Mitgemacht!? - Historisches Museum Frankfurt
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Herbst — Winter 2021/2022 Nº2 Das Magazin aus dem Frankfurt Museum. Mitgemacht!? Drei Ausstellungen zu „Frankfurt und der NS“ Biografisches Kabinett Sammlungen Termine bis Frühling T.W. Michael: Vergessene Von Depot zu Depot: Wenn Historisches Museum, Stadt- Schwarze deutsche Geschichte Tausende Objekte umziehen labor und Junges Museum
In unserer Arbeit geht es auch darum, verborgenen Aspekten der Geschichte Frankfurts nachzugehen und PHA SIE diese sichtbar zu machen – im Museum wie in diesem Magazin. Liebe Leser*innen, die zweite Ausgabe der „Schneekugel“ öffnet den Blick auf Frankfurts Geschichte *NTA im Nationalsozialismus – und darauf, was uns auch nach 76 Jahren noch damit verbindet. Nach der Befreiung der Stadt im März 1945 berief man sich Damit der Welt hier gerne auf ihren Ruf als liberale und weltoffene „Stadt der Juden und nichts fehlt. Demokraten“, die von den Nazis gemieden worden sei. Dabei hatte sich kaum eine deutsche Stadt so schnell und so radikal dem NS geöffnet und dessen mörderische Politik so rücksichtslos umgesetzt – einschließlich ihrer erst wenige Jahre zuvor von Bürger*innen gestifteten Universität. Erstaunlicher- weise gab es dazu bislang weder eine umfassende Ausstellung noch ein Buch, nur über Aspekte des NS in Frankfurt ist schon viel gezeigt und geschrieben worden. Das sind gute Gründe für das Historische Museum, gleich drei Ausstellungen dem Thema NS zu widmen und ein umfassendes Katalogbuch herauszugeben. Wie eine magische Kugel bietet unser Museumsmagazin besondere Ein- blicke in die Arbeit unseres 2017 völlig neu gestalteten Stadtmuseums sowie GEMEINSAM der zugehörigen Museen Junges Museum und Porzellan Museum. Erfahren Sie mehr über das Leben des Schwarzen Deutschen Theodor Wonja Michael, über das Unternehmen Naxos-Union, über Kaiserwahlen und das Haus zur FÜR UNSERE STADT! Goldenen Waage – und darüber, was passiert, wenn eine Sammlung umzieht. Ich wünsche Ihnen eine überraschende Lektüre! Jan Gerchow Werde jetzt aktiv für soziale, Direktor Historisches Museum Frankfurt kulturelle, ökologische Projekte & Vereine in unserer Stadt. HMF/Stefanie Kösling www.mainFrankfurt.org Eine Initiative der Frankfurter Sparkasse. 3
INHALT 3 Ausstellungen Dezember 2021 —— Meldungen 32 —— 4 aus 1.227 Jahren September 2022 Zur Goldenen Waage (6), Gemälde- Objekte des Museums erzählen Frankfurt Schenkung (7), Bibliothek der Gene- Stadtgeschichte(n) rationen (8), Jazz und Alte Oper (9), Stadtlabor-Aufruf (11), Frankfurt für 34 —— Schwarze deutsche Grundschulen (12), Prehns Bilder- Geschichte paradies (14), Bolongaro Museum (15) Das neue Biografische Kabinett und der Theodor Wonja Michael Rubriken Museum in Zahlen (7) 36 —— Alles muss raus Titel: Die Spielfigur auf dem Umschlag Modelle: Das große Frankfurt-Modell (9) Tausende Sammlungsstücke stammt aus einem der sechs Biografischen Kabinette des Historischen Museums (siehe Meinung: Bénédicte Savoy (10) ziehen in ein neues Depot um auch Seite 34). Ihr damaliger Besitzer, Menschen: Markus Pfüller (13) Walter Schreiber – hier oben im Bild eben- NS Mitmachen: Sammlermuseum (14) 38 —— Die junge Seite falls in „Pimpf"-Uniform zu sehen –, wuchs in einer Familie überzeugter Nationalsozia- Das ist doch die Krönung! listen auf. Als Jugendlicher geriet er jedoch Rätsel für Leser*innen ab 6 Jahre in Widersprüche mit dem Menschenbild der Diktatur, lehnte sich auf und bekam so zunehmend Druck von Vater und Obrigkeit. 