Mehr als 100 Selbstverbrennungen Unterwegs im historischen Tibet (Teil 1) Interview mit Prof. Valeria Gärtner 10. März - Flagge zeigen für ...
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ISSN 1865-3456 Ausgabe 2/2013 Mehr als 100 Selbstverbrennungen • Unterwegs im historischen Tibet (Teil 1)• Interview mit Prof. Valeria Gärtner • 10. März - Flagge zeigen für Tibet!
der neue KP-Generalsekretär und chinesische Staatspräsident Xi Jinping steht der Armee sehr nahe und zeigt dies auch durch regelmäßige Truppenbesuche. Verheiratet ist er mit der sehr bekannten Sängerin Peng Liyuan, die im Rang einer Generalmajorin die militärische Stärke sowie die “Liebe der Tibeter für die Volksbefreiungsarmee“ besingt. So ist es nur konsequent, dass das Militärbudget im Jahr 2013 wieder zweistellig wächst, um die Truppen kampfbereit zu halten. Jedoch viel bedenklicher ist es, dass für die innere Sicherheit mehr ausgegeben wird als für die Landesverteidigung. Die chinesische Regierung sieht im eigenen Volk eine viel größere Gefahr als in einer militärischen Auseinandersetzung um Inselgruppen im pazifischen Raum. Das verheißt nichts Gutes. Xi Jinping wird den starken Staatsmann herauskehren wollen und keinen chinesischen Gorbatschow. Die Implosion der Sowjetunion steht mahnend im Hintergrund des politischen Geschehens. Wenn aber die Sicherheitspolitik gegen das eigene Volk gerichtet ist, dann hat das langfristig fatale Konsequenzen, besonders für Krisenregionen wie Tibet und Xinjang. Die derzeitige Situation in Syrien zeigt ein trauriges Gegenwartsszenario dieser nach innen gerichteten Gewaltpolitik. Die beiden autoritären Staaten Russland und China blockieren als Mitglieder des Weltsicherheitsrates einen politischen Lösungsprozess in Syrien, weil sie ihre eigene innere Politik dadurch gefährdet wissen. Da ist es nur Hohn, wenn der Leiter der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), der Politikwissenschaftler und China-Experte Eberhard Sandschneider meint, „Menschenrechtspolitik ist eine westliche Schwäche, ist westliche Selbstfesselung in einer amoralischen Welt voller harter Interessenspolitik“. Er spricht sogar wörtlich von einer „Zelebrierung überkommener westlicher Überlegenheit gegenüber der chinesischen Regierung“. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber ein Akzeptieren von Menschenrechtsverletzungen und Unrechtsregimen. Alles nur, um eine scheinbare Stabilität in diesen Regionen aufrechtzuerhalten und um den Marktzugang nicht zu verlieren. Eine gleichwertige Partnerschaft, auch zwischen politisch sehr unterschiedlichen Staatsformen, bedeutet letztlich nicht ein Wegsehen und Übersehen von Klepto-, Theo- und Autokraten, sondern mutiges Eintreten für Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Langfristig ist diese aufrechte Politik die vielversprechendere. Die unterdrückten Völker, und in unserem Falle die Tibeter, werden es nicht nur danken sondern sich gestärkt in ihrem Freiheitskampf wissen. Gemeinsam. Stark. Für Tibet. Ihr Wolfgang Grader Vorsitzender Tibet Initiative Deutschland e.V.
INHALT 4 Nachrichten 7 Unterwegs im historischen Tibet (Teil 1) Impressionen aus Kham und Amdo 15 Interview mit Prof. Valeria Gärtner © TID 18 Kurzinterview mit Ringu Tulku Rinpoche 19 Von Selbstopfern, Ursachen und Wirkungen Kommentar von Andreas Hilmer 21 Aktionen 25 Politik 27 Termine Impressum Brennpunkt TIBET wird herausgegeben von Druck: Druckerei Holler, Karlsruhe der Tibet Initiative Deutschland e.V. und Gedruckt auf Recyclingpapier erscheint vierteljährlich. Auflage: 2.500 Chefredakteur: Klemens Ludwig Redaktionsschluss Nr. 3/2013: 24.06.2013 Redaktion: Nadine Baumann, Gangdab Duchung, Iris Fricke, Wolfgang Grader, Anja Tibet Initiative Deutschland e.V. Scheer Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin Tel.: 030/420815-21 Mitarbeiter dieser Ausgabe: Thomas Fax: 030/420815-22 Brüninghaus, Andreas Hilmer, Anna E-Mail: office@tibet-initiative.de Momburg-Vanderpool, Kerstin Ziemann Einzelpreis: 3 €, Jahresabonnement Grafische Gestaltung & Herstellung: (vier Ausgaben inkl. Versand): 12 € Sigrid Herring Freiwilliger Förderbetrag: 24 € Titelbild: TID/Amdo Sonam, Europademo in Der Bezugspreis ist für TID-Mitglieder Brüssel am 10. März 2013 im Mitgliedsbeitrag enthalten. Die Tibet Initiative Deutschland (TID) ist die älteste und größte deutsche Tibet-Organisation und setzt sich seit ihrer Gründung 1989 für das Selbstbestimmungsrecht des tibetischen Volkes sowie die Wahrung der Menschenrechte in Tibet ein. Mit bundesweit fast 60 ehrenamtlichen Regionalgruppen/Kontaktstellen und 3 nahezu 2.000 Mitgliedern gibt sie Tibet eine starke Stimme.
NACHRICHTEN Über 100 Selbstverbrennungen Selbstverbrennungen sowie die tibetische Flagge gefunden worden waren. Die Zahl der Selbstverbrennungen hat im Februar Am 2. März wurden weitere drei Tibeter in die Grenze von 100 überschritten. Dazu kursieren Kanlho (Kham) wegen nicht näher beschriebe- unterschiedliche Zählungen. Das internationale Tibet ner „Beziehungen zu der fortdauernden Welle der Netzwerk (ITN) geht von 107 Tibetern aus, die sich Selbstverbrennungen“ zu 15, 11 und 10 Jahren bis Anfang März 2013 aus Protest gegen die chinesi- Gefängnis verurteilt. Radio Free Asia zufolge fand sche Besetzung und die anhaltende Unterdrückung der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit selbst verbrannt haben. Nach Informationen der und unter extremen Sicherheitsbedingungen statt. Rangzen Alliance, eine Organisation, die sich für die Unabhängigkeit Tibets einsetzt, haben bis zu dem Zeitpunkt 114 Tibeter den freiwilligen Feuertod ge- Lange Haftstrafen sucht. In Nepal und Indien übernehmen ebenfalls vereinzelt Tibeter diese Form des Protests. wegen „Beziehungen zu der Auch wenn die chinesische Regierung mit ei- ner immer dichteren Polizeipräsenz und Repression fortdauernden Welle gegen die vermeintlichen Unterstützer diese Protestform zu unterbinden versucht, weil sie ih- der Selbstverbrennungen“ rem internationalen Ansehen schadet, wählen die Menschen vor allem im Osten Tibets weiter- hin den freiwilligen Flammentod. Die meisten sind Die Sicht der KP kaum älter als zwanzig Jahre. Zu den staatlichen Repressionsmaßnahmen zählen inzwischen auch Die Kommunistische Partei (KP) hält weiterhin an Schnellprozesse. der Behauptung fest, dass der Dalai Lama hinter den Selbstverbrennungen stehe. Am 1. März veröffent- lichte die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua Harte Urteile gegen die Meldung, der Dalai Lama habe einen Online- Selbstverbrennungen Ratgeber für Selbstverbrennungen herausgegeben, in dem er seine Landsleute auffordere, Selbstmord Am 31. Januar wurden in Ngaba (Provinz Kham) zu begehen. Zudem enthalte der Ratgeber genaue zwei Tibeter zu drakonischen Strafen ver- Angaben, wie eine solche Aktion geplant und umge- urteilt, weil sie angeblich acht Personen zu setzt