Mehr als 100 Selbstverbrennungen Unterwegs im historischen Tibet (Teil 1) Interview mit Prof. Valeria Gärtner 10. März - Flagge zeigen für ...

Die Seite wird erstellt Ylva Sommer
 
WEITER LESEN
Mehr als 100 Selbstverbrennungen Unterwegs im historischen Tibet (Teil 1) Interview mit Prof. Valeria Gärtner 10. März - Flagge zeigen für ...
ISSN 1865-3456                                           Ausgabe 2/2013

                 Mehr als 100 Selbstverbrennungen •
                 Unterwegs im historischen Tibet (Teil 1)•
                 Interview mit Prof. Valeria Gärtner •
                 10. März - Flagge zeigen für Tibet!
Mehr als 100 Selbstverbrennungen Unterwegs im historischen Tibet (Teil 1) Interview mit Prof. Valeria Gärtner 10. März - Flagge zeigen für ...
der neue KP-Generalsekretär und chinesische Staatspräsident Xi Jinping
                   steht der Armee sehr nahe und zeigt dies auch durch regelmäßige
                   Truppenbesuche. Verheiratet ist er mit der sehr bekannten Sängerin Peng
                   Liyuan, die im Rang einer Generalmajorin die militärische Stärke sowie
                   die “Liebe der Tibeter für die Volksbefreiungsarmee“ besingt. So ist es
                   nur konsequent, dass das Militärbudget im Jahr 2013 wieder zweistellig
                   wächst, um die Truppen kampfbereit zu halten. Jedoch viel bedenklicher
                   ist es, dass für die innere Sicherheit mehr ausgegeben wird als für die
                   Landesverteidigung. Die chinesische Regierung sieht im eigenen Volk
                   eine viel größere Gefahr als in einer militärischen Auseinandersetzung
um Inselgruppen im pazifischen Raum. Das verheißt nichts Gutes. Xi Jinping wird den
starken Staatsmann herauskehren wollen und keinen chinesischen Gorbatschow. Die
Implosion der Sowjetunion steht mahnend im Hintergrund des politischen Geschehens.
Wenn aber die Sicherheitspolitik gegen das eigene Volk gerichtet ist, dann hat das
langfristig fatale Konsequenzen, besonders für Krisenregionen wie Tibet und Xinjang. Die
derzeitige Situation in Syrien zeigt ein trauriges Gegenwartsszenario dieser nach innen
gerichteten Gewaltpolitik. Die beiden autoritären Staaten Russland und China blockieren
als Mitglieder des Weltsicherheitsrates einen politischen Lösungsprozess in Syrien, weil
sie ihre eigene innere Politik dadurch gefährdet wissen.

 Da ist es nur Hohn, wenn der Leiter der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik
 (DGAP), der Politikwissenschaftler und China-Experte Eberhard Sandschneider meint,
„Menschenrechtspolitik ist eine westliche Schwäche, ist westliche Selbstfesselung
 in einer amoralischen Welt voller harter Interessenspolitik“. Er spricht sogar wörtlich
 von einer „Zelebrierung überkommener westlicher Überlegenheit gegenüber der
 chinesischen Regierung“. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber ein Akzeptieren von
 Menschenrechtsverletzungen und Unrechtsregimen. Alles nur, um eine scheinbare
 Stabilität in diesen Regionen aufrechtzuerhalten und um den Marktzugang nicht zu
 verlieren. Eine gleichwertige Partnerschaft, auch zwischen politisch sehr unterschiedlichen
 Staatsformen, bedeutet letztlich nicht ein Wegsehen und Übersehen von Klepto-, Theo- und
 Autokraten, sondern mutiges Eintreten für Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
 Langfristig ist diese aufrechte Politik die vielversprechendere. Die unterdrückten Völker,
 und in unserem Falle die Tibeter, werden es nicht nur danken sondern sich gestärkt in
 ihrem Freiheitskampf wissen.

Gemeinsam. Stark. Für Tibet.

Ihr

Wolfgang Grader
Vorsitzender
Tibet Initiative Deutschland e.V.
Mehr als 100 Selbstverbrennungen Unterwegs im historischen Tibet (Teil 1) Interview mit Prof. Valeria Gärtner 10. März - Flagge zeigen für ...
INHALT

   4    Nachrichten

   7    Unterwegs im historischen Tibet (Teil 1)
        Impressionen aus Kham und Amdo

   15 Interview mit Prof. Valeria Gärtner

                        © TID

   18 Kurzinterview mit Ringu Tulku Rinpoche

   19 Von Selbstopfern, Ursachen und Wirkungen
      Kommentar von Andreas Hilmer

   21 Aktionen

   25 Politik

   27 Termine

Impressum

Brennpunkt TIBET wird herausgegeben von                   Druck: Druckerei Holler, Karlsruhe
der Tibet Initiative Deutschland e.V. und                 Gedruckt auf Recyclingpapier
erscheint vierteljährlich.                                Auflage: 2.500

Chefredakteur: Klemens Ludwig                             Redaktionsschluss Nr. 3/2013:
                                                          24.06.2013
Redaktion: Nadine Baumann, Gangdab
Duchung, Iris Fricke, Wolfgang Grader, Anja               Tibet Initiative Deutschland e.V.
Scheer                                                    Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin
                                                          Tel.: 030/420815-21
Mitarbeiter dieser Ausgabe: Thomas                        Fax: 030/420815-22
Brüninghaus, Andreas Hilmer, Anna                         E-Mail: office@tibet-initiative.de
Momburg-Vanderpool, Kerstin Ziemann
                                                          Einzelpreis: 3 €, Jahresabonnement
Grafische Gestaltung & Herstellung:                       (vier Ausgaben inkl. Versand): 12 €
Sigrid Herring                                            Freiwilliger Förderbetrag: 24 €

Titelbild: TID/Amdo Sonam, Europademo in                  Der Bezugspreis ist für TID-Mitglieder
Brüssel am 10. März 2013                                  im Mitgliedsbeitrag enthalten.

Die Tibet Initiative Deutschland (TID) ist die älteste und größte deutsche Tibet-Organisation und setzt sich
seit ihrer Gründung 1989 für das Selbstbestimmungsrecht des tibetischen Volkes sowie die Wahrung der
Menschenrechte in Tibet ein. Mit bundesweit fast 60 ehrenamtlichen Regionalgruppen/Kontaktstellen und          3
nahezu 2.000 Mitgliedern gibt sie Tibet eine starke Stimme.
Mehr als 100 Selbstverbrennungen Unterwegs im historischen Tibet (Teil 1) Interview mit Prof. Valeria Gärtner 10. März - Flagge zeigen für ...
NACHRICHTEN

