MAGAZIN FÜR VIELFALT Sein, wer man ist Jugendliche auf dem Weg zur eigenen Identität und zu ihrem Platz in der Gesellschaft Lebensnah ...

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MAGAZIN FÜR VIELFALT Sein, wer man ist Jugendliche auf dem Weg zur eigenen Identität und zu ihrem Platz in der Gesellschaft Lebensnah ...
M AG A Z I N F Ü R V I E L FA LT
HERAUSGEGEBEN VON DEN KANTONEN BE / BL / BS / GR    2/2019

Sein, wer man ist Jugend-
liche auf dem Weg zur eigenen
Identität und zu ihrem Platz
in der Gesellschaft
Lebensnah Engagierter
Jungpolitiker im Porträt
MAGAZIN FÜR VIELFALT Sein, wer man ist Jugendliche auf dem Weg zur eigenen Identität und zu ihrem Platz in der Gesellschaft Lebensnah ...
EDITORIAL

                                                                              Liebe Leserin, lieber Leser

                                                                              Seit 20 Jahren und 37 Ausgaben bereichern
                                                                              wir mit der MIX die Migrations- und Inte­gra­
                                                                              tionsdebatte – differenziert und lustvoll zu-
    Inhalt 2/2019                                                             gleich. Von Beginn an in den beiden Basler
                                                                              Kantonen. Zwischenzeitlich mit dem Aar-
                                                                              gau, Solothurn und Zürich. Seit 2007 bzw.
    EDITORIAL                                                                 2012 und bis heute mit Bern und Graubün-
                                                                              den. Eine Partnerschaft, die nicht nur den He-
    NACHGEFRAGT                                                               rausgeberinnen, sondern hoffentlich auch
    3    Jovita dos Santos Pinto fordert ein neues Gesellschaftsverständnis   ­Ihnen so manch neue Erkenntnis, so man-
                                                                               chen Lacher und so manchen Lichtblick be-
    THEMA                                                                      schert hat.
    4    Sein, wer man ist

    Junge Menschen mit Migrations­                                            Dabei ist die MIX stets mit den gesellschaft-
                                                                              lichen Veränderungen mitgegangen. Sie hat
    hintergrund prägen selbstbewusst die                                      sich von der Schwarz-Weiss-Zeitung zum
                                                                              farbigen Magazin entwickelt, auch mal den
    hiesige Jugendkultur. Eine Ode an                                         Namen geändert, den Sprung ins Web ge-
                                                                              wagt und auf Social Media von sich reden ge-
    die Vielfalt ≥ Seite 4                                                    macht. Immer gab sie dabei Migrantinnen
    8    Drei Jugendliche im Gespräch über ihr Erwachsenwerden                und Migranten selbst eine Stimme, gewich-
    11   Verschwitzt ankommen: Jugendfreizeitprojekt in Chur                  tete deren Perspektiven genauso wie dieje-
    12   Der Redebedarf ist gross: offene Jugendarbeit in Basel               nigen der Wissenschaft, der Politik, der Be-
    13   Schlupfhuus Zürich: Jugendliche in Krisensituationen                 hörden oder der Wirtschaft. Das eröffnete
    14   Die Jugend von heute, gestern und vorgestern: drei Porträts          der breiten Leserschaft zusätzliche Blick-
                                                                              winkel auf eine Thematik, die letztlich alle
    LEBENSNAH                                                                 etwas angeht. Diese Horizonterweiterung
    16 Junge Politik                                                          möchten die be­teiligten Kantone künftig in

    Kaiwan Nuri weiss, was es bedeutet,                                       individuellerer Form bieten, weshalb sie be-
                                                                              schlossen haben, ihre MIX-Kooperation per
    anders zu sein. Auch politisch                                            Ende Jahr zu beenden. In bewährter Form
                                                                              weiterhin erscheinen wird die MIX ab Herbst
    geht er seinen eigenen Weg ≥ Seite 16                                     2020 im Kanton Graubünden als «MIX Maga-
                                                                              zin für Vielfalt Graubünden».
    MIXER
    18 Carte blanche von Fatima Moumouni                                      Grund genug, in die Zukunft zu blicken und
                                                                              die letzte gemeinsame Ausgabe dem Nach-
    DÉJÀ-VU
                                                                              wuchs in unserem Land zu widmen. Wir
    18 Bürgerschreck Haartolle
                                                                              beleuchten die Sorgen und Herausforderun-
    Transnationale Jugendbewegungen                                           gen der jungen Menschen auf dem Weg zum
                                                                              Erwachsenwerden, aber vor allem auch ihr
    gibt es nicht erst seit «Fridays for Future»                              Potenzial, das die Schweiz so bereichert und

    ≥ Seite 18                                                                zu dem spannenden, vielfältigen Zukunfts-
                                                                              labor macht, das sie heute ist.
    MIX 2000–2019
                                                                              Wir danken Ihnen herzlich für die jahre­
    19 Bis zur letzten Ausgabe im lustvollen Dienst der Integration
                                                                              lange Treue und freuen uns, wenn Sie un-
    IMPRESSUM                                                                 sere Arbeit auch künftig und auf anderen
                                                                              Kanälen interessiert und kritisch verfolgen.

                                                                              MARTIN BÜRGIN, MICHAEL WILKE,
                                                                              DIJANA TAVRA UND PATRICIA GANTER;
                                                                              INTEGRATIONSDELEGIERTE DER
                                                                              KANTONE BASEL-LANDSCHAFT, BASEL-STADT,
                                                                              BERN UND GRAUBÜNDEN

2                   MIX 2/2019
MAGAZIN FÜR VIELFALT Sein, wer man ist Jugendliche auf dem Weg zur eigenen Identität und zu ihrem Platz in der Gesellschaft Lebensnah ...
FOTO: ZVG
                                                                                                                                         NACHGEFRAGT

                                                                                             JP: Viele Erfahrungen teilen wir. Etwa, dass im Tram der
                                                                                             Platz neben uns leer bleibt, dass jemand konsequent
                                                                                             Hochdeutsch mit uns spricht, obwohl wir auf Schweizer-
                                                                                             deutsch antworten, oder dass wir als übermässig sexuell
                                                                                             dargestellt werden. Es gibt aber auch Unterschiede.
                                                                                             Momentan wird oft über Racial Profiling gesprochen. Da
                                                                                             wird meistens von kriminellen Männern ausgegangen.
                                                                                             Schwarze Frauen sieht man im Vergleich eher als unge­
                                                                                             bildete Opfer. Wir gehen auch oft in feministischen
                                                                                             und Gleichstellungsdiskussionen unter. Meiner Meinung
                                                                                             nach wurde hier noch zu wenig darüber nachgedacht,
                                                                                             was Frauen tatsächlich verbindet und was sie unterscheidet.
                                                                                             Aufgrund von Rassismus sind nicht weisse Männer und
                                                                                             Frauen beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt nochmal
                                                                                             markant schlechter positioniert. Aber in Gleichstellungs-
                                                                                             statistiken sieht man das nicht.

                                                                                             MIX: Erinnern Sie sich an Ihre erste diskriminierende oder
«Wir müssen Ungleichheit                                                                     rassistische Erfahrung?
                                                                                             JP: Nein, es gab kein sogenanntes Erweckungserlebnis,

in ihrer Vielfalt anerkennen»                                                                das war ein Bewusstwerdungsprozess.

Die Gender­forscherin Jovita                                                                 MIX: Inwiefern hat Sie das Schwarzsein schon als Jugendliche
                                                                                             geprägt?

dos Santos Pinto arbeitet im                                                                 JP: Durch meinen älteren Bruder kam ich früh in Berüh-
                                                                                             rung mit Vereinen und Aktionen von People of Colour,

Netzwerk Bla*Sh mit schwarzen                                                                also nicht weissen Menschen. Mit 16 begann ich mich selbst
                                                                                             aktiv zu engagieren. Etwa zur selben Zeit wechselte ich
                                                                                             von einem Einwanderungsquartier aufs Gymnasium, wo
Frauen an einem neuen Gesell-                                                                ich die einzige schwarze Schülerin war. Deshalb waren
                                                                                             diese Gruppierungen wesentlich für mich. Sie halfen mir
schafts­verständnis.                                                                         meine Ausgrenzungserfahrung innerhalb von grösseren
                                                                                             gesellschaftlichen Zusammenhängen zu verstehen.

    INTERVIEW:
                              MIX: Frau Pinto, was unterscheidet Bla*Sh von anderen          MIX: Ist es für Sie kein Dilemma, einerseits als selbstver­
        PHILIPP
 GRÜNENFELDER                 Netzwerken wie etwa der internationalen BlackLivesMatter-      ständlich «schwarz» angesehen werden zu wollen und sich
                              Bewegung?                                                      andererseits explizit als schwarze Frau hinstellen zu müssen?
                              Jovita dos Santos Pinto (JP): BlackLivesMatter ist in aller    JP: Gar nicht. Wir müssen aufhören damit, so zu tun,
                              Munde, dabei geht oft die Vielfalt von schwarzen femi­         als gäbe es ein Patentrezept für alle, und verstehen lernen,
                              nistischen Organisationsformen – auch auf dem europäi­         dass unsere Identitäten, Privilegien und Benachteiligun-
                              schen Kontinent – unter. Ein Vergleich mit ADEFRA              gen mit Ungleichheiten, wie Sexismus, Rassismus oder
                              in Deutschland, Mwasi in Frankreich oder etwa dem Treff-       Klassismus zu tun haben. Anstatt über diese Unterschiede
                              punkt Schwarze Frauen in Zürich passt eher: Wir wirken         hinwegzusehen, müssen wir Ungleichheit in ihrer Viel-
                              lokal und bemühen uns vor allem darum, eine Austausch-         falt anerkennen. Für mich ist das die Voraussetzung,
                              plattform von und für schwarze Frauen zu sein. Unser           um gesellschaftliche Benachteiligungen abzuschaffen. 
                              Ziel ist es, uns gegenseitig kennenzulernen und zu stärken.
                              Nichtsdestotrotz organisieren wir gelegentlich auch kul-
                              turelle Veranstaltungen wie Lesungen zu Kinder­büchern,
                              Diskussionsrunden oder Performances.

