Mit Sicherheit gläubig - Philipps-Universität Marburg
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Herbst 2017 Mit Sicherheit gläubig Mal tolerant, mal autoritär: Martin Luther schwankte, ob Politik und Religion strikt voneinander getrennt werden sollten oder nicht. Die Folgen spüren wir noch heute Als der Tod nach Marburg kam 50 Jahre Marburgvirus: Der Erreger fesselt die Forschung noch immer Massenmörder aus der Nähe Studierende beobachten UN-Tribunal in Kambodscha ISSN 1616-1807 Philipps-Universität Marburg und Marburger Universitätsbund e.V.
Nachhaltigkeit bestimmt unser Handeln. Heizsysteme Industriesysteme Viessmann Werke GmbH & Co. KG · 35107 Allendorf (Eder) Kühlsysteme Als inhabergeführtes Familienunternehmen in dritter Generation ist Viessmann einer der international führenden Hersteller von Heiz-, Industrie- und Kühl- systemen. In der Region um seinen Stammsitz ist Viessmann fest verwurzelt und bekennt sich zu seiner gesell- schaftlichen und sozialen Verantwortung. www.viessmann.de I-NHK_Unijournal_A4_Werke.indd 1 24.08.17 15:01
Marburger Herbst 2017 Aus dem Inhalt 2 Roboter unter Beobachtung: Wie wirkt sich die Unter- 3 In den Kopf schauen stützung durch Automaten in der universitären Lehre aus? So bunt ist Wissenschaft: 2 Im Netz 1: Eine private Stiftung spendet Geld für den Weiter- Ein neues Zentrum an der bildungsstudiengang „Kulturelle Bildung“ Philipps-Universität widmet 3 Im Netz 2: Marburg erhielt ein Zentrum für die Hirnforschung sich dem Hirn, dem Geist Jens Maus (Commons) und rüstet sich für die Exzellenz und dem Verhalten. Studie- rende sollen hier früh die Forschung kennenlernen, zum Beispiel moderne, 4 Den Jugendlichen eine Stimme! farbenfrohe Bildgebung. Studie untersuchte sexualisierte Gewalt, Grenzflächen-Forscher erhalten weiteres Geld, Psychologen gründen Promotions- 8 Boten des Bösen schule: Neuigkeiten aus der Marburger Forschung Schaut unschuldig aus, 8 Sie trugen den Tod in sich brachte aber tödliche Vor 50 Jahren forderte das Marburgvirus erstmals Todesopfer. Keime: Meerkatzen lösten Noch immer birgt der Erreger gefährliche Geheimnisse – 1967 die erste Marburg- Marburger Virologen enträtseln sie Stück für Stück virus-Epidemie aus. Bis Eric Kilby (Commons) 12 10 Jahre Forschung im Hochsicherheitslabor heute forschen Wissen- Die Philipps-Universität bietet bestens geschützte Arbeitsplätze schaftler der Philipps- 16 Klasse Viren! Universität an dem heim- So fesselnd ist Laborarbeit: Jedes Jahr absolvieren Schülerinnen tückischen Erreger. und Schüler ein Praktikum in der Virologie – in den Ferien! 18 Uneins mit sich 18 Stets Streit um Luther! „Man muss Luther gegen Luther lesen“: Der Reformator Eigentlich wollte er nur schwankte, was die Trennung von Politik und Religion anging. die bestehende Kirche er- Zwei Historiker diskutieren, wie der Glaubensstreit nachwirkt neuern, aber heraus kamen 24 Was uns Luther sagt unvereinbare Bekenntnisse, Bildarchiv Foto Marburg Die Bibel wegwerfen? Eine Theologin, eine Religionswissen- politische Umwälzungen, schaftlerin und ein Sprachhistoriker legen ihre Sicht auf den sogar Krieg. Luther bereite- Reformator dar te die Moderne vor, sagen 26 Atemberaubend unsere Experten. Wie Asthma entsteht 28 Endlich therapiefrei Krebsmediziner von der Philipps-Universität analysieren, 46 Nach dem Ende welche Heilungschancen für Leukämiepatienten bestehen Die Roten Khmer hinter- 30 Tropfen wirft Echo ließen Kambodscha als Marburger Geografen messen Niederschläge in Ecuador Riesen-Friedhof. Ein UN- 32 Hut ab! Tribunal spricht Recht über Die Marburger Universität feierte die besten Doktorarbeiten die Täter. Studierende der 34 Gut angekommen Neue Professorinnen und Professoren Philipps-Universität haben 36 Druckfrisch: Lehrbücher und Übersichtswerke sich angeschaut, ob die Pro- istolethetv Wie die Weltwirtschaft entstand, Politisches Denken, Informatik zesse fair verlaufen. für den Bachelor – Neuerscheinungen aus der Uni Marburg 37 Aberkennung von Titeln Gute wissenschaftliche Praxis: Die Ombudsmannkolumne 38 Sie halten zusammen Siegreiche Damenhandballerinnen, neues Amt für Alt-Oberbür- germeister, Studierende mit Aktien: Neuigkeiten aus der Uni 40 Ins rechte Licht Bundessieg bei „Jugend forscht“ für drei Marburger Studenten 45 Der Uni verbunden Werden Sie Mitglied im Förderverein! 46 Nicht wegschauen Studierende beobachten das Tribunal gegen die Roten Khmer 50 „Deutschlehrer waren abschreckend“ Die Autorin Dagmar Leupold über ihre Marburger Studienzeit 52 Entschiedener Friedensmahner: Das biografische Rätsel 52 Impressum
Netzwerke bilden Die Roboter bitten zur Sprechstunde Der Weiterbildungsstudien- gang „Kulturelle Bildung Bundesbildungsministerium fördert Marburger Projekt für digitale Hochschulbildung an Schulen“ der Philipps- Universität erhält 300.000 Man kennt sie aus Presse, Funk können sie auch soziale Rollen figer Fragen – gerecht zu wer- Euro von einer Stiftung, und Fernsehen oder sogar live einnehmen und mit Menschen den. um 26 Schulen und Kultur- aus dem Hörsaal: Jetzt erkundet interagieren. So kann sich „Pep- Solche und ähnliche Szena- institutionen zu vernetzen. ein neues Projekt an der Phi- per“ nicht nur in mehreren Spra- rien sollen in einem ersten Die „Stiftung Jugend – Bil- lipps-Universität, wie sich der chen unterhalten, sondern auch Schritt des Projektes entwickelt dung – Kultur“ der Firma Einsatz der menschenähnlichen Gefühle erkennen und seiner- werden, das den Titel „HEART“ Pricewaterhouse-Coopers Roboter „Pepper“ und Nao“ in seits zum Ausdruck bringen. trägt. Sodann werden „Pepper“ fördert das Projekt „Ästhe- der Hochschullehre auswirkt. „Sein gesamtes Verhalten ist da- und „Nao“ für den universitären tische Forschung als Teil Das Bundesforschungsministeri- rauf ausgelegt, gemocht zu wer- Alltag fit gemacht, indem nachhaltiger Schulentwick- um fördert das Vorhaben des den“, sagt Handke. HEART sie mit neuer Software lung“. Anglisten Jürgen Handke mit ausstattet. Ihre Tätigkeiten im Das Netzwerk führt die be- 137.000 Euro, um die Entwick- Pepper zeigt Gefühle Universitätsbetrieb sowie ihr teiligten Schulen und Insti- lung interaktionsfähiger Roboter Anklang bei Studierenden sollen tutionen zusammen, um ein für die Lehre voran zu bringen. Ebenso freundlich ist Roboter schließlich umfassend dokumen- Programm für forschendes Roboter kommen immer häu- „Nao“ – beste Voraussetzung für tiert und evaluiert werden – Lernen in Kunst und Kultur figer im Alltag zum Einsatz, et- den Einsatz an der Uni, etwa als schließlich sind die kleinen