    Über 100 Selbstverbrennungen                            Selbstverbrennungen sowie die tibetische Flagge
                                                            gefunden worden waren.
    Die Zahl der Selbstverbrennungen hat im Februar             Am 2. März wurden weitere drei Tibeter in
    die Grenze von 100 überschritten. Dazu kursieren        Kanlho (Kham) wegen nicht näher beschriebe-
    unterschiedliche Zählungen. Das internationale Tibet    ner „Beziehungen zu der fortdauernden Welle der
    Netzwerk (ITN) geht von 107 Tibetern aus, die sich      Selbstverbrennungen“ zu 15, 11 und 10 Jahren
    bis Anfang März 2013 aus Protest gegen die chinesi-     Gefängnis verurteilt. Radio Free Asia zufolge fand
    sche Besetzung und die anhaltende Unterdrückung         der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit
    selbst verbrannt haben. Nach Informationen der          und unter extremen Sicherheitsbedingungen statt.
    Rangzen Alliance, eine Organisation, die sich für die
    Unabhängigkeit Tibets einsetzt, haben bis zu dem
    Zeitpunkt 114 Tibeter den freiwilligen Feuertod ge-     Lange Haftstrafen
    sucht. In Nepal und Indien übernehmen ebenfalls
    vereinzelt Tibeter diese Form des Protests.             wegen „Beziehungen zu der
         Auch wenn die chinesische Regierung mit ei-
    ner immer dichteren Polizeipräsenz und Repression       fortdauernden Welle
    gegen die vermeintlichen Unterstützer diese
    Protestform zu unterbinden versucht, weil sie ih-       der Selbstverbrennungen“
    rem internationalen Ansehen schadet, wählen
    die Menschen vor allem im Osten Tibets weiter-
    hin den freiwilligen Flammentod. Die meisten sind       Die Sicht der KP
    kaum älter als zwanzig Jahre. Zu den staatlichen
    Repressionsmaßnahmen zählen inzwischen auch             Die Kommunistische Partei (KP) hält weiterhin an
    Schnellprozesse.                                        der Behauptung fest, dass der Dalai Lama hinter den
                                                            Selbstverbrennungen stehe. Am 1. März veröffent-
                                                            lichte die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua
    Harte Urteile gegen                                     die Meldung, der Dalai Lama habe einen Online-
    Selbstverbrennungen                                     Ratgeber für Selbstverbrennungen herausgegeben,
                                                            in dem er seine Landsleute auffordere, Selbstmord
    Am 31. Januar wurden in Ngaba (Provinz Kham)            zu begehen. Zudem enthalte der Ratgeber genaue
    zwei Tibeter zu drakonischen Strafen ver-               Angaben, wie eine solche Aktion geplant und umge-
    urteilt, weil sie angeblich acht Personen zu            setzt werden könne. Dabei sollten möglichst beson-
    Selbstverbrennungen angestiftet hätten, darunter        dere Tage und Orte gewählt werden, um die größte
    der 40-jährige Mönch Lobsang Kunchok aus dem            Wirkung zu erzielen. Tibetische Parlamentarier wie-
    Kloster Kirti, wo die Proteste im April 2011 begon-     sen dies entschieden zurück.
    nen hatten. Lobsang Kunchok wurde zum Tode ver-
    urteilt, mit zweijährigem Vollstreckungsaufschub.
    Vermutlich wird er nach Ablauf der Frist zu einer       Qualvoller Tod nach Demonstration
    lebenslangen Haftstrafe „begnadigt“. Sein Neffe
    Lobsang Tsering erhielt eine zehnjährige Haftstrafe.    Im März 2012 hatten 50 Mönche aus dem Kloster
         Am gleichen Tag wurden in der Autonomen            Shingtri nahe Xining in Amdo öffentlich die Rückkehr
    Präfektur Kanlho (Kham) vier Männer und zwei            das Dalai Lama und Freiheit für Tibet gefordert
    Frauen zu Haftstrafen zwischen drei und zwölf           und dabei auch die tibetische Flagge gezeigt. Sie
    Jahren verurteilt, weil sie am 23. Oktober 2012         wurden umgehend verhaftet. Daraufhin versam-
    Menschen, die sich selbst angezündet hatten, an-        melten sich über tausend Menschen friedlich vor
    geblich gegen die einschreitenden Sicherheitskräfte     der Polizeistation, um die Freilassung der Mönche
    abgeschirmt hätten. Bei vier von ihnen lautete die      zu erwirken. Stunden später stürmten plötzlich
    Anklage auf Totschlag.                                  Polizeikräfte mit Tränengas und Handgranaten aus
         In der Provinz Amdo (chin. Qinghau) wurde am       dem Gebäude und gingen mit äußerster Brutalität ge-
    7. Februar gegen 12 Personen Haftbefehl erlassen,       gen die Demonstranten vor. Dabei wurde ein zwölf-
    weitere 58 wurden ohne Haftbefehl ins Gefängnis         jähriger Junge getötet und der 35-jährige Gyering
    gebracht.                                               Thar schwer verletzt. Der zweifache Familienvater
         Der 20-jährige Thangkamaler-Schüler Ngawang        starb nun an seinen schweren Gehirnverletzungen,
    Topden wurde am 22. Februar zu zwei Jahren              die er durch den Polizeieinsatz davongetragen hat-
    Haft verurteilt, weil auf seinem Handy Bilder von       te. Seitdem konnte er nicht mehr sprechen und in

4
Mehr als 100 Selbstverbrennungen Unterwegs im historischen Tibet (Teil 1) Interview mit Prof. Valeria Gärtner 10. März - Flagge zeigen für ...
NACHRICHTEN

den letzten Monaten auch keine Nahrung mehr zu
sich nehmen. Drei Gehirnoperationen änderten da-
ran nichts.

Jahresbericht zur Menschenrechtslage
in Tibet

Am 17. Januar veröffentlicht das Tibetische Zentrum
für Demokratie und Menschenrechte (TCHRD)
seinen Jahresbericht 2012. Darin heißt es: „Die
Lage der Menschenrechte in Tibet erreichte einen
Rekord-Tiefstand.“ Neben der allgegenwärtigen
Überwachung listet der Report eine Vielzahl von
willkürlichen Festnahmen, Haft und Folter auf. Auch
die massive Einschränkung der Religionsfreiheit
und das Verbot, die eigene Sprache zu benutzen,
werden angeprangert.

„Die Lage der                                                 Lobsang Gyaltsen

 Menschenrechte in Tibet
                                                        Schriftstellerin Tsering Woeser, die noch hinzufügte:
 erreichte einen Rekord-                               „Alle Offiziellen auf der Ebene vertreten dieselben
                                                        Positionen.“
Tiefstand“                                                   In einer Erklärung zu seinem Amtsantritt er-
TCHRD Jahresbericht 2012                                klärte Gyaltsen, er sehe seine wichtigste Aufgabe
                                                        darin, „soziale Stabilität“ zu garantieren, damit
                                                       „Entwicklung und Wohlstand“ in der Region voran-
                                                        schreiten.
Neuer Gouverneur in Tibet

Nach chinesischer Verfassung müssen die fünf           100. Jahrestag der Unabhängigkeit
sogenannten Autonomen Provinzen innerhalb
der Volksrepublik von einem Gouverneur ge-             Am 13. Februar 1913 erklärte der 13. Dalai Lama
führt werden, der dem ursprünglichen ethnischen        in Lhasa offiziell die Unabhängigkeit Tibets. In
Mehrheitsvolk angehört. Das gilt selbst dann, wenn     den zwei Jahrhunderten zuvor hatten chinesische
dies längst zur Minderheit geworden ist, wie in der    Truppen der Mandschu-Dynastie einen gewissen
Inneren Mongolei, wo die Mongolen kaum noch 15         Einfluss auf die tibetische Außenpolitik ausgeübt,
Prozent der Bevölkerung ausmachen.                     doch mit dem Sturz des Kaisers in Peking erhoben
     Bei dem scheinbar liberalen Gesetz handelt es     sich im März 1912 tibetische Verbände in Lhasa
sich jedoch nur um eine plakative Maßnahme. Die        gegen die Fremdherrschaft. Es gelang ihnen, die
eigentliche Macht liegt in der Hand des regionalen     chinesischen Soldaten vom Dach der Welt zu ver-
KP-Vorsitzenden, der fast immer Chinese ist.           treiben. Während der Zeit befand sich der 13. Dalai
     Nun hat die Führung einen neuen Gouverneur        Lama im nordindischen Darjeeling im Exil. Nach
für Tibet ernannt. Es handelt sich um den früheren     der Befreiung kehrte er zurück und proklamier-
Bürgermeister von Lhasa, Lobsang Gyaltsen. Er          te schließlich die Unabhängigkeit. Allerdings ver-
löst Padma Choling ab. Offizielle Gründe für den        säumte er es, sich um internationale Anerkennung
Amtswechsel wurden nicht genannt.                      zu bemühen.
     Der 55-jährige Lobsang Gyaltsen gilt als               100 Jahre später feierten Tibeter und ihre
Vertreter einer harten Linie. Von ihm wird nicht er-   Unterstützer in allen Teilen der Welt dieses wichti-
wartet, dass er sich gegenüber der Zentralregierung    ge Datum der jüngeren Geschichte. Der Tibetische
für eine Abkehr von der bisherigen Politik einsetzt.   Jugendkongress hatte seine Mitglieder u. a. auf-
In diesem Sinne äußerte sich auch die tibetische       gerufen, die tibetische Flagge zu hissen und eine

                                                                                                                5
Mehr als 100 Selbstverbrennungen Unterwegs im historischen Tibet (Teil 1) Interview mit Prof. Valeria Gärtner 10. März - Flagge zeigen für ...
NACHRICHTEN

                                                         etwas Konstruktives für die Zukunft der Menschen
                                                         in Tibet machen.
                                                              Vier Tibeter, zwei Männer und zwei Frauen, wur-
                                                         den im Zusammenhang mit der Selbstverbrennung
                                                         am 28. Februar festgenommen, ohne dass die
                                                         Polizei Gründe dafür bekanntgab.

                                                         Preis für Tsering Woeser

                                                         Die tibetische Schriftstellerin Tsering Woeser er-
                                                         hielt am 8. März, dem internationalen Frauentag,
                                                         den International Women‘s Courage Award für ih-
                                                         ren besonderen Mut. Der Preis wird seit 2007 vom
                                                         US-amerikanischen Außenministerium an Frauen
                                                         vergeben, die ein hohes persönliches Risiko ein-
                                                         gehen, um Gerechtigkeit und Menschenrechten zur
                                                         Durchsetzung zu verhelfen. Bei der Zeremonie wa-
                                                         ren der neue US-Außenminister John Kerry sowie
                                                         die First Lady Michelle Obama anwesend; Tsering
                                                         Woeser allerdings nicht, da die chinesischen
                                                         Behörden nach wie vor die Ausreise verweigern.
                                                         Insgesamt wurden zehn Frauen ausgezeichnet.