                              MIX: Zu dieser Arbeit gehört auch die Auseinandersetzung
                              mit Alltagsrassismus. Was erleben schwarze Frauen anders als
                              schwarze Männer?

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MAGAZIN FÜR VIELFALT Sein, wer man ist Jugendliche auf dem Weg zur eigenen Identität und zu ihrem Platz in der Gesellschaft Lebensnah ...
THEMA
MAGAZIN FÜR VIELFALT Sein, wer man ist Jugendliche auf dem Weg zur eigenen Identität und zu ihrem Platz in der Gesellschaft Lebensnah ...
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                   Sein, wer man ist Jugendliche
                   mit Migrationshintergrund prägen
                   selbstverständlich die hiesige
                   Jugend­kultur. Ihre Sprache, ihre
                   Musik und ihr Habitus sind in
                   den Strassen und auf den Pausen­
                   plätzen genauso allgegenwärtig
                   wie in Shisha-Bars. Eine Ode an die
                   Vielfalt.
                   H
  TEXT: GÜVENGÜL            ey moruk, das isch jo voll nice», sagt der Blonde kopfni-   verfremdeten Studenten die deutsche Sprache, indem sie
KÖZ BROWN; FOTO:
   DONATA ETTLIN            ckend zum Sound, den sein mediterran aussehender            lateinische und griechische Begriffe kombinierten. Etliche
                            Freund auf dem iPhone abspielt. «Ich weiss, oğlum,         weitere Wörter aus früheren Zeiten, wie pumpen, mogeln
                   er het swag…», erwidert dieser sichtlich geschmeichelt, als          oder anschleppen, sind mittlerweile fester Bestandteil unse­
                   wäre sein guter Musikgeschmack das Eintrittsbillett für den          res Wortschatzes. Damals wie heute bestand die spielerische
                   sonst unerreichbaren Hip-Hop-Himmel. Das 8er-Tram von                Sprachverfremdung insbesondere darin, sich von der Er-
                   Kleinhüningen in die Basler Innenstadt ist voll besetzt. Die         wachsenenwelt und anderen Jugendgruppen bzw. -szenen
                   Jugendlichen – beide etwa 17 Jahre alt – lauschen mit Be-            abzugrenzen. Innerhalb der Jugendkultur übernimmt der
                   geisterung dem Reimtalent eines deutschen Rappers – dem              Sprachstil neben Kleidung und Habitus somit eine soziale
                   Slang zufolge einer mit Migrationshintergrund. Weder die             Markierungsfunktion. Das stärkt nicht nur das Zugehörig-
                   bösen Blicke noch das verständnislose Kopfschütteln ande-            keitsempfinden, sondern ist auch identitätsstiftend.
                   rer Fahrgäste scheinen die Teenies zu stören, als handle es
                   sich bei ihrer Unterhaltung um eine Inszenierung, die nur            Dass die aktuelle Jugendsprache in der Schweiz gespickt ist
                   darauf gewartet hat, vor Publikum präsentiert zu werden.             mit Ausdrücken aus dem Balkan und der Türkei, ist mitun-
                   Als sie aber eine ältere Frau enerviert bittet, den Lärm end-        ter der zweiten und dritten Generation zu verdanken, de-
                   lich abzustellen, entschuldigt sich der dunklere von beiden          ren Eltern in den 1980er- und 1990er-Jahren in die Schweiz
                   in einem astreinem Baseldeutsch, grinst schlitzohrig und             immigrierten. «Jugendliche aus diesen Regionen verfügen
                   schliesst die Kopfhörer an sein Natel an.                            aufgrund ihrer Herkunft über ein Repertoire an mehreren
                                                                                        Sprachen», so die Sprachwissenschaftlerin Christina Siever.
                   Verfremdung der Sprache                                              Das erlaubt es ihnen, aus dem Vorhandenen etwas Neues zu
                   Wenn Jugendliche türkische, albanische oder englische Be-            kreieren und zwischen mindestens zwei Sprachen zu swit-
                   griffe wie moruk (Alter), oğlum (Mein Sohn/Kleiner), ­hajde         chen oder mit ihr grammatikalisch zu spielen. Legendär
                   (Komm schon!) oder swag (hat Style) virtuos in ihr Vokabu-           ist bis heute der Spruch von Heshurim Aliu: «S’Bescht wos
                   lar einbauen, verstehen Erwachsene oft nur Bahnhof. Man-             je hets gits» wurde 2009 sogar zum Schweizer Jugendwort
                   che sehen darin die Verhunzung der deutschen Sprache                 des Jahres gekürt. Dass der junge Mann aus dem Baselbiet
                   oder mangelnden Integrationswillen. Andere wiederum                  eine KV-Ausbildung mit Berufsmatur hatte und vor der Fern-
                   verstehen das Mischmasch als kreativen Umgang mit der                sehkamera nur aus Spass so redete, wurde erst viel später
                   Sprache. Letzteres hat Tradition. Schon im 17. Jahrhundert           bekannt.

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MAGAZIN FÜR VIELFALT Sein, wer man ist Jugendliche auf dem Weg zur eigenen Identität und zu ihrem Platz in der Gesellschaft Lebensnah ...
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                «Dieser sogenannte Ethnolekt wird situationsspezifisch teil-      setzt sich mit Projekten und Workshops seit über 20 ­Jahren
               weise auch zu Zwecken der Selbststilisierung verwendet»,           auch hierzulande für die Förderung des Dialogs und den Ab-
               so die Expertin. Das heisst: Die Jugendlichen zelebrieren          bau von Rassismus und Vorurteilen ein. «Dabei ist Identität
               selbstbewusst ihren Migrationshintergrund und damit ihre           nichts Eindimensionales und kann daher auch nicht auf ei-
               Daseinsberechtigung in der Schweiz – eine wichtige Stütze          nen einzigen Aspekt wie die Nationalität reduziert werden.»
               in einem Alltag, der je nach sozialer Schicht und Herkunft
               geprägt ist von Marginalisierung und Diskriminierung. In           Vielfalt als Normalität
               den letzten Jahren hat diese Form der Kommunikation me-            Die aktive Auseinandersetzung mit der Schweiz als post-
                                      dial eine regelrechte Kommerzialisie-       migrantische Gesellschaft nimmt in jüngster Vergangenheit
    Die hiesige Rapszene              rung erfahren, insbesondere wegen           immer mehr Raum in öffentlichen Debatten ein – gerade
    wäre undenkbar ohne die Kabarettisten wie Müslüm oder Kaya                    in urbanen Zentren, wo die Grenzen zwischen der einhei-
    prägenden Einflüsse               Yanar, die eigentlich perfekt Deutsch       mischen und ausländischen Bevölkerung immer fliessender
    von Künstlerinnen und             sprechen, davon aber auf der Bühne          werden. Fragen wie «Woher kommst du?» sind für Jugend-
    Künstlern mit Migrations- in klischierten Rollen eine fehlerhaf-              liche in diesem Umfeld nicht mehr so zentral und einfach
                                      te Version inszenieren. Auch die hie-       zu beantworten wie für die ältere Generation. «Die meisten
    hintergrund.                      sige Rapszene wäre undenkbar ohne           meiner Freunde sind hier geboren, und mindestens ein
               die prägenden Einflüsse von Künstlerinnen und Künstlern            Eltern­teil kommt ursprünglich irgendwie von irgendwoher.
               mit Migrationshintergrund. Gerade für Digital Natives sind         Das ist für uns Normalität, deshalb auch nicht das Wich-
               sie wichtige Identifikationsfiguren – unabhängig von ihrer         tigste in unserem Alltag», erklärt Malik. In den letzten Jah-
               Herkunft. «Jugendliche ohne Migrationshintergrund imi-             ren wären deshalb auch nicht seine dunkle Hautfarbe sein
               tieren den Ethnolekt und stellen dadurch u. a. ihre eigene         grösstes Problem gewesen, sondern die Schule. «Wenn ich
               Medienkenntnis unter Beweis», so Siever. Das verbinde.             zurückblicke, habe ich das Gefühl, dass ich in der Puber­
                                                                                  tät bewusst alles darangesetzt habe, meine Zukunft zu ver-
                  Mehrfachzugehörigkeit                                           masseln», resümiert er fast ein bisschen verlegen. Er habe
                  Hybrid ist heute nicht nur die Sprache von jungen Secondas      nichts mehr für die Schule gemacht, ungenügende Noten
                  und Secondos, sondern oft auch ihre Identität. Festlegen        in praktisch allen Fächern geschrieben und dadurch in
                  auf eine Nation, das kommt für viele längst nicht mehr          Kauf genommen, keine Lehrstelle zu finden. Rückblickend
                  infrage. Sie fühlen sich zwei oder mehreren kulturellen         nicht nur für ihn eine aufreibende Zeit, sondern genauso
                  Räumen gleichermassen zugehörig. In einer Gesellschaft,         für seine Familie, die nicht verstehen konnte, wie aus einem
                  in der knapp 46 Prozent der hier geborenen Kinder Eltern        so neugierigen Kind ein desinteressierter Teenager werden
                  mit unterschiedlicher Nationalität haben, ist das auch nicht    konnte. Heute ist Malik 19 Jahre alt und mehr als glück-
                  verwunderlich. «Meine Eltern sind beide ursprünglich aus        lich darüber, dass er doch noch die Kurve gekriegt hat. «Ich
                  der Türkei. Während meine Mutter in der Schweiz geboren         bin im zweiten Lehrjahr und möchte die Ausbildung 2021
                  und aufgewachsen ist, hat mein Vater seine Kindheit in den      erfolgreich abschliessen, um danach mit Weiterbildungen
                  Niederlanden verbracht», erzählt Jiyan. Er selbst sei im Jahr   beruflich voranzukommen. Plötzlich ist mir meine Zukunft
                  2000 in Basel geboren und lebe seither mit seinen Eltern in     wichtig», sagt er schmunzelnd und schüttelt den Kopf – als
                  der Region. «Mein Leben ist so multikulturell, dass ich mich    könne er selbst nicht glauben, wie vernünftig es inzwischen
                  nie über eine einzige Nation definieren könnte, denn in ers-    aus ihm spricht.
                  ter Linie fühle ich mich als Mensch.» (vgl. Interview S. 8).
                                                                                  Ob man will oder nicht: Irgendwann steht der Ernst des Le-
                  Dass sich Menschen gleichzeitig mit mehreren Heimaten           bens vor der Tür und fordert vom Nachwuchs, die Weichen
                  verbunden fühlen können und ihre Loyalität gegenüber            für sein zukünftiges Leben zu stellen. Für Claus Koch, Psy-
                  der Schweiz dadurch nicht geringer ist, belegt auch eine        chologe und Autor des Buches «Pubertät war erst der Vor­
                  im vergangenen Jahr von der Eidgenössischen Migrations-         wasch­gang», ist die Lebensspanne zwischen 18 und 30 Jah-
                  kommission publizierte Studie zu Chancen und Risiken            ren die härteste überhaupt. Das habe u. a. damit zu tun,
                  der Doppelbürgerschaft. In Auftrag gegeben wurde sie,           dass in dieser Phase die gewohnten Leitplanken wie Schule
                  nachdem Xherdan Shaqiri und Granit Xhaka während der            und Eltern wegfallen würden. Plötzlich müsse man selbst
                  letzten Fussball-Weltmeisterschaft mit ihren Händen den al-     Entscheidungen treffen, die vielleicht lebenslang Spuren
                  banischen Doppeladler geformt hatten. «Medial und in der        hinterlassen, so der Experte in einem Interview mit der
                  Öffentlichkeit wurde die Aktion als Verrat an der Schweiz
                  gesehen», erinnert sich Andi Geu, Co-Geschäftsleiter von
                                                                                  Identität ist nichts Ein­dimen­
                  NCBI Schweiz. Die internationale Nichtregionsorganisation
                                                                                  sionales und kann daher
                                                                                  auch nicht auf einen einzigen
                                                                                  Aspekt wie die Nationalität
                                                                                  reduziert werden.

