Märchen, Mythen und Metaphern - Türöffner zu einer erfolgreichen psychologischen Beratung - unipub

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Märchen, Mythen und Metaphern - Türöffner zu einer erfolgreichen psychologischen Beratung - unipub
Astrid Haltmeyer
                          Matr.Nr. 08827148

Märchen, Mythen und Metaphern -
 Türöffner zu einer erfolgreichen
   psychologischen Beratung

                           Masterarbeit

          zur Erlangung des akademischen Grades eines
                         Master of Science
              im Rahmen des Universitätslehrganges
               Psychosoziale Beratung Masterupgrade Wien

  Wissenschaftliche/r BegutachterIn: Univ Doz. DDr. Barbara Friehs

                  Karl-Franzens-Universität Graz
                         und UNI for LIFE

                      Wien, September 2021

                                                                     1
Märchen, Mythen und Metaphern - Türöffner zu einer erfolgreichen psychologischen Beratung - unipub
1 Danksagung
Ich möchte hiermit allen jenen meinen Dank aussprechen, die mich bei der
Entscheidung, diesen Weg zu gehen, unterstützt haben.

Allen voran mein Lebensgefährte Roman Storm und meine Schwester Andrea Spitaler,
die als erste von meinem Entschluss, diesen Lehrgang zu absolvieren und das Studium
zu beenden, wussten.

Weiterer großer Dank gilt meiner lieben Freundin und Kollegin Dr. Gudrun Adelsberger,
die mich geduldig und mit liebevoller Strenge durch den Masterthesis-Dschungel geführt
hat. Ohne ihre Unterstützung würde dieses Werk heute nicht in dieser Form vorliegen.

Herzliche Danksagung ergeht auch an alle meine InterviewpartnerInnen, die so schnell
und begeistert bereit waren, sich für diese Arbeit zur Verfügung zu stellen und mich sehr
inspiriert haben. Es ist ein wunderbares Gefühl, solche Freunde zu haben.

Ich widme diese Arbeit und den damit einhergehenden Titel meinen Eltern, die nie den
Anspruch an mich gestellt haben, zu studieren und sich jetzt daran erfreuen können, mit
mir die erste Akademikerin in der Familie zu haben.

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Märchen, Mythen und Metaphern - Türöffner zu einer erfolgreichen psychologischen Beratung - unipub
2 Abstract
Psychologische Beratung bzw. Psychotherapie ist in unseren Breiten nach wie vor eher
negativ besetzt. Die Gründe dafür sind vielfältig, auffallend jedoch ist, dass, egal, ob schon
jemals eine derartige Beratung in Anspruch genommen wurde oder nicht, die Sitzungen
als leidvoll, langweilig, mühsam und manchmal sogar peinlich beschrieben werden. Im
Rahmen dieser Arbeit wird untersucht, ob die KlientInnen nicht besser beraten wären,
wenn sie ihre Veränderungsarbeit als spannend und interessant, sowie im Einklang mit
angenehmen Gefühlen, die sie mit ihrer Kindheit in Verbindung bringen, erleben könnten.

Um    das    herauszufinden,      bediente    sich   die    Verfasserin    der   qualitativen
Forschungsmethode und befragte zehn potenzielle KlietInnen zum Einsatz von Märchen,
Mythen und Metaphern im Rahmen der psychologischen Beratung. Die Interviews wurden
nach der Transkription einer inhaltlichen Analyse unterzogen, deren Ergebnis ein überaus
hohes Maß an Zustimmung für diese Methode erbrachte. Richtig eingesetzt, könnte diese
dazu beitragen, dass mehr Menschen mit psychischen Thematiken den Gang zur
Beratung wagen.

In Austria, Psychological Counseling respectively Psychotherapy is still considered
negatively. The reasons for that are varied. It is noticeable that the counseling sessions
are perceived as painful, boring and sometimes as embarrassing even when the person
never took advantage of a psychological counseling. The research of this master thesis
examines if coaching clients would be better counseled if they find their changing process
exciting and interesting, responding to their emotions in childhood.

To find that out the author used the qualitative research method and made a survey with
ten potential clients if fairy tales, myths and metaphors in a counseling session. After
transcription oft he interviews the analysis oft he content showed a great approval of the
method. Correctly used could this method help that people with psycological problems
dare to consult a counselor or therapist more likely.

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Märchen, Mythen und Metaphern - Türöffner zu einer erfolgreichen psychologischen Beratung - unipub
3 Eidesstattliche Erklärung

Ich bestätige hiermit an Eides statt mit meiner Unterschrift, dass die vorliegende
Masterthesis mit dem Titel „Märchen, Mythen und Metaphern – Türöffner zu einer
erfolgreichen psychologischen Beratung“ selbst und eigenständig verfasst wurde. Der
Inhalt beruht ausschließlich auf meinen eigenen Gedanken und
Forschungsergebnissen.

Astrid Haltmeyer

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Märchen, Mythen und Metaphern - Türöffner zu einer erfolgreichen psychologischen Beratung - unipub
4 Inhaltsverzeichnis
1     Danksagung .......................................................................................................................................... 2

2     Abstract ................................................................................................................................................. 3

3     Eidesstattliche Erklärung ...................................................................................................................... 4

4     Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................................. 5

5     Einleitung .............................................................................................................................................. 7

6     Theoretischer Teil ............................................................................................................................... 10

    6.1      Märchen ....................................................................................................................................... 12

      6.1.1         Etymologie ........................................................................................................................... 12

      6.1.2         Charakteristika eines Märchens .......................................................................................... 15

      6.1.3         Aufbau eines Märchens ....................................................................................................... 19

    6.2      Mythen ......................................................................................................................................... 20

      6.2.1         Etymologie ........................................................................................................................... 20

      6.2.2         Exkurs: Personenmythen .................................................................................................... 21

      6.2.3         Charakteristika eines Mythos .............................................................................................. 24

      6.2.4         Aufbau eines Mythos ........................................................................................................... 26

    6.3      Metaphern.................................................................................................................................... 28

      6.3.1         Etymologie ........................................................................................................................... 28

      6.3.2         Charakteristika einer Metapher ........................................................................................... 30

      6.3.3         Aufbau einer Metapher ........................................................................................................ 31

    6.4      Märchen, Mythen und Metaphern in der psychosozialen Beratung ............................................ 34

      6.4.1         Voraussetzungen für den Einsatz........................................................................................ 35

      6.4.2         Liebe, Respekt und Wertschätzung .................................................................................... 36

      6.4.3         Vorliebe ................................................................................................................................ 37

      6.4.4         BerateInnenkompetenzen ................................................................................................... 37

      6.4.5         Vorteile der Anwendung ...................................................................................................... 39

7     Empirischer Teil .................................................................................................................................. 43

      7.1.1 .................................................................................................................................................... 43

      7.1.2         Forschungsdesign ............................................................................................................... 43

                                                                                                                                                                 5
Märchen, Mythen und Metaphern - Türöffner zu einer erfolgreichen psychologischen Beratung - unipub
7.1.3         Forschungsgruppe ............................................................................................................... 43

     7.1.4         Durchführung ....................................................................................................................... 44

     7.1.5         Fragebogen ......................................................................................................................... 44

     7.1.6         Auswertung .......................................................................................................................... 45

     7.1.7         Vertrautheit der Begriffe ...................................................................................................... 46

     7.1.8         Affinität zu Märchen, Mythen und Metaphern ...................................................................... 49

     7.1.9         Lieblingsmärchen................................................................................................................. 54