werden könne. Dabei sollten möglichst beson- Selbstverbrennungen angestiftet hätten, darunter dere Tage und Orte gewählt werden, um die größte der 40-jährige Mönch Lobsang Kunchok aus dem Wirkung zu erzielen. Tibetische Parlamentarier wie- Kloster Kirti, wo die Proteste im April 2011 begon- sen dies entschieden zurück. nen hatten. Lobsang Kunchok wurde zum Tode ver- urteilt, mit zweijährigem Vollstreckungsaufschub. Vermutlich wird er nach Ablauf der Frist zu einer Qualvoller Tod nach Demonstration lebenslangen Haftstrafe „begnadigt“. Sein Neffe Lobsang Tsering erhielt eine zehnjährige Haftstrafe. Im März 2012 hatten 50 Mönche aus dem Kloster Am gleichen Tag wurden in der Autonomen Shingtri nahe Xining in Amdo öffentlich die Rückkehr Präfektur Kanlho (Kham) vier Männer und zwei das Dalai Lama und Freiheit für Tibet gefordert Frauen zu Haftstrafen zwischen drei und zwölf und dabei auch die tibetische Flagge gezeigt. Sie Jahren verurteilt, weil sie am 23. Oktober 2012 wurden umgehend verhaftet. Daraufhin versam- Menschen, die sich selbst angezündet hatten, an- melten sich über tausend Menschen friedlich vor geblich gegen die einschreitenden Sicherheitskräfte der Polizeistation, um die Freilassung der Mönche abgeschirmt hätten. Bei vier von ihnen lautete die zu erwirken. Stunden später stürmten plötzlich Anklage auf Totschlag. Polizeikräfte mit Tränengas und Handgranaten aus In der Provinz Amdo (chin. Qinghau) wurde am dem Gebäude und gingen mit äußerster Brutalität ge- 7. Februar gegen 12 Personen Haftbefehl erlassen, gen die Demonstranten vor. Dabei wurde ein zwölf- weitere 58 wurden ohne Haftbefehl ins Gefängnis jähriger Junge getötet und der 35-jährige Gyering gebracht. Thar schwer verletzt. Der zweifache Familienvater Der 20-jährige Thangkamaler-Schüler Ngawang starb nun an seinen schweren Gehirnverletzungen, Topden wurde am 22. Februar zu zwei Jahren die er durch den Polizeieinsatz davongetragen hat- Haft verurteilt, weil auf seinem Handy Bilder von te. Seitdem konnte er nicht mehr sprechen und in 4
NACHRICHTEN den letzten Monaten auch keine Nahrung mehr zu sich nehmen. Drei Gehirnoperationen änderten da- ran nichts. Jahresbericht zur Menschenrechtslage in Tibet Am 17. Januar veröffentlicht das Tibetische Zentrum für Demokratie und Menschenrechte (TCHRD) seinen Jahresbericht 2012. Darin heißt es: „Die Lage der Menschenrechte in Tibet erreichte einen Rekord-Tiefstand.“ Neben der allgegenwärtigen Überwachung listet der Report eine Vielzahl von willkürlichen Festnahmen, Haft und Folter auf. Auch die massive Einschränkung der Religionsfreiheit und das Verbot, die eigene Sprache zu benutzen, werden angeprangert. „Die Lage der Lobsang Gyaltsen Menschenrechte in Tibet Schriftstellerin Tsering Woeser, die noch hinzufügte: erreichte einen Rekord- „Alle Offiziellen auf der Ebene vertreten dieselben Positionen.“ Tiefstand“ In einer Erklärung zu seinem Amtsantritt er- TCHRD Jahresbericht 2012 klärte Gyaltsen, er sehe seine wichtigste Aufgabe darin, „soziale Stabilität“ zu garantieren, damit „Entwicklung und Wohlstand“ in der Region voran- schreiten. Neuer Gouverneur in Tibet Nach chinesischer Verfassung müssen die fünf 100. Jahrestag der Unabhängigkeit sogenannten Autonomen Provinzen innerhalb der Volksrepublik von einem Gouverneur ge- Am 13. Februar 1913 erklärte der 13. Dalai Lama führt werden, der dem ursprünglichen ethnischen in Lhasa offiziell die Unabhängigkeit Tibets. In Mehrheitsvolk angehört. Das gilt selbst dann, wenn den zwei Jahrhunderten zuvor hatten chinesische dies längst zur Minderheit geworden ist, wie in der Truppen der Mandschu-Dynastie einen gewissen Inneren Mongolei, wo die Mongolen kaum noch 15 Einfluss auf die tibetische Außenpolitik ausgeübt, Prozent der Bevölkerung ausmachen. doch mit dem Sturz des Kaisers in Peking erhoben Bei dem scheinbar liberalen Gesetz handelt es sich im März 1912 tibetische Verbände in Lhasa sich jedoch nur um eine plakative Maßnahme. Die gegen die Fremdherrschaft. Es gelang ihnen, die eigentliche Macht liegt in der Hand des regionalen chinesischen Soldaten vom Dach der Welt zu ver- KP-Vorsitzenden, der fast immer Chinese ist. treiben. Während der Zeit befand sich der 13. Dalai Nun hat die Führung einen neuen Gouverneur Lama im nordindischen Darjeeling im Exil. Nach für Tibet ernannt. Es handelt sich um den früheren der Befreiung kehrte er zurück und proklamier- Bürgermeister von Lhasa, Lobsang Gyaltsen. Er te schließlich die Unabhängigkeit. Allerdings ver- löst Padma Choling ab. Offizielle Gründe für den säumte er es, sich um internationale Anerkennung Amtswechsel wurden nicht genannt. zu bemühen. Der 55-jährige Lobsang Gyaltsen gilt als 100 Jahre später feierten Tibeter und ihre Vertreter einer harten Linie. Von ihm wird nicht er- Unterstützer in allen Teilen der Welt dieses wichti- wartet, dass er sich gegenüber der Zentralregierung ge Datum der jüngeren Geschichte. Der Tibetische für eine Abkehr von der bisherigen Politik einsetzt. Jugendkongress hatte seine Mitglieder u. a. auf- In diesem Sinne äußerte sich auch die tibetische gerufen, die tibetische Flagge zu hissen und eine 5
NACHRICHTEN etwas Konstruktives für die Zukunft der Menschen in Tibet machen. Vier Tibeter, zwei Männer und zwei Frauen, wur- den im Zusammenhang mit der Selbstverbrennung am 28. Februar festgenommen, ohne dass die Polizei Gründe dafür bekanntgab. Preis für Tsering Woeser Die tibetische Schriftstellerin Tsering Woeser er- hielt am 8. März, dem internationalen Frauentag, den International Women‘s Courage Award für ih- ren besonderen Mut. Der Preis wird seit 2007 vom US-amerikanischen Außenministerium an Frauen vergeben, die ein hohes persönliches Risiko ein- gehen, um Gerechtigkeit und Menschenrechten zur Durchsetzung zu verhelfen. Bei der Zeremonie wa- ren der neue US-Außenminister John Kerry sowie die First Lady Michelle Obama anwesend; Tsering Woeser allerdings nicht, da die chinesischen Behörden nach wie vor die Ausreise verweigern. Insgesamt wurden zehn Frauen ausgezeichnet. „Tsering Woeser geht ein S.H. der 13. Dalai Lama hohes persönliches Risiko ein, um Gerechtigkeit und Kopie der Unabhängigkeitserklärung an repräsen- tative Vertreter und Abgeordnete in den jeweiligen Menschenrechten zur Ländern zu übergeben. Zudem sollte vor chinesi- schen Botschaften und Konsulaten auf das Ereignis Durchsetzung zu verhelfen“ aufmerksam gemacht werden. US-Außenministerium Selbstverbrennung und Willkür in Nepal Tsering Woesers Buch „Ihr habt die Gewehre. Ich Am 100. Jahrestag der tibetischen Unabhängigkeit einen Stift“ ist 2009 im Lungta-Verlag, dem Verlag setzte sich der 25-jährige Mönch Drupchen Tsering der Tibet Initiative Deutschland, erschienen. in Nepals Hauptstadt Kathmandu selbst in Brand, um gegen die brutale Unterdrückung in seiner Heimat zu protestieren. Sofort waren Polizisten zur Stelle, löschten das Feuer und nahmen den Schwerverletzten in Gewahrsam. Kurze Zeit später erklärten sie jedoch, dass er an seinen Brandverletzungen gestorben sei. Daraufhin forder- ten die Tibeter die Herausgabe des Leichnams, um ihn nach buddhistischer Tradition zu bestatten und Gebet zu sprechen. Die nepalischen Behörden wei- gerten sich, dem nachzukommen. Drupchen Tsering stammt aus der Provinz Kham und war erst im Januar in Nepal eingetroffen. Verwandten und Freunden hatte er erzählt, er wolle © Lungta Verlag 6