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MAGAZIN FÜR VIELFALT Sein, wer man ist Jugendliche auf dem Weg zur eigenen Identität und zu ihrem Platz in der Gesellschaft Lebensnah ...
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«Frank­furter Allgemeinen Zeitung». «Und das weitgehend      negativen und als demütigend empfundenen Erfahrungen,
ohne Hilfe von aussen. Man ist auf sich zurückgeworfen.      die sie in dieser Lebensphase gemacht hätten – so etwa bei
Man muss sein Leben neu ordnen und ihm eine Perspektive      der Lehrstellensuche, vor dem Eingang eines Nachtclubs
geben. Auch die Sinnfrage stellt sich.»                      oder aufgrund ausländerfeindlicher Initiativen, die an der
                                                             Urne klar angenommen wurden. Dazu zählen namentlich
Chancen und Ungleichheitsdimensionen                         diejenigen gegen den Bau von Minaretten, für die Ausschaf-
Wer wie Malik die Sinnfrage u. a. über die Bildung beant-    fung verurteilter Ausländer sowie die Initiative gegen die
worten will, hat in der Schweiz auch mit Migrationshinter-   Masseneinwanderung. Solche Erfahrungen hätten bei den
grund gute Chancen, beruflich Karriere zu machen. Denn       Jugendlichen einerseits Angst ausgelöst und andererseits
hierzulande funktioniert die Integration über die Arbeit im  das Gefühl hinterlassen: «Die wollen uns ja gar nicht!» Dass
Vergleich zu anderen Ländern grundsätzlich besser. Gemäss    sich Jugendliche unter diesen Umständen von der Schweiz
einer OECD-Studie von 2015 gehen 75 Prozent der Zugewan-     entfremden und in den Kreis der Familie oder ihrer Commu-
derten einer Arbeit nach – europaweit liegt diese Quote bei  nities zurückziehen, kann auch Andi Geu nachvollziehen:
62 Prozent. Der Erfolg im Beruf spiegelt sich laut der Studie«Sie fühlen sich dort sicherer, weil sie einen Platz haben, der
auch in einer guten Integration der Kinder wider. Das gilt   nicht hinterfragt wird.»
aber längst nicht für alle, denn auch in der Schweiz hängen
die tatsächlichen Bildungschancen stark von der sozialen Auch wenn einige der Befragten heute studierten oder über
Zugehörigkeit und von den vorhandenen Ressourcen im eine abgeschlossene Berufslehre verfügten, «einfach hatten
Elternhaus ab – weniger von der Herkunft, Religion oder sie es während der Schulzeit und Lehrstellensuche nicht», so
Kultur. Überspitzt gesagt: Die Tochter eines Ärztepaars aus Mey. Für jugendtypische «Durchhänger» oder Such­phasen,
Polen hat es in ihrem Bildungsver-                                                 wie es Malik durchlebte, blieb kaum
lauf sicherlich einfacher als ein erit- Die Tochter eines Ärztepaars Spielraum. Und auch wer viel lernte
reisches Kind, dessen Eltern nur die aus Polen hat es in ihrem                     und gute Noten schrieb, musste im Ver-
Primarschule besucht haben, oder Bildungsverlauf sicherlich                        gleich zu den Schweizer Mitschülern
ein Kind mit Schweizer Eltern, die einfacher als ein eritreisches                  deutlich mehr Bewerbungen schrei-
als Working Poor von mehreren Jobs Kind, dessen Eltern nur die                     ben und Abstriche in der Berufswahl
gleichzeitig leben müssen. Es gibt also
                                          Primarschule besucht haben. hinnehmen. «Für viele war es schwer
verschiedene Ungleichheitsdimensio-                                                zu akzeptieren, dass sie in migranten-
nen, die Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund typischen Berufsfeldern wie der Pflege oder dem Bau ge-
auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden zusätzlich prägen landet sind – so haben sie sich den sozialen Aufstieg nicht
bzw. ihnen den Start erschweren. Das beobachtet auch die vorgestellt.» Solche Knicke im Integrationsprozess gelte
Soziologin Eva Mey: «Im Bildungsbereich bleiben die Chan- es zu verhindern, auch wenn sie nur eine kleine Gruppe
cen auf Erfolg tatsächlich ungleich verteilt. Das Risiko auf tangiere, sagt Mey und fordert nebst dem verbesserten Zu-
der Strecke zu bleiben, ist bei Secondas und Secondos aus gang zu politischen Rechten eine strukturelle Reform des
sozial schwachen Milieus entsprechend höher.» Mit einem Schweizer Bildungssystems, damit Kinder aus unteren sozi-
wechselnden Forschungsteams hat sie im Rahmen einer bio- alen Schichten die gleichen Chancen auf gesellschaftliche
grafischen Studie über einen Zeitraum von zehn Jahren Teilhabe hätten.
(2006–2016) bei insgesamt 34 Jugendlichen aus zugewander-
ten Arbeiterfamilien den Übergang ins Erwachsenenalter Zukunft ist heute
vertieft untersucht. «In Gesprächen wollten wir bei dieser Mutige Reformen kommen aber nicht von heute auf mor-
spezifischen Zielgruppe in Erfahrung bringen, wie die Me- gen – dessen ist sich auch Mey bewusst. Was sich aber bereits
chanismen und Muster im Zusammenspiel von beruflicher, radikal verändert hat, ist das Gesicht unseres Landes. Noch
sozialer und politischer Positionierung zwischen dem nie war es so vielfältig wie heute: Schweizer Mutter, italie-
16. und 26. Lebensjahr funktionieren», erklärt Mey, die heu- nischer Vater, nigerianischer Onkel. Gerade Jugendliche im
te an der ZHAW Soziale Arbeit im Institut für Vielfalt und urbanen Umfeld wachsen mit dieser Realität ganz selbstver-
gesellschaftliche Teilhabe forscht und lehrt. Dafür wurde ständlich auf. Das macht Andi Geu und Eva Mey Mut – trotz
bewusst die Luzerner Gemeinde Emmen gewählt, die mit den Herausforderungen, die sich nicht von heute auf mor-
ihrer industriellen Vergangenheit und ihrer sozialen Zu- gen in Luft auflösen werden.
sammensetzung mit hohem Ausländeranteil (über 30%) für
viele Agglomerationsgemeinden der Schweiz steht. Nicht
zuletzt die Einstellung zur Einbürgerung habe sich in die-
sem Zeitraum teilweise stark verändert. «Während viele Be-
fragten in der ersten Phase, sprich als Teenager, noch den
Wunsch hatten so schnell wie möglich den Schweizer Pass
zu erwerben, hatte man dieses Vorhaben vier Jahre später
oftmals aufgegeben.» Zurückzuführen sei dies u. a. auf die

                                                                                                                   MIX 2/2019           7
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                                        «In China essen sie
                                        Hunde» Drei Jugend­liche
    Jiyan, Ian und Shahira (v.l.n.r.)