Ro- auszuarbeiten und in den wa im Sozial- und Gesundheits- Assistent für Lehrende. Die nim- boter lernfähig. Die Auswertung Schulen zu verankern, etwa wesen. Die Automaten be- mermüden und stets höflichen der Ergebnisse wird von der durch Lehrerfortbildung. schränken sich keineswegs nur Roboter sollen helfen, dem stei- Marburger Bildungsforscherin aufs Rasenmähen oder Staubsau- genden Betreuungsaufwand – Susanne Lin-Klitzing begleitet. Gut abgeschnitten gen: In zunehmendem Maße etwa bei der Beantwortung häu- >> Andrea Ruppel Dass ein richtig gutes Stu- Pressestelle dium auch in sogenannten Massenfächern möglich ist, zeigen die Ergebnisse des aktuellen Hochschulran- kings, die das „Centrum für Hochschulentwicklung“ im Sommersemester im „ZEIT Studienführer 2017/18“ ver- öffentlicht hat. Untersucht wurden unter anderem Rechtswissenschaften, Betriebswirtschaftslehre (BWL) und Volkswirt- schaftslehre (VWL). Die Philipps-Universität erzielt sehr gute Ergebnisse bei der „Unterstützung am Studienanfang“ in Jura und VWL. In der Kategorie „Ab- Der Roboter Pepper zieht immer schluss in angemessener wieder das Interesse der Medien Zeit“ haben sich VWL und auf sich, so beim Sender ARD al- BWL in der Spitzengruppe pha, der Aufnahmen für sein Cam- positioniert. pus Magazin machte. Der Anglist Jürgen Handke setzt die Roboter „Pepper“ und „Nano“ in einem Wie man sich in Szene setzt: Auch Linguistik-Seminar ein. Gefördert das kann man von „Pepper“ ler- vom Bundesforaschungsministeri- nen. „Humanoide Roboter werden um, erkundet Handke die Einsatz- eher früher als später zum Alltag möglichkeiten interaktionsfähiger gehören“, erklärt Jürgen Handke. Roboter in der Lehre. 2
Engagement in Jens Maus (Commons) Lateinamerika Die Philipps-Universität und andere hessische Hochschulen haben sich an der jüngsten Lateiname- rikareise des hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier beteiligt und dabei engere Bande als bisher mit Partnern in Mexiko und Kolumbien geknüpft. Die hessischen Hochschulen leisten wichtige Beiträge, um den aktuellen gesell- schaftlichen, politischen und ökonomischen Aufga- ben in beiden Ländern zu begegnen. So baut die Uni Marburg gemeinsam mit deutschen und kolumbia- nischen Partnern ein Netz- werk auf, das sich einer international vergleichenden Perspektive auf Friedens- prozesse widmet. Dieses Heft war Moderne Bildgebungsverfahren machen Hirnstrukturen und -aktivitäten sichtbar. kein Baum Mitspinnen am Netz der Neuronen Umweltschutz steht bei der Philipps-Universität nicht nur auf dem Papier, sogar Auf dem Weg zur Exzellenz: Das Zentrum MCMBB bündelt die Marburger Hirnforschung beim „Hochschulwettbe- werb Papieratlas 2017“ hat Fast die Hälfte aller Marburger Neurophysiker Frank Bremmer, Wie Bremmer ausführte, stärkt sie gut abgeschnitten: Dank Fachbereiche hat Neurowissen- der als geschäftsführender Di- das MCMBB auch die Lehre, einer Recyclingpapierquote schaftler und -wissenschaftle- rektor des Zentrums amtiert. insbesondere durch die Beteili- von 99,25 Prozent belegt rinnen in ihren Reihen. Sie bes- „Das Zentrum bietet als Platt- gung an den beiden Marburger Marburg im Vergleich mit ser zu vernetzen als bisher, ist form für Vernetzung und wis- Masterstudiengängen‚ ‚Kognitive 38 anderen deutschen eine der Aufgaben, die sich das senschaftlichen Austausch dafür und Integrative System-Neuro- Hochschulen Platz acht. neue neurowissenschaftliche die besten Möglichkeiten.“ wissenschaften‘ sowie ‚Moleku- Als „Recyclingpapier- Zentrum der Philipps-Univerität lare und Zelluläre Neurowissen- freundlichste Hochschule“ gestellt hat: Sie gründete im Studierende lernen früh schaften‘. zeichnete das Bundesum- Sommer dieses Jahres das Mar- die Forschung kennen Auch beim Exzellenzpro- weltministerium die Univer- burg Center for Mind, Brain and gramm des Bundes und der Län- sität Osnabrück aus. Recy- Behavior (MCMBB) als zentrale Die Institution soll die Marbur- der haben Bremmer sowie seine clingpapier einzusetzen, ist wissenschaftliche Einrichtung. ger Neurowissenschaften bün- Kolleginnen und Kollegen ge- eine einfache und effektive „Wir möchten unsere Stu- deln, Forschung, Internationali- punktet: Die mittelhessische Maßnahme zum Schutz der dierenden möglichst frühzeitig sierung und Nachwuchsförde- Cluster-Initiative „The Adaptive Ressourcen. Die Herstel- an aktuelle Forschungsthemen rung unterstützen. Ein wissen- Mind“ erhielt die Aufforderung, lung spart im Vergleich zu heranführen und sie so optimal schaftliches Symposium ihren Förderantrag auszuarbei- Frischfaserpapier bis zu 60 auf spätere Tätigkeiten vorberei- begleitete die Gründung der For- ten. Prozent Energie und 70 Pro- ten“, erklärte der Marburger schungseinrichtung. >> hk zent Wasser. Buchtipp Prof. Dr. Jürgen Handke Handbuch Hochschullehre Digital Leitfaden für eine moderne und mediengerechte Lehre Tectum Verlag Die 2. Auflage erscheint bis Ende des Jahres 2017: ca. 250 S., brosch., ca. 19,95 €, ISBN 978-3-8288-4014-0 www.tectum-verlag.de 3
Wer weiß, was kommt Zum Sprechen gebracht Marburg erhält ein weiteres Erziehungswissenschaftlerin präsentierte Studie zu Gewalterfahrungen Jugendlicher Graduiertenkolleg (GRK): Die Deutsche Forschungs- „Das Hauptrisiko für sexualisier- mersemester die Ergebnisse ei- geführt hat – die Untersuchung gemeinschaft gibt fast vier te Gewalt sind andere Jugendli- ner Studie über „Sexualisierte trägt den sprechenden Titel Millionen Euro für die neue che, das heißt Gleichaltrige“, Gewalt in der Erfahrung Jugend- „Speak!“ Das Besondere daran Einrichtung, an der Promo- ist Maschke zufolge, dass sie die vierende untersuchen, wie Perspektive von Jugendlichen sich Erwartungen verän- einbezieht, „die sexualisierte dern, wenn etwas Unvor- Gewalt beobachtet oder auch hergesehenes eintritt. selbst ausgeübt haben“. Die Sprecher des Kollegs ist Schule sei ein Ort, an dem das Mario Gollwitzer, der die Risiko von nicht-körperlichen Marburger Arbeitsgruppe Formen sexualisierter Gewalt Psychologische Metho- bestehe. „Gleichzeitig kann sie denlehre leitet. An dem ein bedeutender Ort für die Prä- GRK sollen in den nächsten sagt Sabine Maschke. Die Erzie- licher“ vorgestellt, die sie ge- vention sein.“ viereinhalb Jahren 25 Dis- hungswissenschaftlerin von der meinsam mit ihrem Gießener >> Stefan Löwer, Hessisches sertationen entstehen. Philipps-Universität hat im Som- Kollegen Ludwig Stecher durch- Kultusministerium VAKUUMLÖSUNGEN Für höchste Ansprüche – aus einer Hand Vakuum ist nicht gleich Vakuum, auf die spezifischen Anforderungen kommt es an. Gemeinsam mit unseren Kunden erarbeiten wir jede Vakuumlösung individuell und nach ihren Bedürfnissen. Dieser Prozess umfasst alle Schritte zur Schaffung von perfekten Vakuumbedingungen. Dabei bieten wir nicht nur hochqualifizierte Produkte, sondern auch passendes Zubehör, Anwenderschulungen und weltweiten Service. Überzeugen Sie sich selbst! Entdecken Sie unsere Lösungen und Applikationen unter: www.pfeiffer-vacuum-solutions.de 17.09.06_MarburgerUniJournal_Vakuumlösung_186x135mm_DE.indd 1 06.09.17 17:26 4