                                                         „Tsering Woeser geht ein
    S.H. der 13. Dalai Lama
                                                          hohes persönliches Risiko
                                                          ein, um Gerechtigkeit und
    Kopie der Unabhängigkeitserklärung an repräsen-
    tative Vertreter und Abgeordnete in den jeweiligen    Menschenrechten zur
    Ländern zu übergeben. Zudem sollte vor chinesi-
    schen Botschaften und Konsulaten auf das Ereignis     Durchsetzung zu verhelfen“
    aufmerksam gemacht werden.
                                                         US-Außenministerium

    Selbstverbrennung und Willkür in Nepal
                                                         Tsering Woesers Buch „Ihr habt die Gewehre. Ich
    Am 100. Jahrestag der tibetischen Unabhängigkeit     einen Stift“ ist 2009 im Lungta-Verlag, dem Verlag
    setzte sich der 25-jährige Mönch Drupchen Tsering    der Tibet Initiative Deutschland, erschienen.
    in Nepals Hauptstadt Kathmandu selbst in Brand,
    um gegen die brutale Unterdrückung in seiner
    Heimat zu protestieren. Sofort waren Polizisten
    zur Stelle, löschten das Feuer und nahmen den
    Schwerverletzten in Gewahrsam. Kurze Zeit
    später erklärten sie jedoch, dass er an seinen
    Brandverletzungen gestorben sei. Daraufhin forder-
    ten die Tibeter die Herausgabe des Leichnams, um
    ihn nach buddhistischer Tradition zu bestatten und
    Gebet zu sprechen. Die nepalischen Behörden wei-
    gerten sich, dem nachzukommen.
         Drupchen Tsering stammt aus der Provinz
    Kham und war erst im Januar in Nepal eingetroffen.
    Verwandten und Freunden hatte er erzählt, er wolle                                           © Lungta Verlag

6
Mehr als 100 Selbstverbrennungen Unterwegs im historischen Tibet (Teil 1) Interview mit Prof. Valeria Gärtner 10. März - Flagge zeigen für ...
SCHWERPUNKT

Unterwegs im historischen
Tibet (Teil 1)
Impressionen aus Kham und Amdo

                                                                                                © TID

Studierende vor dem Lehrgebäude in Larung Gar

Reiseziel Osttibet: Warum und Wie?                  Sprachkenntnisse verfügt und damit zumindest ein
                                                    größerer Teil der tibetischen Bevölkerung auch ge-
Der folgende zweiteilige Bericht zu einigen aus-    sprächsweise zugänglich ist. Andererseits reichen
gewählten Reisezielen in Kham und Amdo beruht       oftmals auch bloße Gestik, Mimik oder ein „Tashi
auf individuellen Unternehmungen der Autoren in     delek“, um einen freundlichen und oft sehr herzli-
der Zeit nach den Olympischen Spielen in Beijing    chen Kontakt herzustellen. Somit beruhen die fol-
2008. Sofern auf personenbezogene Fakten oder       genden Zeilen auf vielfältigen Begegnungen und
Ereignisse eingegangen wird, verzichten wir auf     persönlichen Impressionen.
identifizierbare Personen- oder Ortsangaben.              Ausgangspunkte für die Erschließung Ost-
Unsere vielen Gespräche und persönlichen            tibets waren für uns die Provinzhauptstädte Xining
Begegnungen mit Tibetern und Chinesen sind          (Amdo) und Chengdu (Sichuan). In beiden Städten
dem nicht zu unterschätzenden Vorteil geschul-      sind tibetische Wohn- und Geschäftsviertel er-
det, dass immerhin einer von uns über chinesische   halten geblieben, und hier ist es möglich, erste

                                                                                                         7
SCHWERPUNKT

    Begegnungen mit den kulturellen Besonderheiten
    der Tibeter zu machen. Außerdem sind beide Städte
    verkehrsmäßig gut mit Bahn, Bus und Flugzeug er-
    reichbar. Das hektische aber sehr wohl reizvolle
    Großstadttreiben lässt man hinter sich, sobald man
    sich auf den Weg in die regelmäßig kleinstädtische
    und beschaulichere osttibetische Provinz begibt.
    Als Fortbewegungsmittel standen uns öffentliche
    Busse und private Sammeltaxis zur Verfügung.
         Wir hatten bereits Ende der 1980er und Anfang
    der 1990er Jahre die sogenannte Autonome Region
    Tibet (TAR) bereist und konnten schon damals die
    Auswirkungen der konsequent vorangetriebenen
                                                                                                                 © TID
    Sinisierungspolitik Chinas mit ihren ersten Folgen
    für die dort ansässige tibetische Bevölkerung er-       Blick aus Jyekundo mit Sakyapa-Kloster Dondrubling
    kennen und sie perspektivisch als katastrophal für
    Kultur und Religionsausübung der Tibeter einschät-      Amdopas grenzen sich seit alters her von den
    zen. Die spätere Entwicklung hat diese Vorahnung        Bhotpas (Tibet-Menschen) der Zentralregion um
    bedauerlicherweise noch übertroffen. Da uns das         Lhasa und den westlichen Siedlungsgebieten
    Thema Tibet einschließlich des damit untrennbar         (Ü-Tsang) ab. Ein erkennbares und sogar wach-
    verbundenen tibetischen Buddhismus, aber auch           sendes gesamttibetisches Nationalbewusstsein ist
    die sichtbare Verletzbarkeit des Ökosystems in          sicherlich auch weitgehend der völkerrechtwidri-
    der Himalaya Region sehr am Herzen lagen, such-         gen Besetzung durch die „Volksbefreiungsarmee“
    ten wir angesichts der ausweglos erscheinenden          geschuldet. Derzeit sind nach weitgehend will-
    Situation im chinesisch definierten Tibet nach al-       kürlichem chinesischem Geographieverständnis
    ternativen Destinationen und fanden diese nördlich      diese historischen tibetischen Herrschafts- und
    und östlich der TAR in Kham und Amdo.                   Kulturbereiche den Provinzen Sichuan (1,2 Mio.
                                                            Tibeter), Qinghai (1,0 Mio.), Gansu (0,4 Mio.) und
                                                            Yunnan (0,2 Mio.) zugeschlagen.
                                                                  Für den Reisenden bedeutet diese Zer-
    Wir konnten schon Ende                                  splitterung auch, dass er sich auf unterschiedli-
                                                            che bürokratische und polizeiliche (Public Security
    der 1980er Jahre die                                    Bureau/PSB) Überwachungsstrategien einstellen
                                                            muss. Sowohl kleinliche Einschränkungen als auch
    Auswirkungen der kon-                                   regelverletzende Duldungen können den gewähl-
                                                            ten Routen eine überraschende Wendung besche-
    sequent vorangetriebe-                                  ren. Nach unseren langjährigen Erfahrungen ist
                                                            Willkürverhalten wohl die zutreffendste Bezeichnung
    nen Sinisierungspolitik                                 für dieses landestypische Phänomen, das bei jeder
                                                            Reiseplanung im heutigen Osttibet im Voraus be-
    Chinas mit seinen ersten                                dacht werden muss.

    Auswirkungen auf die tibeti-                            Der Sichuan-Tibet-Highway
                                                            (Chengdu – Kandze – Larung Gar /
    sche Bevölkerung erkennen                               Serthar – Jyekundo)

                                                            Eine unserer streckenaufwändigsten Routen führ-
    Kham und Amdo – geografisch                              te von der Provinzhauptstadt Chengdu über den
                                                            nördlichen Sichuan-Tibet-Highway nach Jyekundo
    Was die chinesische Regierung heute als Tibet de-       (chin. Yushu). Dort sollte das jährlich stattfindende
    finiert, ist bekanntlich nur ein Teil des historischen   Nomadenfest – quasi der Höhepunkt unserer Tour
    Tibet, das sich weit im Norden und Osten der TAR        – unseren fotografischen Ambitionen als Kulisse
    ausbreitete und in der Vergangenheit zu immer wie-      dienen. Trotz Recherche im Internet und an weite-
    derkehrenden Streitigkeiten bei der Grenzziehung        ren Informationsquellen vor Ort war nicht definitiv in
    zu China führte. Die dort lebenden Khampas und          Erfahrung zu bringen, ob die Veranstaltung in diesem