40 —— Termine & Service Um sich diesem zu entziehen, meldete er Begleitprogramm zu „Frankfurt sich zum Kriegsdienst – dort starb er mit und der NS“; Veranstaltungen und 18 Jahren während des Einsatzes. Führungen des Historischen Gefördert von: Hessische Kulturstiftung – Museums, des Jungen Museums, des Stadtlabors und des Porzellan IMPRESSUM Aventis Foundation – Dr. Marschner-Stiftung – Cronstett- und Hynspergische evangelische Stiftung – Museums; digitale Angebote Ein Museum der Stadt Frankfurt am Main sowie Freunde & Förderer Historisches Museum Frankfurt Art Mentor Foundation Lucerne – Evonik Industries AG – Saalhof 1 (Römerberg) Georg und Franziska Speyer’sche Hochschulstiftung – 60311 Frankfurt am Main 46 —— Die letzte Seite Tel. 069 212–35599 FAZIT-STIFTUNG – Stiftung Polytechnische Gesellschaft – Es war einmal... info@historisches-museum-frankfurt.de Stiftung EVZ – EKHN Stiftung – Frankfurt und der NS Vor 150 Jahren wurde die www.historisches-museum-frankfurt.de vertreten durch den Direktor Frankfurter Historische Kommission – Naxos-Union gegründet Dr. Jan Gerchow (V.i.S.d.P.) Hessische Landeszentrale für politische Bildung – 16 —— Damals heute Kommunikation und Anzeigen Stabsstelle Inklusion der Stadt Frankfurt am Main – Fragen eines Ausstellungsprojekts: Karin Berrío Foto unten rechts: ©#visitfrankfurt, Andi Weiland; H. Woelcke Bücherverbrennung 1933, HMF/ Horst Ziegenfusz Holger Koppe-Stiftung – Freunde & Förderer HMF – Wie NS darstellen, was vermitteln, Tel.: 069 212-37776 wie erinnern? karin.berrio@stadt-frankfurt.de Historisch-Archäologische Gesellschaft Frankfurt am Main e.V. – In Kooperation mit: Bildungsstätte Anne Frank, Konzept, Redaktion und Text Fritz Bauer Institut, hr2, 22 —— Auf offener Straße Agentur Schwarzburg, Frankfurt Eine Stadt macht mit. Die Ausstellung Christian Sälzer (cs) und Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, des Historischen Museums Martin Schmitz-Kuhl (msk) Jüdisches Museum Frankfurt Gestaltung 24 —— Spuren suchen Gardeners, Frankfurt Nicola Ammon und Ines Blume Drei Porträts aus der Stadtlabor- Ausstellung im Historischen Museum Druck Westdeutsche Verlags- und Druckerei GmbH, Mörfelden-Walldorf 28 —— Wie sag‘ ich es Alle Beiträge in diesem Magazin zu Themen meinem Kind? für Familien und andere junge Zielgruppen Das Magazin Schneekugel erscheint zwei- Nachgefragt. Die Ausstellung des sind mit dem orangenen Sternchen des mal im Jahr in einer Auflage von 40.000 Jungen Museum Frankfurt gekennzeichnet. Exemplaren. Erhältlich unter anderem im Jungen Museums und ein Leitfaden Historischen Museum Frankfurt, Porzellan für Eltern Museum Frankfurt, Tourismus-Information und Bürgerberatung, Stadtbücherei, Stadtlabor Palmengarten, Alte Oper, Schauspiel Frankfurt, Zoologischer Garten, Deutsches Beflaggung in der Frankfurter Architekturmuseum. Das Heft wird klima- Bendergasse am 1. Mai 1933, neutral und auf Recyclingpapier gedruckt. Fotografie von Leonhard Kleemann, © HMF 5
