ein selbstbestimmteres Leben kämpft – frei von 1980 hat aber einen Strich durch ihren Plan gemacht. religiösen und traditionellen Zwängen. Da war ich vielleicht Weil alles zerstört war, brachten sie uns wieder in die elf Jahre alt. Seither befasse ich mich intensiv mit dem Schweiz. Dieses Mal durften wir aber die öffentliche Schule Feminismus. Als Digital Native informiere und vernetze ich besuchen. Es war keine einfache Zeit – sprachlich, mich vor allem im Internet. Selbstverständlich lese ich kulturell, ausbildungstechnisch. Ich habe meine Lehre auch viele Bücher zu diesem Thema. In den vergangenen abgebrochen und nur noch temporär gejobbt. Vielen Jahren leidenschaftlich viel von Angela Davis. Wie sie Jugendlichen aus Italien, der Türkei oder Ex-Jugoslawien glaube ich, dass wir die tatsächliche Gleichberechtigung ging es damals wie mir. Das hat uns verbunden, aber nur erreichen können, wenn wir den Rassismus und den genauso der Hip-Hop, weil wir uns mit der Musik, die aus Kapitalismus überwunden haben.» den Strassen der South Bronx kam, identifizieren konnten. Gleichzeitig habe ich aber auch Bob Marleys Musik geliebt, weil er von Frieden sang und darüber, dass wir alle gleich sind. Ich habe mich nach einem solchen Leben gesehnt.» MIX 1/2019 15
LEBENSNAH 42% der jungen Erwach senen mit Migrations hintergrund stufen sich politisch links ein. 16 MIX 2/2019
LEBENSNAH Plötzlicher Rechtsdrall Der Schweiz-Afghane Kaiwan Nuri weiss, was es bedeutet, anders zu sein. Auch politisch geht der junge Mann selbstbewusst seinen eigenen Weg. Der entspricht nicht immer der Linie von Familie und Freunden. L TEXT: eichtfüssig ist er unterwegs, doch was er sagt, ist sorgfältig formuliert. Kaiwan Nuri PHILIPP GRÜNENFELDER weiss, was er will, und setzt es auch in die Tat um. «Ich habe früh gelernt, etwas aus FOTO: DONATA ETTLIN meinem Leben zu machen», sagt der 24-Jährige. Mit seinen fünf Geschwistern folgte er 1998 im Familiennachzug in die Schweiz. «Wir mussten Afghanistan verlassen, weil mein Vater von den Taliban politisch verfolgt wurde und es dort keine Zukunft für uns gab», erzählt er und schildert die lange Flucht in bildhaften Episoden. «Ich war allerdings noch klein und weiss manchmal nicht mehr so genau, was ich davon tatsächlich erlebt habe und welche Bilder dank Erzählungen meiner Fantasie entstammen», präzisiert er. Tatsache sei, dass es für die Familie anfänglich schwierig war, in der Schweiz anzukommen. In einer völlig anderen Welt mit neuen Normen und Gewohnheiten selbst im Alltäglichsten. «In Afghanistan hatten wir nur eine Sorte Kuhmilch und hier stand plötzlich ein Migros-Regal voll davon», kann er heute darüber schmunzeln. Überhaupt entpuppt er sich als positiver Geist, scheint lösungsorientiert, denkt vernetzt. Das habe ihn über die KV-Lehre und die Berufsmatura auch zu seinem Beruf als IT-Projektleiter geführt – und in die Politik. «Wir sind eine leidenschaftlich debattierende Familie. Von klein auf habe ich mitbekom- men, wie man Argumente gegeneinander ausspielt», erklärt er und unterstreicht, dass man sich dabei aus Überzeugung auf linke Positionen einigte. «Bis ich vor ein paar Jahren eine Stelle in Zug bekam und dort nach Möglichkeiten suchte, neue Bekanntschaften zu schliessen», sagt er. Es sei für ihn naheliegend gewesen, das Glück in der Politik