8
SCHWERPUNKT

Jahr zugelassen oder verboten sein würde (wie im        außerordentlich ambivalente Flair dieser Stadt aus
Jahr zuvor). Die Reiseplanung war jedenfalls auf        nahezu 100 Prozent Beton im Zentrum und des-
den vermeintlichen Termin ausgerichtet und hat uns      sen ungeachtet einem Straßenleben mit nahezu
von einigen attraktiven Plätzen voreilig Abschied       100 Prozent tibetischer Bevölkerung in traditioneller
nehmen lassen. Umsonst – das Nomadentreffen             Kleidung sollte schon bald der Erinnerung angehö-
war wegen der vergangenen Unbotmäßigkeiten der          ren.
Tibeter von der Obrigkeit verboten.                          Ein verheerendes Erdbeben der Stärke 6,9
     Dennoch war Jyekundo die weite Anreise             hat Jyekundo am 14. April 2010 nahezu vollstän-
wert, allein schon wegen der engen und herzlichen       dig zerstört. Die aus getrocknetem Lehm gebau-
Kontakte zu den tibetischen Altstadtbewohnern,          ten Häuser der Tibeter hatten keinerlei Chance,
deren tägliche Kora um eine liebevoll gepflegte          viele Menschen kamen zu Schaden, nahezu 3.000
Manisteinmauer wir uns zur Freude aller zu Eigen        wurden getötet. In kürzester Zeit hat die zuständi-
machten. Die dort entstandenen Fotos ließen sich        ge Regierung beschlossen, die Stadt als ökologi-
in einem chinesischen Eckladen im Stadtzentrum          sches Touristenzentrum wiederaufzubauen. Für
problemlos über Nacht ausdrucken, und wir konn-         die ehemaligen Bewohner ist damit ihre Heimat in
ten sie am nächsten Tag zur großen Überraschung         Gefahr, denn sie wurden von ihren angestammten
und ehrlichen Begeisterung aller Anwesenden unter       Wohngebieten unterhalb des Klosters nun an die
Mühen einigermaßen gerecht verteilen. ´                 Stadtränder abgedrängt. Derzeit ist Jyekundo für
     Diese Geste hat uns gelegentlich die Herzen        Fremde nicht zugänglich. Unsere Aufnahmen die-
der Einheimischen ein wenig erobern lassen, da sie      ses einst so lebendigen Handelszentrums kurze Zeit
sich offensichtlich als Personen durch uns wertge-      vor der Katastrophe sind im Nachhinein zu traurigen
schätzt sahen und ihr Bild nicht nur auf den Displays   Dokumenten der Spurensicherung geworden.
der modernen Digitalkameras für einen Augenblick             Auf der Wegstrecke zurück nach Chengdu fas-
betrachten durften – wie das die vermeintlich ein-      zinierten uns Orte wie die ehemalige und mächti-
fühlsamen Touristen heute gerne praktizieren.           ge Königsresidenz Dege mit dem „Schatzhaus der
Wiederkommen und etwas zurückgeben wollen ist           tibeto-buddhistischen Kultur“, d. i. die „Druckerei
                                                        der glücksbringenden und gesammelten Wahrheit“
                                                        (Ludwig/Senft S. 229), das abgeschieden gelegene
                                                        Kloster Sershul (Gelugpa), das sich in der jüngeren
                                                        Vergangenheit auch um den Schutz der tibetischen
                                                        Muttersprache bemüht hat, oder die ehemalige
                                                        Hauptstadt eines Bön-Königreiches Kandze (Ganzi)
                                                        an der legendären Teestraße, mit einem beeindru-
                                                        ckenden, über der Stadt gelegenen einflussreichen
                                                        Gelug-Kloster.

                                                        Der China-Tibet-Highway (Xining–
                                                        Repkong-Ngawa-Dzamtang)

                                                        Xining, die Provinzhauptstadt von Amdo (Qinghai),
                                                        bietet einen ähnlich vorteilhaften Zugang zur bud-
                                                © TID
                                                        dhistischen Kultur und Lebensart im Norden, wie
Novizen vor dem Gelugpa-Kloster Sershul                 wir das erlebt und beschrieben haben für Chengdu
                                                        von der östlichen Richtung. Der lebendige und
nach und nach, zunächst unmerklich, zum eigentli-       gut sortierte Basar unmittelbar in der Nähe des
chen Antrieb für unsere Reisen geworden.                Hauptbahnhofes lädt ein zum Kauf von Tibetika
    Das exponiert oberhalb der Stadt gelege-            und buddhistischen Devotionalien, was besonders
ne Kloster Dondrubling (Sakyapa) war nicht nur          von der nomadischen Provinzbevölkerung genutzt
eine beeindruckende Baustelle, sondern auch             wird. Der Besuch des berühmten Klosterkomplexes
für Besucher geschlossen, weil gerade am Tag            Kumbum Jampaling (chin. Taer Si) wurde dagegen
unseres Besuchs die Klosterferien begannen.             aufgrund der kommerziellen Vermarktung und dem
Schließlich jagte uns ein aggressives Hunderudel        Aufkommen des chinesischen Tourismus mit allen
zurück auf den steilen Fußweg in die chinesische        negativen Begleiterscheinungen zu einem nahezu
Neustadt mit ihren mehrstöckigen, gesichtslosen         traumatischen Erlebnis.
Zweckgebäuden aus Beton und Glasfassaden. Das

                                                                                                                9
SCHWERPUNKT

     Viel entspannter war die unproblematische Fahrt         sich hinwerfend begehen können. Die baulich und
     mit Bus und Taxi zum Geburtsort des 14. Dalai Lama      räumlich integrierte Klosteruniversität mit mehre-
     über Ping An nach Taktser. Die Fahrt führt durch        ren Fakultäten (Medizin, Philosophie, Tantrik und
     typische tibetische Bauerndörfer, die sich in der       Kalachakra-Lehre) bestimmt durch etwa 1.000
     Erntezeit das Dreschen des Getreides noch durch         Mönchsstudenten die angenehme, aber auch als
     die vorbeifahrenden Fahrzeuge auf der Straße be-        geschäftig empfundene Atmosphäre.
     sorgen lassen. Das große Tor zum Geburtshaus
     ist drapiert mit vielen weißen Khatags, die Pilger
     als Zeichen der Verehrung zurückgelassen haben.         Das chinesische Militär hat
     Eine Hausbesichtigung war wohl wegen der fort-
     geschrittenen Tageszeit nicht mehr möglich, soll        sich seit langem
     aber nach Auskunft des fürsorglichen Taxifahrers
     zu anderen Zeiten machbar sein. Eine Präsenz            mitten in der Stadt mit
     von PSB-Angehörigen war nicht erkennbar.
          Die erste größere Provinzstadt begeg-              Kasernen, Übungs- und
     net uns etwa 200 km südlich von Xining mit
     Repkong (chin. Tongren; etwa 80.000 Einwohner).         Exerzierplätzen etc. für
     Beeindruckend großflächig stellt sich das bedeu-
     tende Gelugpa-Kloster Rongpo Gonchen dar, das           jedermann sichtbar breit
     am späten Abend eine traumhafte Kulisse für die
     rituellen Rezitationen und die anschließenden           gemacht.
     Disputationen der Mönche einschließlich Novizen
     bietet. Unweit der Stadt hat sich in einigen Klöstern
     die tibetisch-buddhistische Wuton-Kunsttradition        Unsere mehrmaligen Besuche von Labrang/Xiahe
     (Mendri Malstil), seit dem 15. Jh. erhalten, die ver-   über rund zehn Jahre hinweg lassen uns aller-
     schiedene Stilelemente der Mongolei und Chinas          dings befürchten, dass der dynamisch ansteigen-
     mit einbezieht. Der farbenfreudige und extrem fei-      de Massentourismus in China auch diese für alle
     ne Malstil der Wuton-Künster erfreut sich allgemein     Tibeter heilige Stätte zu einem bloßen exotischen
     hoher Wertschätzung. Die Kunstwerke – weitge-           Reiseziel verkommen lässt; Luxushotel- und
     hend Thangkas – können direkt in den Ateliers zu        Straßenbau waren in den vergangenen Jahren in
     angemessenen Preisen erworben werden.                   Xiahe an der Tagesordnung.
          In letzter Zeit hat die Stadt Repkong mehrfach          Unmittelbar an der Nationalstrasse 213 gele-
     durch Studenten- und Schülerdemonstrationen             gen bietet die Kleinstadt Tagtshang Lhamo (chin.
     auf sich aufmerksam gemacht, bei denen es               Langmusi) ein typisches Beispiel für die Beseitigung
     um die Beibehaltung der tibetischen Sprache             der barbarischen Auswirkungen der sogenann-
     als Haupt- und Erstsprache ging. Auch einige            ten „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ von
     Selbstverbrennungen sind in den vergangenen             1966 – 1976. Zwei eindrucksvolle, sich unmittelbar
     Monaten aus Repkong gemeldet worden, meist auf          gegenüberstehende Gelugpa-Klöster erscheinen
     dem überdimensionierten Aufmarschgelände vor            im prächtigen Glanz eines makellosen Neubaus,
     dem Rongpo-Kloster. Das chinesische Militär hat         gleichsam eine goldglänzende Tempelanlage in
     sich seit langem mitten in der Stadt mit Kasernen,      unwirtlicher Umgebung; die Zerstörungen der
     Übungs- und Exerzierplätzen etc. für jedermann          Kulturrevolution (und sicher auch aus davor-
     sichtbar breit gemacht.                                 liegenden Zeiten) sind nicht mehr erkennbar.
          Wir wählten für die weitere Erschließung des       Kurioserweise verläuft die Grenze zwischen den
     historischen Amdo die in Nord-Süd-Richtung ver-         Provinzen Gansu und Sichuan mitten durch die
     laufende Nationalstraße 213, die Lanzhou (Provinz       Klosteranlagen. Auch hier hat sich ein lebendi-
     Gansu) und Chengdu (Sichuan) verbindet. Die             ger Tourismus breit gemacht, der aber noch weit-
     Klosterstadt Labrang Tashikyil bei der Kleinstadt       gehend die vergleichsweise junge chinesische
     Xiahe liegt etwas abseits der Hauptroute (west-         Backpacker-Szene erfasst.
     lich), ist aber verkehrsmäßig gut angebunden.                Um das angestrebte Hauptziel unserer Reise,
     Hier begegnen uns zahlreiche einzelne Pilger und        die weit abgelegene Provinzstadt Ngawa (chin.
     von weit angereiste Pilgergruppen, die weitgehend       Aba) zu erreichen, müssen wir die Nationalstraße
     unbehelligt von chinesischen Touristen (üblich ist      in westlicher Richtung verlassen. Durch endlo-
     das „Nachäffen“ und dies im Foto festzuhalten)          ses Bauern- und Nomadenland, vorbei an zahl-
     die kilometerlange Kora laufend, mantrierend oder       losen Yakherden und abgelegenen Klöstern,