     7.1.10        Identifikation mit HeldInnen aus Märchen, Mythen und Metaphern .................................... 57

     7.1.11        Realitätsbezug ..................................................................................................................... 61

     7.1.12        Vorbildwirkung von HeldInnen ............................................................................................. 65

     7.1.13        Märchen, Mythen und Metaphern als Hilfestellung im Leben ............................................. 66

     7.1.14        Die Lehre aus Märchen, Mythen und Metaphern ................................................................ 68

     7.1.15        Einsatz von Märchen, Mythen und Metaphern in der Beratung .......................................... 72

     7.1.16        Grenzen für den Einsatz von Märchen, Mythen und Metaphern ......................................... 76

     7.1.17        Einschränkungen bei den Altersgruppen ............................................................................ 78

     7.1.18        Wichtigkeit der BeraterInnenkompetenzen ......................................................................... 79

8    Conclusio ............................................................................................................................................ 82

9    Ausblick ............................................................................................................................................... 85

10   Literaturverzeichnis ............................................................................................................................. 86

11   Weblinkverzeichnis ............................................................................................................................. 88

12   Abbildungsverzeichnis ........................................................................................................................ 89

13   Abkürzungsverzeichnis ....................................................................................................................... 90

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Märchen, Mythen und Metaphern - Türöffner zu einer erfolgreichen psychologischen Beratung - unipub
5 Einleitung
„Es war einmal …“1 Diese drei Worte wirken fast wie ein Zauberspruch. Sie können
Menschen in Sekundenbruchteilen in einen anderen Gefühlszustand versetzen.

Vielleicht liegt das daran, dass wir dadurch an Momente in unserer Kindheit erinnert
werden, als uns Märchen und Mythen erzählt wurden. Gemeinsam mit dem/der Erzähler/-
in durchlebten wir die manchmal durchaus beängstigenden Abenteuer der Hauptfigur,
wissend, dass diese am Ende die Herausforderungen meistern wird. Sie sprechen die
unschuldige Kinderseele an, die auch noch als Erwachsener in uns wohnt.

Märchen und Mythen entführen uns in geheimnisvolle Welten, in welchen Wunder und
Magie etwas Alltägliches sind, die Lösungen eines Themas möglich machen, wo wir nicht
mehr damit gerechnet haben. Sie lassen Hoffnungen entstehen und die Möglichkeit, über
uns selbst hinaus zu wachsen.

Für mich selbst waren zeitlebens Märchen, Mythen und Metaphern eine gangbare
Lebenshilfe und das hauptsächlich in Form von Büchern, mehr jedoch noch in Form von
Filmen. Es fiel und fällt mir leicht, Parallelen zum eigenen Leben in den auf Zelluloid
gebannten Geschichten zu finden und mich daran zu orientieren. So orientierte ich mich
in Zeiten geringen Selbstbewusstseins an Geschichten über starke Frauen, wie Mulan
oder Elizabeth I und Ähnlicher und deren Umgang mit schwierigen Situationen.

In meiner Arbeit als psychologische Beraterin habe ich deshalb diese Fähigkeit auf die
Probleme meiner KlientInnen anzuwenden begonnen und dabei interessante Reaktionen
erlebt. Auch in meinen Seminaren konnte ich feststellen, dass eine erzählte Metapher
oder ein Filmausschnitt eine zu lernende Thematik oft besser erklärt als jedes
theoretische Konzept. Die Lerninhalte werden nicht nur schneller aufgenommen, sondern
auch viel besser erinnert. Abgesehen davon bringt die Verwendung von Märchen, Mythen
und Metaphern eine ganz besondere Atmosphäre bis hin zum Humor in den Kontext,
sodass dieser als angenehm empfunden wird.

1   GRIMM, Brüder: Kinder- und Hausmärchen, Band 1, Stuttgart 1980, S 258.

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Märchen, Mythen und Metaphern - Türöffner zu einer erfolgreichen psychologischen Beratung - unipub
Ein Beispiel:

Eine verheiratete Klientin mittleren Alters steckte in einer Lebensveränderungskrise. Ihre
erwachsenen Kinder hatten gerade das Haus verlassen, und ihr wurde bewusst, dass ihre
Mutterrolle nicht mehr so viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Ihren Mann bezeichnete
sie als ihren besten Freund, doch schien es mehr Dankbarkeit als Liebe, was die beiden
zusammenhielt. Sie brauchte nicht zu arbeiten, also betrachtete sie ihr Leben nur als
wenig erfüllt. Auf einer Weiterbildung lernte sie einen Mann kennen, der gänzlich anders
gestrickt war als ihr Ehemann. Die beiden begannen eine Affäre und waren verliebt wie
17jährige. Schon bald stellte sich die Frage, ob sie für diesen Mann ihren Ehemann
verlassen sollte und ein neues, aufregenderes Leben beginnen sollte.

An diesem Punkt kam sie zu mir in die Beratung. Einige Sitzungen arbeiteten wir an
Werten und Einstellungen, an ihren Rollenbildern usw. Doch irgendwie hatte ich immer
das Gefühl, dass es da Punkte in ihrem Leben gab, wo sie sich nicht traute, hinzu-
schauen. Schließlich gab ich ihr eine Aufgabe mit nach Hause. Sie sollte sich den Film
„The Bridges of Madison County“ („Die Brücken am Fluss“) anschauen.

Die im Film erzählte Geschichte wies viele Parallelen zu ihrem eigenen Leben auf und
beleuchtete Aspekte, die sie mir in den Sitzungen offenbar nicht erzählen wollte oder
konnte. In der nächsten Beratungsstunde sagte sie mir, dass ihr durch die
Auseinandersetzung mit dem Film klar geworden sei, was sie so lange nicht sehen und
hören hatte wollen.

In dieser Arbeit will ich untersuchen, ob und in welcher Form Märchen, Mythen und
Metaphern tatsächlich die Lösungsfindung erleichtern können und somit zu einem
schnelleren, nachhaltigen Beratungsergebnis führen können.

Das Ziel ist es, BeraterInnen und TherapeutInnen ein Segment zu öffnen, das deren Arbeit
mit KlientInnen erleichtert und schneller einen Zugang zu deren Problemverständnis zu
erreicht. Nicht umsonst ist das Genre der Fantasy/Sci-Fi-Bücher, -filme, -serien und -
computerspiele einer der größten Märkte der Welt. Dies als BeraterIn zu ignorieren bzw.
nicht zu nützen, wäre vergleichbar mit auf die Nutzung von Schraubenziehern zu

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Märchen, Mythen und Metaphern - Türöffner zu einer erfolgreichen psychologischen Beratung - unipub
verzichten, weil ich entweder mit der Anwendung derselben nicht vertraut bin oder
Schraubenziehern an sich skeptisch gegenüberstehe.

Gemäß eines Internetartikels von NewFinance.today2 zählen „Der Herr der Ringe“ von
J.R.R. Tolkien und „Harry Potter“ von J. K. Rowling – beide aus dem Fantasy-Genre -
nach der Bibel zu den meist-verkauften Bücher der Welt.