SCHWERPUNKT Unterwegs im historischen Tibet (Teil 1) Impressionen aus Kham und Amdo © TID Studierende vor dem Lehrgebäude in Larung Gar Reiseziel Osttibet: Warum und Wie? Sprachkenntnisse verfügt und damit zumindest ein größerer Teil der tibetischen Bevölkerung auch ge- Der folgende zweiteilige Bericht zu einigen aus- sprächsweise zugänglich ist. Andererseits reichen gewählten Reisezielen in Kham und Amdo beruht oftmals auch bloße Gestik, Mimik oder ein „Tashi auf individuellen Unternehmungen der Autoren in delek“, um einen freundlichen und oft sehr herzli- der Zeit nach den Olympischen Spielen in Beijing chen Kontakt herzustellen. Somit beruhen die fol- 2008. Sofern auf personenbezogene Fakten oder genden Zeilen auf vielfältigen Begegnungen und Ereignisse eingegangen wird, verzichten wir auf persönlichen Impressionen. identifizierbare Personen- oder Ortsangaben. Ausgangspunkte für die Erschließung Ost- Unsere vielen Gespräche und persönlichen tibets waren für uns die Provinzhauptstädte Xining Begegnungen mit Tibetern und Chinesen sind (Amdo) und Chengdu (Sichuan). In beiden Städten dem nicht zu unterschätzenden Vorteil geschul- sind tibetische Wohn- und Geschäftsviertel er- det, dass immerhin einer von uns über chinesische halten geblieben, und hier ist es möglich, erste 7
SCHWERPUNKT Begegnungen mit den kulturellen Besonderheiten der Tibeter zu machen. Außerdem sind beide Städte verkehrsmäßig gut mit Bahn, Bus und Flugzeug er- reichbar. Das hektische aber sehr wohl reizvolle Großstadttreiben lässt man hinter sich, sobald man sich auf den Weg in die regelmäßig kleinstädtische und beschaulichere osttibetische Provinz begibt. Als Fortbewegungsmittel standen uns öffentliche Busse und private Sammeltaxis zur Verfügung. Wir hatten bereits Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre die sogenannte Autonome Region Tibet (TAR) bereist und konnten schon damals die Auswirkungen der konsequent vorangetriebenen © TID Sinisierungspolitik Chinas mit ihren ersten Folgen für die dort ansässige tibetische Bevölkerung er- Blick aus Jyekundo mit Sakyapa-Kloster Dondrubling kennen und sie perspektivisch als katastrophal für Kultur und Religionsausübung der Tibeter einschät- Amdopas grenzen sich seit alters her von den zen. Die spätere Entwicklung hat diese Vorahnung Bhotpas (Tibet-Menschen) der Zentralregion um bedauerlicherweise noch übertroffen. Da uns das Lhasa und den westlichen Siedlungsgebieten Thema Tibet einschließlich des damit untrennbar (Ü-Tsang) ab. Ein erkennbares und sogar wach- verbundenen tibetischen Buddhismus, aber auch sendes gesamttibetisches Nationalbewusstsein ist die sichtbare Verletzbarkeit des Ökosystems in sicherlich auch weitgehend der völkerrechtwidri- der Himalaya Region sehr am Herzen lagen, such- gen Besetzung durch die „Volksbefreiungsarmee“ ten wir angesichts der ausweglos erscheinenden geschuldet. Derzeit sind nach weitgehend will- Situation im chinesisch definierten Tibet nach al- kürlichem chinesischem Geographieverständnis ternativen Destinationen und fanden diese nördlich diese historischen tibetischen Herrschafts- und und östlich der TAR in Kham und Amdo. Kulturbereiche den Provinzen Sichuan (1,2 Mio. Tibeter), Qinghai (1,0 Mio.), Gansu (0,4 Mio.) und Yunnan (0,2 Mio.) zugeschlagen. Für den Reisenden bedeutet diese Zer- Wir konnten schon Ende splitterung auch, dass er sich auf unterschiedli- che bürokratische und polizeiliche (Public Security der 1980er Jahre die Bureau/PSB) Überwachungsstrategien einstellen muss. Sowohl kleinliche Einschränkungen als auch Auswirkungen der kon- regelverletzende Duldungen können den gewähl- ten Routen eine überraschende Wendung besche- sequent vorangetriebe- ren. Nach unseren langjährigen Erfahrungen ist Willkürverhalten wohl die zutreffendste Bezeichnung nen Sinisierungspolitik für dieses landestypische Phänomen, das bei jeder Reiseplanung im heutigen Osttibet im Voraus be- Chinas mit seinen ersten dacht werden muss. Auswirkungen auf die tibeti- Der Sichuan-Tibet-Highway (Chengdu – Kandze – Larung Gar / sche Bevölkerung erkennen Serthar – Jyekundo) Eine unserer streckenaufwändigsten Routen führ- Kham und Amdo – geografisch te von der Provinzhauptstadt Chengdu über den nördlichen Sichuan-Tibet-Highway nach Jyekundo Was die chinesische Regierung heute als Tibet de- (chin. Yushu). Dort sollte das jährlich stattfindende finiert, ist bekanntlich nur ein Teil des historischen Nomadenfest – quasi der Höhepunkt unserer Tour Tibet, das sich weit im Norden und Osten der TAR – unseren fotografischen Ambitionen als Kulisse ausbreitete und in der Vergangenheit zu immer wie- dienen. Trotz Recherche im Internet und an weite- derkehrenden Streitigkeiten bei der Grenzziehung ren Informationsquellen vor Ort war nicht definitiv in zu China führte. Die dort lebenden Khampas und Erfahrung zu bringen, ob die Veranstaltung in diesem 8
SCHWERPUNKT Jahr zugelassen oder verboten sein würde (wie im außerordentlich ambivalente Flair dieser Stadt aus Jahr zuvor). Die Reiseplanung war jedenfalls auf nahezu 100 Prozent Beton im Zentrum und des- den vermeintlichen Termin ausgerichtet und hat uns sen ungeachtet einem Straßenleben mit nahezu von einigen attraktiven Plätzen voreilig Abschied 100 Prozent tibetischer Bevölkerung in traditioneller nehmen lassen. Umsonst – das Nomadentreffen Kleidung sollte schon bald der Erinnerung angehö- war wegen der vergangenen Unbotmäßigkeiten der ren. Tibeter von der Obrigkeit verboten. Ein verheerendes Erdbeben der Stärke 6,9 Dennoch war Jyekundo die weite Anreise hat Jyekundo am 14. April 2010 nahezu vollstän- wert, allein schon wegen der engen und herzlichen dig zerstört. Die aus getrocknetem Lehm gebau- Kontakte zu den tibetischen Altstadtbewohnern, ten Häuser der Tibeter hatten keinerlei Chance, deren tägliche Kora um eine liebevoll gepflegte viele Menschen kamen zu Schaden, nahezu 3.000 Manisteinmauer wir uns zur Freude aller zu Eigen wurden getötet. In kürzester Zeit hat die zuständi- machten. Die dort entstandenen Fotos ließen sich ge Regierung beschlossen, die Stadt als ökologi- in einem chinesischen Eckladen im Stadtzentrum sches Touristenzentrum wiederaufzubauen. Für problemlos über Nacht ausdrucken, und wir konn- die ehemaligen Bewohner ist damit ihre Heimat in ten sie am nächsten Tag zur großen Überraschung Gefahr, denn sie wurden von ihren angestammten und ehrlichen Begeisterung aller Anwesenden