zu suchen. «Doch zum ersten Mal in meinem Leben habe ich meinen inneren Kompass wirklich gerichtet und mir alle möglichen Parteiprogramme angeschaut», «Wir sind eine leidenschaft blickt der junge Mann zurück. Am meisten wiedergefunden habe er sich in lich debattierende Familie. demjenigen der Freisinnigen, deren Jungpartei er schliesslich beitrat. Dass Von klein auf habe ich mitbe er damit in der Familie auf wenig Gegenliebe stiess, störte ihn nicht. «Damit kommen, wie man Argumente kann ich leben, denn schliesslich bin ich ja nicht ganz rechts gelandet. Das gegeneinander ausspielt.» könnte ich mit meiner Herkunft und meinen eigenen Erfahrungen auch gar nicht vereinbaren», meint er. Überhaupt seien ihm ideologische Standpunkte zuwider. Liberale und freisinnige Positionen sind sein Elixier. Die Familie und Freunde nehmen es mittlerweile mit Humor. «Letzthin bemerkte einer meiner Freunde, dass ich mich auf Facebook mit einem Jung-SVP-ler befreundete. ‹Oha, gab es einen Rechtsrutsch, Kaiwan!?›, zog er mich damit auf.» Dabei sei es doch normal, dass man sich in der aktiven Politik über Parteigrenzen hinaus kenne. Heute lebt Kaiwan Nuri wieder in der Region Zürich und enga- giert sich im kantonalen Vorstand der Jungfreisinnigen und in seiner Ortssektion der FDP. Mit diesem Engagement schert er nicht nur in der Familie aus, sondern unterscheidet sich auch von vielen jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund. Diese stufen sich gemäss der Eidgenössischen Jugendbefragung nämlich politisch häufiger links ein als ihre Alters- genossen ohne Migrationshintergrund. «Ich glaube, viele davon reflektieren ihre Haltung und Lebenseinstellung gar nicht wirklich und folgen einfach ihrer Peergroup. Schliesslich heisst es ja, nur linke Parteien würden sich für Anliegen von Migrantinnen und Migranten einsetzen; also wähle man sie auch.» Und wie sieht er seine Zukunft? «Jetzt wollen Sie sicher wissen, ob ich Bundesrat werden will», lacht er und liefert die Antwort gleich dazu: «Ich fühle mich in der Lokalpolitik sehr wohl. Das ist spannend genug und herausfordernd.» Man nimmt es ihm ab – und wäre trotzdem nicht überrascht, würde er bald weitere Ziele anstreben. MIX 2/2019 17
DÉJÀ-VU MIXER Check den Flow Wie oft habe ich sie schon über den Verfall der deutschen Sprache sprechen hören! Damn! Sie, die keine Ahnung haben, wie man bei uns zu Hause Gedichte schreibt. Sie, die viel zu wenig Rap hören. Sie, FOTO: © NACHLASS KARLHEINZ WEINBERGER, ZÜRICH die Untertitel brauchen, wenn jemand im Fernsehen eine Variation ihrer Sprache spricht, sei es ein Bauer oder Migrant. Schon krass. Sie, die niemals Habibi oder Habibty genannt werden und wahrschein- lich nicht mal Malaka oder Moruk oder Jaan oder Hermana oder Bro. Die Opfer des zu strengen Deutschunterrichts. Der be- sagt, dass nur echt ist, was schon in Steine gemeisselt wurde. Mit Elvis statt Greta: Halbstarke in den 1950ern. Dabei kenn ich niemanden, der die Sprache Bürgerschreck Haartolle Transnationale absichtlich zerstört. Ich kenn nur Men- schen, die die Sprache benutzen, manche Jugendbewegungen gibt es nicht erst seit wie einen Mähdrescher oder Rammbock, manche mehr wie einen Dosenöffner oder «Fridays for Future». Schon ab Mitte des 19. Jahr- gar Schraubenzieher, eine Präzisionssäge, hunderts engagierten sich junge