Dass Märchen etwas in uns – speziell in Kindern – auslösen, ist schon sehr lange bekannt,
denn Jacob Grimm (1785 – 1863) drückte es einmal in einer Rede so aus:

    „Es geht durch die Märchendichtung innerlich dieselbe Reinheit, um derentwillen uns
Kinder so wunderbar und selig erscheinen. Kindermärchen sollen erzählt werden, damit
      in ihrem hellen und reinen Lichte die ersten Gedanken und Kräfte des Herzens
                                    aufwachen und wachsen.“3

Mit den vorliegenden Ergebnissen ist es andenkbar, einen neuen Beratungsansatz für
Lebens- und SozialberaterInnen sowie PsychotherapeutInnen zu entwickeln, der die
Fantasie der zu Beratenden anregen und sie zurück zu positiven Kindheitsgefühlen führen
soll, ohne dabei tiefenpsychologisch zu wirken. Wie die Untersuchung zeigen wird,
würden sich Ratsuchende eher einen Film als „Hausübung“ ansehen, als komplizierte
Affirmationen auszuarbeiten, unangenehme Situationen im Kopf durchzuspielen und so
weiter. Der neue Ansatz könnte Beratungen bzw. Therapien mit einem angenehmeren
Gefühl verbinden, sodass die Entscheidung, nun doch psychologische Hilfe anzunehmen,
wesentlich leichter fällt

2 Von: Redaktionsteam, 23. April 2017 https://newfinance.today/die-10-meistverkauften-buecher-aller-
zeiten/, Letzter Zugriff 18.03.2021, 2021
3 https://www.aphorismen.de/suche?f_autor=1546_Jacob+Grimm. Abgerufen am 16.07.2021, 2021

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Märchen, Mythen und Metaphern - Türöffner zu einer erfolgreichen psychologischen Beratung - unipub
6 Theoretischer Teil
Der theoretische Teil dieser Forschung beschäftigt sich einerseits mit der Herkunft und
Verwurzelung der Gattungen Märchen, Mythen und Metaphern im allgemeinen
Bewusstsein des/der Einzelnen und in der Gesellschaft und andererseits mit der
Hypothese, dass diese Geschichten, wenn sie im Rahmen der Beratungssitzung richtig
angewendet werden, die KlientInnen schneller und einfacher ohne leidvolles Hintasten zu
einer gangbaren Lösung ihres Themas finden.

Jede/-r Erwachsene im deutschsprachigen Raum wird wissen, was gemeint ist, wenn
jemand nach einem Streit erzählt, dass eine Person vor Ärger gehüpft sei wie das
Rumpelstilzchen (vgl. Rumpelstilzchen4), selbst wenn der-/diejenige das Märchen nicht
zur Gänze kennt.

Ebenso hat der Begriff „Odyssee“5 für einen hürdenreichen Weg zu einem Ziel schon sehr
lange     Einzug     in    den     allgemeinen       Sprachgebrauch        gefunden.         (vgl.
https://neueswort.de/odyssee/#wbounce-modal), wenn auch nicht jedermann den Mythos
des Helden Odysseus6 jemals gelesen oder gehört hat.

Was Metaphern angeht, so sind sie in der Alltagssprache derart manifestiert, dass wir sie
als solche gar nicht mehr wahrnehmen. Wie an späterer Stelle noch eingehend ausgeführt
wird, zeichnen Metaphern ein viel deutlicheres Bild für einen sprachlichen Ausdruck zum
besseren Verständnis. Obwohl wir uns auch unter dem Begriff „sehr langsam“ etwas
vorstellen können, verleiht uns die Metapher „im Schneckentempo“ ein eindringlicheres
Szenario. (vgl. https://www.schreiben.net/artikel/metapher-3631)

Weiters soll der Zusammenhang zwischen Märchen, Mythen und Metaphern und
Psychologie beleuchtet werden.

4 RÖLLECKE, Heinz: Die älteste Märchensammlung der Gebrüder Grimm. Cologny-Geneve 1975. S.
238ff.
5 RÖLLECKE, Heinz: Die älteste Märchensammlung der Gebrüder Grimm. Cologny-Geneve 1975. S.

238ff.
6 HOMER: Die Odyssee. Hamburg 1986, S. 1 ff.

                                                                                               10
Die Verwendung von Märchen, Mythen und Metaphern in der psychosozialen Beratung
scheint zunächst – gerade, wenn es um die Beratung von Erwachsenen geht –
befremdlich zu sein, vermutet man sie doch mehr in der Kinderberatung bzw.
Kindertherapie. Meine Erfahrungen im Erwachsenencoaching der letzten beiden
Jahrzehnte zeigen jedoch, dass sich erwachsene Personen insgeheim sehr oft nach dem
Wunderbaren sehnen. Ein Klient sagte einmal zu mir auf meine Frage, was ich für ihn tun
könne: „Vollbringen Sie ein Wunder.“ Damit konnte ich nicht dienen. Doch sein Wunsch,
dass die Beratung etwas Wunderbares beinhalten und bewirken soll, zeigt, dass eine
Affinität zu Märchen, Mythen und Metaphern vorhanden ist.

Sich einem/-r Berater/in anzuvertrauen, erfordert bereits einiges an Mut und auch
Leidensdruck. Jede/-r Klient/-in sucht den/die Berater/-in in der Hoffnung auf möglichst
schmerzfreie Lösung seines/ihres Themas auf. Bis dahin hat er/sie schon einiges
unternommen, um seine/ihrer Situation in den Griff zu bekommen. Alle diese Unterfangen
haben sich vermutlich nicht allzu sehr von seinem Alltag unterschieden.

Der Gang zum/zur Berater/-in ist somit etwas Nichtalltägliches. So wie von einem
Märchen erwartet wird, dass Nichtalltägliches passiert, wie auf den nächsten Seiten noch
erläutert wird, könnte man analog dazu sagen, dass auch in der Beratung etwas
geschieht, was im gewöhnlichen Leben nicht geschieht.7

Gemäß Ludwig Widauer ist eine Veränderung nur dann möglich, wenn der Betreffende
seine Wünsche und Vorstellungen in die Zukunft projizieren kann, ansonsten der Verän-
derungsprozess schwierig werden kann.

       „Märchen denken in Wunsch und Wunscherfüllung, nicht aber im Problem
[...] Märchen bahnen den Gedanken, dass Wünsche erfüllbar sind. Märchen sind gerad-
linig erzählt und radikal. Die Erzählung ist, trotz der Umwege und Gefahren, in der Regel
                         auf den gewünschten Schluss ausgerichtet“8
                                        (Dirk Revenstorf)

7 WIDAUER,   Ludwig: 2013, Wo das Wünschen noch geholfen hat. Systemische Notizen 02/13, S 1
8 REVENSTORF,    Dirk: Hypnose in Psychotherapie, Psychosomatik und Medizin. Heidelberg 2009.

                                                                                                11
In seinem Buch „Die Macht der inneren Bilder“9 sagt Dr. Gerald Hüther, dass ein Lebe-
wesen erst durch seinen im inneren angelegten Plan bzw. seine inneren Bilder davon, wie
es sein müsste oder werden könnte, lebendig wird.
Innere Bilder und Vorstellungen waren gemäß Hüther immer schon eine wichtige
Ressource, um Verunsicherung und Ängste zu überwinden. Schon in der Frühzeit
benützten Menschen ihre Vorstellungskraft, um sich ein Bild von unsichtbaren Kräften zu
machen, die die Welt und ihre Lebewesen hervorgebracht hat. Wir finden diese
Vorstellungskraft in den Schöpfungsmythen in allen Kulturen. Sehr oft wurde dieser Macht
auch einen Namen und eine Gestalt gegeben. Immer jedoch ist es eine über allen
menschlichen Verstand hinausreichende Kraft. Diese Macht bringt Ordnung und
Orientierung in das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen. Dieses Bild wurde
tradiert, damit die nachfolgenden Generationen sich ihrer Wirksamkeit bedienen
konnten.10

6.1 Märchen
6.1.1 Etymologie
Der Begriff „Märchen“ leitet sich vom mittelhochdeutschen Wort

   ➢ „maere“ ab, was soviel bedeutet, wie ‚Kunde‘/‘Erzählung‘/‘Gerücht‘ und dem
       althochdeutschen Wort
   ➢ „maere“, gleichbedeutend mit ‚Ruhm‘/‘Berühmtheit‘11

Es handelt sich bei einem Märchen um eine im Volk überlieferte Erzählung, in der von
wunderbaren Begebenheiten in Verbindung mit übernatürlichen Mächten berichtet wird.