                                        aus Basel erzählen, was
                                        Erwachsenwerden in einem
                                        globalisierten Umfeld
                                        bedeutet und warum sie
                                        über klischierte Ausländer­
                                        witze selbst lachen können.
                                        INTERVIEW: GÜVENGÜL KÖZ BROWN;
                                        FOTO: DONATA ETTLIN

8                       MIX 2/2019
MAGAZIN FÜR VIELFALT Sein, wer man ist Jugendliche auf dem Weg zur eigenen Identität und zu ihrem Platz in der Gesellschaft Lebensnah ...
THEMA

MIX: Ian, Shahira, Jiyan. Das sind keine        wie «In China essen sie Hunde» anhören          Shahira: Ich weiss nicht, ob es Zufall ist
Vornamen, die man als «typisch» schweizerisch   (lacht). Bei ihnen stört mich das aber über-    oder gewollt, aber alle meine Freundinnen
bezeichnen würde. Wie schweizerisch fühlt       haupt nicht, weil wir uns alle gegenseitig      und Freunde haben entweder ausländische
ihr euch?                                       über die jeweilige Herkunft lustig machen.      Wurzeln oder sind wie ich Mischlinge.
Jiyan: Ich fühle mich in erster Linie           Was ich aber nicht akzeptiere, ist wenn         Aber auch das ist kein Thema, mit dem ich
als Mensch und würde mich nie über eine         Fremde so mit mir reden. Das ist eine           mich wirklich bewusst auseinandersetze.
Nation definieren. Mich interessiert es         Frage des Respekts. Ich gehe ja auch nicht      Ich zerbreche mir doch nicht den Kopf
allgemein nicht, woher jemand kommt.            zu irgendjemanden auf der Strasse und           über die Herkunft von Menschen, die mir
Im Vordergrund steht, ob ich die Person         beleidige sie oder ihn rassistisch.             wichtig sind.
mag oder nicht – und das hängt oft vom
Charakter ab.                                     «Freundschaften hängen                        MIX: Das heisst, so wie ihr derzeit lebt, stimmt
Ian: Dem kann ich mich nur anschliessen,                                                        es für euch?
                                                  davon ab, wo man zur
denn ich fühle mich weder zu 100 Prozent                                                        Ian: Ich kann mich nicht beschweren, bin
als Taiwanese noch als Schweizer. Aber
                                                  Schule geht, in welchem                       mit meinem Leben wirklich rundum
ich muss auch gestehen, dass gerade dieses        Quartier man wohnt oder                       zufrieden. Aber vielleicht liegt das auch
Halb-Halb meine ganze Identität extrem            welche Hobbys man hat.»                       daran, dass ich es als junger Mann mit
prägt.                                                                                          asiatischem Aussehen einfacher habe als
Shahira: Bei mir sieht es ein bisschen          Shahira: Bei mir ist es tatsächlich so, dass    jemand mit einer schwarzen Haut oder
anders aus. Auch wenn ich zu meinen             manche aufgrund meines Aussehens davon          eine Frau mit Kopftuch. Denn Rassismus
arabischen Wurzeln stehe, fühle ich mich        ausgehen, dass ich die deutsche Sprache         hat auch immer damit zu tun, wie unbe-
schon mehr als Schweizerin. Selbstver-          nicht beherrsche. Dabei ist ja meine Mutter     liebt jeweils eine Community ist.
ständlich hat das auch damit zu tun, dass       Schweizerin. Aber man lernt damit zu            Jiyan: Also, ich fände es in der Schweiz
ich bei meiner Schweizer Mutter aufge-          leben. Entsprechend belasten mich solche        noch schöner, wenn die Menschen ein
wachsen bin und nicht beim Vater, der           Erfahrungen nicht – genauso wenig als           bisschen offener und freundlicher aufein-
inzwischen wieder in Ägypten lebt.              man mich in der Primarschule von Zeit zu        ander zugehen würden. Mir ist die Atmo-
                                                Zeit die «Bombenlegerin» nannte.                sphäre manchmal einfach zu kalt. Deshalb
MIX: Wie definiert ihr Heimat?                  Jiyan: Bewusst wurde mir das «Anders­sein»      träume ich davon, irgendwann mal in
Ian: Für mich ist Basel Heimat. Hier habe       erst bei der Lehrstellensuche. Ich habe         die USA auszuwandern – am liebsten nach
ich meine Familie, meine Freunde und            über 30 Bewerbungen verschickt und trotz        Los Angeles, wo ich schon zweimal war.
mein Leben. Jedes Mal, wenn ich länger von      genügenden Noten wurde ich nur für ein          Dort sind die Menschen viel entspannter,
hier weg bin, merke ich, wie ich die Stadt      einziges Vorstellungsgespräch eingeladen.       sodass man viel schneller neue Leute ken-
vermisse.                                       Ich habe ja keine Beweise, aber ich bin         nenlernt.
Shahira: Das hast du jetzt aber schön           überzeugt davon, dass mein Name eine
                                                Rolle für das Desinteresse gespielt hat. Aber
gesagt (alle lachen). Aber du hast recht, ich
                                                                                                 «Ich fände es in der Schweiz
empfinde es genauso.                            wie Shahira das schon gesagt hat, lasse
Jiyan: Für mich sind meine Eltern Heimat.       auch ich mich von solchen Erfahrungen
                                                                                                 noch schöner, wenn die
Bei ihnen fühle ich mich zu Hause – egal in     nicht negativ beeinflussen. Es ist ja auch       Menschen etwas offener und
welchem Land sie leben. Vor allem mein          nicht so, dass wir täglich mit Diskriminie-      freundlicher aufeinander
Vater ist für mich eine sehr wichtige Bezugs-   rung zu tun haben. Wir leben ja in einer         zugehen würden.»
person. Die Art, wie er sein Leben lebt         sehr multikulturellen Stadt.
oder zu seiner Familie steht, finde ich be-                                                     MIX: Und was würde euch zwei glücklich
wundernswert. Für uns würde er alles tun.       MIX: Ich nehme an, dass auch euer Freundes­     machen, Ian und Shahira?
                                                kreis entsprechend durchmischt ist.             Shahira: Am glücklichsten bin ich, wenn
MIX: Es ist mir bewusst, dass ihr euch selbst   Ian: Klar. Der Ausländeranteil in meinem        ich frei habe (lacht).
als vollwertige Mitglieder der Schweizer        Freundeskreis war schon immer sehr              Ian: Und ich, wenn ich die Möglichkeit
Gesellschaft seht. Werdet ihr aber auch von     hoch. Nicht, dass ich bewusst Schweizer         habe, etwas Spontanes zu unternehmen,
aussen immer so wahrgenommen?                   gemieden hätte oder sie mich. Aber in           beziehungweise Zeit habe für Sachen, die
Ian: Ich muss mir sogar von meinen eigenen      einer Stadt wie Basel, wo viele Menschen        ich toll finde. Ganz auswandern, kommt
Freunden regelmässig klischierte Witze          aus der ganzen Welt leben, hängen Freund-       für mich im Moment eher nicht in Frage,
über meine «Schlitzaugen» oder Sprüche          schaften davon ab, wo man zur Schule            auch wenn ich nach der Ausbildung gerne
                                                geht, in welchem Quartier man wohnt oder
                                                welche Hobbys man hat. Ich war schon
                                                in Klassen, wo es nur ein einziges Kind gab,
                                                dessen Eltern beide Schweizer waren.
                                                Der hat deswegen sogar einmal geheult,
                                                weil er lieber zu uns gehören, also lieber
                                                ein Ausländer sein wollte.

                                                                                                                      MIX 2/2019                   9
MAGAZIN FÜR VIELFALT Sein, wer man ist Jugendliche auf dem Weg zur eigenen Identität und zu ihrem Platz in der Gesellschaft Lebensnah ...
THEMA