unter Wohngebieten unterhalb des Klosters nun an die Mühen einigermaßen gerecht verteilen. ´ Stadtränder abgedrängt. Derzeit ist Jyekundo für Diese Geste hat uns gelegentlich die Herzen Fremde nicht zugänglich. Unsere Aufnahmen die- der Einheimischen ein wenig erobern lassen, da sie ses einst so lebendigen Handelszentrums kurze Zeit sich offensichtlich als Personen durch uns wertge- vor der Katastrophe sind im Nachhinein zu traurigen schätzt sahen und ihr Bild nicht nur auf den Displays Dokumenten der Spurensicherung geworden. der modernen Digitalkameras für einen Augenblick Auf der Wegstrecke zurück nach Chengdu fas- betrachten durften – wie das die vermeintlich ein- zinierten uns Orte wie die ehemalige und mächti- fühlsamen Touristen heute gerne praktizieren. ge Königsresidenz Dege mit dem „Schatzhaus der Wiederkommen und etwas zurückgeben wollen ist tibeto-buddhistischen Kultur“, d. i. die „Druckerei der glücksbringenden und gesammelten Wahrheit“ (Ludwig/Senft S. 229), das abgeschieden gelegene Kloster Sershul (Gelugpa), das sich in der jüngeren Vergangenheit auch um den Schutz der tibetischen Muttersprache bemüht hat, oder die ehemalige Hauptstadt eines Bön-Königreiches Kandze (Ganzi) an der legendären Teestraße, mit einem beeindru- ckenden, über der Stadt gelegenen einflussreichen Gelug-Kloster. Der China-Tibet-Highway (Xining– Repkong-Ngawa-Dzamtang) Xining, die Provinzhauptstadt von Amdo (Qinghai), bietet einen ähnlich vorteilhaften Zugang zur bud- © TID dhistischen Kultur und Lebensart im Norden, wie Novizen vor dem Gelugpa-Kloster Sershul wir das erlebt und beschrieben haben für Chengdu von der östlichen Richtung. Der lebendige und nach und nach, zunächst unmerklich, zum eigentli- gut sortierte Basar unmittelbar in der Nähe des chen Antrieb für unsere Reisen geworden. Hauptbahnhofes lädt ein zum Kauf von Tibetika Das exponiert oberhalb der Stadt gelege- und buddhistischen Devotionalien, was besonders ne Kloster Dondrubling (Sakyapa) war nicht nur von der nomadischen Provinzbevölkerung genutzt eine beeindruckende Baustelle, sondern auch wird. Der Besuch des berühmten Klosterkomplexes für Besucher geschlossen, weil gerade am Tag Kumbum Jampaling (chin. Taer Si) wurde dagegen unseres Besuchs die Klosterferien begannen. aufgrund der kommerziellen Vermarktung und dem Schließlich jagte uns ein aggressives Hunderudel Aufkommen des chinesischen Tourismus mit allen zurück auf den steilen Fußweg in die chinesische negativen Begleiterscheinungen zu einem nahezu Neustadt mit ihren mehrstöckigen, gesichtslosen traumatischen Erlebnis. Zweckgebäuden aus Beton und Glasfassaden. Das 9
SCHWERPUNKT Viel entspannter war die unproblematische Fahrt sich hinwerfend begehen können. Die baulich und mit Bus und Taxi zum Geburtsort des 14. Dalai Lama räumlich integrierte Klosteruniversität mit mehre- über Ping An nach Taktser. Die Fahrt führt durch ren Fakultäten (Medizin, Philosophie, Tantrik und typische tibetische Bauerndörfer, die sich in der Kalachakra-Lehre) bestimmt durch etwa 1.000 Erntezeit das Dreschen des Getreides noch durch Mönchsstudenten die angenehme, aber auch als die vorbeifahrenden Fahrzeuge auf der Straße be- geschäftig empfundene Atmosphäre. sorgen lassen. Das große Tor zum Geburtshaus ist drapiert mit vielen weißen Khatags, die Pilger als Zeichen der Verehrung zurückgelassen haben. Das chinesische Militär hat Eine Hausbesichtigung war wohl wegen der fort- geschrittenen Tageszeit nicht mehr möglich, soll sich seit langem aber nach Auskunft des fürsorglichen Taxifahrers zu anderen Zeiten machbar sein. Eine Präsenz mitten in der Stadt mit von PSB-Angehörigen war nicht erkennbar. Die erste größere Provinzstadt begeg- Kasernen, Übungs- und net uns etwa 200 km südlich von Xining mit Repkong (chin. Tongren; etwa 80.000 Einwohner). Exerzierplätzen etc. für Beeindruckend großflächig stellt sich das bedeu- tende Gelugpa-Kloster Rongpo Gonchen dar, das jedermann sichtbar breit am späten Abend eine traumhafte Kulisse für die rituellen Rezitationen und die anschließenden gemacht. Disputationen der Mönche einschließlich Novizen bietet. Unweit der Stadt hat sich in einigen Klöstern die tibetisch-buddhistische Wuton-Kunsttradition Unsere mehrmaligen Besuche von Labrang/Xiahe (Mendri Malstil), seit dem 15. Jh. erhalten, die ver- über rund zehn Jahre hinweg lassen uns aller- schiedene Stilelemente der Mongolei und Chinas dings befürchten, dass der dynamisch ansteigen- mit einbezieht. Der farbenfreudige und extrem fei- de Massentourismus in China auch diese für alle ne Malstil der Wuton-Künster erfreut sich allgemein Tibeter heilige Stätte zu einem bloßen exotischen hoher Wertschätzung. Die Kunstwerke – weitge- Reiseziel verkommen lässt; Luxushotel- und hend Thangkas – können direkt in den Ateliers zu Straßenbau waren in den vergangenen Jahren in angemessenen Preisen erworben werden. Xiahe an der Tagesordnung. In letzter Zeit hat die Stadt Repkong mehrfach Unmittelbar an der Nationalstrasse 213 gele- durch Studenten- und Schülerdemonstrationen gen bietet die Kleinstadt Tagtshang Lhamo (chin. auf sich aufmerksam gemacht, bei denen es Langmusi) ein typisches Beispiel für die Beseitigung um die Beibehaltung der tibetischen Sprache der barbarischen Auswirkungen der sogenann- als Haupt- und Erstsprache ging. Auch einige ten „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ von Selbstverbrennungen sind in den vergangenen 1966 – 1976. Zwei eindrucksvolle, sich unmittelbar Monaten aus Repkong gemeldet worden, meist auf gegenüberstehende Gelugpa-Klöster erscheinen dem überdimensionierten Aufmarschgelände vor im prächtigen Glanz eines makellosen Neubaus, dem Rongpo-Kloster. Das chinesische Militär hat gleichsam eine goldglänzende Tempelanlage in sich seit langem mitten in der Stadt mit Kasernen, unwirtlicher Umgebung; die Zerstörungen der Übungs- und Exerzierplätzen etc. für jedermann Kulturrevolution (und sicher auch aus davor- sichtbar breit gemacht. liegenden Zeiten) sind nicht mehr erkennbar. Wir wählten für die weitere Erschließung des Kurioserweise verläuft die Grenze zwischen den historischen Amdo die in Nord-Süd-Richtung ver- Provinzen Gansu und Sichuan mitten durch die laufende Nationalstraße 213, die Lanzhou (Provinz Klosteranlagen. Auch hier hat sich ein lebendi- Gansu) und Chengdu (Sichuan) verbindet. Die ger Tourismus breit gemacht, der aber noch weit- Klosterstadt Labrang Tashikyil bei der Kleinstadt gehend die vergleichsweise junge chinesische Xiahe liegt etwas abseits der Hauptroute (west- Backpacker-Szene erfasst. lich), ist aber verkehrsmäßig gut angebunden. Um das angestrebte Hauptziel unserer Reise, Hier begegnen uns zahlreiche einzelne Pilger und die weit abgelegene Provinzstadt Ngawa (chin. von weit angereiste Pilgergruppen, die weitgehend Aba) zu erreichen, müssen wir die Nationalstraße unbehelligt von chinesischen Touristen (üblich ist in westlicher Richtung verlassen. Durch endlo- das „Nachäffen“ und dies im Foto festzuhalten) ses Bauern- und Nomadenland, vorbei an zahl- die kilometerlange Kora laufend, mantrierend oder losen Yakherden und abgelegenen Klöstern, 10