9 HÜTHER,    Gerald: Die Macht der inneren Bilder. Göttingen 2006, S 33.
10 HÜTHER,   Gerald: Die Macht der inneren Bilder. Göttingen 2006, S 37, 38.
11 Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hg): Digitales Wörterbuch der deutschen

Sprache. Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart.
, abgerufen am 16.04.2021)., kein Datum

                                                                                                   12
Der Diminutiv „-chen“ bezeichnet, dass es sich um kleine (in Versen abgefasste)
Erzählungen erfundenen Inhalts handelt.12

Die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm dürften sind im europäischen Raum
die bekanntesten und beliebtesten Märchen sein.

Eine Pressemitteilung des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und
Bildungsfernsehen vom 19.05.2015 belegt, dass unter den zehn, bei Kindern beliebtesten
Märchen, ausschließlich solche der Gebrüder Grimm rangieren.13

Weniger bekannt, wenn auch nicht weniger bezaubernd, sind die Märchen von Wilhelm
Hauff (1802 – 1827). Der große Unterschied zwischen Hauffs Märchen und denen der
Gebrüder Grimm ist, dass Hauffs Geschichten großteils aus seiner eigenen Feder
stammen, während die Gebrüder Grimm alte Volkserzählungen sammelten.

Interessant ist, dass Hauff in seinem ersten Märchen-Almanach14 eine orientalische
Kulisse für seine Erzählungen wählt. Er entführt also den Leser nicht nur in die magische
Märchenwelt, sondern zusätzlich noch in eine geheimnisvolle fremde Kultur.

Am wenigsten bekannt scheint die Märchensammlung von Ludwig Bechstein15 (1801 –
1860) zu sein. Wie die Gebrüder Grimm sammelte er Märchen, wodurch sich bei ihm auch
einige Märchen finden, die den Grimm-Brüdern zugeschrieben werden.

Der dänische Dichter Hans Christian Andersen16 (1805 – 1875) verfasste bis 1872
insgesamt     168    Märchen17.      Seine    Erzählungen       zählen    zu   den     sogenannten
Kunstmärchen. Im Gegensatz zu den Volksmärchen verzichtet Andersen häufig auf die
typischen Einleitungsworte „Es war einmal…“ und spricht oft die LeserInnen direkt an.
Wesentlichste Unterschiede dürften sein, dass einige Märchen keinen glücklichen

12 PFEIFER,  Wolfgang: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Berlin 1993.
13 GÖTZ, Maya: Die beliebtesten Märchen der Kinder.,https://www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/
presse/Pressemitteilungen/PM2015/PM_Die_beliebtesten_Maerchen_der_Kinder.pdf, abgerufen am
12.07.2021)., kein Datum.
14 HAUFF Wilhelm, Maerchen-Almanach auf das Jahr 1826
15 BECHSTEIN, Ludwig, Deutsches Märchenbuch, Erstausgabe 1845, Georg Olms Verlag
16 ANDERSEN, Hans Christian, Hans Christian Andersens Märchen, Insel-Verlag, Leipzig 1847
17 http://www.zeno.org/Literatur/M/Andersen, +Hans+Christian/Biographie, abgerufen am 12.07.2021),

kein Datum)

                                                                                                     13
Ausgang haben, wie z. B. „Die kleine Meerjungfrau“ oder „Das Mädchen mit den
Schwefelhölzern“ und dass alle Märchen eine zu lernende Moral aufweisen. Nicht immer
siegt das Gute über das Böse. Typisch für Andersens Märchen ist, dass es ein glückliches
Leben offenbar nur in der Traumwelt verwirklicht werden kann, nicht jedoch im realen
Leben.18

Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass es auch Märchen aus dem Orient
und anderen Kulturen gibt, die im europäischen Raum sehr bekannt sind. Die
Geschichtensammlung „Tausendundeine Nacht“19 weist überdies eine Rahmenhandlung
auf, in der die einzelnen Erzählungen eingebettet sind. Die Rahmenhandlung beschreibt,
wie Sheherazade dem König Nacht für Nacht eine Geschichte erzählt, diese jedoch immer
an einem spannenden Punkt offen lässt, damit der König sie in der nächsten Nacht zu
Ende hören will. So entgeht sie ihrer Hinrichtung am nächsten Morgen, wie der König es
schon so oft mit den Frauen vor ihr gemacht hat.20

Die Grimms-Märchen und einige Andersen-Märchen dienen häufig als Vorlage für
Kinofilme und Serien oder werden selbst immer wieder verfilmt. Die in weiterer Folge
erwähnten Merkmale der Märchen finden sich auch in modernen Film- und Serienplots,
die sich großer Beliebtheit erfreuen. Einige davon finden sich im Fantasy-Genre und mit
einigem psychologischem Tiefgang, wie zum Beispiel „Game of Thrones“ (vgl. Seite 47),
andere wiederum eher seichten Unterhaltungswert, was nicht unbedingt etwas
Schlechtes sein muss.

Zweifellos haben Märchen für alle Altersgruppen eine gewissen Faszination, sonst
würden Fernsehsender, wie der ZDF oder der Bayrische Rundfunk nicht ganze
Thementage darüber an publikumsintensiven Feiertagen veranstalten. (vgl. Seite 15)

18 Redaktion: https://www.maerchenbrause.de/andersens-maerchen, abgerufen am 13.07.20211
19 WEIL, Gustav: Tausendundeine Nacht, Übersetzung von arabischen Originaltexten, 1965, Neuauflage
Nikol VerlagsgmbH, Hamburg 2017, S 7.
20 LIPPERT, Karen: Märchenatlas, http://www.maerchenatlas.de/aus-aller-

welt/marchensammlungen/tausendundeine-nacht/tausendundeine-nacht/, zuletzt abgerufen am
15.07.2021., kein Datum

                                                                                                 14
6.1.2 Charakteristika eines Märchens
Dr. Kathrin Pöge-Alder, Referentin für historische und gegenwärtige Alltagskultur
(Volkskunde) an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig, benennt in
ihrem     Buch   „Märchenforschung          –    Theorien,    Methoden,      Interpretationen“21   15
Charakteristika, die ein Märchen ausmachen.

Eine andere Auflistung von Märchenmerkmalen findet sich auch in einer Dokumentation22
des Bayrischen Rundfunks, ausgestrahlt am 05.04.21. Aus beiden Quellen seien hier die
wesentlichsten Eigenschaften dargestellt.

     ▪   Magie und Zauberei
         Wunderbares und Numinoses wird von den Hauptpersonen im Märchen als
         selbstverständlich angesehen und wird nicht hinterfragt. So ist ein verzaubertes
         Spinnrad (vgl. Dornröschen) ebenso alltäglich wie in Frösche verwandelte Prinzen
         (vgl. Froschkönig) oder vom Himmel fallende Geldstücke (vgl. Die Sterntaler). Auch
         dass diese Magie plötzlich und oft unerwartet auftritt, verwundert niemanden.