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                                                                                                         Alter: 19
     für ein, zwei Jahre in anderen Ländern leben    MIX: Kommen wir kurz zurück zum Thema               Geburtsland: Taiwan     Ian: Da meine
     würde. Solche Träume sind für unsere            Sprache. Ihr beherrscht neben Deutsch auch          Beruf: Schüler          Mutter selbst
                                                                                                         Mutter: Taiwan;
     Generation aber nichts Spezielles – wir         Türkisch, Arabisch und Chinesisch. Inwiefern        Vater: Schweiz          einen Schweizer,
     repräsentieren ja selbst die Globalisierung.    hat euch diese Mehrsprachigkeit geprägt?                                    sprich einen
     Shahira: Das stimmt. Früher hätte ich mir       Ian: Ich glaube, ich spreche auch im                                        Mann aus einem
     nie vorstellen können, woanders zu leben.       Namen von Jiyan und Shahira, wenn ich             anderen Land und einer anderen Kultur
     Inzwischen lasse ich mir für die Zukunft        sage, dass wir Deutsch am besten be­              geheiratet hat, ist das bei uns zu Hause
     alles offen. Ich möchte mich von ihr über-      herrschen. Dennoch empfinde ich es als            kein Thema. Hauptsache man liebt sich,
     raschen lassen.                                 ein grosses Privileg, noch mit einer zweiten      lautet deshalb das Familienmotto.
                                                     Sprache aufgewachsen zu sein. Einerseits,
      «Früher hätte ich mir nie                      weil ich der Überzeugung bin, dass jede           MIX: Wie habt ihr die Pubertät erlebt
      vorstellen können, woanders                    zusätzliche Sprache den Horizont eines            beziehungsweise überlebt?
                                                     Menschen erweitert, andererseits, weil für        Ian: Meine Mutter war extrem streng mit
      zu leben. Inzwischen möchte                    mich Sprache mehr als nur Vokabular ist.          mir. Diskussionen wegen Ausgang und
      ich mich von der Zukunft                                                                         wie lange ich draussen bleiben darf, waren
      überraschen lassen.»                           MIX: Wie meinst du das?                           omnipräsent. Gleichzeitig hatte sie extrem
                                                     Ian: Na ja, ich glaube, dass eine Sprache         hohe Erwartungen an meine schulischen
     MIX: Wie sieht es denn mit den beruflichen      viel mehr über die Menschen und deren             Leistungen – so wie man sich halt eine
     Ambitionen aus. Habt ihr in diesem Bereich      Kultur verrät, als man annimmt. Das heisst,       asiatische Tiger-Mama vorstellt. Ich habe
     Träume oder Wünsche?                            es ist auch eine Form, zu zeigen, wie man         gegen all das rebelliert. Entsprechend
     Ian: Ich besuche derzeit die Fachmaturitäts-    fühlt und denkt.                                  schwierig war unsere Beziehung. Inzwischen
     schule mit Schwerpunkt Soziale Arbeit.          Jiyan: Für mich hat das Ganze auch eine           wohne ich alleine. Seither ist auch unsere
     Deshalb würde ich später gerne in diesem        praktische Seite: Ohne Türkisch könnte            Beziehung entspannter.
     Bereich arbeiten und Menschen helfen,           ich nicht mit meinen Verwandten in
     die im Leben Probleme haben. Sei es, weil       der Türkei kommunizieren oder mit meiner            «Ich bin der Überzeugung,
     sie eine körperliche Behinderung haben,         Grossmutter, die zwar in Basel lebt, aber
     mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind        in den über 40 Jahren nie wirklich die
                                                                                                         dass jede zusätzliche
     oder schwere Schicksalsschläge erleiden         Sprache gelernt hat. Insofern ist für mich
                                                                                                         Sprache den Horizont eines
     mussten.                                        Türkisch vor allem die Brücke zu mei-               Menschen erweitert.»
     Shahira: Ich möchte in einem ersten Schritt     nen Verwandten, die in der Schweiz, den
     2021 meine Lehre erfolgreich abschliessen.      Niederlanden und der Türkei leben.                Jiyan: Ich habe die Pubertät nicht schlimm
     Konkrete Ideen für danach habe ich im                                                             in Erinnerung, aber vielleicht müsstest
     Moment nicht. Ich weiss nur, dass ich meine     MIX: Sind eure Eltern gegenüber anderen           du eher meine Eltern fragen. Heute stelle
     berufliche Zukunft tatsächlich im Parfü-        Minderheiten in der Schweiz genauso offen         ich aber fest, dass ich angefangen habe,
     merie- oder Kosmetikbereich sehe.               wie ihr? Oder wollen sie zum Beispiel, dass ihr   klügere Entscheidungen zu fällen. Da wir
     Jiyan: Erfolgreich die Lehre abschliessen       jemanden aus ihrem Kulturkreis heiratet?          alle volljährig und gegenüber dem
     steht auch bei mir ganz oben auf der Liste.       Jiyan: Meine Mutter, die selbst in der          Gesetz erwachsen sind, bin ich mir jetzt
     Danach will ich unbedingt eine Weltreise          Schweiz geboren und aufgewachsen ist,           bewusst, dass mein Handeln immer
     machen und neue Länder und Kulturen               würde es wohl schon freuen, wenn ich mit        Kon­sequenzen hat. Entsprechend können
                                   kennenlernen.       einer türkisch- oder kurdischstämmigen          wir es uns alle beispielsweise nicht mehr
       JIYAN HAYIRLI               Ich spare schon     Alevitin zusammenkäme. Aber es ist jetzt        leisten, im betrunkenen Zustand in
       Alter: 19                   jetzt eifrig        nicht so, dass sie mich daran hindern           der Stadt zu pöbeln – nicht, dass ich das je
       Geburtsland: Schweiz        für diese Zeit.     würde, eine Beziehung mit einer Schwei-         getan hätte (lacht).
      Beruf: in Ausbildung
      (Speditionskaufmann)
                                                       zerin einzugehen. Und wenn sie es täte,
      Mutter: Schweiz/Türkei;                          würde ich nicht auf sie hören.
      Vater: Türkei/Niederlande                        Shahira: Meiner Mutter und mir ist es total
                                                       egal, aus welchem Land mein künftiger           ANZEIGE
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                                                       gesagt nicht sicher, wie mein Vater reagie-
                                                                           ren würde, wenn ich
                                             SHAHIRA MAHMOUD               mich in einen jüdischen
                                             Alter: 18                     Mann verlieben würde
                                             Geburtsland: Schweiz
                                             Beruf: in Ausbildung          (schmunzelt).
                                             (Detailhandel Parfümerie)
                                             Mutter: Schweiz;
                                             Vater: Ägypten

10                    MIX 1/2019
Verschwitzt ankommen                                                                                                                     THEMA

Jungen Geflüchteten fällt es oft                                                      Freizeitbeschäftigungen mit finanziellem Aufwand verbun-
                                                                                      den, den sie sich schlicht nicht leisten könnten. «Bei unserem
schwer, sozialen Anschluss                                                            kostenlosen Angebot wissen sie, dass die Freiwilligen sogar
                                                                                      ganz bewusst etwas mit ihnen unternehmen wollen. Und sie
zu finden. Ein Spiel- und Sport­                                                      sind für einmal nicht mit Einheimischen konfrontiert, die
                                                                                      ihnen etwas beibringen und erklären – sie haben Spass auf
projekt des SRK Grau­bünden                                                           Augenhöhe», erklärt die Sozialarbeiterin. Oder in den Wor-
                                                                                      ten von Marina: «Beim Schlittschuhlaufen mache ich auch

bringt sie unkompliziert                                                              nicht gerade die bessere Figur als ein Anfänger aus Syrien.»
                                                                                      Sie lacht. Die sportlichen Stärken der rund 20 Freiwilligen

mit gleich­altrigen Einheimischen                                                     im Leiterpool sind so unterschiedlich wie ihr beruflicher
                                                                                      Hintergrund. Marina ist Direktionsassistentin, eine Kollegin

zusammen. Ein Besuch in der                                                           Ärztin, ein Kollege arbeitet als Buchhalter, ein weiterer im
                                                                                      Tourismus. Nicht weniger Abwechslung zeichnet die Teil-
                                                                                      nehmenden aus. Zwar sind die meisten noch in Ausbildung
Turnhalle.                                                                            und zum Bedauern der Organisatoren sehr wenig Frauen,
                                                                                      sie kommen aber aus Eritrea, Syrien, dem Tibet, der Türkei;
                                                                                      der halben Welt. «Genau das finde ich so spannend und
                                                                                      motivierend», sagt Marina. Ob das ihre Schweizer Freundin-

                    P
    TEXT: PHILIPP          fosten …!», schreit es durch die Halle. Da und dort hört
   GRÜNENFELDER
                                                                                      nen und Freunde genauso sehen? Sie zuckt mit den Schul-
                           man ein «Uff!». Es wird Fussball gespielt in Chur und      tern. «Nicht alle, aber denen sage ich, sie sollen doch einfach
                           gegen 20 junge Frauen und Männer geben alles, um           mal mitkommen und mitmachen, dann verfliegen ihre Vor­
                    den Ball in das richtige Tor zu spedieren – oder an dessen        urteile nämlich von selbst.»
                    Umrandung, leider. Jeden Mittwochabend wetteifert die
                    Gruppe um Punkte oder gegen Kalorien. Beim Volleyball             Spielend Deutsch lernen
                    genauso wie beim «Affenfangis», beim Joggen oder auf den          Das SRK schult die Freiwilligen für ihre Aufgabe und beglei-
                    Schlittschuhen. Mal zwei Personen mehr, mal eine weniger,         tet sie. «Dazu gehört auch der Umgang mit persönlichen
                    aber immer mit jeder Menge Spass. «Niemand ist so vergif-         Herausforderungen. Wenn sie etwa mit den teilweise grau-
                    tet, dass es zu Streitigkeiten kommt», beschreibt Marina die      samen Fluchtgeschichten ihrer Sportkolleginnen und -kolle-
                    Atmosphäre, während sie auf ihr Handy schaut, um die ver-         gen konfrontiert werden», sagt Pujol. Schliesslich sei aber ge-
                    einbarte Wechselzeit im Auge zu behalten. Die 29-jährige          rade das Ansprechen von privaten Themen vor allem eines:
                    Bündnerin engagiert sich als Freiwillige im Jugendfreizeit-       ein Vertrauensbeweis. «Toll ist, dass sich einzelne Grüpp-
                    projekt «peer to peer» des Schweizerischen Roten Kreuzes          chen auch ausserhalb unserer fixen Zeiten verabreden, auch
                    (SRK) Graubünden. Es bietet Geflüchteten mit Bleiberecht          mal eine Bergtour zusammen machen», freut sie sich. Einer,
                    diese Möglichkeit zur Freizeitgestaltung mit gleichaltrigen       der den Anschluss an die Gruppe definitiv gefunden hat,
                    Einheimischen. «Ihre Sprach- und Arbeitsintegration ist gut       ist Mahmud. «Ich bin von Anfang an mit dabei und komme
                    strukturiert, nicht aber der Weg zur sozialen Integration»,       jede Woche», berichtet der 20-jährige Syrer stolz, während
                    begründet Projektleiterin Dorothee Pujol das Angebot, zu          er sich den Schweiss von der Stirne wischt. Jeden Moment
                    dem auch eine weniger schweisstreibende Gruppe für Ge-            könnte er wieder ins Spiel eingewechselt werden. Seine
                    sellschaftsspiele am Montagabend gehört.                          Brüder kämen ebenfalls regelmässig und profitierten ne-
                                                                                      ben dem geselligen Aspekt auch ganz praktisch: «Hier kann
                    Spass auf Augenhöhe                                               ich mein Deutsch verbessern, lerne immer wieder neue
                    Tatsächlich sind die Hindernisse zum gesellschaftlichen Le-       Wörter und das ganz ohne Druck», so der junge Mann. Sagt
                    ben teilweise gross. «Oft fühlen sich Geflüchtete unwillkom-      es und sprintet wieder aufs Feld: Er wird das Ziel treffen. So
                    men, kennen niemanden in Vereinen oder entsprechen zu             oder so.                     
                    wenig den Anforderungen», weiss Pujol. Zudem seien viele          ≥   srk-gr.ch