Die große Stube im ersten Obergeschoss des Hauses diente vor allem der Repräsentation des Hausherren. USEUM IN ZAHLEN Die Digitalisierung macht es möglich: Immer mehr Ausstellungen lassen sich auch als 3D-Ausstellung virtuell besichti- gen. Das ist zwar nicht das Gleiche wie Die Sammlungen des Museums sind von unermess- ein Besuch vor Ort. Aber: Es ist kosten- licher Bedeutung. Doch auch ihr materieller Wert frei, von überall und zu jeder Tages- und ist außerordentlich: Als 2009 eine Eröffnungsbilanz Nachtzeit (24/7) möglich, selbst dann mit 603.335 Inventarnummern erstellt wurde, ist noch, wenn die physische Ausstellung ein Gesamtwert von 723.607.732 Euro ermittelt längst abgebaut ist. worden. Seither ist einiges hinzugekommen. BÜRGER Extrem vielfältig sind die Sammlungs- Das Historische Museum ist (ein Museums)komplex. gegenstände auch in Größe und Allein der Saalhof am Mainkai umfasst fünf Bau- Gewicht. Über 18 Meter lang ist das denkmäler: die 800 Jahre alte staufische Königs- größte Objekt, eine Trambahn von burg, den Rententurm aus dem 15. Jahrhundert, 1884. Am anderen Pol befindet sich Im Zuge der 1333 genehmigten Stadterweiterung ein Gold-Dukat der Stadt Regensburg. HAUS das barocke Bernuspalais sowie den historistischen wurde die Stadtmauer nach Süden in Richtung Burnitzbau und das Zollgebäude. 2017 wurden zwei Bei einem Durchmesser von fünf Main verlagert und die damalige Kaianlage Erweiterungsbauten – das Ausstellungshaus und Millimetern ist er mit 0,11 Gramm zugeschüttet. Fast 700 Jahre blieb sie verborgen, das Eingangsgebäude – eröffnet. Hinzu kommen die das Fliegengewicht des Hauses. bis sie bei Bauarbeiten 2012 per Zufall entdeckt Rekonstruktion Zur Goldenen Waage in der Neuen und freigelegt wurde. So konnte der historische Altstadt und das Porzellan Museum in Höchst. Macht Stauferhafen zu einem Höhepunkt des Museums neun Gebäude. werden. Eines der schönsten Die Goldene Waage ist innerhalb Damals wie heute interessierten Happy End Fachwerkgebäude aus der „neuen Altstadt“ etwas ganz sich die Menschen also für das Ver- Karl Peter Burnitz der Renaissance hat Besonderes: Als einziges Gebäude des gangene. Mit dem Unterschied, dass malte im 19. Jahr- nach langer Schließzeit seinerzeit nicht ganz unumstrittenen es damals keine Corona-Pandemie hundert das „Motiv Dom-Römer-Projekts wurde dieses gab. Denn diese verhinderte in den aus dem Frankfurter wieder geöffnet. Haus von unten bis oben – und vor vergangenen Monaten, dass die Besu- Stadtwald“. Gruppenführungen allem: auch innen! – detailgetreu cher*innen nach der Eröffnung Ende Dank einer Schenkung hängt sind möglich. rekonstruiert. Wer es heute besucht, 2018 lange Freude an dem neuen/alten ein Burnitz-Gemälde wieder kann dort jedoch nicht ein typisches Ausstellungshaus hatten. Weder die im Historischen Museum. Interieur eines Fachwerkgebäudes große Stube mit der prächtigen Stuck- Diesmal rechtmäßig. aus der Vorkriegszeit bewundern. decke noch der schöne Dachgarten – Zu sehen sind vielmehr Möbel und in Frankfurt Belvederchen genannt – Alltagsgegenstände aus dem 17. und konnten daher bewundert werden. 18. Jahrhundert. Der Grund: Das 1618 Die Räume waren schlicht zu klein, Eigentlich war die Geschichte dieses Wochen nach der Emigration Netters Was dann natürlich auch geschah. erbaute Haus war schon vor seiner um die Goldene Waage corona- Bildes schon vor zwei Jahren zu Ende nach Großbritannien erwarb bereits Dass die Geschichte des Bildes in Zerstörung im Zweiten Weltkrieg konform öffnen zu können. Doch erzählt. Damals übergab nämlich Di- die Stadt Frankfurt das Bild und diesem Jahr trotzdem für das Histo- Große Stube und Goldene Waage: HMF/Horst Ziegenfusz