     ▪   Drastische Gegensätze
         Graustufen findet man in Märchen kaum. Etwas ist entweder gut oder böse, reich
         oder arm, schön oder hässlich. Bruno Bettelheim (1903 – 1990), ein von den
         Nationalsozialisten     verfolgter      und    später       nach   den   USA     emigrierter
         österreichischer Kinderpsychologe, erklärt diesen Umstand damit, dass die
         meisten Märchen in Zeiten entstanden sind, in denen die Religion ein wichtiger Teil
         des Lebens war.23 In der Religion findet sich ebenfalls eine eklatante Dualität.

     ▪   Reale soziale und gesellschaftliche Konstellationen
         Eine subtilere Dualität findet sich in der Divergenz zwischen dem „Zauberhaften“
         der   Erzählung       einerseits       und    realistisch    widergespiegelten    sozialen,
         gesellschaftlichen und familiären Verhältnissen.24 Verwaiste Kinder, verwitwete

21 PÖGER-ALDER, Karen: Märchenforschung, Tübingen 2016, S 31ff.
22 Bayrischer Rundfunk, 5.4.2021 Dokumentation „Märchenhaftes Ostern“
23 BETTELHEIM, Bruno: Kinder brauchen Märchen. München 1980, S. 20.
24 WOLLENWEBER: Märchenanalysen 1977, S 63.

                                                                                                   15
Elternteile, zurückgesetzte Geschwister – das alles war realer Alltag in der Zeit der
          Märchenentstehung und ist es noch. Wir stehen dieser Tage der sogenannten
          „vaterlosen Gesellschaft“ gegenüber, entstanden durch zwei Weltkriege im 20.
          Jahrhundert, durch die Vereinfachung von Scheidungsgesetzen und die
          veränderten Wertvorstellungen bezüglich Ehe und Scheidung.

      ▪   Fehlende Raum und Zeitangaben
          Märchen können weder verortet noch datiert werden. Fest steht allerdings, dass
          sie in der Vergangenheit spielen. Zwar gibt es bei manchen Märchen
          Vermutungen, wo die Handlung stattgefunden haben könnte, und da die Gebrüder
          Grimm sie hauptsächlich im und aus dem deutschsprachigen Raum gesammelt
          haben, ist anzunehmen, dass diese Gegenden Vorlage für die Erzählungen waren.
          Außerdem gibt es Anhaltspunkte für einige Märchen, da diese tatsächlich einen
          realen Hintergrund haben. So könnte zum Beispiel der Hof von Gent im frühen 16.
          Jahrhundert Kulisse für „Schneewittchen“ sein, weil sich eine sehr ähnliche
          Begebenheit dort zugetragen haben soll.

      ▪   Fiktionalität
          Beim Märchenerzählen oder -lesen ist uns klar, dass die Geschichte nicht real ist.
          Diese Fiktionalität wird durch die berühmten Einleitungs- und Schlussformeln25,
          wie „Es war einmal…“ und „Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch
          heute“26 aufgebaut. Fehlende Orts- und Zeitangaben unterstützen dieses
          unwirkliche Szenario.

      ▪   Herausforderungen
          Mittelpunkt der Märchenhandlung sind zumeist auftretende Schwierigkeiten und
          wie die Protagonisten diese bewältigen. So haben die HeldInnen häufig einen
          beinahe aussichtslosen Kampf gegen Bösewichte zu bestehen oder Aufgaben, die

25   AKIDIL, Inci: Formelhafte Wendungen in deutschen und türkischen Volksmärchen, Marburg 1968, S 20
ff
26   GRIMM, Gebrüder: Kinder- und Haus-Märchen Band 1, Stuttgart 1980, S 238-250.

                                                                                                   16
es zu lösen gilt. Charakteristischerweise findet man als Ausgangssituation eine
         Notlage (vgl. Hänsel und Gretel) oder eine Aufgabe (vgl. Rotkäppchen). Ebenso
         kann ein Bedürfnis das zentrale Thema sein (vgl. Von einem der auszog, das
         Fürchten zu lernen).27

     ▪   Sprechende Tiere
         Nicht selten begegnet man in Märchen sprechenden Tieren. In den meisten Fällen
         treten   sie in der Rolle des Helfers auf, in selteneren Fällen als Gegner.28
         Gewöhnlich sind sie dem Menschen gleichgestellt. Sie sind eigenständig
         handelnde Subjekte mit menschlichen Eigenschaften. Sehr häufig sind sie
         verzauberte Menschen (vgl. Brüderchen und Schwesterchen). Ein beliebtes
         Märchenmotiv ist das des Tierbräutigams (vgl. Froschkönig und der Eiserne
         Heinrich). Nahezu immer ist es der Mann, der in ein hässliches Tier verwandelt
         wurde und durch ein Mädchen vom Zauber erlöst wird. Bruno Bettelheim schreibt
         dazu:

         „Es ist die Liebe und Hingabe der Heldin, die dem Tier seine menschliche Gestalt
            zurückgibt. Nur wenn sie dazu gelangt, es wirklich zu lieben, wird es wieder
          entzaubert. Damit das Mädchen seinen männlichen Partner vollkommen lieben
            kann, muss es fähig sein, seine frühere infantile Liebe zum Vater auf ihn zu
           übertragen. Sie ist dazu in der Lage, wenn dieser Vater, wenn auch zögernd,
                                       damit einverstanden ist.“29
                                           (Bruno Bettelheim)

         Nach Bettelheim stellt die als hässlich empfundene Tierfigur eine Verdrängung der
         mit einem Tabu belegten Sexualität dar.

27 LÜTHI, Max: Wesenszüge des europäischen Volksmärchens, Stuttgart 1976, S 28 - 35.
28 LIPPERT, Karen: Märchenatlas, http://www.maerchenatlas.de/miszellaneen/marchenfiguren/tiere-im-
marchen/ zuletzt abgerufen am 19.07.21
29 BETTELHEIM, Bruno: Kinder brauchen Märchen. München 1980, S 333.

                                                                                                     17
▪   Diminuierungen
         Das Wort „Märchen“ selbst stellt schon – wie einige Seiten zuvor beschrieben –
         eine Diminuierung des Wortes „Mär“ dar. Diminuierungen tragen wesentlich zur
         Wortbildungsbedeutung bei. Dabei geht es nicht nur um die bloße Verkleinerung
         des Begriffes, sondern beschreibt auch eine gewisse emotionale Beziehung in
         Bezug auf Vertrautheit und Bekanntheit. Dies kann entweder eine aufwertende
         Bedeutung, oft in Zusammenhang mit einer hätschelnden Funktion beinhalten, wie
         „Mütterchen“ oder „Kätzchen“ oder eine abwertende Konnotation, wie bei
         „Freundchen“ oder „Männchen“. Im Märchen „Schneewittchen“30 – selbst wieder
         ein Diminuitiv – häufen sich die Verkleinerungsformen. Interessant dabei ist, dass
         für alle Requisiten, die mit Schneewittchen selbst oder den Zwergen zu tun haben,
         die Form „-chen“ verwendet wird, um die Zierlichkeit und Reinheit hervorzuheben,
         beim berühmten Satz „Spieglein, Spieglein an der Wand, …“ jedoch die Form „-
         lein“, die dem Spiegel keine erwähnenswerten Eigenschaften zuweist. Da der
         Spiegel Eigentum der bösen Stiefmutter ist, wird dadurch die starke Diskrepanz
         zwischen Schneewittchen und der Königin noch unterstrichen.31