10
SCHWERPUNKT

                                                                                                  © TID

Pilgerrast bei der Kora (Ngawa)

bringt uns der öffentliche Bus, besetzt mit einer   jedoch gelungen wäre, auch die Glaubenskultur
großen Mönchsgesellschaft, nach einer längeren      nachhaltig zu unterdrücken. Nach 1980 mach-
Reifenpanne zu unserem so ersehnten Reiseziel       te sich insbesondere der 10. Panchen Lama, ein
Ngawa.                                              Amdopa, nach seiner Haftentlassung verdient
    Diese außergewöhnliche Kleinstadt beher-        um den Wiederaufbau aller Klöster in Ngawa. Als
bergt einen Mikrokosmos des gesamten tibeti-        Symbolfigur tibetischer Identität wird er von allen
schen Glaubensspektrums. Alle religiösen Schulen    Tibetern verehrt, und sein Abbild wird von sämt-
sind vertreten, neben den auch sonst verbreite-     lichen Schultraditionen an prominenter Stelle
ten Gelugpa, Sakyapa, Kagyüpa und Nyingmapa         ihres Klosters präsentiert. Für den westlichen
ebenso die Yungdrung-Bön und der Neue Bön;          Besucher hinterlässt diese einzigartig vielfälti-
selbst die von den Gelugpa verfolgten Jonangpa      ge Klosterwelt einen Eindruck von tibetisch-bud-
haben hier ein geschütztes Refugium gefunden.       dhistischer Üppigkeit bei den Neubauten und von
    Insgesamt versorgt die Stadt Ngawa nebst        unbeeinträchtigter Zukunftsperspektive bei den
18 kleineren Dörfern 43 Klöster, davon ist si-      allgegenwärtigen Baustellen. Das gilt allerdings
cherlich Kirti-Gompa (Gelugpa) das traditions-      nur mit Einschränkung für das einige Kilometer
trächtigste, mit über 20 Tulkus, 2.000 Mönchen      nördlich von Ngawa gelegene Nonnenkloster
und Novizen das größte und über die zahlreichen     Mani (Gelugpa), das offensichtlich mit deutlich be-
Selbstverbrennungen der vergangenen Monate          scheidener Finanzausstattung über die Runden
auch das mit einem weltweiten so sicherlich         kommen muss. Die Herzlichkeit, die uns hier in
nicht erwünschten höchsten Bekanntheitsgrad.        der auf einem Berghügel exponiert gelegenen
Schon Maos Rotarmisten und später die Rebellen      Klosteranlage entgegengebracht wurde, waren
der Kulturrevolution zerstörten systematisch        außergewöhnlich und haben uns tief beeindruckt.
die klösterlichen Anlagen, ohne dass es ihnen

                                                                                                          11
SCHWERPUNKT

                                                           (TAP) Ngawa ist typisch chinesisch geprägt, bie-
     Schon Maos Rotarmisten                                tet aber – neben dem wiederaufgebauten 700
                                                           Jahre alten Karma-Kagyüpa-Kloster Dagen mit
     und später die Rebellen                               zahlreichen Meditationsklausen – im Hinblick
                                                           auf die fast vergessene Jonangpa-Tradition
     der Kulturrevolution zer-                             Außergewöhnliches. Eine gute Autostunde ent-
                                                           fernt, inmitten kaum besiedelten Graslandes of-
     störten systematisch die                              fenbart sich unversehens eine beeindrucken-
                                                           de weitläufige Klosterstadt, geprägt von viel-
     klösterlichen Anlagen,                                stöckigen Unterkünften für über 2.000 Mönche,
                                                           Tempelanlagen und Tschörten (Reliquienschreine)
     ohne dass es ihnen jedoch                             Nahezu alles ist neu errichtet bzw. im Bau be-
                                                           findlich; auch hier im abgelegenen Nomadenland
     gelungen wäre, auch die                               war die Zerstörung durch die Kulturrevolution to-
                                                           tal. Was sich als ein Großkloster darstellt, ist in
     Glaubenskultur nachhaltig                             Wirklichkeit ein Konglomerat von drei selbständi-
                                                           gen Klöstern, von denen das größte und wichtigs-
     zu unterdrücken                                       te Hauptkloster des Jonangpa-Ordens, Tsangwa-
                                                           Gompa, etwa 2.000 studierende Mönche beher-
     Die chinesische Militärpräsenz in Ngawa wird          bergt. Es war beeindruckend zu beobachten, wie
     der heimischen Bevölkerung schon am frühen            eine Meditation – für uns ungewohnt – auf einer
     Morgen durch Horden bewaffneter Soldaten, die         grünen Wiese vor dem Klosterkomplex stattfand
     im Laufschritt mit Gebrüll durch die noch leeren      und die Studierenden nach Beendigung mit bes-
     Straßen marschieren, unüberhörbar bewusst             ter Laune an uns vorbeimarschierten und sich
     gemacht. Das hoch ummauerte Polizeiquartier           gerne fotografieren ließen.
     (fotografieren streng verboten!) ist direkt am              Die Nähe der Buddhismusakademie Larung
     Eingang zum Großkloster Kirti platziert, so dass      Gar zu dem südlichsten Punkt (Dzamtang)
     optimale Kontrolle und Einsatzbereitschaft ge-        unserer Amdo-Reise hat einen weiteren
     währleistet sind. Zwischenzeitlich ist bekannt,       Besuchsversuch nahegelegt. Im Schutze öffentli-
     dass in diesem räumlichen Umfeld zahlreiche           cher Verkehrsmittel und besonders der mitreisen-
     Selbstverbrennungen stattgefunden haben.              den Nonnen und Mönche war er erfolgreich, und
          Heimlich     aufgenommene         Bilder   ei-   so konnten wir uns von den weiteren Fortschritten
     nes westlichen Journalisten der Haupt- und            dieser ehemaligen Buddhisten-Einsiedelei über-
     Durchgangsstraße von Ngawa vermitteln den             zeugen. Eine eindrucksvolle Versammlungshalle
     Eindruck von Bürgerkriegszustand, der nur mit         für Nonnen, ein mehrstöckiges Krankenhaus, ein
     extremer Präsenz von Uniformträgern bekämpft          exponiert gelegenes Gästehaus, die im Bau be-
     werden kann.                                          findliche Abwasserkanalisation etc. vermitteln
          Unser Aufenthalt in Ngawa war geprägt            den Eindruck einer funktionierenden und sich
     von mehreren persönlichen Begegnungen                 fortentwickelnden pan-buddhistisch-ökumeni-
     und Gesprächen mit Mönchen, Nonnen und                schen Hochschuleinrichtung – zumindest derzeit.
     Einheimischen, die tiefen Einblick sowohl in das           Auffällig war diesmal die in nur sehr kur-
     Alltags- als auch das Seelenleben eröffneten.         zer Zeit enorm gewachsene Zahl chinesischer
          Auf dem Weg zur nächsten Etappe (Dzamtang        Studierender. Für sie war ein eigenes Institut im
     / chin. Rangtang) liegt das völlig abgelegene, da-    unteren, talnahen Bereich von Larung-Gar errich-
     für umso spektakulärer wirkende Kagyüpa-Kloster       tet worden, und hier wurden die buddhistischen
     Sirin Kar (chin. Zengke Si) mit vier hochaufragen-    Studien in chinesischer Sprache abgehalten.
     den „Milarepa-Türmen“, die nach ihrer Zerstörung      Eine Wertung dieser Entwicklung fällt uns schwer
     durch die Chinesen ab 1996 wieder aufgebaut           – Zufluchtsort für die vielen, an Wertemangel lei-
     wurden. Der dort eifrig betriebene Straßenbau         denden jungen Chinesen, die Sinn und Antworten
     wird wohl in naher Zukunft dazu führen, dass die-     im Buddhismus zu finden hoffen oder eine neue
     se so authentisch erscheinende Noch-Idylle zu ei-     Sinisierungsbestrebung unter Ausnutzung später
     nem hochwertigen touristischen Highlight „ aufge-     leicht auf den rechten Weg zurückführbarer jun-
     wertet“ werden soll.                                  ger Menschen?
     Die abgelegene Verwaltungshauptstadt Dzam-
     tang in der Tibetischen Autonomen Präfektur