SCHWERPUNKT © TID Pilgerrast bei der Kora (Ngawa) bringt uns der öffentliche Bus, besetzt mit einer jedoch gelungen wäre, auch die Glaubenskultur großen Mönchsgesellschaft, nach einer längeren nachhaltig zu unterdrücken. Nach 1980 mach- Reifenpanne zu unserem so ersehnten Reiseziel te sich insbesondere der 10. Panchen Lama, ein Ngawa. Amdopa, nach seiner Haftentlassung verdient Diese außergewöhnliche Kleinstadt beher- um den Wiederaufbau aller Klöster in Ngawa. Als bergt einen Mikrokosmos des gesamten tibeti- Symbolfigur tibetischer Identität wird er von allen schen Glaubensspektrums. Alle religiösen Schulen Tibetern verehrt, und sein Abbild wird von sämt- sind vertreten, neben den auch sonst verbreite- lichen Schultraditionen an prominenter Stelle ten Gelugpa, Sakyapa, Kagyüpa und Nyingmapa ihres Klosters präsentiert. Für den westlichen ebenso die Yungdrung-Bön und der Neue Bön; Besucher hinterlässt diese einzigartig vielfälti- selbst die von den Gelugpa verfolgten Jonangpa ge Klosterwelt einen Eindruck von tibetisch-bud- haben hier ein geschütztes Refugium gefunden. dhistischer Üppigkeit bei den Neubauten und von Insgesamt versorgt die Stadt Ngawa nebst unbeeinträchtigter Zukunftsperspektive bei den 18 kleineren Dörfern 43 Klöster, davon ist si- allgegenwärtigen Baustellen. Das gilt allerdings cherlich Kirti-Gompa (Gelugpa) das traditions- nur mit Einschränkung für das einige Kilometer trächtigste, mit über 20 Tulkus, 2.000 Mönchen nördlich von Ngawa gelegene Nonnenkloster und Novizen das größte und über die zahlreichen Mani (Gelugpa), das offensichtlich mit deutlich be- Selbstverbrennungen der vergangenen Monate scheidener Finanzausstattung über die Runden auch das mit einem weltweiten so sicherlich kommen muss. Die Herzlichkeit, die uns hier in nicht erwünschten höchsten Bekanntheitsgrad. der auf einem Berghügel exponiert gelegenen Schon Maos Rotarmisten und später die Rebellen Klosteranlage entgegengebracht wurde, waren der Kulturrevolution zerstörten systematisch außergewöhnlich und haben uns tief beeindruckt. die klösterlichen Anlagen, ohne dass es ihnen 11
SCHWERPUNKT (TAP) Ngawa ist typisch chinesisch geprägt, bie- Schon Maos Rotarmisten tet aber – neben dem wiederaufgebauten 700 Jahre alten Karma-Kagyüpa-Kloster Dagen mit und später die Rebellen zahlreichen Meditationsklausen – im Hinblick auf die fast vergessene Jonangpa-Tradition der Kulturrevolution zer- Außergewöhnliches. Eine gute Autostunde ent- fernt, inmitten kaum besiedelten Graslandes of- störten systematisch die fenbart sich unversehens eine beeindrucken- de weitläufige Klosterstadt, geprägt von viel- klösterlichen Anlagen, stöckigen Unterkünften für über 2.000 Mönche, Tempelanlagen und Tschörten (Reliquienschreine) ohne dass es ihnen jedoch Nahezu alles ist neu errichtet bzw. im Bau be- findlich; auch hier im abgelegenen Nomadenland gelungen wäre, auch die war die Zerstörung durch die Kulturrevolution to- tal. Was sich als ein Großkloster darstellt, ist in Glaubenskultur nachhaltig Wirklichkeit ein Konglomerat von drei selbständi- gen Klöstern, von denen das größte und wichtigs- zu unterdrücken te Hauptkloster des Jonangpa-Ordens, Tsangwa- Gompa, etwa 2.000 studierende Mönche beher- Die chinesische Militärpräsenz in Ngawa wird bergt. Es war beeindruckend zu beobachten, wie der heimischen Bevölkerung schon am frühen eine Meditation – für uns ungewohnt – auf einer Morgen durch Horden bewaffneter Soldaten, die grünen Wiese vor dem Klosterkomplex stattfand im Laufschritt mit Gebrüll durch die noch leeren und die Studierenden nach Beendigung mit bes- Straßen marschieren, unüberhörbar bewusst ter Laune an uns vorbeimarschierten und sich gemacht. Das hoch ummauerte Polizeiquartier gerne fotografieren ließen. (fotografieren streng verboten!) ist direkt am Die Nähe der Buddhismusakademie Larung Eingang zum Großkloster Kirti platziert, so dass Gar zu dem südlichsten Punkt (Dzamtang) optimale Kontrolle und Einsatzbereitschaft ge- unserer Amdo-Reise hat einen weiteren währleistet sind. Zwischenzeitlich ist bekannt, Besuchsversuch nahegelegt. Im Schutze öffentli- dass in diesem räumlichen Umfeld zahlreiche cher Verkehrsmittel und besonders der mitreisen- Selbstverbrennungen stattgefunden haben. den Nonnen und Mönche war er erfolgreich, und Heimlich aufgenommene Bilder ei- so konnten wir uns von den weiteren Fortschritten nes westlichen Journalisten der Haupt- und dieser ehemaligen Buddhisten-Einsiedelei über- Durchgangsstraße von Ngawa vermitteln den zeugen. Eine eindrucksvolle Versammlungshalle Eindruck von Bürgerkriegszustand, der nur mit für Nonnen, ein mehrstöckiges Krankenhaus, ein extremer Präsenz von Uniformträgern bekämpft exponiert gelegenes Gästehaus, die im Bau be- werden kann. findliche Abwasserkanalisation etc. vermitteln Unser Aufenthalt in Ngawa war geprägt den Eindruck einer funktionierenden und sich von mehreren persönlichen Begegnungen fortentwickelnden pan-buddhistisch-ökumeni- und Gesprächen mit Mönchen, Nonnen und schen Hochschuleinrichtung – zumindest derzeit. Einheimischen, die tiefen Einblick sowohl in das Auffällig war diesmal die in nur sehr kur- Alltags- als auch das Seelenleben eröffneten. zer Zeit enorm gewachsene Zahl chinesischer Auf dem Weg zur nächsten Etappe (Dzamtang Studierender. Für sie war ein eigenes Institut im / chin. Rangtang) liegt das völlig abgelegene, da- unteren, talnahen Bereich von Larung-Gar errich- für umso spektakulärer wirkende Kagyüpa-Kloster tet worden, und hier wurden die buddhistischen Sirin Kar (chin. Zengke Si) mit vier hochaufragen- Studien in chinesischer Sprache abgehalten. den „Milarepa-Türmen“, die nach ihrer Zerstörung Eine Wertung dieser Entwicklung fällt uns schwer durch die Chinesen ab 1996 wieder aufgebaut – Zufluchtsort für die vielen, an Wertemangel lei- wurden. Der dort eifrig betriebene Straßenbau denden jungen Chinesen, die Sinn und Antworten wird wohl in naher Zukunft dazu führen, dass die- im Buddhismus zu finden hoffen oder eine neue se so authentisch erscheinende Noch-Idylle zu ei- Sinisierungsbestrebung unter Ausnutzung später nem hochwertigen touristischen Highlight „ aufge- leicht auf den rechten Weg zurückführbarer jun- wertet“ werden soll. ger Menschen? Die abgelegene Verwaltungshauptstadt Dzam- tang in der Tibetischen Autonomen Präfektur 12