Menschen ein dreissigfaches Zoom. Zoooom – schon wieder ein Ausländer in meinem Satz. gemeinsam und über nationale Grenzen hinweg. Ich kann Deutsch. Auch «anständig». Was TEXT: PHILIPP GRÜNENFELDER auch immer das heisst, und wenn es nur heisst, dass ich sehr gut so tun kann, als ob H artnäckig protestieren sie gegen die den Blousons noirs in Frankreich wie das ich beweisen müsste, dass ich dazu gehöre. Trägheit der Politik und diejenige Töfflifahren und die Liebe zu neuen Kino- Am Telefon mit dem Amt, wenn ich deine von Erwachsenen überhaupt. Seit helden. Insbesondere die Filme «… denn sie Eltern kennenlerne, wenn ich mich aus Greta Thunberg an einem Freitag im August wissen nicht, was sie tun» mit James Dean weise. Aber es bereitet mir keine Freude, dir 2018 den Klimastreik ausgerufen hat, folgten und «Der Wilde» mit Marlon Brando waren zu zeigen, dass ich Latein hatte, dass ihr Hunderttausende. Wie ein Lauffeuer or- stilbildend. meine Mama Deutsche ist, dass ich gegen ganisierten sich Schüler und Studentinnen Integrationsdebatten lernte zu sprechen. über WhatsApp und das Internet zur globa- Eine weibliche Identifikationsfigur wie Greta Ich will so sprechen, dass du weisst, dass len Jugendbewegung. Dass junge Menschen Thunberg? Leider Fehlanzeige. Trotz aller ich Rap mag und den Expressionismus. Ich keine Grenzen kennen, wenn sie gemein- Auflehnung gegen das spiessbürgerliche will eine Sprache sprechen, die ein Stottern same Ziele verfolgen, ist allerdings kein neues Leben ihrer Eltern wurden die mitwirken aushält und ein Inschallah versteht. Die Phänomen. Seit ihren Anfängen Mitte des den Mädchen in den Rock’n’Roll- und Halb- Sprache der Frauen, der Kreativen, der Frus- 19. Jahrhunderts und dem Verbot von Kinder- starkenkulturen eher herabstufender und trierten, der Schimpfenden, der Faulen, arbeit funktionieren Jugendbewegungen manchmal auch sexistisch bezeichnet und der Jugendlichen, der Outsider, der Aus- transnational, haben verbindende Idole und behandelt. «Moped-Bräute», «Stammzähne» länder; eine Sprache, die sich ändert und nutzen bewusst die neusten Massenmedien. oder «Sozius-Miezen» waren gängige Bezeich- morgen vielleicht schon uncool ist. Ich In lebhaftester Erinnerung sind die Proteste nungen. Und Politik? Ebenfalls noch Fehlan- will, dass sich meine Enkelkinder schämen ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Insbesondere zeige. Die verband mit dem Engagement ge- können, für das, was heute cool ist. (Sagt diejenige der 1960er- und 1980er-Jahre. gen den Vietnamkrieg oder die Atomenergie man heute überhaupt noch cool??) Eine aber nur wenige Jahre später wieder hun- Sprache, die keinen Angst vor Verfall hat. Der Steilpass dafür kam aus den 1950ern von derttausende Jugendliche. Mit bekannter Denn verfallen kann nur, was keinen den Halbstarken. In Jeans und Lederjacken, Fortsetzung bis heute. Flow hat. (Oder: panta rhei!) mit Nietengürteln oder Haartollen gaben sie den Bürgerschreck. Ihr gemeinsames Idol: CARTE BLANCHE FÜR FATIMA MOUMOUNI, AUTORIN, SPOKEN-WORD- Elvis Presley. Ihr Medium: möglichst lauter KÜNSTLERIN UND STUDENTIN. FOTO: YVES BACHMANN Rock’n’Roll aus dem Transistorradio. Das verband sie genauso mit den Laederjakken in Dänemark, den Vitelloni in Italien oder 18 MIX 2/2019
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