     ▪   Und die Moral von der Geschicht‘32
         Märchen transportieren fast immer eine mehr oder weniger offensichtliche Lehre,
         die die Kinder bzw. LeserInnen daraus ziehen sollten. Das ist mit ein Grund, warum
         Jacob und Wilhelm Grimm ihre Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“ als
         Erziehungsbuch deklariert haben (vgl. Fehler! Textmarke nicht definiert.).
         Obwohl diese Erzählungen einige Jahrhunderte alt sind, haben die darin
         enthaltenen Erkenntnisse bis heute nicht an Aktualität verloren. Nicht mit Fremden
         mitzugehen, sich nicht durch Verlockungen vom Weg abbringen lassen, keine
         Unbekannten in die Wohnung zu lassen – all das bringt die Gesellschaft heute
         immer noch ihren Kindern bei. Jetzt steht sie vor der Aufgabe, diese Lehren in die

30 GRIMM, Gebrüder: Kinder- und Hausmärchen, Band 1, Stuttgart 1980, S 258 ff.
31 THEIS, Christof: Wortbildung der Substantive. Diminutivsuffixe „-chen“ und „-lein“ in der Gattung der
Märchen. München 2013, S 11.
32 BUSCH, Wilhelm: Sämtliche Werke, Band I. München 2011.

                                                                                                           18
Cyber-Welt zu übertragen, im Sinne von „Gib niemandem dein Passwort“ oder
          Ähnliches. Moderne Phishing-Emails haben starke Parallelen zu „Der Wolf und die
          sieben Geißlein“.

6.1.3 Aufbau eines Märchens
Märchen und Mythen folgen im Wesentlichen dem gleichen Aufbau, auch bekannt als
„Heldenreise“33. Wladimir Jakowlewitsch Propp (1895 – 1970) analysierte 100 russische
Zaubermärchen und kam zum Schluss, dass die Struktur praktisch überall die Gleiche
ist.34 So findet man bei beiden Gattungen immer wieder die gleichen Archetypen und
Handlungsabfolgen. Dies wird im Kapitel „Mythen“ noch näher beleuchtet.
Vereinfacht beschrieben, ist der klassische Aufbau eines Märchens der, dass die
Hauptfigur in eine Notsituation gerät, die sie lösen muss. Meistens müssen dazu die
ProtagonistInnen ihre gewohnte Umgebung verlassen, um die Aufgabe zu bewältigen.
Die HauptheldInnen haben jedoch charakterlich Schwächen, wodurch der Weg zum Ziel
nicht immer geradlinig verläuft. Sie werden in Versuchung geführt oder bekommen es mit
bösen Figuren zu tun. Sie bekommen jedoch Unterstützung von wohlwollenden
HelferInnen, mit deren Hilfe sie dann letztendlich einen glücklichen Ausgang der Situation
erreichen.

Das Märchen „Rotkäppchen“ (vgl. Gebrüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Band 1,
Nr. 26) ist das klassische Beispiel für alle auf den vorhergehenden Seiten skizzierten
Charakteristika und dem Aufbau:

„Rotkäppchen“ (Diminutiv) verlässt das Haus, um der Großmutter Kuchen und Wein zu
bringen und muss zu diesem Zweck durch den Wald gehen (unangenehme Situation,
Verlassen der gewohnten Umgebung). Im Wald begegnet ihr der Wolf (sprechendes Tier),
der versucht, das Kind vom Weg abzubringen, was auch gelingt (Schwäche des
Hauptcharakters). Rotkäppchen gelangt zur Großmutter, die zwischenzeitlich vom Wolf

33   CAMPBELL, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt 1999, S 41 ff.
34   PROPP, Wladimir Jakowlewitsch: Morphologie des Märchens. München 1976.

                                                                                       19
gefressen wurde, und fällt wieder auf ihn herein, wird sogar selbst gefressen. Zu Hilfe
kommt der Jäger, der den Wolf aufschneidet und Rotkäppchen sowie die Großmutter
befreit (Fiktionalität, wunderbare Wandlung). Rotkäppchens Einfallsreichtum bewirkt,
dass der Bauch des Wolfes mit Steinen gefüllt wird, sodass dieser als er nach dem
Aufwachen fliehen will, tot umfällt (Fiktionalität, wunderbare Wandlung). Auch die reale
soziale Struktur ist gegeben: Von einem Vater Rotkäppchens ist nirgendwo die Rede,
genauso wenig wie von einem Großvater. Dies ist in heutiger Zeit realer als wenn
Rotkäppchen beide Elternteile, die in einer glücklichen Ehe leben, hätte.

6.2 Mythen
     „Wir brauchen die Mythologie, um die tiefsten Wahrheiten über uns selbst, unsere
              Ängste, unsere Träume, die Zukunft der Menschheit und der Welt,
                            in der wir leben, erfassen zu können.“
                                       (Peter de Rosa)35

6.2.1 Etymologie
Das griechische Wort „Mythos“ bedeutet laut Duden ursprünglich „Überlieferung, Sage,
Erzählung“, die sich besonders mit Göttern, Dämonen, der Entstehung der Welt etc.
befasst.36.

Mythos lässt sich jedoch auch mit dem „wahren Wort“ übersetzen, soll heißen, die
eigentliche Bedeutung liegt im Bild, das er vermitteln möchte.37

Im Gegensatz zum Märchen wird im Mythos eine grundlegende Wahrheit aufgezeigt. Es
gibt sie in praktisch allen Völkern und Kulturen und beschäftigen sich hauptsächlich mit
dem Transzendentalen, wie Göttern, Dämonen, Geistern usw. Alle klassischen HeldInnen
stammen aus der Mythologie, wie zum Beispiel Odysseus und Äneas (griechisch), König

35 DE ROSA, Peter: Der Jesus Mythos. München 1991, S 20.
36 DUDEN: https://www.duden.de/rechtschreibung/Mythos, abgerufen am 02.09.2021
37 LUTZ, Christiane: Mythen und Märchen in der psychodynamischen Therapie von Kindern und

Jugendlichen. Stuttgart 2016, S 13.

                                                                                            20
Artus, Parzival bzw. die sämtliche Tafelrunde (angelsächsisch), Siegfried (nordisch-
germanisch).

Die Gültigkeit der Mythen liegt darin, dass sie Urerfahrungen des Menschen symbolisch-
bildhaft widerspiegeln. Die große Fähigkeit der Mythen ist, Unbegreifliches in bildhafter
Sprache auszudrücken.38.

Ein Beispiel: Heute wissen wir, dass vulkanische Aktivität der Grund dafür ist, wenn aus
einer Erdspalte immer wieder Rauch, Feuer und Schwefelgeruch aufsteigt. Wir wissen
sogar, warum es dort immer wieder kleine Ausbrüche gibt. In der Antike war dieses
Wissen noch nicht vorhanden, und die Furcht vor diesem Unerklärlichen entsprechend
groß. Als einziges Erklärungsmodell für solche Vorgänge stand die Existenz eines
Ungeheuers (wie die Chimära in Lykien, heute Türkei) oder in unseren Breiten der
Eingang zur Hölle, zur Verfügung.