SCHWERPUNKT © TID Abendliches Debattieren (Kloster Repkong) Auffällig war diesmal die in Verschuldung, Alkoholmissbrauch, Kriminalität, Prostitution etc. nur sehr kurzer Zeit enorm Gesamtbetrachtung und Ausblick gewachsene Zahl chinesi- Das Reisen in den Siedlungsgebieten des histori- scher Studierender schen Tibets Kham und Amdo hat uns nachhaltig begeistert und alle Erwartungen übertroffen, die Für den Rückweg zum Ausgangspunkt unserer sich im Laufe der Planung ergeben hatten. Bei ei- Amdo-Reise, der Provinzhauptstadt Xining, wählten nem Vergleich mit vergangenen Aufenthalten in wir die Straßen abseits der Fernverbindungen über der sogenannten Autonomen Region Tibet erwei- Pedma (Baima), Darlag (Dari), Dawu (Maqin) und sen sich die osttibetischen Gebiete in mancher Guide. Während der stundenlangen Tagestouren Hinsicht als authentischer, zugänglicher und in blickten wir über nie enden wollendes Grasland, gewisser Weise auch abenteuerlicher. Da wir als spärlich bevölkert von Nomadenclans mit ihren Individualreisende unterwegs waren, entfiel jegliche ausladenden schwarzen Zelten und den dazugehö- Gängelung durch staatliche Guides bzw. Aufpasser. renden weit verteilten Yak- und Ziegenherden. Ein Konflikte mit den örtlichen Polizeiorganen (Public ernüchterndes Kontrastprogramm dazu stellen die Security Bureau/PSB) waren vorauszusehen und keineswegs seltenen eintönigen Wohnsiedlungen, sind mehrfach in teils massiver Art und Weise auch sogenannte „Neue Sozialistische Dörfer“, im abso- eingetreten. Häufiger und kaum zu vermeidender luten Nirgendwo dar, die eine staatlich beschlosse- Anlass ist der verbotene Aufenthalt in für (westli- ne Abschaffung des traditionellen Nomadentums bis che) Reisende gesperrten Gebieten oder Städten, Ende 2015 durch Zwangansiedlung herbeiführen da diese vorher nicht bekannt sind und sich auch sollen. Die unvermeidliche Folge: Arbeitslosigkeit, nach aktueller „Sicherheitslage“ ergeben können. 13
SCHWERPUNKT Die angedrohten einschneidenden Sanktionen Als das eigentliche herausragende Faszinosum wie Geldstrafen und Landesverweis konnten (auch) hier im osttibetischen Hochland erweist wir jeweils durch Einschaltung der Deutschen sich für uns die von den Tibetern praktizierte Botschaft verhindern; offensichtlich ein proba- Religionskultur im Kloster- wie im Alltagsleben. tes Mittel, das uns aber regelmäßig den Vorwurf Der tief verwurzelte buddhistische Glaube der mangelnder Kooperationsbereitschaft einbrachte. heimischen Bevölkerung wird dem fremden Eine Ermahnung und die anschließende polizei- Besucher nahezu überall vermittelt: der Nachbar liche Verbringung aus der verbotenen Zone so- bei der Busfahrt mantriert unermüdlich, im wie das Löschen unzulässiger Fotodateien sind Krämerladen oder Restaurant die Bilder ihrer ver- Einschränkungen, die man als Westler (leider) ehrten Rinpoches und Tulkus, die Marktfrauen hinnehmen muss. mit der Gebetsmühle, die Niederwerfungen im Die Mobilität in den bereisten Gebieten war Kloster oder bei der Kora etc. Die essentielle trotz (oder wegen) der dünnen Besiedlung immer Bedeutung des Dalai Lama für die Khampas und gewährleistet und das zu ausgesprochen günsti- Amdopas gleichermaßen lässt sich z.B. an den gen Tarifen. Längere Überlandfahrten starten ger- mutig und selbstbewusst in den Tempeln darge- ne morgens um 6 Uhr und sind schon am Vortag botenen Bildern des so schmerzhaft vermissten ausgebucht, so dass es ratsam erscheint, recht- Religionsoberhauptes festmachen. Dies geschieht zeitig das Ticket zu sichern – wenn möglich ers- trotz staatlichen Verbotes, aber (jedenfalls nach te Reihe wegen der deutlich besseren Sicht. Die unseren Beobachtungen und Erkenntnissen) wohl Fahrer und ihre Beifahrer verhielten sich immer auch mit Duldung der chinesischen Überwacher äußerst fürsorglich, und selbst Umwege extra für – zumindest zeitweise und bei Wohlverhalten der uns Fremde waren nicht selten. Der Kontakt zu Klostergemeinschaft ansonsten. Dass die meis- den Mitreisenden war meist sehr herzlich, und die ten der Selbstverbrennungen seit Februar 2009 Neugier sowohl der Tibeter als auch der Chinesen (erstmals Kloster Kirti / Ngawa) in Osttibet außer- führte alsbald zu interessanten Gesprächen halb der TAR zu beklagen sind, ist sicherlich auch und sogar kurzfristigen Freundschaften; kleine ein trauriger Beleg für die Glaubensintensität und Mitbringsel werden mit echter Begeisterung ange- Verzweiflung der Menschen vor Ort. nommen (z.B. Schneelöwe Tashi vom TID-Shop). Die (Über-)Reaktionen der chinesischen Man sollte allerdings darauf achten, Geschenke nur Administration auf diese Verzweiflungstaten führen in überschaubarem (tibetischen) Kreis zu überge- aller Voraussicht nach für ausländische Besucher ben. Selbst das Symbol des grünen Schneelöwen zu einer längerfristigen Sperrung von Orten wie ist in China und damit auch in Osttibet verboten. Ngawa (Kirti), Repkong, Serthar (Larung Gar), Es gibt weder Tassen noch Essschalen mit diesem Dzamthang und anderen oben besprochenen. beliebten Bild des Löwen, wohl aber mit den acht Ein Ausblick oder gar eine Reiseempfehlung für buddhistischen Symbolen. Was der Unterschied Tibetfreunde und –unterstützer muss derzeit be- ist? Der Löwe wird als separatistisches Symbol dauerlicherweise abratend, zumindest abwartend betrachtet, er will das Schneeland vom chinesi- ausfallen. Beschränkte Reisemöglichkeiten sind schen Mutterland trennen. Die buddhistischen günstigenfalls in einer unter chinesischer Kontrolle Symbole sind in dieser Hinsicht hingegen unver- stehenden Gruppe (mindestens sechs Personen dächtig. Wer dies nicht versteht, kann leicht zum mit derselben Staatsangehörigkeit) möglich. Opfer der Sicherheitsbehörden werden. Anonymus (Die Autoren sind der TID bekannt) Der tief verwurzelte bud- Literatur dhistische Glauben der hei- Baumer, Christoph/Weber,Therese: Osttibet- Brücke zwischen Tibet und China, Graz, 2002. mischen Bevölkerung wird Ludwig, Marita/Senft, Willi: Osttibet-Amdo und Kham, Gnas, 2007. dem fremden Besucher na- hezu überall vermittelt. 14
INTERVIEW „Die Entwicklung der Klöster zu sehen, war besorgnis- und angsterregend“ Interview mit der Medizinerin und Tibet-Unterstützerin Prof. Valeria Gärtner Valeria Gärtner ist als ordentliche Professorin für Pathologie und als Gleichstellungsbeauftragte an der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen im Oktober 2012 ausgeschieden. Sie zählt national und international zu den renommiertesten Medizinerinnen und Forscherinnen ihres Fachs. Neben der intensiven beruflichen Tätigkeit entdeckte sie frühzeitig ihr Interesse an Tibet. 