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THEMA

     Einfach leben können Das Zürcher Schlupf­                                                                     nisse der Eltern. «Es ist immer wieder be-
                                                                                                                   eindruckend, wie Jugendliche Wege finden,
     huus bietet vorübergehende Wohnmöglichkeiten                                                                  trotz solchen herausfordernden Umständen
                                                                                                                   ihr Leben zu meistern.» Eva wünscht sich
     für Jugendliche in Krisensituationen – und                                                                    nun vor allem, «dass meine Eltern verstehen
                                                                                                                   lernen, dass ich das nicht alles kann in mei-
     damit eine Chance für den Neuanfang.                                                                          nem Alter, selbst wenn ich mein Bestes gebe.
     TEXT: PHILIPP GRÜNENFELDER                                                                                    Ich möchte doch nur ein Leben ohne Gewalt
                                                                                                                   und mit etwas Liebe.» Gleichzeitig plagt sie
                                                                                                                   ein schlechtes Gewissen. Auch das kein Ein-

     E
            s ist schön, einmal Leute um mich zu                  ermöglichen ihnen, ihre Rechte wahrzuneh-        zelfall. «Trotz psychischen und physischen
            haben, die einfach freundlich sind»,                  men. «Gleichzeitig müssen wir sie mit der        Gewalterfahrungen sind sich viele Jugend­
            sagt die 15-jährige Eva. Sie wohnt der-               Erwachsenenwelt vertraut machen und ih-          liche sehr bewusst, was sie in ihrem Umfeld
     zeit im Zürcher Schlupfhuus, das eine nie-                   nen helfen, ihre Pflichten darin zu erfüllen»,   auslösen, wenn sie Unterstützung suchen.
     derschwellige Krisenintervention für Jugend-                 so Maissen. Wenn möglich und sinnvoll bin-       In vielen Familien herrscht das Verständnis
     liche bietet. Sowohl ambulante Begleitungen                  den sie das soziale Umfeld wie Familie und       vor, dass Konflikte aus Scham nicht nach
     wie auch stationäre Aufenthalte sind mög-                    Freunde in die Arbeit mit ein. Das bedinge       aussen getragen werden dürfen. «In diesem
     lich. «Hier habe ich endlich Zeit für mich»,                 mitunter einiges an Fingerspitzengefühl –        Dilemma holen sich Jugendlichen auch bei
     fährt die junge Frau fort, denn zu Hause habe                gerade bei interkulturellen und sprachli-        massiver häuslicher Gewalt keine Hilfe, weil
     sie das genaue Gegenteil erlebt. «Neben der                  chen Hürden.                                     sie etwa Angst haben, dass sie den Aufent-
     Schule musste ich mich um meine 5-jährige                                                                     haltsstatus von Familienmitgliedern gefähr-
     Schwester kümmern und auch noch den                          Wertesystemen widersprechen                      den könnten.»
     Haushalt schmeissen. Und was passiert? Ich                   «Probleme entstehen grundsätzlich eher in
     werde dafür noch fertig gemacht.» Neben der                  Familien, wo strenge Wertesysteme mit der        Überhaupt würden sich viele Jugendliche
     verbalen Entwertung und Erniedrigung sei                     jugendlichen Lebensrealität kollidieren», be-    unter Druck fühlen, weil sie zwischen zwei
     es auch zu Gewalt gekommen. «Das habe ich                    tont Maissen. Bei vielen kumulieren sich wei-    Welten stehen. Der elterlichen einerseits und
     einfach nicht mehr ausgehalten.»                             tere Risikofaktoren wie soziale Not, enge        der gesellschaftlichen mit Freunden und
                                                                  Wohnverhältnisse oder traumatische Erleb-        Schule andererseits. «Für Mädchen bedeute
     Rechte und Pflichten wahrnehmen                                                                               das oft, dass sie im Teenageralter keine Be-
     Geschichten wie diese gehören im Schlupf-                                                                     ziehungen zu Jungs aus einem anderen Kul-
     huus laut Institutionsleiter Lucas Maissen                                                                    turkreis oder einer anderen Religionsge-
     leider zum Alltag. «Rund zwei Drittel un-                                                                     meinschaft pflegen dürfen», so Maissen. Oder
     serer Jugendlichen sind junge Frauen. Sie                                                                     sie müssten wie Eva überdurchschnittlich
     haben ein anderes Hilfesuchverhalten als                                                                      viel Verantwortung im Haushalt überneh-
     junge Männer», erklärt er. Jungs in Krisen-                                                                   men und hätten teilweise keinen altersge-
     situationen würden weniger Unterstützung                                                                      rechten Freiraum. «Die Jugendlichen wollen
     holen und tendenziell eher mit dem Gesetz                                                                     es den Eltern recht machen, aber auch wie
     in Konflikt geraten. Eva hingegen meldete                                                                     die anderen Jugendlichen leben.» Eva darf
     sich selbst bei Maissen und seinem rund                                                                       zumindest hoffen, dass ihr mutiger Schritt
     20-köpfigen Team. Freiwilligkeit wird hier                                                                    zu einer Besserung führt und sie daheim
     gross geschrieben und viel Wert auf eine                                                                      einfach nur freundlich behandelt wird.
     wertschätzende, traumapädagogische Hal-
     tung gelegt. Die Sozialarbeiterinnen und                                                                      ≥   schlupfhuus.ch
                                                      FOTO: ZVG

     Sozialpädagogen orientieren sich am Willen
     und an den Ressourcen der Jugendlichen,                      Freiraum im Schlupfhuus Zürich

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12                       MIX 2/2019
«Der Redebedarf ist gross»                                                                                                              THEMA

Albrecht Schönbucher ist Geschäfts­                                                                   zusätzliche Überzeugungsarbeit notwendig,
                                                                                                      damit sie in ein Jugi kommen dürfen. Hier
führer der JuAr Basel und seit                                                                        hilft auch unser Mädchentreff Mädona.

fast 30 Jahren in der offenen Jugend­                                                                 MIX: Welche Rolle spielt der digitale Wandel
                                                                                                      in der offenen Jugendarbeit?
arbeit tätig. Er weiss, was junge                                                                     AS: Wir müssen nahe bei den Jugendlichen
                                                                                                      sein, und dazu gehört die digitale Welt.