kein normales Wohnhaus. Anlässlich das ist seit diesem Sommer anders: rektor Jan Gerchow das Gemälde „Mo- spielte damit eine aktive Rolle in der rische Museum weiterging, ist Ulrike Stadtwald, Öl auf Leinwand: HMF/Uwe Dettmar des 50-jährigen Jubiläums des Histo- Entsprechend der inzwischen be- tiv aus dem Frankfurter Stadtwald“ Ausraubung ihrer jüdischen Bürger. Schiedermair zu verdanken. Denn rischen Museums im Jahr 1928 wurde kannten 3G-Regel können nun des Frankfurter Künstlers Karl Peter Zunächst hing das Bild in der Dienst- die Frankfurter Mäzenin sah, wie das dort die Ausstellung „Aus Alt-Frank- wieder Gruppenführungen angeboten Burnitz (1824-1886) an den rechtmä- wohnung des Oberbürgermeisters Gemälde in einer Auktion angeboten furter Bürgerhäusern“ eingerichtet. werden, die über den Besucherservice ßigen Erben. Der Hintergrund: Der Friedrich Krebs. Nach dem Krieg und wurde, ersteigerte es, ließ es gar Diese sollte einen Einblick in das buchbar sind. jüdische Juwelier Hermann Netter für die folgenden Jahrzehnte befand restaurieren und schenkte es dem Leben früherer Generationen bieten, hatte 1939 vor den Nazis flüchten es sich im Historischen Museum. Historischen Museum, das nun recht- Das Haus zur Goldenen Waage Mehr Informationen in dem Kurzführer im Original – in einer Aufnahme wie das der Händlerfamilie van müssen. Zurück blieb seine wertvolle Dann jedoch verlangte ein Enkel mäßig im Besitz des Gemäldes ist. „Das Haus zur Goldenen Waage“ oder von Carl Friedrich Mylius um das Hamel, die das prächtige Haus einst auf der Website www.historisches-museum- Kunstsammlung, darunter ebendiese Netters Restitution, also die Rückgabe Ein schönes Ende – einer so unschönen Jahr 1870 erbauen ließ. frankfurt.de/goldene-waage Landschaftsdarstellung. Keine zwei an den rechtmäßigen Eigentümer. Geschichte. 6 7
ERINNERUNGEN Museum Die erlebte Stadt & Musik ODELLE TEILEN Die Bibliothek der Generationen Mit „Jazz im Museum“ und dem „Salon Frankfurt“ gibt es Kultur für alle Sinne. ist nicht so leicht zu nutzen. Oder vielmehr: war. Denn mit der Online-Recherche und einem Wenn Museales auf Musikalisches trifft, kann es zu spannenden neuen Führungs- und Vermittlungs- Verbindungen kommen: So wird im format kann man jetzt ganz Salon Frankfurt in der Alten Oper, problemlos stöbern. mit klassischer Musik untermalt, jeweils die Geschichte eines Expo- nats aus dem Museum erzählt. Am 25. November stellt Kuratorin Nina Gorgus ein Papiertheater vor, am 8. Februar rückt Kurator Frank Berger eine Adler-Schreibmaschine in den Fokus. Jazzig geht es dagegen bei den Das Frankfurt-Modell von Herman Helle haben HMF-Allstars zu, die nach langer über tausend Frankfurter*innen mitentworfen. Pause wieder einmal im Monat Die Archivschachteln waren sonntags im Leopold-Sonnemann- früher eher „Black Boxes”. Ein Stadtmodell bildet Objektives 2017 eingeweiht und schnell zum Saal musizieren. Dabei ist das Prin- akkurat ab und folgt dem Gebot des „Publikumsliebling“ wurde, ist eine zip dieser Reihe, dass stets auch Im Jahr 2105 wird das Projekt „Bibliothek der Generatio- vergangenen zehn Jahren verschlagwortete sie ehrenamt- Maßstabs. So weit, so technisch flirrende Erfahrungslandschaft auf ein Gast eingeladen wird. Das kann nen“ enden. Dann werden 200 Autor*innen ihre Erinne- lich all die vielen Beiträge, sodass man nun auch nach gut. Als sich das Museumsteam 70 Quadratmetern. Der