12
SCHWERPUNKT

                                                                                                     © TID

Abendliches Debattieren (Kloster Repkong)

 Auffällig war diesmal die in                          Verschuldung, Alkoholmissbrauch,       Kriminalität,
                                                       Prostitution etc.
 nur sehr kurzer Zeit enorm
                                                       Gesamtbetrachtung und Ausblick
 gewachsene Zahl chinesi-
                                                       Das Reisen in den Siedlungsgebieten des histori-
 scher Studierender                                    schen Tibets Kham und Amdo hat uns nachhaltig
                                                       begeistert und alle Erwartungen übertroffen, die
 Für den Rückweg zum Ausgangspunkt unserer             sich im Laufe der Planung ergeben hatten. Bei ei-
 Amdo-Reise, der Provinzhauptstadt Xining, wählten     nem Vergleich mit vergangenen Aufenthalten in
 wir die Straßen abseits der Fernverbindungen über     der sogenannten Autonomen Region Tibet erwei-
 Pedma (Baima), Darlag (Dari), Dawu (Maqin) und        sen sich die osttibetischen Gebiete in mancher
 Guide. Während der stundenlangen Tagestouren          Hinsicht als authentischer, zugänglicher und in
 blickten wir über nie enden wollendes Grasland,       gewisser Weise auch abenteuerlicher. Da wir als
 spärlich bevölkert von Nomadenclans mit ihren         Individualreisende unterwegs waren, entfiel jegliche
 ausladenden schwarzen Zelten und den dazugehö-        Gängelung durch staatliche Guides bzw. Aufpasser.
 renden weit verteilten Yak- und Ziegenherden. Ein     Konflikte mit den örtlichen Polizeiorganen (Public
 ernüchterndes Kontrastprogramm dazu stellen die       Security Bureau/PSB) waren vorauszusehen und
 keineswegs seltenen eintönigen Wohnsiedlungen,        sind mehrfach in teils massiver Art und Weise auch
 sogenannte „Neue Sozialistische Dörfer“, im abso-     eingetreten. Häufiger und kaum zu vermeidender
 luten Nirgendwo dar, die eine staatlich beschlosse-   Anlass ist der verbotene Aufenthalt in für (westli-
 ne Abschaffung des traditionellen Nomadentums bis     che) Reisende gesperrten Gebieten oder Städten,
 Ende 2015 durch Zwangansiedlung herbeiführen          da diese vorher nicht bekannt sind und sich auch
 sollen. Die unvermeidliche Folge: Arbeitslosigkeit,   nach aktueller „Sicherheitslage“ ergeben können.

                                                                                                              13
SCHWERPUNKT

     Die angedrohten einschneidenden Sanktionen           Als das eigentliche herausragende Faszinosum
     wie Geldstrafen und Landesverweis konnten            (auch) hier im osttibetischen Hochland erweist
     wir jeweils durch Einschaltung der Deutschen         sich für uns die von den Tibetern praktizierte
     Botschaft verhindern; offensichtlich ein proba-      Religionskultur im Kloster- wie im Alltagsleben.
     tes Mittel, das uns aber regelmäßig den Vorwurf      Der tief verwurzelte buddhistische Glaube der
     mangelnder Kooperationsbereitschaft einbrachte.      heimischen Bevölkerung wird dem fremden
     Eine Ermahnung und die anschließende polizei-        Besucher nahezu überall vermittelt: der Nachbar
     liche Verbringung aus der verbotenen Zone so-        bei der Busfahrt mantriert unermüdlich, im
     wie das Löschen unzulässiger Fotodateien sind        Krämerladen oder Restaurant die Bilder ihrer ver-
     Einschränkungen, die man als Westler (leider)        ehrten Rinpoches und Tulkus, die Marktfrauen
     hinnehmen muss.                                      mit der Gebetsmühle, die Niederwerfungen im
           Die Mobilität in den bereisten Gebieten war    Kloster oder bei der Kora etc. Die essentielle
     trotz (oder wegen) der dünnen Besiedlung immer       Bedeutung des Dalai Lama für die Khampas und
     gewährleistet und das zu ausgesprochen günsti-       Amdopas gleichermaßen lässt sich z.B. an den
     gen Tarifen. Längere Überlandfahrten starten ger-    mutig und selbstbewusst in den Tempeln darge-
     ne morgens um 6 Uhr und sind schon am Vortag         botenen Bildern des so schmerzhaft vermissten
     ausgebucht, so dass es ratsam erscheint, recht-      Religionsoberhauptes festmachen. Dies geschieht
     zeitig das Ticket zu sichern – wenn möglich ers-     trotz staatlichen Verbotes, aber (jedenfalls nach
     te Reihe wegen der deutlich besseren Sicht. Die      unseren Beobachtungen und Erkenntnissen) wohl
     Fahrer und ihre Beifahrer verhielten sich immer      auch mit Duldung der chinesischen Überwacher
     äußerst fürsorglich, und selbst Umwege extra für     – zumindest zeitweise und bei Wohlverhalten der
     uns Fremde waren nicht selten. Der Kontakt zu        Klostergemeinschaft ansonsten. Dass die meis-
     den Mitreisenden war meist sehr herzlich, und die    ten der Selbstverbrennungen seit Februar 2009
     Neugier sowohl der Tibeter als auch der Chinesen     (erstmals Kloster Kirti / Ngawa) in Osttibet außer-
     führte alsbald zu interessanten Gesprächen           halb der TAR zu beklagen sind, ist sicherlich auch
     und sogar kurzfristigen Freundschaften; kleine       ein trauriger Beleg für die Glaubensintensität und
     Mitbringsel werden mit echter Begeisterung ange-     Verzweiflung der Menschen vor Ort.
     nommen (z.B. Schneelöwe Tashi vom TID-Shop).              Die (Über-)Reaktionen der chinesischen
     Man sollte allerdings darauf achten, Geschenke nur   Administration auf diese Verzweiflungstaten führen
     in überschaubarem (tibetischen) Kreis zu überge-     aller Voraussicht nach für ausländische Besucher
     ben. Selbst das Symbol des grünen Schneelöwen        zu einer längerfristigen Sperrung von Orten wie
     ist in China und damit auch in Osttibet verboten.    Ngawa (Kirti), Repkong, Serthar (Larung Gar),
     Es gibt weder Tassen noch Essschalen mit diesem      Dzamthang und anderen oben besprochenen.
     beliebten Bild des Löwen, wohl aber mit den acht     Ein Ausblick oder gar eine Reiseempfehlung für
     buddhistischen Symbolen. Was der Unterschied         Tibetfreunde und –unterstützer muss derzeit be-
     ist? Der Löwe wird als separatistisches Symbol       dauerlicherweise abratend, zumindest abwartend
     betrachtet, er will das Schneeland vom chinesi-      ausfallen. Beschränkte Reisemöglichkeiten sind
     schen Mutterland trennen. Die buddhistischen         günstigenfalls in einer unter chinesischer Kontrolle
     Symbole sind in dieser Hinsicht hingegen unver-      stehenden Gruppe (mindestens sechs Personen
     dächtig. Wer dies nicht versteht, kann leicht zum    mit derselben Staatsangehörigkeit) möglich.
     Opfer der Sicherheitsbehörden werden.
                                                          Anonymus
                                                          (Die Autoren sind der TID bekannt)

     Der tief verwurzelte bud-                            Literatur
     dhistische Glauben der hei-                          Baumer, Christoph/Weber,Therese: Osttibet-
                                                          Brücke zwischen Tibet und China, Graz, 2002.
     mischen Bevölkerung wird                             Ludwig, Marita/Senft, Willi: Osttibet-Amdo und
                                                          Kham, Gnas, 2007.
     dem fremden Besucher na-
     hezu überall vermittelt.

14
INTERVIEW

„Die Entwicklung der Klöster zu
sehen, war besorgnis- und
angsterregend“
Interview mit der Medizinerin und Tibet-Unterstützerin Prof. Valeria Gärtner

                                                            Valeria Gärtner ist als ordentliche Professorin für
                                                            Pathologie und als Gleichstellungsbeauftragte an der
                                                            Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen im
                                                            Oktober 2012 ausgeschieden. Sie zählt national und
                                                            international zu den renommiertesten Medizinerinnen
                                                            und Forscherinnen ihres Fachs.
                                                            Neben der intensiven beruflichen Tätigkeit entdeckte
                                                            sie frühzeitig ihr Interesse an Tibet. 17 Reisen in alle
                                                            Teile Tibets und darüber hinaus in andere Regionen
                                                            des Himalayas ließen sie nicht nur eine faszinierende
                                                            Kultur, sondern auch die chinesische Unterdrückungs-
                                                            und Sinisierungspolitik hautnah erleben. Daraus leitet
                                                            sie ein besonderes Engagement für Tibet ab. Sie hat
                                                            eine beeindruckende Foto-Ausstellung über West-
                                                            Tibet und Mustang (Königreich Lo) konzipiert, die
                                                            Tibet-Unterstützern zur Verfügung steht. Darüber
                                                            hinaus bietet sie ihre Erfahrung und Kompetenz
                                                            als Vortragende an in Form ihrer klassischen Dia-
                                                            Doppelprojektion.
                                                            Klemens Ludwig sprach mit ihr über ihren Werdegang,
                                                            der sie bis Tibet geführt hat, sowie die Möglichkeiten
                                                            der Unterstützung des tibetischen Freiheitskampfes.