Rolf K. Wegst Der Physiker Ulrich Höfer von der Philipps-Universität amtiert als Sprecher des Sonderforschungsbereichs. Naturwissenschaftler schneidern Material nach Maß Die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert den Marburger Verbund „Innere Grenzflächen“ weiter Die Grenzflächenforschung an um weitere vier Jahre verlän- physikalisch-chemischen Phäno- maßschneidern.“ Hierfür stehen der Philipps-Universität tritt in gert. mene an Grenzflächen zu ver- den beteiligten Forscherinnen eine neue Phase ein: Die Deut- Unter inneren Grenzflächen stehen“, erläutert der Marburger und Forschern weitere 10,5 Mil- sche Forschungsgemeinschaft verstehen die Forscher Kontakt- Physiker Ulrich Höfer, der Spre- lionen Euro für den Zeitraum hat den Marburger Sonderfor- flächen zwischen zwei Material- cher des Verbunds. „Jetzt wollen von vier Jahren bis 2021 zur schungsbereich „Struktur und schichten. „Zunächst ging es wir diese auch gezielt kontrollie- Verfügung. Dynamik innerer Grenzflächen“ uns in erster Linie darum, die ren und für neue Anwendungen >> Andrea Ruppel 5
Kurz und gut Zellen als Tausendsassas Nachrichten aus der Forschung Das „House of Pharma“ informierte über Stammzellen E in Forschungsteam um den Marburger Mikrobiologen Johann Heider hat ein neues Strukturelement identifiziert, das bei Enzymen vorkommt, mit denen Kohlendioxid in Bio- Neuronale Schaltkreise aus Stammzellen standen im Fokus eines Perspektivengespräch, das Volker Busskamp und sei- nem Team ist es gelungen, aus pluripotenten Stammzellen, die moleküle eingebaut wird. Das neu entdeckte Muster kannte die Initiative „House of Pharma menschlichem Bindegewebe man bisher nur von künstlich hergestellten Molekülen. & Healthcare“ im vergangenen entstammen, Nervenzellen von (Quelle: Proteins: structure, function, and biosynthesis) Sommersemester in Marburg bisher unerreichter Reinheit her- durchführte. Volker Busskamp zustellen. Solche Zellen sind ele- *** aus Dresden sprach bei der Ver- mentare Bestandteile unserer anstaltung über aktuelle Per- Sinnesorgane. D er neue Marburger Verbund „PANDORA“ bringt For- schungseinrichtungen und ein Software-Unternehmen mit Praktikern zusammen, um zu untersuchen, unter welchen spektiven der Stammzellfor- schung. Wie man spezialisierte Kör- Werden sie im Reagenzglas zu künstlichen Schaltkreisen zusammengefügt, können sie Bedingungen Propaganda im Internet zu Gewalt führt. Das perzellen in pluripotente der Forschung als Modelle neu- Konsortium unter Leitung der Politologin Ursula Birsl erhält Stammzellen zurückverwandeln ronal verursachter Erkran- 2,6 Millionen Euro vom Bundesforschungsministerium. kann, weiß man seit dem Jahr kungen wie Alzheimer oder der 2006. Solche induzierten pluri- Netzhautdegeneration Retinitis *** potenten Stammzellen (iPSC) er- pigmentosa dienen. Gegen diese öffnen unerschlossene Hori- Erblindungskrankheit hat Buss- S teuern auf Nachtigallen? Ja, die gab es. Eine frühe Maß- nahme staatlichen Naturschutzes steht im Fokus einer neuen Veröffentlichung des Marburger Historikers Niklot zonte für die Diagnostik und Therapie insbesondere degenera- tiver Erkrankungen. Wie lassen kamp bereits Gentherapien ent- wickelt, nun arbeitet er daran, die Methode auf andere Körper- Klüßendorf. Im 19. Jahrhundert erhoben 17 deutsche Staaten sich iPSC-Zellen am besten in zellen auszudehnen. Abgaben, um die Käfighaltung von Nachtigallen einzuschrän- gewünschte Körperzellen um- >> Joachim Pietzsch, House ken – erstmals vor 140 Jahren. (BWG 2017) programmieren? of Pharma & Healthcare e.V. Einwanderer erweisen sich als harmlos Zur Fremdenfeindlichkeit besteht kein Anlass: Schön ist sie nicht, die Schwarznarbenkröte, aber sie schadet auch nicht. So lässt sich zusammenfassen, was ein Team um den Marburger Biologen Sven Mecke herausgefunden hat. Die Forschungsgruppe überprüfte, ob ein natürlicher Lebensraum darun- ter leidet, wenn eine fremde Art eingeschleppt wird, in diesem Fall die asiatische Kröte. Sie wurde vor geraumer Zeit auch in Ost-Timor heimisch, einem Inselstaat, der In- donsien benachbart ist. Mecke und Co untersuchten den Mageninhalt der Lurche, die im Verdacht stehen, die neue Heimat ratzeputz leerzufressen, ohne vor Vögeln, Reptilien und kleinen Säu- getieren haltzumachen. Das Team öffnete die Mägen von 83 Indivi- duen. Darin fanden sich jede Men- ge Insekten und Spinnen, Schne- cken und Gewürm, alles in allem L. Shyamal (Commons) 5581 Beutestücke – aber kein ein- ziges Wirbeltier. Alarm abgebla- sen. Quelle: Britta Döring & al., J. Nat. Hist. 2017 >> Johannes Scholten 6
DEN PATIENTEN VERPFLICHTET HOFFNUNG IST, WAS WIR BEI SANOFI JEDEN TAG GEBEN, INDEM WIR IMMER NEUE HERAUSFORDERUNGEN ÜBERWINDEN, UM DAS LEBEN VON SIEBEN MILLIARDEN MENSCHEN ZU SCHÜTZEN. © Pierre-Olivier/Capa Pictures - Als eines der weltweit führenden Gesundheitsunternehmen erforscht, entwickelt, produziert und vertreibt Sanofi innovative medizinische Lösungen, die Krankheiten vorbeugen, heilen und die die Lebensqualität von Patienten und ihren Familien verbessern. www.sanofi.com 1601_XXK_A 1601_XXK_A_210x297.indd 1 26.09.17 16:40
Sie trugen den Tod in sich Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass in Marburg eine tödliche Seuche grassierte, übertragen von Affen. Noch heute erforschen Virologen den Erreger, um ihm seine letzten Geheimnisse zu entreißen. Grüne Meerkatzen dienen dem Marburgvirus als Zwischenwirte. 8