17 Reisen in alle Teile Tibets und darüber hinaus in andere Regionen des Himalayas ließen sie nicht nur eine faszinierende Kultur, sondern auch die chinesische Unterdrückungs- und Sinisierungspolitik hautnah erleben. Daraus leitet sie ein besonderes Engagement für Tibet ab. Sie hat eine beeindruckende Foto-Ausstellung über West- Tibet und Mustang (Königreich Lo) konzipiert, die Tibet-Unterstützern zur Verfügung steht. Darüber hinaus bietet sie ihre Erfahrung und Kompetenz als Vortragende an in Form ihrer klassischen Dia- Doppelprojektion. Klemens Ludwig sprach mit ihr über ihren Werdegang, der sie bis Tibet geführt hat, sowie die Möglichkeiten der Unterstützung des tibetischen Freiheitskampfes. Brennpunkt TIBET: Frau Professor Gärtner, schließlich den Hinduismus und Buddhismus, aber was bringt eine renommierte Medizinerin und auch Zoroastra und über ihn schließlich Nietzsche. Wissenschaftlerin dazu, sich derart stark auf Tibet einzulassen, ein Land, in dem Religion, Meditation Brennpunkt TIBET: Hat Asien auf Sie von Beginn und Mythen eine dominierende Rolle spielen? an eine besondere Faszination ausgeübt? Valeria Gärtner: Schon während meines Valeria Gärtner: Nach dem Erleben der to- Medizinstudiums ging mein Blick über das rein ten Religionen suchte ich Länder mit gelebten Fachspezifische hinaus. Ich interessierte mich Religionen auf. Deshalb habe in den 1970er Jahren sehr für Philosophie und vor allem Vergleichende Indien, Indonesien, vor allem Bali und Thailand Religionswissenschaft. Die unterschiedlichen und besucht, letzteres wegen des Buddhismus. faszinierenden Religionen wollte ich aber nicht Damals gab es wenig Touristen, und ich konnte nur durch Lesen kennenlernen, sondern direkt viel Authentisches erleben, zum Beispiel bei tra- erleben. So besuchte ich Italien, Griechenland, ditionellen Festen. Der Hinduismus hat mich al- Ägypten und auch Mittel- sowie Südamerika. Das lerdings abgeschreckt. Ich kann bis heute das alles waren jedoch tote Religionen. Inspiriert durch Kastenwesen nicht akzeptieren, ebenso wenig wie den Indologen Prof. Paul Thieme entdeckte ich die Diskriminierung der Frauen. 15
INTERVIEW Brennpunkt TIBET: Trotzdem blieb die Faszination Welt eingetaucht. Ich habe auch den Kailash drei- Asien? mal umrundet, und es war eine faszinierende Auseinandersetzung mit den körperlichen Grenzen, Valeria Gärtner: Ich suchte nach einem Land, in aber auch ein klares Bewusstsein von einer heiligen dem Hinduismus und Buddhismus friedlich zusam- Stätte. menlebten und kam naheliegenderweise auf Nepal. Eine Buddhistin im eigentlichen Sinn bin ich nicht, Dort erlag ich gleich noch einer anderen Versuchung, aber die Ruhe und Gelassenheit der buddhistischen den Bergen. Ich habe in zahlreichen Trekking- Pilger haben mich auch dort sehr beeindruckt. Die Touren physische und psychische Herausforderung Bönpos übrigens auch, die bekanntlich anders her- gesucht. Dabei erfordern die Berge eine maximale um laufen und einem entgegen kommen. Auch sie Konzentration auf sich selbst und Kreativität im an- strahlen die heitere, ruhige Gelassenheit der freien tiken Sinn. Der Alleinherrscher in dieser Region war Tibeter aus. die Natur. Brennpunkt TIBET: Da spricht sicher nicht die Brennpunkt TIBET: Also war der Himalaya für Sie Wissenschaftlerin. in erster Linie eine Natur-Erfahrung? Valeria Gärtner: In der Tat, ich bin viel mystischer Valeria Gärtner: Nein, es ging weit darüber hinaus. als ich es in der Wissenschaft sein kann. Wir er- Die buddhistischen Orte in Nepal wie Bodnath oder fassen im Westen die Individualität in Form von Swayambunath waren für mich Oasen der Ruhe, die Genen und Synapsen. Im tibetischen Buddhismus ich sehr genossen habe, im Gegensatz zu dem Lärm ist das Individuum ein kosmologisches Ereignis. Der und dem für mich grotesken Treiben in den Hindu- Vajrayogini habe ich am Kailash nach alter Tradition Tempeln. Dort erlebte ich meine erste Begegnung einige Haarlocken und Kleidungsstücke geopfert. mit den Tibetern. Dann wurde Anfang der 1980er In Dzongsar in Kham habe ich das Heimatkloster Jahre Tibet geöffnet, und das Land zog mich von von Ngari Ringu Rinpoche besucht, dem eine Beginn an magisch an. Universität für Tantrismus angeschlossen ist. Im Osten von Bhutan hatte ich die Möglichkeit, bei ei- Brennpunkt TIBET: Was war das Besondere dort? nem Schwarzhutzauberertanz um Mitternacht bei Vollmond anwesend zu sein. Mystischer geht es Valeria Gärtner: Zunächst natürlich die Landschaft. nicht mehr. Da habe ich Europa völlig vergessen. Die Nordroute nach West-Tibet zum Kailash ist Manche Freunde sagen, ich sei dem Schamanismus landschaftlich einfach grandios, herausfordernd erlegen, auch wenn er im völligen Gegensatz zur und deshalb unvergesslich. Aber das war nicht al- medizinisch-wissenschaftlichen Forschung steht. les. Die Nomaden haben mich besonders fasziniert; Allerdings würde ich heute gern den Tantrismus stu- freie, selbstbestimmte Menschen, die ein Leben im dieren. Einklang mit der Natur leben. Immer wenn ich aus Tibet zurückkam, war ich trotz der Anstrengungen heiter und gelassen. Die Nomaden haben mich Brennpunkt TIBET: Zurück zu der wenig mystischen besonders fasziniert; freie, Wirklichkeit im heutigen Tibet. Sie haben alle Teile Tibets bereits. Haben Sie bedeutsame Unterschiede selbstbestimmte Menschen, wahrgenommen? die ein Leben im Einklang Valeria Gärtner: Die grundlegende Erfahrung und mit der Natur leben Entwicklung sind überall sehr ähnlich. 1984 war ich zum ersten Mal in Lhasa. Die tausendfältige Brennpunkt TIBET: Welche Rolle spielte der Götterwelt hat mich dort ebenso fasziniert wie im wei- Buddhismus bei Ihrer Faszination für Tibet? ten Land. Und auch die Symbolkraft, Manjushri, der mit einem Schwert die Unwissenheit besiegt, oder Valeria Gärtner: Die Hinayana-Schule, ich nenne Phäl Lhamo, die Schutzgöttin Lhasas, eine Frau. sie mal den reinen Buddhismus, hat mich emotional Überhaupt waren die meisten Frauen, die ich getrof- nie so angesprochen wie der tibetische Buddhismus, fen habe, ausgesprochen emanzipiert. Die Pujas, die der ja viele Elemente vom Schamanismus und Meditationen, die ganze Religiosität, waren damals der Bön-Religion übernommen hat. Ich habe an noch echt. Trotz der Schwere des Schicksals strahl- Orakelfesten teilgenommen und bin in eine andere ten die Tibeter eine große Heiterkeit aus. Aber man 16
INTERVIEW ahnte auch schon, dass sie für ihre Freiheit kämpfen ebenso wie die Bedrohung Tibets nahebringt. Ich würden, so mutig und entschlossen wie sie waren. würde mich sehr freuen, wenn diese Ausstellung, die bislang vor allem in Universitätskliniken, kommuna- Man ahnte schon, dass len Krankenhäusern, Rathäusern und Banken zu se- hen war, von vielen Solidaritätsgruppen aufgegriffen die Tibeter für ihre Freiheit und gezeigt werden könnte. Zudem halte ich Vorträge, etwa in öffentlichen kämpfen würden, Institutionen, bei Freimaurern sowie in Lions Clubs, so mutig und entschlossen die im Gegensatz zu anderen Vereinigungen dieser Art keinerlei politische Berührungsängste haben. wie sie waren Brennpunkt TIBET: Wie hat Ihre sehr wissenschaft- Brennpunkt TIBET: Wie intensiv haben Sie die po- lich geprägte Umgebung auf Ihre Tibet-Begeisterung litische Situation verfolgt? reagiert? Valeria Gärtner: Sehr intensiv, und es gab vie- Valeria Gärtner: Ausgesprochen positiv. Als ich mei- le Gelegenheiten dazu. In Ost-Tibet habe ich mit ne erste Ausstellung im Großen Klinikum in Tübingen Mönchen über die politische Situation