Brennpunkt TIBET: Frau Professor Gärtner,                    schließlich den Hinduismus und Buddhismus, aber
was bringt eine renommierte Medizinerin und                  auch Zoroastra und über ihn schließlich Nietzsche.
Wissenschaftlerin dazu, sich derart stark auf Tibet
einzulassen, ein Land, in dem Religion, Meditation           Brennpunkt TIBET: Hat Asien auf Sie von Beginn
und Mythen eine dominierende Rolle spielen?                  an eine besondere Faszination ausgeübt?

Valeria Gärtner: Schon während meines                        Valeria Gärtner: Nach dem Erleben der to-
Medizinstudiums ging mein Blick über das rein                ten Religionen suchte ich Länder mit gelebten
Fachspezifische hinaus. Ich interessierte mich               Religionen auf. Deshalb habe in den 1970er Jahren
sehr für Philosophie und vor allem Vergleichende             Indien, Indonesien, vor allem Bali und Thailand
Religionswissenschaft. Die unterschiedlichen und             besucht, letzteres wegen des Buddhismus.
faszinierenden Religionen wollte ich aber nicht              Damals gab es wenig Touristen, und ich konnte
nur durch Lesen kennenlernen, sondern direkt                 viel Authentisches erleben, zum Beispiel bei tra-
erleben. So besuchte ich Italien, Griechenland,              ditionellen Festen. Der Hinduismus hat mich al-
Ägypten und auch Mittel- sowie Südamerika. Das               lerdings abgeschreckt. Ich kann bis heute das
alles waren jedoch tote Religionen. Inspiriert durch         Kastenwesen nicht akzeptieren, ebenso wenig wie
den Indologen Prof. Paul Thieme entdeckte ich                die Diskriminierung der Frauen.

                                                                                                                       15
INTERVIEW

     Brennpunkt TIBET: Trotzdem blieb die Faszination       Welt eingetaucht. Ich habe auch den Kailash drei-
     Asien?                                                 mal umrundet, und es war eine faszinierende
                                                            Auseinandersetzung mit den körperlichen Grenzen,
     Valeria Gärtner: Ich suchte nach einem Land, in        aber auch ein klares Bewusstsein von einer heiligen
     dem Hinduismus und Buddhismus friedlich zusam-         Stätte.
     menlebten und kam naheliegenderweise auf Nepal.        Eine Buddhistin im eigentlichen Sinn bin ich nicht,
     Dort erlag ich gleich noch einer anderen Versuchung,   aber die Ruhe und Gelassenheit der buddhistischen
     den Bergen. Ich habe in zahlreichen Trekking-          Pilger haben mich auch dort sehr beeindruckt. Die
     Touren physische und psychische Herausforderung        Bönpos übrigens auch, die bekanntlich anders her-
     gesucht. Dabei erfordern die Berge eine maximale       um laufen und einem entgegen kommen. Auch sie
     Konzentration auf sich selbst und Kreativität im an-   strahlen die heitere, ruhige Gelassenheit der freien
     tiken Sinn. Der Alleinherrscher in dieser Region war   Tibeter aus.
     die Natur.
                                                            Brennpunkt TIBET: Da spricht sicher nicht die
     Brennpunkt TIBET: Also war der Himalaya für Sie        Wissenschaftlerin.
     in erster Linie eine Natur-Erfahrung?
                                                            Valeria Gärtner: In der Tat, ich bin viel mystischer
     Valeria Gärtner: Nein, es ging weit darüber hinaus.    als ich es in der Wissenschaft sein kann. Wir er-
     Die buddhistischen Orte in Nepal wie Bodnath oder      fassen im Westen die Individualität in Form von
     Swayambunath waren für mich Oasen der Ruhe, die        Genen und Synapsen. Im tibetischen Buddhismus
     ich sehr genossen habe, im Gegensatz zu dem Lärm       ist das Individuum ein kosmologisches Ereignis. Der
     und dem für mich grotesken Treiben in den Hindu-       Vajrayogini habe ich am Kailash nach alter Tradition
     Tempeln. Dort erlebte ich meine erste Begegnung        einige Haarlocken und Kleidungsstücke geopfert.
     mit den Tibetern. Dann wurde Anfang der 1980er         In Dzongsar in Kham habe ich das Heimatkloster
     Jahre Tibet geöffnet, und das Land zog mich von        von Ngari Ringu Rinpoche besucht, dem eine
     Beginn an magisch an.                                  Universität für Tantrismus angeschlossen ist. Im
                                                            Osten von Bhutan hatte ich die Möglichkeit, bei ei-
     Brennpunkt TIBET: Was war das Besondere dort?          nem Schwarzhutzauberertanz um Mitternacht bei
                                                            Vollmond anwesend zu sein. Mystischer geht es
     Valeria Gärtner: Zunächst natürlich die Landschaft.    nicht mehr. Da habe ich Europa völlig vergessen.
     Die Nordroute nach West-Tibet zum Kailash ist          Manche Freunde sagen, ich sei dem Schamanismus
     landschaftlich einfach grandios, herausfordernd        erlegen, auch wenn er im völligen Gegensatz zur
     und deshalb unvergesslich. Aber das war nicht al-      medizinisch-wissenschaftlichen Forschung steht.
     les. Die Nomaden haben mich besonders fasziniert;      Allerdings würde ich heute gern den Tantrismus stu-
     freie, selbstbestimmte Menschen, die ein Leben im      dieren.
     Einklang mit der Natur leben.                          Immer wenn ich aus Tibet zurückkam, war ich trotz
                                                            der Anstrengungen heiter und gelassen.

     Die Nomaden haben mich                                 Brennpunkt TIBET: Zurück zu der wenig mystischen
     besonders fasziniert; freie,                           Wirklichkeit im heutigen Tibet. Sie haben alle Teile
                                                            Tibets bereits. Haben Sie bedeutsame Unterschiede
     selbstbestimmte Menschen,                              wahrgenommen?
     die ein Leben im Einklang                              Valeria Gärtner: Die grundlegende Erfahrung und
     mit der Natur leben                                    Entwicklung sind überall sehr ähnlich. 1984 war
                                                            ich zum ersten Mal in Lhasa. Die tausendfältige
     Brennpunkt TIBET: Welche Rolle spielte der             Götterwelt hat mich dort ebenso fasziniert wie im wei-
     Buddhismus bei Ihrer Faszination für Tibet?            ten Land. Und auch die Symbolkraft, Manjushri, der
                                                            mit einem Schwert die Unwissenheit besiegt, oder
     Valeria Gärtner: Die Hinayana-Schule, ich nenne        Phäl Lhamo, die Schutzgöttin Lhasas, eine Frau.
     sie mal den reinen Buddhismus, hat mich emotional      Überhaupt waren die meisten Frauen, die ich getrof-
     nie so angesprochen wie der tibetische Buddhismus,     fen habe, ausgesprochen emanzipiert. Die Pujas, die
     der ja viele Elemente vom Schamanismus und             Meditationen, die ganze Religiosität, waren damals
     der Bön-Religion übernommen hat. Ich habe an           noch echt. Trotz der Schwere des Schicksals strahl-
     Orakelfesten teilgenommen und bin in eine andere       ten die Tibeter eine große Heiterkeit aus. Aber man

16
INTERVIEW

ahnte auch schon, dass sie für ihre Freiheit kämpfen    ebenso wie die Bedrohung Tibets nahebringt. Ich
würden, so mutig und entschlossen wie sie waren.        würde mich sehr freuen, wenn diese Ausstellung, die
                                                        bislang vor allem in Universitätskliniken, kommuna-

Man ahnte schon, dass                                   len Krankenhäusern, Rathäusern und Banken zu se-
                                                        hen war, von vielen Solidaritätsgruppen aufgegriffen
die Tibeter für ihre Freiheit                           und gezeigt werden könnte.
                                                        Zudem halte ich Vorträge, etwa in öffentlichen
kämpfen würden,                                         Institutionen, bei Freimaurern sowie in Lions Clubs,
so mutig und entschlossen                               die im Gegensatz zu anderen Vereinigungen dieser
                                                        Art keinerlei politische Berührungsängste haben.
wie sie waren                                           Brennpunkt TIBET: Wie hat Ihre sehr wissenschaft-
Brennpunkt TIBET: Wie intensiv haben Sie die po-        lich geprägte Umgebung auf Ihre Tibet-Begeisterung
litische Situation verfolgt?                            reagiert?