W ären da nicht die Welt eintreten, eine Welt mit ab- Eric Kilby (Commons) Menschen in den gesenktem Luftdruck und ste- bizarren Rauman- rilen Gerätschaften, in der zügen, könnte Schutzanzüge die Beweglichkeit man fast meinen, man befinde einschränken und die Arbeit mit sich in einem Heizungskeller, kleinsten Partikeln zu einer vielleicht auch in einer moder- schweißtreibenden Angelegen- nen Großküche: blitzblanke Flä- heit machen. chen glänzen im kalten Licht, dicke Blechrohre winden sich * wie Schlangen aus Metall unter der Decke. So muss es aussehen, Marburg im Jahr 1967: Um wenn sich der Mensch irgend- Zellkulturen zu gewinnen, ha- wann auf fernen Planeten ein- ben die Behringwerke stren- richtet, von einer unbewohnbar ge Vorkehrungen gegen gewordenen Erde vertrieben, ge- Keime getroffen. Wer in die landet in einer lebensfeindlichen Betriebsräume hinein will, Umgebung. Das Reich der Viren muss seine Kleidung able- ist eine fremde Welt. gen, sorgfältig duschen und Der Raum ist keine Station sterile Arbeitskleidung anle- im All, sondern ein Labor, die gen, von der Unterhose bis jungen Leute darin sind keine zu Kitteln und Schuhen. Die Astronauten, sondern Virenfor- Organe der Versuchstiere scher, von Kopf bis Fuß einge- werden in speziellen Kabinen hüllt in knallgelbe Schutzanzü- aufbereitet, sämtliche Gerät- ge. Mitten im Wald, am Rand schaften müssen mit einem von Marburg, nehmen sie Bunsenbrenner abgeflammt Krankheitserreger unter die Lu- werden, wobei die Beschäf- pe, die zum Aufregendsten ge- tigten Handschuhe und hören, was die Wissenschaft Mundschutz tragen – nicht heute zu bieten hat, so gefähr- zu ihrer eigenen Sicherheit, lich sind sie: Keime wie das sondern um die Zellkulturen Marburgvirus. „Bei einem vor Kontamination zu bewah- schweren Krankheitsverlauf blu- ren.* ten die Betroffenen aus allen Körperöffnungen“, sagt Stephan * Becker. „Es handelt sich um ei- ne der schlimmsten Infektions- „Die schlimmsten Infektions- krankheiten.“ Der Virologe leitet krankheiten, die wir kennen, das Marburger Hochsicherheits- gehen auf Erreger zurück, die labor, an dem er zusammen mit vom Tier auf den Menschen Kolleginnen und Kollegen die übertragen werden“, sagt Ste- gefährlichen Erreger studiert. phan Becker. Die Fachleute spre- Wären sie mehr als ein paar tote chen bei solchen Erkrankungen Moleküle, man müsste sie heim- von Zoonosen. Als das Marburg- tückisch nennen. Vielleicht trägt virus im Jahr 1967 zum ersten das zu ihrem Reiz als For- Mal auftritt, kennt man noch schungsobjekte bei: Dass man keine vergleichbaren Krank- sich kaum vorstellen kann, wie heitserreger, die wie aus dem sie immer und immer wieder Nichts kommen, sich epide- die Abwehr des Körpers umge- misch verbreiten und Todesopfer hen, ohne einem böswillig aus- fordern. „Dass ein so gefähr- geheckten Plan zu folgen. liches Virus aus Afrika nach Wer herausfinden will, wie Deutschland eingeschleppt sie es schaffen, ihre Opfer zu wird, hatte es zuvor noch nicht überlisten und sich zu verbrei- gegeben“, urteilt der Marburger ten, muss durch luftdichte Institutsleiter. Der Ausbruch vor Schleusen in eine abgeschiedene 50 Jahren ging an der Universi- 9
Eine Welt für sich: Blick in das Hochsicherheitslabor des Marburger Instituts für Virologie Anna Schroll für „Hessen schafft Wissen“ 10
tät nicht spurlos vorüber: Das Der Killer macht nicht viel von schnell an neue Umgebungen Studium gefährlichster Viren sich her. Sieben eigene Gene rei- anzupassen: Der Erreger gehört und ihrer Ausbreitung sowie die chen dem Marburg-Virus, um zu einer Virengruppe, deren Suche nach Gegenmitteln bildet sein tödliches Geschäft zu be- Erbgut nicht auf DNA-Mole- hier inzwischen einen Schwer- treiben: neue Wirte zu befallen külen basiert wie die Chromo- punkt der Lebenswissenschaf- und krank zu machen, bis sie somen in unseren Zellen, son- ten. Marburg entwickelte sich sterben. 900 Nanometer misst dern auf RNA-Molekülen. „Die zu einem Zentrum dieser For- so ein Virus, nicht ganz ein tau- überwiegende Mehrheit derjeni- schung, nicht zuletzt dank des sendstel Millimeter. Das ist hun- gen Viren, die sich neu ausbrei- Hochsicherheitslabors. dertmal weniger als der Durch- ten, hat ein Genom auf RNA-Ba- Dass sich Zoonosen beson- messer eines menschlichen sis“, berichtet Stephan Becker. ders gravierend auswirken, liegt Haares. Elektronenmikrosko- RNA-Viren weisen eine un- nicht in erster Linie am Erreger, pische Bilder zeigen wurmartig gewöhnlich große genetische erläutert Becker, sondern am be- verschlungene Partikel, etwa Vielfalt auf; wenn sich die Um- fallenen Körper: „Es kommt zu zehnmal so lang wie breit. Die weltbedingungen ändern, steht einer Überreaktion des mensch- ausgefallene Form verhalf einer daher schneller eine passende lichen Immunsystems, weil es ganzen Virenfamilie zu ihrem Variante zur Verfügung. Die Er- nicht mit diesen Infektionen Namen: Filoviren, also Fadenvi- reger profitieren von einem En- vertraut ist.“ Die Viren tricksen ren. Neben dem Marburgvirus zym, der Polymerase, die das die körpereigene Abwehr gewis- gehört etwa das Ebolavirus zu Erbgut des Virus vervielfältigt. sermaßen aus – statt die Ein- dieser Gruppe. Es unterscheidet sich in einem dringlinge zu bekämpfen, helfen Nur sieben Gene, aber noch entscheidenden Punkt von den Immunzellen ihnen, sich zu ver- immer bieten sie genügend Stoff Polymerasen anderer Viren: Das breiten. Die Erreger dringen in für die Forschung: Wie schafft Enzym korrigiert keine Fehler, Fresszellen des Immunsystems es das Virus, sich in den Zellen die bei der Vervielfältigung im- ein, in Makrophagen, die ihre seiner Wirte einzunisten? Wie mer wieder vorkommen. Auf blinden Passagiere dann in je- kommt es, dass es dessen Stoff- diese Weise entstehen in kurzer den Winkel des Körpers ver- wechsel umprogrammiert, so Zeit zahlreiche neue Virusvari- frachten – in die Lymphknoten, dass dieser der Vermehrung und anten, die in vielen Fällen auch in die Leber und so fort. Verbreitung des Eindringlings neue Eigenschaften besitzen. dient? Es ist also die Unzuverlässig- * Freilich: Sie bleiben auch gar keit beim Kopieren der Gene, nicht gleich, die sieben Gene – die dafür sorgt, dass sich RNA- Die Marburger Behringwerke sie ändern sich, und manchmal Viren besonders schnell an neue produzieren Ende der 1960er macht das die Viren gefähr- Wirte anpassen, dass sie neue Jahre Impfstoffe gegen Ma- licher, aggressiver. Der Wirt Merkmale entwickeln können, sern und Kinderlähmung. Da- lässt sich ja auch immer wieder die krank machen. „Die beson- für nutzt das Unternehmen etwas Neues einfallen, um den deren biologischen Eigenschaf- Zellkulturen, die seine Ange- Eindringling loszuwerden. ten dieser Erreger begünstigen, stellten aus den Nieren von dass sie sich über Artengrenzen Affen gewinnen; allein im * hinweg von einem Wirt zu Jahr 1967 opfert es dafür einem anderen ausbreiten, ins- mehr als Dreieinhalbtausend Im Laufe des Monats August besondere vom Tier zum Men- Tiere. Am 8. August meldet 1967 stecken sich in Mar- schen“, führt Becker aus. In sich einer der Mitarbeiter burg 23 Menschen mit der Marburg gibt es einen eigenen krank, dessen Aufgabe darin „mysteriösen Erkrankung“ Sonderforschungsbereich, der besteht, Hirn aus den Schä- an, wie die „Oberhessische sich mit RNA-Viren beschäftigt, deln getöteter Spendertiere Presse“ titelt. Die meisten ein Glanzstück der Partner- zu entnehmen. Er ist 27 Jah- arbeiteten bei den Behring- schaft mit der benachbarten re alt. werken mit Grünen Meerkat- Universität Gießen im „For- „Die Krankheit beginnt zen. Sechs Patienten ster- schungscampus Mittelhessen“. mit sehr starken Muskel- ben, weitere Infektionen und Becker amtiert als Sprecher des schmerzen, Kopfschmerzen, Todesfälle treten in Frankfurt Verbunds. dann einer sehr ausge- am Main sowie in Belgrad prägten Bindehautentzün- auf; die Betroffenen dort ha- * dung, Übelkeit, die auch mit ben mit Affen aus derselben Erbrechen einhergehen kann, Lieferung hantiert. Die Bou- Kaum sind die ersten Er- Durchfällen und schließlich levardpresse spricht bald von krankten Mitte August 1967 einem Hautausschlag, der der „Marburger Affenseu- ins Marburger Klinikum ein- ähnlich aussehen kann wie che“. geliefert worden, greifen ein Masernausschlag“, be- seuchenhygienische Maß- richtet Gustav Adolf Martini, * nahmen. Die Klinik schirmt Direktor der Marburger Me- die Patienten in der Isolier- dizinischen Klinik, im „Hes- Die Chemie seiner Gene erleich- station strikt von der Außen- sischen Rundfunk“. tert es dem Marburgvirus, sich welt ab. Nicht einmal Ange- 11
Seit einem Jahrzehnt verfügt die Marburger Virologie über ein Labor der höchsten Sicherheitsstufe (biosavety level 4). Eine Brücke verbindet den roten Kubus mit dem Biomedizinischen Forschungszentrum der Philipps-Universität. Schleusen, Ganzkörperanzüge und Belüftungstechnik sorgen für größtmöglichen Schutz. 12
Christian Richters (3) Anna Schroll für „Hessen schafft Wissen“ 13
Laborbild: Behringarchiv Marburg, EM-Aufnahme: Dr. Fred Murphy & J. Nakano (PD-USGov-HHS-CDC) Die Behandlung der Affen erfolgte 1967 ohne Schutzvorkehrungen. – Unterm Elektronenmikroskop legt sich das Marburgvirus in elegante Schleifen. hörige erhalten Zutritt. Die fest: Nimmt man Gewebe von bei handelt es sich um das En- Menschen bekannt gewor- Privatwohnungen der Betrof- einem leicht erkrankten Tier, zym, das dafür zuständig ist, den“, erklärt Institutsleiter fenen werden desinfiziert. um damit ein anderes zu infizie- das Virenerbgut zu vervielfälti- Rudolf Siegert im Fernsehen. Gerüchte und Panik greifen ren, so verstärkt sich die Infekti- gen. Jede der Mutationen äußert „Wir können daraus die Hoff- um sich. „Viele machten ei- on mit jeder neuen Anste- sich im Austausch genau einer nung schöpfen, dass auch nen großen Bogen um die ckungsrunde; nach wenigen einzigen Aminosäure – eine von weitere Übertragungen auf Beschäftigten der Behring- Wiederholungen – man nennt über 2.300, aus denen das En- andere Personen nicht statt- werke“, berichtet Friederike sie Passagen – endet die Erkran- zym aufgebaut ist. finden werden.“ Moos in ihrem Erinnerungs- kung tödlich. buch*. Wird sie an der Bus- Offenbar passt sich das Vi- * * haltestelle als Mitarbeiterin rus an den Wirt an. Wie kommt des Unternehmens erkannt, es dazu? Becker und seine Ar- Seit Beginn der Epidemie im Vierzig Jahre nach dem Mar- so steigen die Leute lieber beitsgruppe suchten die Ant- Sommer 1967 fahnden Wis- burgvirus-Ausbruch erhielt Be- nicht in denselben Bus ein wort in den Mutationen, die senschaftler des Marburger ckers Institut ein Forschungsla- wie sie, sondern warten auf sich im Lauf der Passagen anrei- Hygieneinstituts fieberhaft bor der höchsten Sicherheitsstu- den nächsten. chern – also im Austausch ein- nach dem Erreger. Aber das fe; zehn Jahre ist das nun her. zelner Bausteine, aus denen sich Labor liegt damals mitten in Die Anlage ermöglicht es Wis- * die Viren-Gene zusammenset- der Stadt – zu gefährlich, be- senschaftlerinnen und Wissen- zen. Ganze vier solcher Ände- finden die Verantwortlichen. schaftlern, mit dem Marburgvi- Nagetiere haben es gut – für sie rungen reichen, um aus einem Erst als sie überzeugt sind, rus zu hantieren, es umzubauen ist das Marburgvirus harmlos. Virus, das für Meerschweinchen dass keine weitere Verbrei- und in Zellen auf seine Wirk- Der Erreger kann sich aber auch unschädlich ist, eine todbrin- tung zu befürchten ist, samkeit zu testen. Reicht es, nur bei ihnen zu einem Killer entwi- gende Variante zu formen. nimmt man die Suche wie- eine einzige Aminosäure aus- ckeln, stellten Fachleute bei Allein drei der Mutationen der auf. „Bisher sind keine zutauschen, um die Aktivität Meerschweinchen und Mäusen betreffen die Polymerase L – da- Kontaktinfektionen zwischen der Polymerase zu beeinflussen 14
– mit der Folge, dass sich das Vi- in menschlichen Zellen; in aufleuchtet. Die Antikörper mer wieder Fälle geben, bei de- rus in Meerschweinchen rascher Meerschweinchenzellen arbeitet stammen von der Immunant- nen sich die Anpassung von ausbreitet? das Enzym sogar 4,5-mal besser wort infizierter Versuchstiere Tier-Viren an den Menschen im Beckers Arbeitsgruppe griff als die ursprüngliche, nicht ab- und dienen dazu, die Zielmo- Geheimen vollzieht und dann tief in die Trickkiste der Mole- gewandelte Version des Enzyms. leküle zu markieren. wie aus dem Nichts eine Epide- kularbiologie: Es konstruierte Alle anderen Mutationen und Am 20. Oktober ist es so- mie entsteht“, sagt Stephan Be- ein Mini-Genom – ein solches deren Kombinationen bewirkten weit, gut zehn Wochen nach cker voraus. „Als Schmelztiegel Gen-Paket enthält nur die un- hingegen das glatte Gegenteil, dem ersten Auftreten der für solche Ereignisse scheinen verzichtbaren Steuerungssignale nämlich den Komplettausfall der Krankheit: Eine Zelle weist Gebiete prädestiniert, in denen des Virusgenoms. Der Clou: In Polymerase. Einschlusskörper auf, die von sich die Lebensräume von Tie- diesem Fall umfasst das Minige- dem Erreger herrühren. Weil ren und Menschen verschieben, nom auch eine Anleitung, wie * in Marburg kein geeignetes so dass sich Menschen und die Zelle ein farbig leuchtendes Elektronenmikroskop zur Ver- Tiere plötzlich mit neuen Viren Protein herstellen kann – die Im September 1967 nimmt fügung steht, schickt Slencz- der Gegenseite konfrontiert se- Fachleute nennen dies ein Re- der 33-jährige Virologe ka seine Proben ans Hambur- hen – etwa dort, wo Regenwald portergen. Wenn die Polymerase Werner Slenczka die Aufga- ger Tropeninstitut. Dort massiv abgeholzt wird.