erste, schwei- ein grandioser Jazzmusiker sein rungen eingebracht haben: historische oder biografische einem Thema, einer Person oder einem bestimmten Ort zusammen mit dem niederländischen fende Blick erkennt Dimensionen und – wie Emil Mangelsdorff am 12. Betrachtungen, Tagebücher und Briefwechsel, Objekte suchen kann. „Im ersten Schritt ging das nur an einem Künstler Herman Helle daran machte, die typischen Gegensätze der „kleinen Dezember –, aber auch ein Künstler, und Zeichnungen, Protokolle, künstlerische und wissen- der beiden Computerterminals in der Bibliothek, aber seit zur Eröffnung des Neubaus ein Frank- Metropole“: Wald neben Industriean- der in einem ganz anderen Genre schaftliche Beiträge sowie Fotos, Tonbänder, Filme und neuestem ist das sogar online möglich“, freut sich Angela furt-Modell der Gegenwart zu reali- lage, Acker neben Siedlung, Hochhaus beeindruckt – wie der begnadete zunehmend auch digitale Objekte. Neu ist die Bibliothek Jannelli, Kuratorin der Bibliothek. Und das neue Angebot sieren, setzte es andere Prioritäten. neben Fachwerk. Der zweite Blick Frankfurter Zauberer Pit Hartling indes nicht. Bereits vor gut 20 Jahren wurde sie von der wird angenommen, von Besucher*innen wie Histori- Denn statt eines statischen Modells entdeckt mehr: Die Stadt ist aus dem am 14. November. Frankfurt-Modell: HMF Stefanie Kösling; HMF-Allstars mit freundlicher Genehmigung von Bernd Otto Künstlerin Sigrid Sigurdsson konzipiert, seit 2004 ist sie ker*innen gleichermaßen. „Es ist faszinierend zu sehen, der gebauten Stadt schwebte ihnen gebaut, was Menschen benutzen. Teil der Dauerausstellung des Historischen Museums. Die wie aus Erinnerungen zunehmend Quellen werden.“ eine Szenerie des Städtischen vor, Der Stadtwald erwächst aus Besen Idee dahinter: die Geschichte der Stadt aus unterschied- Da die Bibliothek der Generationen jedoch ein aus- die es mit der Vielfalt und Dynamik und Rasierpinseln, der Industriepark lichen Perspektiven kennenzulernen und kommenden drücklich partizipatives Projekt ist, möchten sich Jannelli Frankfurts aufnehmen kann. Deshalb Höchst aus Medikamentenverpackun- Generationen die Möglichkeit zu geben, sich mit den und ihr Team nicht auf dem Erreichten ausruhen. Ziel ist, begab sich das Stadtlabor 2015 auf gen, der Flughafen aus Fernbedienun- Erinnerungen und Berichten der Älteren auseinanderzu- so die Kuratorin, möglichst viele Menschen anzuspre- Sommertour: Überall im Stadtgebiet gen und Handys. Bis ins Detail wird setzen. Zudem will die Bibliothek den Menschen dieser chen. Mit „Erinnerungen teilen“ gibt es daher nun ein wurden Menschen nach „ihrem“ gespielt, assoziiert und kommentiert. Stadt eine Möglichkeit eröffnen, selbst aktiv an einem neues Vermittlungsformat. Gruppen öffnen darin unter Frankfurt befragt, danach also, was Auch Unscheinbares, für Bewoh- Erinnerungsprozess teilzunehmen. Denn im Prinzip hat Anleitung von fachkundigen Museumsmitarbeiter*innen ihnen bedeutsam und wichtig ist. ner*innen aber Bedeutsames findet dort jede*r die Möglichkeit, Autor*in zu werden. gemeinsam jene Archivschachteln, die für die jeweilige 2016 erhielt Herman Helle eine dicke Platz, vom Grüne-Soße-Denkmal in Allein: So schön und konzeptionell überzeugend die Gruppe interessant sind. „Ziel ist es, sich gemeinsam an Materialpackung mit den „Stadt- Oberrad bis zur Dorfkirche in Berkers- Installation – im