Menschen bewegt.                                                                                      Wir lernen viel von ihnen, aber müssen
                                                                                                      auch kritisch sein können, weil wir neben
INTERVIEW: PHILIPP GRÜNENFELDER                                                                       der Schule und dem Elternhaus für sie
                                                                                                      eine wichtige Sozialisationsinstanz sind.
                                                                                                      Gelegentlich richten wir sogar Social-Media-
                        MIX: Herr Schönbucher,        früher nachgelassen. Grundsätzlich ist die      freie Zonen oder Tage ein – was durchaus
                        in Ihren Verantwortungs­      Stimmung aber sehr lebendig und dis-            akzeptiert wird. Ein wichtiges Thema
                        bereich gehören u.a. sieben   kussionsfreudig. Der Redebedarf ist auch        in Sachen Medienkompetenz ist Cybermob-
                        Jugendhäuser und ein          bei der «Generation Wikipedia» gross.           bing. Für solche Aspekte bilden wir uns
                        Mädchentreff. Wer geht        Obwohl sie fast alles zu wissen scheinen,       weiter. Gemeinsam mit anderen Institutio­
                        dort ein und aus?             sind die Jugendlichen in Sachen Liebe           nen der offenen Jugendarbeit haben wir
Albrecht Schönbucher (AS): Das kann                   und Sexualität so verunsichert wie eh und       zudem die Basler Jugend-App entwickelt.
ich nicht pauschal beantworten. Je nach               je. Hierzu suchen wir als Vertrauensper­        Jugendliche können sich darüber ver­
Quartier setzen sich die Jugendlichen                 sonen genauso individuelle Hilfestellungen      netzen, Rat suchen, aber auch der Online-
anders zusammen, viele kommen aus                     wie für die anderen Herausforderungen           Jugendredaktion beitreten oder Sackgeld-
sozial schwächer gestellten Familien. Min-            dieser Lebensphase. Sei es im Umgang mit        jobs finden.
destens die Hälfte hat einen Migrations­              Schule, Ausbildung, Geld, Gewalt, Alkohol
hintergrund – manchmal sogar alle.                    und anderen Drogen. Viele unserer Besu-         MIX: Sie nannten das Stichwort Cyber­
Ein Teil ist sehr kreativ und eignet sich             cherinnen und Besucher bekommen diese           mobbing. Sind auch andere Ausgrenzungs­
die Räume aktiv an. Durch die Eigen­                  Unterstützung von den Eltern zu wenig.          formen ein Thema?
verantwortung dieser Jugendlichen und                 Entsprechend gut kommt unser Angebot            AS: Ja, die Jugendlichen beschäftigt durch-
das Engagement unserer Leute vor Ort                  an, und die Besuchendenzahl nehmen              aus bisweilen auch Rassismus und Aus-
hat sich beispielsweise das Badhuesli im              kontinuierlich zu.                              grenzung. Entweder weil sie sich selbst
St.-Johann-Quartier vom Jugi zu einem                                                                 gesellschaftlich benachteiligt fühlen oder
veritablen Kulturbetrieb mit eigenem Som-             MIX: Das heisst, Sie müssen keine Werbung       weil sie aktiv ausgegrenzt werden. Viele
mermusikfestival entwickelt. Der weit                 machen?                                         sind sprachlich sehr sensibilisiert, sprechen
grössere Teil ist aber schlicht auf der Suche         AS: Im Gegenteil. Der Erfolg ist kein Selbst-   politisch korrekt. Andere wiederum wissen
nach einem entspannten Ort, wo der                    läufer mehr und hängt stark mit der pro-        um den Provokationsgehalt, wenn sie
Leistungsdruck aussen vor bleiben kann.               fessionellen Arbeit unserer Mitarbeitenden      rassistisch gefärbt reden und damit gegen
Viele wirken in den Schul- und Ausbil-                zusammen. Sie suchen den Kontakt zu             Tabus verstossen. Interessanterweise
dungsstrukturen überlastet, haben Mühe                den Schulen, in die Quartiere und insbe-        kommt das oft von Jugendlichen, die selbst
abzuschalten und oft auch zu Hause kein               sondere auch zu den Migrantenorganisatio­       eher am Rand ihrer Clique stehen und
eigenes Zimmer, keine Ruhe.                           nen. Eltern von Jugendlichen mit Migra­         stärkere Akzeptanz suchen. Wie bei allen
                                                      tionshintergrund sind wichtige Ansprech-        anderen Themen suchen wir auch hier
MIX: Das heisst, es wird vor allem gechillt?          partner, weil sie Angebote wie unsere aus       die aktive Auseinandersetzung. 
AS: Auch das, ja. Das Interesse an gemein­            ihren Herkunftsländern oft nicht kennen.
samen Aktivitäten hat im Vergleich zu                 Wenn es um Mädchen geht, ist manchmal           ≥   juarbasel.ch

                                                                                                                                              ANZEIGE

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THEMA

     Die Jugend von
                                     Michelina Masella (72), Rentnerin
                                     Ich habe meine Jugend verloren

     heute, gestern und
                                     W
                                                 ie Carla Fracci wollte ich Primaballerina werden.
                                               Für meinen Vater kam das aber nicht infrage.

     vor­gestern Vorbilder                     Da hätte ich gleich Prostituierte werden können –
                                     so seine Meinung. Viel arbeiten musste ich. Das war ihm als
                                     überzeugter Sozialist wichtig. Dennoch erinnere ich
     geben Orientierungs-            mich gerne an die Zeit mit meinen Eltern, denn sie war
                                     trotz den schwierigen Umständen die unbeschwerteste in

     ­hilfe und sind Inspiration     meinem ganzen Leben. Dass ich meine Mutter mit 17
                                     und meinen Vater mit 18 Jahren verlor, habe ich bis heute

      zugleich. Drei Familien­
                                     nicht verkraftet. Mit ihrem Tod ist auch meine Jugend
                                     gestorben. Von einem Tag auf den anderen war ich auf
                                     mich alleine gestellt. Meine Geschwister lebten in der

      mitglieder aus drei            Schweiz und mein Verlobter, mit dem ich seit meinem
                                     14. Lebensjahr zusammen war, in Mailand. Heiraten

      Gene­rationen erzählen         durften wir ohne die Genehmigung unserer Eltern nicht.
                                     Also warteten wir, bis wir 21 waren. Danach begann
                                     die klassische Migrationsgeschichte: auswandern, arbeiten,
      von den Idolen ihrer           Kinder kriegen, sparen und mit der Hoffnung leben,
                                     bald in die Heimat zurückzukehren. Politisch bin ich in

      Teeniezeit – und ein biss-     die Fussstapfen meines Vaters getreten, habe mich
                                     ge­werkschaftlich engagiert und Streiks geführt. Er wäre

      chen mehr.
                                     stolz auf mich gewesen.»

     TEXTE: GÜVENGÜL KÖZ BROWN
     FOTOS: DONATA ETTLIN

14                      MIX 2/2019
THEMA

                                                              Aglaya Totaro (22), Studentin
                                                              Ich war immer privilegiert

                                                              D
                                                                      ie Lebensgeschichten meiner Grossmutter und
                                                                      meines Vaters führen mir vor Augen, wie pri­
Giuseppe Sgrò (47), Maler                                             vilegiert ich aufgewachsen bin. Diskriminierungs-
Vom Frieden in Marleys Songs                                  erfahrung habe ich nie gemacht – vielleicht, weil ich
                                                              nordeuropäisch aussehe und deshalb immer als Schweize-

M
          eine Mutter vergass zu erwähnen, dass zur           rin wahrgenommen werde. Das Thema Ungerechtigkeit
          klassischen Migrationsgeschichte auch zählte,       begleitet mich dennoch seit meiner Kindheit – vor allem
          dass man die Kinder in italienische Schulen         Ungerechtigkeit gegenüber Frauen. Angefangen hat
steckte oder sie zu den Grosseltern schickte – so wie bei     es bei mir mit einem Buch über ein algerisches Mädchen,
mir und meinem Bruder. Das grosse Erdbeben in Neapel          das für ein selbstbestimmteres Leben kämpft – frei von
1980 hat aber einen Strich durch ihren Plan gemacht.          religiösen und traditionellen Zwängen. Da war ich vielleicht
Weil alles zerstört war, brachten sie uns wieder in die       elf Jahre alt. Seither befasse ich mich intensiv mit dem
Schweiz. Dieses Mal durften wir aber die öffentliche Schule   Feminismus. Als Digital Native informiere und vernetze ich
besuchen. Es war keine einfache Zeit – sprachlich,            mich vor allem im Internet. Selbstverständlich lese ich
kul­turell, ausbildungstechnisch. Ich habe meine Lehre        auch viele Bücher zu diesem Thema. In den vergangenen
abgebrochen und nur noch temporär gejobbt. Vielen             Jahren leidenschaftlich viel von Angela Davis. Wie sie
Jugend­lichen aus Italien, der Türkei oder Ex-Jugoslawien     glaube ich, dass wir die tatsächliche Gleichberechtigung
ging es damals wie mir. Das hat uns verbunden, aber           nur erreichen können, wenn wir den Rassismus und den
genauso der Hip-Hop, weil wir uns mit der Musik, die aus      Kapitalismus überwunden haben.»
den Strassen der South Bronx kam, identifizieren
konnten. Gleichzeitig habe ich aber auch Bob Marleys
Musik geliebt, weil er von Frieden sang und darüber, dass
wir alle gleich sind. Ich habe mich nach einem solchen
Leben gesehnt.»

                                                                                                  MIX 1/2019                 15
LEBENSNAH

                 42%
                 der jungen Erwach­
                 senen mit Migrations­
                 hintergrund stufen
                 sich politisch links ein.

16               MIX 2/2019
LEBENSNAH

                Plötzlicher Rechtsdrall Der Schweiz-Afghane
                Kaiwan Nuri weiss, was es bedeutet, anders zu sein.
                Auch politisch geht der junge Mann selbstbewusst
                seinen eigenen Weg. Der entspricht nicht immer der
                Linie von Familie und Freunden.

                L
        TEXT:         eichtfüssig ist er unterwegs, doch was er sagt, ist sorgfältig formuliert. Kaiwan Nuri
      PHILIPP
GRÜNENFELDER          weiss, was er will, und setzt es auch in die Tat um. «Ich habe früh gelernt, etwas aus
        FOTO:
DONATA ETTLIN         meinem Leben zu machen», sagt der 24-Jährige. Mit seinen fünf Geschwistern folgte
                er 1998 im Familiennachzug in die Schweiz. «Wir mussten Afghanistan verlassen, weil mein
                Vater von den Taliban politisch verfolgt wurde und es dort keine Zukunft für uns gab»,
                erzählt er und schildert die lange Flucht in bildhaften Episoden. «Ich war allerdings noch
                klein und weiss manchmal nicht mehr so genau, was ich davon tatsächlich erlebt habe und
                welche Bilder dank Erzählungen meiner Fantasie entstammen», präzisiert er. Tatsache sei,
                dass es für die Familie anfänglich schwierig war, in der Schweiz anzukommen. In einer
                völlig anderen Welt mit neuen Normen und Gewohnheiten selbst im Alltäglichsten. «In
                Afghanistan hatten wir nur eine Sorte Kuhmilch und hier stand plötzlich ein Migros-Regal
                voll davon», kann er heute darüber schmunzeln. Überhaupt entpuppt er sich als positiver
                Geist, scheint lösungsorientiert, denkt vernetzt. Das habe ihn über die KV-Lehre und die
                Berufsmatura auch zu seinem Beruf als IT-Projektleiter geführt – und in die Politik.