“ In so ei- funktioniert, erzeugt sie Kopien be wieder auf, den Erreger schießt ein Kollege ein paar ner Situation könne es vorkom- des Reportergens, das die Zelle des Marburgfiebers zu fin- Tage später die erste fotogra- men, dass Viren den Sprung auf sodann in ein Farbsignal um- den. Um andere nicht zu ge- fische Aufnahme des Mar- den neuen Wirt schaffen, mahnt setzt. Je intensiver dieses Farbsi- fährden, erledigt er die Ar- burgvirus. der Virologe. „Wenn sich dann gnal aufleuchtet, desto erfolg- beit in Nachtschichten. Auf durch Mutationen neue Typen reicher hat die Polymerase gear- der Suche nach dem unbe- * entwickeln, die leicht von beitet. „Das Besondere an die- kannten Keim hatten Slencz- Mensch zu Mensch übertragbar sem System ist, dass es nicht kas Kollegen Meerschwein- Nach drei Stunden haben die sind, sind die Folgen nur schwer gefährlich ist, weil keine infekti- chen mit infektiösem Materi- Forscher genug geschwitzt und zu kontrollieren.“ ösen Viren entstehen können“, al geimpft, das von Patienten werden abgelöst, sie passieren >> Johannes Scholten erläutert Becker. stammte. Aber alle Vermu- die Schleuse und verlassen das In die Polymerase schleuste tungen – das Fieber der Tiere Labor. Die Schutzanzüge hän- Originalveröffentlichung: Beckers Team die drei Mutati- sei von Bakterien oder Gelb- gen einer neben dem anderen Alexander Koehler, Larissa onen ein, die nach der Passage fieberviren verursacht – lie- kopfunter von der Decke, so Kolesnikova & Stephan Becker: des Marburgvirus in Meer- fen ins Leere. dass die Handschuhe fast auf J.Gen.Virol. 97/2016, 2494ff, schweinchen gefunden wurden Slenczka benötigt nur weni- dem Boden schleifen. Die Arbeit DOI: 10.1099/jgv.0.000564 – einzeln sowie in allen mög- ge Wochen, um das bislang ist getan – fürs Erste. lichen Kombinationen. Die unbekannte Virus in Blutpro- Erst seit dem Jahr 2007 *Die Schilderung der MARV- Gruppe nutzte Zelllinien von ben nachzuweisen. Er be- weiß man, dass Nilflughunde Epidemie 1967 folgt den Erin- Mensch und Meerschweinchen, dient sich hierfür eines das natürliche Reservoir für das nerungen von Friederike Moos: um zu ermitteln, wie die Ände- brandneuen Verfahrens: Bei Marburgvirus bilden. Für diesen In uns und um uns. Meine Be- rungen des Enzyms sich auswir- der Technik der Immunfluo- Wirt stellt es keine Gesundheits- gegnung mit dem Marburg- ken. Und siehe da: Eine der Mu- reszenz koppelt man Antikör- gefahr dar; von ihm springt es Virus, Frankfurt a. M. (Mabuse- tationen führt zu einer 2,5-fach per an einen Farbstoff, der auf Meerkatzen über, von dort Vlg.) 2015, ISBN 978-3-86321- erhöhten Polymerase-Aktivität unter ultraviolettem Licht auf den Menschen. „Es wird im- 222-3, 144 Seiten, 16,90 Euro 15
Cornelius Rohde, Instutut für Virologie Klasse Viren! Forschung simulieren: Labor statt Ferien: Schüler lernen bei der Die Virologin Helena Mül- ler unterweist Schüler „Marphili“-Simulation beim Mikroskopieren. D ie ersten Toten sind burger Virologe Marc Ringel. Virologie der Philipps-Universi- merinnen und Teilnehmer auch Anfang des Jahres auf „Es ist nicht unwahrscheinlich, tät arbeiten. etwas über die Rolle der Wissen- den Philippinen zu dass solch ein Virus ausbrechen In dem zweitägigen Prakti- schaftler in den Medien; sie ler- beklagen. Die Zahl der kann.“ Der Doktorand ist einer kum probieren die jungen Män- nen, wie Schlagzeilen einzu- Erkrankten steigt, verursacht der Wissenschaftlerinnen und ner und Frauen aus, wie ein Vi- schätzen sind, wenn die Presse durch ein Virus, das sich in Süd- Wissenschaftler, die das be- rus untersucht wird – eben das zum Beispiel über ein „Neues ostasien ausbreitet. Reisende im- schriebene Szenario jedes Jahr „Marphili“-Virus. Wie gefährlich Supervirus aus Asien“ berichtet. portieren den Erreger nach in den Sommerferien mit Schü- ist es wirklich? Auf welche Art Das Projekt „Marphili-Simu- Europa, wo jetzt auch ein deut- lerinnen und Schülern Marbur- wird es übertragen, wie kann lation“ gehört seit dem Jahr scher Entwicklungshelfer die ger Gymnasien durchspielen. man sich dagegen schützen? Ih- 2013 zur Öffentlichkeitsarbeit Symptome der Erkrankung auf- „Marphili-Simulation“ haben sie re Ergebnisse stellen sie am En- des virologischen Instituts und weist. Hat das Virus Deutsch- das Programm genannt, bei der de bei einer Pressekonferenz wird von der Deutschen For- land erreicht? die Teilnehmerinnen und Teil- vor, zu der eigens Journalisten schungsgemeinschaft gefördert. „Das Szenario ist nicht unre- nehmer wie richtige Forscher in eingeladen werden. Auf diese Jedes Jahr freut sich Marc Rin- alistisch“, versichert der Mar- den Labors des Instituts für Weise erfahren die Teilneh- gel erneut, den Jungen und 16
Mädchen seine Arbeit näherzu- während der Simulation das ge- be, später Medizin zu studieren, schaftler blicken“, erklärt der bringen. Auch dieses Jahr neh- fährliche „Marphili-Virus“ re- habe sich der simulierte Krisen- Vorjahresteilnehmer, der beson- men 28 Schülerinnen und Schü- präsentiert; in Wirklichkeit ist fall sehr interessant für die ders die gute Betreuung hervor- ler teil. es für Menschen jedoch völlig Gymnasiastin angehört. Sie ist hebt. „Meiner Meinung nach In verschiedenen Experi- harmlos. „Ich hätte früher auch überzeugt davon, einen sehr gu- sollte jeder biologiebegeisterte menten lernen sie, virologische gerne die Möglichkeit gehabt, ten Einblick in die Virologie be- Schüler die Möglichkeit nutzen, Techniken anzuwenden: Sie an solch einer Simulation teilzu- kommen zu haben. „Am interes- einen Einblick in die Virologie überprüfen, wie das Virus über- nehmen“, bekennt Marc Ringel. santesten für mich war das ei- zu bekommen!“ tragen wird, versuchen es un- Die Simulation kommt bei genständige Experimentieren“, >> Lorenz Pflüger schädlich zu machen und wei- den Schülerinnen und Schülern sagt Zentgraf. „Man durfte im sen den Erreger und dessen An- sowie deren Lehrkräften sehr Labor vieles selber machen.“ Der Autor ist Schüler des tikörper in Blutproben nach. Die gut an, wie Katharina Zentgraf Leon Ebert teilt Zentgrafs Gymnasium Philippinum in Laborarbeit läuft möglichst rea- bestätigt, die im vergangenen positive Einschätzung. „Ich Marburg. Der Text entstand litätsnah ab. Dabei kommt ein Jahr das Praktikum absolvierte. wollte die Chance nutzen und während eines Praktikums beim Insektenvirus zum Einsatz, das Da sie in Erwägung gezogen ha- in den Alltag der Naturwissen- Marburger Unijournal. 17