diskutiert. hatte, waren alle Ordinarien zugegen. Neben der Einen Eindruck von den Spannungen erhielt ich Bewunderung, dass ich mich in meinen Ferien solch auch, als 1989 der Friedensnobelpreis an den Dalai körperlichen und geistigen Herausforderungen stell- Lama vergeben wurde. Damals befand ich mich auf te, und ein so großes Themenspektrum beackerte, einer Tour mit tibetischen und chinesischen Fahrern konnte ich sie auch für das Schicksal Tibets inter- im Westen, zurück auf der Südroute vom Kailash. essieren. Ich habe außerhalb der Tibet-Szene viel Nach der Bekanntgabe durch das Nobelpreiskomitee Unterstützung für das unterdrückte Volk mobilisiert. kam es zum Streit zwischen den Fahrern, der in einer Natürlich ist es schwierig, das zu messen, denn vie- Schlägerei endete. Aber auch die ersten Anzeichen le haben die Verantwortung für Tibet auf die Politiker der Sinisierung erlebte ich in den 1980er Jahren, ti- abgeschoben. betische Siedlungen, durchsetzt von chinesischen Kasernenbauten. Brennpunkt TIBET: Der direkte Einfluss auf Tibet hält sich aber für alle Tibet-Unterstützer in Grenzen, Brennpunkt TIBET: Haben sich Ihre Reise- solange sich China unnachgiebig zeigt. erfahrungen dadurch grundlegend verändert? Valeria Gärtner: Nur zu informieren und zu mobi- Valeria Gärtner: Natürlich, es wurde mit jedem lisieren mit Ergebnissen, die letztlich nicht beein- Jahr frustrierender. Chinesische Polizisten, wohin flusst werden können, reicht mir tatsächlich nicht. man kam. Die Läden und die ganze Altstadt von Ich wollte immer auch konkret helfen. Das ist in Lhasa wurden immer chinesischer; der Potala zum Tibet nur begrenzt möglich, wenn man gleichzeitig Ausstellungsobjekt ohne wirkliche Substanz. Die politisch arbeitet. Ich bin deshalb Vorsitzende der Entwicklung der Klöster zu sehen, war besorgnis- Organisation Entwicklungshilfe Tibet (EHT e. V.). und angsterregend: Wie sie immer mehr in chinesi- Wir sind für die gesamte medizinische Versorgung sches Kulturgut umgewandelt werden, wie Äbte nicht des Flüchtlingslager Jampa Ling zuständig und ha- mehr inkarniert, sondern politisch bestimmt werden. ben u. a. für die dort lebenden Khampa, die fast zwei Das bringt mich bis heute buchstäblich zum Weinen. Jahrzehnte gegen die chinesische Besetzung ihrer Im Jahr 2000 hat es mir endgültig gereicht, danach Heimat gekämpft haben und heute weitgehend ver- bin ich nicht mehr hingefahren, sondern setze mich gessen sind, Seniorentoiletten finanziert. Wir sind zu- auf andere Art für Tibet ein. Es würde mir auch sehr dem für die Ausbildung unserer Patenkinder zustän- schwer fallen, heute jemandem zu raten, nach Tibet dig. Mein tibetisches Patenkind konnte in Indien stu- zu reisen. Ich selbst bin sehr dankbar, dass ich die dieren und ist heute Lehrerin in Mustang. Außerdem freien Tibeter noch erleben durfte. bin ich Mitglied der Tibet Initiative und gern bereit, mich mit meinen oben beschriebenen Möglichkeiten Brennpunkt TIBET: Können Sie Ihr Engagement den Regionalgruppen zur Verfügung zu stellen. näher beschreiben? Brennpunkt TIBET: Herzlichen Dank für das Valeria Gärtner: Ich habe eine Fotoausstellung Gespräch und weiterhin viel Resonanz für Ihre konzipiert, die den Besuchern die Faszination Aktivitäten. 17
KURZINTERVIEW Interview mit Ringu Tulku Rinpoche Der 60-jährige Ringu Tulku Rinpoche flüchtete 1958 aus Kham nach Indien, war Professor für Tibetologie und Buddhismus in Sikkim und begann vor 20 Jahren seine Lehrtätigkeit im Westen. In seiner alten Heimat setzt er sich für den Aufbau von buddhistischen Ausbildungsstätten und Gesundheitszentren ein. Dr. Thomas Brüninghaus, Sprecher der TID-Regionalgruppe Münster, sprach mit ihm für Brennpunkt TIBET über die Selbstverbrennungen in Tibet. Mehr Infos unter: www.rigul.org © Thomas Brüninghaus Brennpunkt TIBET: Seit 2009 haben sich mehr als Brennpunkt TIBET: Welche Bedeutung hat dabei 100 Tibeter selbst verbrannt. Für westliche Menschen der Buddhismus? ist diese Protestform fremd oder gar befremdlich. Ringu Tulku Rinpoche: Die chinesische Regierung Ringu Tulku Rinpoche: Ich sehe den Protest im macht den Dalai Lama für die Selbstverbrennungen Sinne von Gandhis satyagraha, also eine fried- verantwortlich, aber dieser steht für vollkommene liche Form zivilen Ungehorsams. In Tibet gibt Friedfertigkeit. Die Menschen, die sich selbst ver- es keine Redefreiheit. Jegliche Art von Protest, brennen, erwarten davon keineswegs eine spirituel- Demonstrationen oder Streiks werden von der chi- le Erhöhung oder sonstige Belohnung. Das Konzept nesischen Regierung verboten. Wer die Inhaftierung des Märtyrertums ist kein buddhistisches Konzept. überlebt, stirbt oft wenige Tage nach der Entlassung aus dem Gefängnis an den Folgen der Folter. Brennpunkt TIBET: In den 1960er Jahren gab es Also greift man zu dieser drastischen, ultimativen Selbstverbrennungen in Vietnam. Wissen die Tibeter Protestform und stellt sicher, dass man nicht über- davon? lebt. Zu überleben würde einen grausameren Tod durch schlimmste Folter bedeuten. Ringu Tulku Rinpoche: Auch die vietnamesischen Mönche haben damit auf die massive Ungerechtigkeit Brennpunkt TIBET: Ist das nicht eine sehr aggres- aufmerksam machen wollen. Tatsächlich gab es sive Form? weltweit starke und hilfreiche Reaktionen. Aber heu- te scheint es eine Art von Selbstzensur der Medien Ringu Tulku Rinpoche: Nein, niemand wird verletzt zu diesem Thema zu geben. außer dem Durchführenden. Und es werden dabei auch keine aggressiven Ansprachen gehalten oder Brennpunkt TIBET: Sehen Sie Auswirkungen der Anschuldigungen gemacht. Es ist eine höchst per- Selbstverbrennungen? sönliche Entscheidung des Einzelnen im Vertrauen darauf, dass die Menschen außerhalb Tibets dies Ringu Tulku Rinpoche: Zunächst vereinigt es die wahrnehmen und sich für Tibet einsetzen mögen. Tibeter. Sie verstehen diesen Protest und sind tief be- wegt. Die chinesische Regierung reagiert sehr verär- Brennpunkt TIBET: Gibt es so etwas wie eine gert, versucht die Kontrolle zu behalten. Inzwischen Tradition? gibt es eine Regel, dass alle, die das Inferno se- hen, versuchen müssen, denjenigen zu stoppen. Ringu Tulku Rinpoche: Nein, auch wenn dieser Das ist aber nicht möglich, da die Brennenden das Protest seinen Ursprung in den 1950er Jahren hat. Benzin schon geschluckt haben. Da man von den Damals war der Widerstand auch gewalttätig, und Verstorbenen keine Aussagen erhalten kann, er- das hat seinen Ursprung in der tibetischen Mentalität: zwingt man diese von den Hinterbliebenen. Und dann „Lieber als Tiger sterben, denn als Fuchs überleben“. gibt es die Intellektuellen und Dissidenten in China, Dieses Bedürfnis nach Würde und Gerechtigkeit die sich beschämt äußern und sich um Aufklärung drückt sich jetzt in den Selbstverbrennungen aus. bemühen. Auf diesen Prozess müssen wir vertrauen. 18
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