                «Wir sind eine leidenschaftlich debattierende Familie. Von klein auf habe ich mitbekom-
                men, wie man Argumente gegeneinander ausspielt», erklärt er und unterstreicht, dass
                man sich dabei aus Überzeugung auf linke Positionen einigte. «Bis ich vor ein paar Jahren
                eine Stelle in Zug bekam und dort nach Möglichkeiten suchte, neue Bekanntschaften zu
                schliessen», sagt er. Es sei für ihn naheliegend gewesen, das Glück in der Politik zu suchen.
                «Doch zum ersten Mal in meinem Leben habe ich meinen inneren Kompass
                wirklich gerichtet und mir alle möglichen Parteiprogramme angeschaut»,           «Wir sind eine leidenschaft­
                blickt der junge Mann zurück. Am meisten wiedergefunden habe er sich in          lich debattierende Familie.
                demjenigen der Freisinnigen, deren Jungpartei er schliesslich beitrat. Dass      Von klein auf habe ich mitbe­
                er damit in der Familie auf wenig Gegenliebe stiess, störte ihn nicht. «Damit    kommen, wie man Argumente
                kann ich leben, denn schliesslich bin ich ja nicht ganz rechts gelandet. Das     gegeneinander ausspielt.»
                könnte ich mit meiner Herkunft und meinen eigenen Erfahrungen auch
                gar nicht vereinbaren», meint er. Überhaupt seien ihm ideologische Standpunkte zuwider.
                Liberale und freisinnige Positionen sind sein Elixier. Die Familie und Freunde nehmen
                es mittlerweile mit Humor. «Letzthin bemerkte einer meiner Freunde, dass ich mich auf
                Facebook mit einem Jung-SVP-ler befreundete. ‹Oha, gab es einen Rechtsrutsch, Kaiwan!?›,
                zog er mich damit auf.» Dabei sei es doch normal, dass man sich in der aktiven Politik über
                Parteigrenzen hinaus kenne. Heute lebt Kaiwan Nuri wieder in der Region Zürich und enga-
                giert sich im kantonalen Vorstand der Jungfreisinnigen und in seiner Ortssektion der FDP.

                Mit diesem Engagement schert er nicht nur in der Familie aus, sondern unterscheidet sich
                auch von vielen jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund. Diese stufen sich gemäss
                der Eidgenössischen Jugendbefragung nämlich politisch häufiger links ein als ihre Alters-
                genossen ohne Migrationshintergrund. «Ich glaube, viele davon reflektieren ihre Haltung
                und Lebenseinstellung gar nicht wirklich und folgen einfach ihrer Peergroup. Schliesslich
                heisst es ja, nur linke Parteien würden sich für Anliegen von Migrantinnen und Migranten
                einsetzen; also wähle man sie auch.» Und wie sieht er seine Zukunft? «Jetzt wollen Sie sicher
                wissen, ob ich Bundesrat werden will», lacht er und liefert die Antwort gleich dazu: «Ich
                fühle mich in der Lokalpolitik sehr wohl. Das ist spannend genug und herausfordernd.»
                Man nimmt es ihm ab – und wäre trotzdem nicht überrascht, würde er bald weitere Ziele
                anstreben.

                                                                                                                MIX 2/2019               17
DÉJÀ-VU                                                                                            MIXER

                                                                                                                                                      Check den Flow
                                                                                                                                                      Wie oft habe ich sie schon über den Verfall
                                                                                                                                                      der deutschen Sprache sprechen hören!
                                                                                                                                                      Damn! Sie, die keine Ahnung haben,
                                                                                                                                                      wie man bei uns zu Hause Gedichte schreibt.
                                                                                                                                                      Sie, die viel zu wenig Rap hören. Sie,
 FOTO: © NACHLASS KARLHEINZ WEINBERGER, ZÜRICH

                                                                                                                                                      die Untertitel brauchen, wenn jemand im
                                                                                                                                                      Fernsehen eine Variation ihrer Sprache
                                                                                                                                                      spricht, sei es ein Bauer oder Migrant.
                                                                                                                                                      Schon krass. Sie, die niemals Habibi oder
                                                                                                                                                      Habibty genannt werden und wahrschein-
                                                                                                                                                      lich nicht mal Malaka oder Moruk oder
                                                                                                                                                      Jaan oder Hermana oder Bro. Die Opfer des
                                                                                                                                                      zu strengen Deutschunterrichts. Der be-
                                                                                                                                                      sagt, dass nur echt ist, was schon in Steine
                                                                                                                                                      gemeisselt wurde.
                                                 Mit Elvis statt Greta: Halbstarke in den 1950ern.

                                                                                                                                                      Dabei kenn ich niemanden, der die Sprache
                                                 Bürgerschreck Haartolle Transnationale                                                               absichtlich zerstört. Ich kenn nur Men-
                                                                                                                                                      schen, die die Sprache benutzen, manche
                                                 Jugendbewegungen gibt es nicht erst seit                                                             wie einen Mähdrescher oder Rammbock,
                                                                                                                                                      manche mehr wie einen Dosenöffner oder
                                                 «Fridays for Future». Schon ab Mitte des 19. Jahr-                                                   gar Schraubenzieher, eine Präzisionssäge,

                                                 hunderts engagierten sich junge Menschen                                                             ein dreissigfaches Zoom. Zoooom – schon
                                                                                                                                                      wieder ein Ausländer in meinem Satz.
                                                 gemeinsam und über nationale Grenzen hinweg.                                                         Ich kann Deutsch. Auch «anständig». Was
                                                 TEXT: PHILIPP GRÜNENFELDER
                                                                                                                                                      auch immer das heisst, und wenn es nur
                                                                                                                                                      heisst, dass ich sehr gut so tun kann, als ob

                                                 H
                                                          artnäckig protestieren sie gegen die       den Blousons noirs in Frankreich wie das         ich beweisen müsste, dass ich dazu gehöre.
                                                          Trägheit der Politik und diejenige         Töfflifahren und die Liebe zu neuen Kino­-       Am Telefon mit dem Amt, wenn ich deine
                                                          von Erwachsenen überhaupt. Seit            helden. Insbesondere die Filme «… denn sie       Eltern kennenlerne, wenn ich mich aus­
                                                 Greta Thunberg an einem Freitag im August           wissen nicht, was sie tun» mit James Dean        weise. Aber es bereitet mir keine Freude, dir
                                                 2018 den Klimastreik ausgerufen hat, folgten        und «Der Wilde» mit Marlon Brando waren          zu zeigen, dass ich Latein hatte, dass
                                                 ihr Hunderttausende. Wie ein Lauf­feuer or-         stilbildend.                                     meine Mama Deutsche ist, dass ich gegen
                                                 ganisierten sich Schüler und Studentinnen                                                            Inte­grationsdebatten lernte zu sprechen.
                                                 über WhatsApp und das Internet zur globa-           Eine weibliche Identifikations­figur wie Greta   Ich will so sprechen, dass du weisst, dass
                                                 len Jugendbewegung. Dass junge Menschen             Thunberg? Leider Fehlanzeige. Trotz aller        ich Rap mag und den Expressionismus. Ich
                                                 keine Grenzen kennen, wenn sie gemein-              Auflehnung gegen das spiessbürgerliche           will eine Sprache sprechen, die ein Stottern
                                                 ­same Ziele verfolgen, ist allerdings kein neues    Leben ihrer Eltern wurden die mitwirken­         aushält und ein Inschallah versteht. Die
                                                  Phänomen. Seit ihren Anfängen Mitte des            den Mädchen in den Rock’n’Roll- und Halb-        Sprache der Frauen, der Kreativen, der Frus-
                                                  19. Jahrhunderts und dem Verbot von Kinder-        starkenkulturen eher herabstufender und          trierten, der Schimpfenden, der Faulen,
                                                  arbeit funktionieren Jugendbewegungen              manchmal auch sexistisch bezeichnet und          der Jugendlichen, der Outsider, der Aus-
                                                  transnational, haben verbindende Idole und         behandelt. «Moped-Bräute», «Stammzähne»          länder; eine Sprache, die sich ändert und
                                                  nutzen bewusst die neusten Massenmedien.           oder «Sozius-Miezen» waren gängige Bezeich-      morgen vielleicht schon uncool ist. Ich
                                                  In lebhaftester Erinnerung sind die Proteste       n­ungen. Und Politik? Ebenfalls noch Fehlan-     will, dass sich meine Enkelkinder schämen
                                                  ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Insbesondere        zeige. Die verband mit dem Engagement ge-        können, für das, was heute cool ist. (Sagt
                                                  diejenige der 1960er- und 1980er-Jahre.            gen den Vietnamkrieg oder die Atomenergie        man heute überhaupt noch cool??) Eine
                                                                                                     aber nur wenige Jahre später wieder hun-         Sprache, die keinen Angst vor Verfall hat.
                                                 Der Steilpass dafür kam aus den 1950ern von         derttausende Jugendliche. Mit bekannter          Denn verfallen kann nur, was keinen
                                                 den Halbstarken. In Jeans und Lederjacken,          Fortsetzung bis heute.                          Flow hat. (Oder: panta rhei!)
                                                 mit Nietengürteln oder Haartollen gaben sie
                                                 den Bürgerschreck. Ihr gemeinsames Idol:                                                               CARTE BLANCHE FÜR FATIMA MOUMOUNI,
                                                                                                                                                          AUTORIN, SPOKEN-WORD-
                                                 Elvis Presley. Ihr Medium: möglichst lauter                                                                KÜNSTLERIN UND STUDENTIN.
                                                                                                                                                              FOTO: YVES BACHMANN
                                                 Rock’n’Roll aus dem Transistorradio. Das
                                                 verband sie genauso mit den Laederjakken
                                                 in Dänemark, den Vitelloni in Italien oder

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