Indem die Bevölkerung sich ein Bild von diesem Ungeheuer machten, war es vorstellbar
und weniger furchterregend, weil man nun meinte, zu wissen, womit man es zu tun hatte.
Somit konnte es auch bekämpft werden, was der Held Bellerophon auf dem Rücken des
Pegasus dann auch getan hat.

6.2.2 Exkurs: Personenmythen
In zweiter Bedeutung kann das Wort auch auf legendäre Menschen angewendet werden.
Dabei ist es ganz egal, wann diese Personen gelebt haben. Um sie ranken sich trotz
wissenschaftlicher Beweise allerlei Gerüchte über ihren Charakter, ihr Verhalten, ihre
Taten und ihr Leben an sich.

Richtet man sein Augenmerk zum Beispiel auf den Personenmythos Mahatma Gandhi,
so scheint dieser auf den ersten Blick unantastbar. Seine Einstellung, eine gewaltfreie
Revolution initiieren zu können, um die Kolonialmacht Großbritannien zu vertreiben, hat
sich bewahrheitet. Sein Leben gleicht grob der „Heldenreise“ (vgl. Seite 26), sein Tod

38LUTZ, Christiane: Mythen und Märchen in der psychodynamischen Therapie von Kindern und
Jugendlichen. Stuttgart 2016. S 14

                                                                                           21
durch ein Attentat einem Heldentod. Er wich nicht von seinen ehernen Werten ab, was
bei den meisten Menschen große Bewunderung hervorruft. Der Kampf um Indiens
Freiheit gleicht dem Kampf David gegen Goliath39. Historiker, Biografen und andere
Wissenschafter haben mittlerweile zweifelsfrei bewiesen, dass Gandhi eine sehr
diskriminierende Haltung Frauen gegenüber an den Tag legte, sich am Ende als
gottgleich betrachtete und unter allen Umständen das indische Kastenwesen zementieren
wollte40. Unbestritten bleibt die Tatsache, dass Gandhi die Welt verändert hat und das mit
Mitteln, die vor ihm und nach ihm kaum wieder eingesetzt wurden. Insofern besteht der
„Mythos Gandhi“ zu Recht. Doch das ist eine persönliche Sichtweise der Forscherin.

Zu den sogenannten „Modernen Personenmythen“ gehören sicher auch:

▪    Lady Diana Spencer und ihr Unfalltod 1997
     Trotz mehrfacher Ermittlungen konnte bisher nichts Anderes festgestellt werden, als
     dass ihr Tod ein Unfall war. Es lebt der Mythos, dass sie entweder durch das
     Königshaus selbst, durch islamische Extremisten und Ähnlicher ermordet wurde. In
     der ZDF History-Dokumentation „Früher Tod und ewiger Ruhm“41 erklärt die BUNTE-
     Chefredakteurin Patricia Riekel, dass der Grund, warum sich so viele Gerüchte bzw.
     Mythen um Dianas Tod ranken, der sei, dass die Gesellschaft schlecht mit der
     Tatsache umgehen kann, dass eine solche Person, die den Status einer
     Märchenprinzessin hatte, derartig banal ums Leben kommt. Lady Diana wurde
     gleichsam als Heldin verehrt – und HeldInnen sterben zumeist, wie im Kapitel
     „Heldenreise“ (vgl. Seite 26) beschrieben, einen HeldInnentod.

▪    Che Guevara, der Rebell
     Sein Konterfei fehlt auf keiner (linken) Demonstration. Immer wenn es um Freiheit
     und/oder Revolution geht, ist Che Guevaras Bild mit dabei. Interessant ist, dass viele
     derjenigen, die seinen Mythos hochhalten, die Zeiten, in denen er aktiv war, gar nicht
     miterlebt haben, weil sie noch nicht geboren waren. Wenn man sich mit Che Guevara

39 BIBEL, Die: Das Buch Samuel. Stuttgart 2016, 1 Sam 17, 4 – 7.
40 MATTHAY, Sabina/ANDERSON, Perry: Die indische Ideologie. Berlin 2014.
41 https://www.fernsehserien.de/history-2000/folgen/79-frueher-tod-und-ewiger-ruhm-stars-die-jung-

sterben-1157551, abgerufen am 12.09.2021

                                                                                                     22
auseinandersetzt, wird bald klar, dass er wohl ein gutaussehender, charismatischer
     Anführer war, aber letztlich außer Rebellion nichts zu bieten hatte. Dass er mehrere
     Massaker initiiert hat und maßgeblich daran beteiligt war, wird weniger gerne gesehen.
     Sein Porträt, ein Schnappschuss, aufgenommen 1960, wurde nach Guevaras
     gewaltsamem Tod 1967 zu einem der berühmtesten Fotos der Welt42.

▪    Eva Perón
     In Argentinien wird die ehemalige Präsidentengattin noch immer verehrt wie eine
     Heilige. Ihr Leben wurde verfilmt, ein Musical draus gemacht, ihr Frisur heute nach wie
     vor getragen. Immer noch hält sich der Mythos, dass sie wohltätige Stiftungen
     einrichtete, um die Armen zu unterstützen. Das stimmt zwar, die Gelder dafür
     allerdings stammten aus der Erpressung politischer Gegner, die im Falle des
     Nichtbezahlens aus dem Weg geräumt wurden. Ihre Taten waren nicht so sehr ihrer
     sozialen Ader und ihrer armen Herkunft geschuldet, sondern blankem Kalkül, um ihre
     Macht auszubauen. Ihr früher Krebstod mit 33 Jahren (1957) trug maßgeblich zu ihrer
     Verherrlichung bei.

▪    Elvis Presley
     Der King of Rock’n Roll hat sicher mit seiner Musik einen kulturellen Beitrag geleistet.
     Gutaussehend und charismatisch sang er sich in die Herzen der Menschen. Dass sich
     ein derartiges Idol an Medikamentenmissbrauch stirbt, ist heute keine Überraschung
     mehr. In den 1970er Jahren jedoch ein Schock. Er verstarb mit 42 Jahren früh, was
     offenbar von der Gesellschaft nur schwer akzeptiert werden kann, denn immer noch
     gibt es Menschen, die ihn gesehen haben wollen.

                     Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben.
                            (Quem dei diligunt, adulescens moritur.)
                           (Titus Maccius Plautus, 250 – 184 v. Chr.)

42https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/reflexionen/geschichten/916921-Wie-ein-Heldenbild-
entsteht.html, abgerufen am 12.09.2021

                                                                                                23
6.2.3 Charakteristika eines Mythos
Schlägt man in Lexika oder auch im Internet nach einer genauen Definition des Wortes
„Mythos“ nach, erhält man vielfach abweichende Beschreibungen. Das scheint damit
zusammenzuhängen, dass der Begriff von verschiedenen Kulturen unterschiedlich
verwendet wurde. Trotzdem findet man in Mythen aller Art aus aller Herren Länder
Gemeinsamkeiten, was Inhalt und Aufbau betrifft.