Valeria Gärtner: Sehr intensiv, und es gab vie-         Valeria Gärtner: Ausgesprochen positiv. Als ich mei-
le Gelegenheiten dazu. In Ost-Tibet habe ich mit        ne erste Ausstellung im Großen Klinikum in Tübingen
Mönchen über die politische Situation diskutiert.       hatte, waren alle Ordinarien zugegen. Neben der
Einen Eindruck von den Spannungen erhielt ich           Bewunderung, dass ich mich in meinen Ferien solch
auch, als 1989 der Friedensnobelpreis an den Dalai      körperlichen und geistigen Herausforderungen stell-
Lama vergeben wurde. Damals befand ich mich auf         te, und ein so großes Themenspektrum beackerte,
einer Tour mit tibetischen und chinesischen Fahrern     konnte ich sie auch für das Schicksal Tibets inter-
im Westen, zurück auf der Südroute vom Kailash.         essieren. Ich habe außerhalb der Tibet-Szene viel
Nach der Bekanntgabe durch das Nobelpreiskomitee        Unterstützung für das unterdrückte Volk mobilisiert.
kam es zum Streit zwischen den Fahrern, der in einer    Natürlich ist es schwierig, das zu messen, denn vie-
Schlägerei endete. Aber auch die ersten Anzeichen       le haben die Verantwortung für Tibet auf die Politiker
der Sinisierung erlebte ich in den 1980er Jahren, ti-   abgeschoben.
betische Siedlungen, durchsetzt von chinesischen
Kasernenbauten.                                         Brennpunkt TIBET: Der direkte Einfluss auf Tibet
                                                        hält sich aber für alle Tibet-Unterstützer in Grenzen,
Brennpunkt TIBET: Haben sich Ihre Reise-                solange sich China unnachgiebig zeigt.
erfahrungen dadurch grundlegend verändert?
                                                        Valeria Gärtner: Nur zu informieren und zu mobi-
Valeria Gärtner: Natürlich, es wurde mit jedem          lisieren mit Ergebnissen, die letztlich nicht beein-
Jahr frustrierender. Chinesische Polizisten, wohin      flusst werden können, reicht mir tatsächlich nicht.
man kam. Die Läden und die ganze Altstadt von           Ich wollte immer auch konkret helfen. Das ist in
Lhasa wurden immer chinesischer; der Potala zum         Tibet nur begrenzt möglich, wenn man gleichzeitig
Ausstellungsobjekt ohne wirkliche Substanz. Die         politisch arbeitet. Ich bin deshalb Vorsitzende der
Entwicklung der Klöster zu sehen, war besorgnis-        Organisation Entwicklungshilfe Tibet (EHT e. V.).
und angsterregend: Wie sie immer mehr in chinesi-       Wir sind für die gesamte medizinische Versorgung
sches Kulturgut umgewandelt werden, wie Äbte nicht      des Flüchtlingslager Jampa Ling zuständig und ha-
mehr inkarniert, sondern politisch bestimmt werden.     ben u. a. für die dort lebenden Khampa, die fast zwei
Das bringt mich bis heute buchstäblich zum Weinen.      Jahrzehnte gegen die chinesische Besetzung ihrer
Im Jahr 2000 hat es mir endgültig gereicht, danach      Heimat gekämpft haben und heute weitgehend ver-
bin ich nicht mehr hingefahren, sondern setze mich      gessen sind, Seniorentoiletten finanziert. Wir sind zu-
auf andere Art für Tibet ein. Es würde mir auch sehr    dem für die Ausbildung unserer Patenkinder zustän-
schwer fallen, heute jemandem zu raten, nach Tibet      dig. Mein tibetisches Patenkind konnte in Indien stu-
zu reisen. Ich selbst bin sehr dankbar, dass ich die    dieren und ist heute Lehrerin in Mustang. Außerdem
freien Tibeter noch erleben durfte.                     bin ich Mitglied der Tibet Initiative und gern bereit,
                                                        mich mit meinen oben beschriebenen Möglichkeiten
Brennpunkt TIBET: Können Sie Ihr Engagement             den Regionalgruppen zur Verfügung zu stellen.
näher beschreiben?
                                                        Brennpunkt TIBET: Herzlichen Dank für das
Valeria Gärtner: Ich habe eine Fotoausstellung          Gespräch und weiterhin viel Resonanz für Ihre
konzipiert, die den Besuchern die Faszination           Aktivitäten.

                                                                                                                  17
KURZINTERVIEW

     Interview mit Ringu Tulku Rinpoche

                                                                      Der 60-jährige Ringu Tulku Rinpoche flüchtete 1958 aus
                                                                      Kham nach Indien, war Professor für Tibetologie und
                                                                      Buddhismus in Sikkim und begann vor 20 Jahren seine
                                                                      Lehrtätigkeit im Westen. In seiner alten Heimat setzt er
                                                                      sich für den Aufbau von buddhistischen Ausbildungsstätten
                                                                      und Gesundheitszentren ein. Dr. Thomas Brüninghaus,
                                                                      Sprecher der TID-Regionalgruppe Münster, sprach mit ihm
                                                                      für Brennpunkt TIBET über die Selbstverbrennungen in
                                                                      Tibet. Mehr Infos unter: www.rigul.org
                                               © Thomas Brüninghaus

     Brennpunkt TIBET: Seit 2009 haben sich mehr als                    Brennpunkt TIBET: Welche Bedeutung hat dabei
     100 Tibeter selbst verbrannt. Für westliche Menschen               der Buddhismus?
     ist diese Protestform fremd oder gar befremdlich.
                                                                        Ringu Tulku Rinpoche: Die chinesische Regierung
     Ringu Tulku Rinpoche: Ich sehe den Protest im                      macht den Dalai Lama für die Selbstverbrennungen
     Sinne von Gandhis satyagraha, also eine fried-                     verantwortlich, aber dieser steht für vollkommene
     liche Form zivilen Ungehorsams. In Tibet gibt                      Friedfertigkeit. Die Menschen, die sich selbst ver-
     es keine Redefreiheit. Jegliche Art von Protest,                   brennen, erwarten davon keineswegs eine spirituel-
     Demonstrationen oder Streiks werden von der chi-                   le Erhöhung oder sonstige Belohnung. Das Konzept
     nesischen Regierung verboten. Wer die Inhaftierung                 des Märtyrertums ist kein buddhistisches Konzept.
     überlebt, stirbt oft wenige Tage nach der Entlassung
     aus dem Gefängnis an den Folgen der Folter.                        Brennpunkt TIBET: In den 1960er Jahren gab es
     Also greift man zu dieser drastischen, ultimativen                 Selbstverbrennungen in Vietnam. Wissen die Tibeter
     Protestform und stellt sicher, dass man nicht über-                davon?
     lebt. Zu überleben würde einen grausameren Tod
     durch schlimmste Folter bedeuten.                                  Ringu Tulku Rinpoche: Auch die vietnamesischen
                                                                        Mönche haben damit auf die massive Ungerechtigkeit
     Brennpunkt TIBET: Ist das nicht eine sehr aggres-                  aufmerksam machen wollen. Tatsächlich gab es
     sive Form?                                                         weltweit starke und hilfreiche Reaktionen. Aber heu-
                                                                        te scheint es eine Art von Selbstzensur der Medien
     Ringu Tulku Rinpoche: Nein, niemand wird verletzt                  zu diesem Thema zu geben.
     außer dem Durchführenden. Und es werden dabei
     auch keine aggressiven Ansprachen gehalten oder                    Brennpunkt TIBET: Sehen Sie Auswirkungen der
     Anschuldigungen gemacht. Es ist eine höchst per-                   Selbstverbrennungen?
     sönliche Entscheidung des Einzelnen im Vertrauen
     darauf, dass die Menschen außerhalb Tibets dies                    Ringu Tulku Rinpoche: Zunächst vereinigt es die
     wahrnehmen und sich für Tibet einsetzen mögen.                     Tibeter. Sie verstehen diesen Protest und sind tief be-
                                                                        wegt. Die chinesische Regierung reagiert sehr verär-
     Brennpunkt TIBET: Gibt es so etwas wie eine                        gert, versucht die Kontrolle zu behalten. Inzwischen
     Tradition?                                                         gibt es eine Regel, dass alle, die das Inferno se-
                                                                        hen, versuchen müssen, denjenigen zu stoppen.
     Ringu Tulku Rinpoche: Nein, auch wenn dieser                       Das ist aber nicht möglich, da die Brennenden das
     Protest seinen Ursprung in den 1950er Jahren hat.                  Benzin schon geschluckt haben. Da man von den
     Damals war der Widerstand auch gewalttätig, und                    Verstorbenen keine Aussagen erhalten kann, er-
     das hat seinen Ursprung in der tibetischen Mentalität:             zwingt man diese von den Hinterbliebenen. Und dann
     „Lieber als Tiger sterben, denn als Fuchs überleben“.              gibt es die Intellektuellen und Dissidenten in China,
     Dieses Bedürfnis nach Würde und Gerechtigkeit                      die sich beschämt äußern und sich um Aufklärung
     drückt sich jetzt in den Selbstverbrennungen aus.                  bemühen. Auf diesen Prozess müssen wir vertrauen.

18
Sie können auch lesen