Uneins mit sich Mal tolerant, mal autoritär: Luther dachte modern über Kirche und Staat – und widersprach sich selbst, erklären unsere Experten. „Der Kaiser muss kein Christ sein“: Der Kirchenhistoriker Wolf-Friedrich Schäufele (re.) diskutierte mit dem Neuzeithistoriker Christoph Kampmann. M arburger Uni- Wolf-Friedrich Schäufele: Es Überzeugungen bringen? Fast sen Voraussetzungen musste der journal: Herr ist natürlich nicht egal. Religion alle Religionen sind der Auffas- Wahrheitsanspruch der Religi- Schäufele, schon hat immer mit Wahrheitsansprü- sung, dass man das nicht mit onen natürlich durchgesetzt bei Luther findet chen zu tun, von denen man Gewalt erzwingen kann. werden, auch mit gewaltsamen sich ein Konzept religiöser Tole- nicht absehen kann. Es geht um In bestimmten Konstellati- Mitteln. ranz, wie ich in einem Aufsatz letzte Fragen, um Leben und onen der Vormoderne war je- Bei Luther gibt es in den von Ihnen gelesen habe. Lohnt Tod. Diese Ansprüche sind in doch die Überzeugung vorherr- 20er Jahren des 16. Jahrhun- es sich überhaupt, um den rech- unterschiedlicher Weise ge- schend, dass die Einheit der derts prominente theologische ten Glauben zu kämpfen, oder schichtlich wirksam geworden. wahren Gottesverehrung für Ansatzpunkte, auf die man sich ist es völlig egal, was die Men- Aber die Frage ist ja: Inwieweit das Gedeihen des Gemeinwe- berufen kann, um eine moderne schen glauben? muss man andere zu diesen sens erforderlich sei. Unter die- Trennung der Sphären von Reli- 18
Ellen Thun; Cranachgemälde: Bildarchiv Foto Marburg Die Reformation und ihre Folgen für die Moderne standen im Mittelpunkt des Gesprächs der beiden Marburger Hochschullehrer. gion und Politik zu begründen. noch einmal Kriege um Religion gab immer diesen religiösen Arbeiten präsent und hat meine Das ist bei Luther eine Episode geführt werden würden wie Grundton in Konflikten; nur wir wissenschaftliche Arbeit ge- geblieben, er selber ist hinter derzeit in Syrien? im Westen hatten uns eingere- prägt. diese Ansätze wieder zurückge- Christoph Kampmann: det, die Religion habe ihre poli- Wie ist es dazu gekommen, dass gangen, weil es vielleicht zu sei- Durchaus. Schon vor Beginn tische Dynamik verloren, auch die religiöse Spaltung in der ner Zeit gar nicht durchsetzbar meines Studiums hatte die Isla- in Hinblick auf Gewaltdyna- Frühen Neuzeit zu politischen gewesen wäre. mische Revolution im Iran statt- miken. Dass es nicht so ist, ist Konflikten führte? Herr Kampmann, als Sie ange- gefunden und es gab noch die uns in den letzten Jahren auf Kampmann: Luther hatte ja fangen haben, sich mit neuzeit- schweren Konflikte in Nordir- unliebsame Weise klargewor- nicht die Absicht, eine neue Kir- licher Geschichte zu befassen: land, von denen wir nicht wis- den. Das Thema war also zu Be- che zu gründen, sondern die be- Hätten Sie da geglaubt, dass sen, ob sie wieder erwachen. Es ginn meiner wissenschaftlichen stehende, universale Kirche 19
grundlegend zu verbessern. Er gen, zum Beispiel die Türkei. im eigentlichen, im empha- Kampmann: Wir argumentie- sah schwere Missstände und Herr Schäufele, Sie haben he- tischen Sinne Christ ist – nicht ren ja immer so, als ob das eine wollte sie abstellen. Er war an- rausgearbeitet, dass es bei Lu- einmal jeder, der getauft ist. – die Trennung von Kirche und sonsten durchaus ein Kind sei- ther Ansätze für eine Emanzipa- Christen im eigentlichen Staat – der Weg in die „Moder- ner Zeit, er konnte sich das im tion des Politischen gab, wie Sie Sinne sind nur wenige. Man ne“ wäre. Um diese schlichte Grunde gar nicht vorstellen, es genannt haben, also für eine kann nicht allen anderen und Teleologie in Frage zu stellen: dass man vom wahren Glauben säuberliche Trennung von Reli- auch nicht dem Gemeinwesen Ich bin nicht sicher, ob eine en- abweichen könnte, wenn einem gion und Politik. zumuten, nach christlichen gere Verbindung immer so nach- die Dinge klar dargelegt wer- Schäufele: Die berühmte Zwei- Maßstäben zu leben. Darin ste- teilig ist. Heute sagt man ja zum den. Reiche-Lehre Luthers war eine cken die Ansatzpunkte, mit de- Beispiel nicht, der Islam in Womit weder Luther noch in ihrer Zeit eminent moderne nen man die Glaubens- und Ge- Deutschland müsse völlig staats- seine theologischen Gegenspie- politische Ethik: die Vorstellung, wissensfreiheit des Einzelnen frei agieren, sondern dass der ler gerechnet haben: Es entste- die Weltlichkeit der Welt ernst und die Säkularisierung des Staat gewisse Aufsichtspflichten hen auf ganz engem Raum un- zu nehmen und den eigentlich Staatszwecks begründen kann. wahrnehmen solle: etwa bei der terschiedliche Glaubensrich- religiösen Bereich von staatli- Das war damals aber nicht zu Forderung, dass in den Mo- tungen, die zusammenleben cher Gewaltanwendung frei zu verwirklichen. scheen deutsch gepredigt werde; müssen, wo es vorher nur eine stellen. Der konkrete Anlass Warum? wir wollen die Ausbildung der universale Kirche gab. Man hat- war die Frage: Darf der Herzog Schäufele: Religion wurde Imame an staatlichen Universi- te sich vorher eigentlich nicht von Sachsen – eine politische sehr bald eng verbunden mit der täten. Da könnte man aus strikt vorstellen können, mit Men- säkularer Sicht sagen: Das geht schen anderen Glaubens in Frie- euch doch gar nichts an! Ich bin den zusammenzuleben. Die mir aber nicht sicher, ob ein Überzeugung, dass es nur einen Land wie Frankreich mit der wahren Glauben geben könne, ganz strikten Trennung von Kir- teilt Luther mit den Menschen che und Staat immer so gute Er- seiner Zeit. fahrungen gemacht hat. Schäufele: Was man dazu den- Schäufele: Die Überzeugung, ken muss: Der frühe Luther geht es müsse eine staatliche Religi- den Schritt, dass er den Staats- onshoheit geben, ist eine Folge zweck nicht mehr religiös be- des schmerzlichen Lernpro- Museum für Kulturgeschichte stimmen will. Er sieht den Staat zesses, den wir in der europä- nicht mehr in der Verantwor- ischen Geschichte gemacht ha- tung für die rechte Gottesvereh- ben: Dass es lange nicht möglich rung und für die Seligkeit des war, aus der religiösen Überzeu- Einzelnen. Dahinter fällt er spä- gung heraus das Konflikt- und ter zurück; deshalb müssen wir Gewaltpotenzial von Religion heute, wenn wir uns darauf be- einzuhegen; so dass man gesagt rufen, den frühen gegen den Das Siegel von Landgraf Philipp, der sich auf die Seite Luthers schlug. hat: Es braucht eine übergeord- späten Luther lesen – eine be- nete Instanz, es braucht staatli- kannte Denkfigur in der Herme- Obrigkeit – den Untertanen ver- Konstituierung moderner Terri- che oder rechtliche Ordnungs- neutik. bieten, die Lutherbibel zu besit- torialstaaten. Die Einheit der Re- kriterien für die Konflikteinhe- Kampmann: Luther hat dann zen und die Bibel auf Deutsch ligion war Teil