▪     Transzendenz
      Der Mythos ist eine religiös bzw. spirituell gefärbte Darstellung von Vorgängen aus
      Natur- und Weltleben, wobei diese mit dem menschlichen Tun verknüpft werden. Sie
      können die Welt um uns herum erklären und sind demzufolge als kindliche, also
      anfängliche, Philosophien der Menschen zu werten. Die Gesamtheit kultureller Mythen
      ist die Mythologie.43
      Erkennbar wird diese Transzendenz durch das Auftreten von Göttern, Geschichten
      von der Entstehung der Welt bzw. der Menschheit und über den Zusammenhang
      zwischen Göttern und Fabelwesen. Erwähnenswert ist, dass in den Mythologien
      unterschiedlicher Kulturen, die Götter wohl über übernatürliche Fähigkeiten verfügen,
      dennoch besitzen sie menschliche Schwächen und Charakterfehler. Während zum
      Beispiel der griechische Göttervater Zeus immer wieder den weiblichen Reizen der
      Erdenfrauen erliegt und sie sehr zum Leidwesen seiner Gemahlin Hera reihenweise
      verführt und Halbgötter produziert, verfällt der germanische Gott Thor immer wieder
      dem kriegerischen Wahnsinn. Das verstärkt zwar seine Kräfte um das Zehnfache, wie
      die Edda44 beschreibt, jedoch neigt Thor dann dazu, seine Umgebung zu zerstören.
      Des weiteren kommt hinzu, dass die meisten Götter weder unsterblich, allwissend
      oder allgegenwärtig sind. Dass (ein) Gott omnipotent, omnipräsent und omniszient ist,
      wird uns erst durch die Bibel, die strenggenommen auch ein Mythos ist, kolportiert,
      doch nicht von Anfang an. Im Alten Testament hat der jüdische Gott durchaus noch

43   Redaktion: https://wortwuchs.net/mythos, abgerufen am 02.09.2021
44   EDDA, Die: Lied von Thrym. Engerda 2001, Spruch 32

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seine charakterlichen Schwachstellen. Die weitere Ausführung dieser Thematik ist
      jedoch nicht Gegenstand dieser Arbeit.

▪     Wahrheitsanspruch
      Ähnlich wie die Sage, gilt der Mythos in seinem Kern als wahr. Beschrieben wird meist
      ein Ereignis, das tatsächlich stattgefunden hat, wie zum Beispiel der Trojanische
      Krieg. Rundherum ranken sich dann Geschichten um diverse HeldInnen oder andere
      Begebenheiten, die über die Jahrtausende ausgeschmückt wurden.

▪     Verortung und Datierung
      Außer bei den Schöpfungsmythen, die sich mit der Erschaffung der Erde und der
      Menschheit befasst, erkennt man in den Götter- und Heldenmythen teilweise sogar
      sehr genaue Ortsangaben. Mittlerweile gibt es zahlreiche Dokumentationen, Bücher
      und Arbeiten über die reale Geografie der Odyssee (vgl. Homer, Odyssee). Die Stadt
      Troja ist seit seiner Entdeckung durch Heinrich Schliemann 1870 nach wie vor einer
      der größten Ausgrabungsorte der Welt. Auch der Trojanische Krieg ist mittlerweile
      belegt, so ist die Datierung ebenfalls gegeben, auch wenn sie für die Faszination des
      Mythos keine Rolle spielt. Immer wieder findet man auch Angaben über die Dauer
      gewisser Ereignisse, wie zum Beispiel, dass der Trojanische Krieg zehn Jahre
      dauerte, Odysseus verbrachte sieben Jahre bei der Nymphe Kalypso und so weiter.

▪     Symbolische Sprache
      Die Mythen bedienen sich einer sehr bildhaften Sprache und nützen gleichzeitig die
      Mehrdeutigkeit der Bilder. Beispielsweise hat Odin, um mehr Wissen und Weisheit zu
      erlangen, dem Riesen Mimir ein Auge geopfert45 und hängt sich, obwohl verletzt, an
      den Weltenbaum Yggdrasil bis ihm die Runen erscheinen, die sich sonst nur
      „Würdigen Wesen“ offenbaren46. Einerseits könnte man diese Vorfälle wörtlich
      interpretieren oder im übertragenen Sinn, nämlich dass es einiges an Opfern kosten
      wird, um weise zu werden. Durch die mehrfachen Interpretationsmöglichkeiten lassen

45   DAHN, Felix und Therese: Germanische Götter- und Heldensagen. Hamburg 2019, S 32 ff..
46   EDDA, Die: Odins Runenlied. Engerda 2001, Spruch 138.

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sich Mythen problemlos auf die heutige Zeit umlegen. Der kretische Mythos des
     Minotaurus, ein Wesen halb Mensch, halb Stier, an den alle neun Jahre sieben
     Jünglinge aus Athen, als Tribut der Athener nach einer Kriegsniederlage, verfüttert
     werden, ist ebenfalls wissenschaftlich belegt. Die Symbolik liegt hier in der Übermacht
     der Kreter gegenüber dem schwachen Gegner Athen.47

6.2.4 Aufbau eines Mythos
Mythen folgen im Wesentlichen immer dem gleichen Muster, auch bekannt als
„Heldenreise“48. Wladimir Jakowlewitsch Propp (1895 – 1970) analysierte 100 russische
Zaubermärchen und kam zum Schluss, dass die Struktur praktisch überall die Gleiche
ist.49
Auch Märchen weisen oft diesen Ablauf auf, selten jedoch so komplex. Die Anzahl der
handelnden Personen im Märchen ist meist überschaubar, im Mythos begegnet uns eine
Vielzahl von AkteurInnen, die allerdings um einiges differenzierter dargestellt sind als
Märchenfiguren.
Die „Heldenreise“ ist auch ein sehr beliebtes und häufig verwendetes Modell in der
modernen Literatur und in Filmen.
Wie aus der nachstehenen Grafik zu erkennen, verläuft der Weg der HeldInnen gegen
den Uhrzeigersinn. Sollte der/die Protagonist/-in die Reise erfolgreich überleben, hat
er/sie am Ende eine große persönliche Entwicklung gemacht, Ruhm, Reichtum und
Weisheit erlangt.

Anders als im Märchen gehen Mythen jedoch keineswegs immer gut aus. Kennzeichen
der klassischen HeldInnen ist der damit verbundene, wie der Name schon sagt,
Heldentod. Ob hinterrücks ermordet oder auf dem Schlachtfeld, spielt dabei keine Rolle.
Keiner stirbt daheim im Bett an Altersschwäche oder, wie im Fall Lady Diana Spencers
einen Unfalltod (vgl. Seite 22).

47 https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/mythen-und-monster-minotaurus-100.html, zuletzt
abgerufen 09.09.2021
48 CAMPBELL, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt 1999, S 41 ff.
49 PROPP, Wladimir Jakowlewitsch: Morphologie des Märchens. München 1976.

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Abbildung 1: Grafik Heldenreise

Durchläuft der/die Akteur/-in die Heldenreise erfolgreich bis zum Ende, heißt das nicht
unbedingt, dass dies nur von Vorteil ist. Im Falle des Frodo Beutlin, Hauptheld im „Herrn
der Ringe“ (vgl. Seite 47, J. R. R. Tolkien) zum Beispiel, kehrt dieser nach zwei Jahren
und nachdem er Mittelerde vor dem Untergang bewahrt hat, in seine Heimat - ins
Auenland - zurück. Die Bewohner dort stehen ihm jedoch argwöhnisch bis feindselig
gegenüber, weil kein Auenländer jemals auf Reisen geht und womöglich Kontakt zur
Außenwelt hat. Abgesehen davon, hat keiner das Geschehen auch nur mitbekommen
und schon gar nicht mitverfolgt. Es weiß also niemand, dass Frodo die Welt gerettet hat.
Frodo hat sich auf seiner Mission stark weiter entwickelt, ist also nicht mehr der Frodo,
der auszog, um den Erdball vor der Vernichtung zu retten. Seine frühere kleine Welt, das

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