der Staatsräson. gung. im Zuge der Errichtung der zu lesen? Luther trennt Kirche Kampmann: Luther war eine Wie hat sich diese Überzeugung Staatskirchen gerade den ande- und Staat idealtypisch und weist vielschichtige Persönlichkeit. Es in der Frühen Neuzeit herausge- ren Weg eingeschlagen. Die Ver- ihnen unterschiedliche Aufga- ist nicht so, dass sich der fürst- bildet? bindung staatlicher und religi- ben zu. liche Staat da aufgedrängt hätte. Kampmann: Im Verlauf des öser Gewalt wird eher noch en- Damit ist die Obrigkeit da- Luther hat diesen Vorgang 16. und 17. Jahrhunderts kam es ger. Im Prinzip war in dieser rauf festgelegt, den Frieden und durchaus befördert, indem er zur sogenannten Konfessionali- Zeit auch gar nicht anders zu das Zusammenleben in der Ge- Fürsten zu „Notbischöfen“ er- sierung. Die drei Konfessionen, denken. Es wäre eine Überfor- sellschaft zu wahren. Im Unter- klärt. Luther ruft die Fürsten die Katholiken, die Lutherischen derung für die Menschen gewe- schied zu den Jahrhunderten zu- auf, energisch Verantwortung und die Reformierten (Calvi- sen, die Einheit von Kirche und vor ist sie in dieser Konzeption für die kirchliche Organisation nisten) grenzten sich strikt von- Staat auseinanderzudividieren – nicht zuständig für den Bereich zu übernehmen. einander ab. Die völlig unüber- das kommt erst vom 18. Jahr- des Gewissens und der religi- Schäufele: … und zwar von brückbaren theologischen Ge- hundert an unter mühsamsten ösen Überzeugung. Anfang an: Schon 1520 ruft er gensätze führten dazu, dass Kämpfen zustande und ist uni- Der Spitzensatz, den man den Adel auf, in dieser Weise versal betrachtet auch noch gar bei Luther dazu findet und den einzugreifen. Aber das ist nicht nicht abgeschlossen. Wir müs- ich gerne zitiere, lautet: „Der nur Luther, das ist die Zeit. Es sen uns von der Idee verabschie- Kaiser muss kein Christ sein, es gibt schon vor ihm und noch da- Die Reformation brachte Streit den, Geschichte wäre eine Ein- genügt, wenn er Vernunft hat!“ nach Bestrebungen, einen stär- (Bilder auf Seite 21): Beim Mar- bahnstraße in Richtung einer Was als natürliche Ratio allen keren staatlichen Einfluss auf burger Religionsgespräch gab es säkular verstandenen Moderne. Menschen zugänglich ist, das ist die Klöster auszuüben oder lan- keine Einigung über das Abend- Staaten, die wir für modern er- die Grundlage weltlicher Herr- deskirchliche Strukturen aufzu- mahl (oben). – unten: Uneinigkeit achtet haben, scheinen wieder schaft, weil man nicht voraus- bauen, auch in katholischen Ter- über den wahren Glauben führte einen anderen Weg einzuschla- setzen kann, dass jeder Mensch ritorien. zu öffentlichem Aufruhr. 20
21 Bildarchiv Foto Marburg (2)
Ellen Thun (2) „Geschichte ist keine Einbahnstraße in Richtung Moderne“: Christoph Kampmann;„Reformation ist mehr als Luther“: Wolf-Friedrich Schäufele auch ein politisch-gesellschaft- 1555 unternommen, im Augs- tener wirksam geworden ist. Es Kirchen durchgesetzt, sie ver- liches Zusammenleben kaum burger Religionsfrieden, und es hat immer wieder Ansätze gege- dankt sich letztlich dem Denken noch möglich schien, gerade ist kein Zufall, dass dort nicht ben, aus religiösem Geist heraus der Aufklärung. Sie wirkt dann dort, wo konfessionell unter- von Frieden, sondern von Si- zur Verständigung zu finden, et- aber auch auf die religiösen Be- schiedliche Gemeinwesen auf cherheit die Rede ist. wa Initiativen wie die von Papst gründungszusammenhänge zu- engem Raum zusammen waren, Das war deshalb ein so Benedikt XV. im Ersten Welt- rück: In der Anerkennung religi- wie im Heiligen Römischen mühsamer und komplizierter krieg. öser Vielfalt kommt ein genuin Reich deutscher Nation. Prozess, weil hier in der politi- Kampmann: Religion spielt da religiöses Anliegen zur Verwirk- In dieser scheinbar ausweg- schen Praxis und von Prakti- wohl eine ambivalente Rolle. lichung. losen Situation versuchten die kern Lösungen vorbereitet wur- Nicht jeder große Krieg – man >> Moderation: Ellen Thun politischen Akteure, die Fürsten den, die auf geistig-theologischer denke an die furchtbaren Kriege und Johannes Scholten und ihre Räte, Wege zu finden, Ebene abgelehnt wurden. Religi- des 20. Jahrhunderts – kann als wie man zusammenleben kann, öse Toleranz wurde bis weit ins Religionskrieg bezeichnet wer- Christoph Kampmann: Frie- obwohl man sich im Glauben 17. und frühe 18. Jahrhundert den. Historische Pauschalur- densnorm und Friedenspraxis unterscheidet. Das war äußerst von den weitaus meisten Men- teile, ob Religion kriegstreibend in der Frühen Neuzeit, in: Cle- kompliziert, weil nach Auffas- schen abgelehnt, von den Herr- wirkt oder auch konfliktlösend, mens Sedmak (Hg.): Frieden, sung der Alt- wie der Neugläu- schenden nicht weniger als von verbieten sich. Nicht zu leugnen Darmstadt 2016, 99-106 bigen echter Frieden auch Einig- den Beherrschten. Erst die Er- ist die politische Bedeutung der keit im Religiösen voraussetzt, fahrung, dass Zusammenleben Religion. Wolf-Friedrich Schäufele: Lu- die unwiederbringlich verloren ohne religiöse Übnereinstim- Welcher Luther war historisch ther als Urheber der Freiheit, war. mung dauerhaft möglich ist, wirkmächtiger – der frühe Lu- in: Christine Axt-Piscalar und Wie hat man das überwunden? trug dann dazu bei, dass Vor- ther der Zwei-Reiche-Lehre oder Mareile Lasogga (Hg.): Dimensi- Kampmann: In einem müh- stellungen von Toleranz an Be- der andere Luther, der die Für- onen christlicher Freiheit, samen Prozess und mehreren deutung gewannen. sten zur Verteidigung der Refor- Leipzig 2015, 175-217 Anläufen wurden Wege gefun- Ist Religion eher ein Konflikt- mation verpflichtet? den, wie eine einigermaßen si- treiber oder wirkt sie eher be- Schäufele: Die ausschließliche Die Abbildungen historischer chere Koexistenz trotz der fort- friedend? Konzentration auf Luther ist im- Zeugnisse auf den Seiten 18, bestehenden religiösen Gegen- Schäufele: Empirisch-historisch mer problematisch: Reformation 20/21 und 23 (unten) stammen sätze möglich sein könnte, also betrachtet ist Religion eher der ist mehr als Luther. Moderne re- aus der Ausstellung „Bildungs- ohne echten Frieden. Ein sol- Konflikttreiber. Religionen ha- ligiöse Toleranz hat sich im We- ereignis Reformation“ im Mar- cher Versuch wurde in Deutsch- ben auch ein Friedenspotenzial, sentlichen gegen religiöse Gel- burger Landgrafenschloss (bis land erstmals in großem Stil das aber in der Geschichte sel- tungsansprüche und gegen die Ende Oktober 2017).“ 22
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