obersten Geschoss des Museums – mit bestimmte Zeiten oder bestimmte Begebenheiten zu erin- Ansichten“ von 1.166 Frankfurter*in- heim. Dieses Frankfurt lebt und will Archivschachtel: Horst Ziegnfusz ihren Fächern voller Erinnerungen und Betrachtungen ist, nern und sich drüber auszutauschen“, so Jannelli. nen, Porträts der 42 Stadtteile und entdeckt werden, immer wieder und HMF-Allstars Bandleader war eine gezielte Recherche anfangs nahezu unmöglich. vielem mehr. Seine Aufgabe war es, immer wieder neu. Bernd Otto am Banjo Denn die bislang 140 dort ausgestellten Schachteln und Die erste öffentliche Veranstaltung findet am Sonntag, 13.Februar diesem Sammelsurium Materialität Mehr unter www.historisches-museum- Bücher glichen eher „Black Boxes“ als einem übersichtlich 2022 um 15 Uhr statt. Gruppen können Termine beim Besucherservice zu verleihen. frankfurt.de/veranstaltungen und auf vereinbaren. www.historisches-museum-frankfurt.de/ Das Frankfurt-Modell von Herman Helle ist Seite 42. Dort auch Infos zu dem Konzert, sortierten Archiv. Dank Melanie Hartlaub – selbst Autorin bibliothek-der-generationen Was dann in einer Lagerhalle in der Dauerausstellung „Frankfurt Jetzt!“ auf das das Museum der Stadt am 11.12. im der Bibliothek – ist dies jedoch inzwischen anders. In den in Rotterdam entstand, im Oktober Ebene 3 des Ausstellungshauses zu sehen. Leopold-Sonnemann-Saal schenkt. 8 9
EINUNG Und das Leben heute, mit all den rasanten Veränderungen im Stadt- raum? Diese werden Thema einer begleitenden Ausstellung des Stadt- Mit der Wucht labors sein. Zwar ist noch viel Zeit bis zur Ausstellungseröffnung. Doch weil die Exponate vorher erarbeitet eines Bumerangs werden müssen, sucht das Stadtlabor heute schon nach Mitwirkenden, die diesmal also eine gewisse zeichneri- STADT- sche Begabung mitbringen müssen. Denn wie Reiffenstein sollen auch Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy die neuen Stadtlaborant*innen die über die Frage der Restitution von Kulturgütern BLICKE Ohne Carl Theodor Reiffenstein Veränderungen in der Stadt in Bildern nach Afrika und eine verdrängte Debatte wüssten wir weit weniger über das visualisieren. Texte sind allenfalls als Leben in der Frankfurter Altstadt des Kommentare innerhalb der Arbeiten 19. Jahrhunderts und die seither ein- erlaubt. Herauskommen soll dabei getretenen Veränderungen. Der Maler „eine subjektive Frankfurt-Kartogra- hielt sie den in vielen Varianten und phie“, die aktuelle Transformations- Das Stadtlabor sucht für Motiven fest – eine unerschöpfliche prozesse in der Stadt dokumentiert. Schon vor 40 Jahren diskutierte das Thema heute viele Gesellschaften eine subjektive Kartogra- Quelle für stadthistorisch interessier- Zeichnung: Detlef Surrey Europa über die Restitution koloni- erschüttert, gleicht daher der eines phie-Ausstellung diesmal te Frankfurter*innen. Ende 2022 wer- aler Museumsbestände an Afrika. zurückkehrenden Bumerangs. Es ist Menschen, die gerne den Werke von Reiffenstein in einer Das Stadtlabor lädt am 2. Februar 2022 Die Gespräche verliefen im Sand. die potenzierte Rückkehr von etwas zeichnen. Und nicht irgend- großen Ausstellung im Historischen um 18 Uhr zu einem ersten Workshop ein. Anmeldung und Rückfragen: stadtlabor@ Sie wurden vergessen oder besser Verdrängtem auf der historischen etwas, sondern Frankfurt. Museum zu sehen sein. historisches-museum-frankfurt.de gesagt: erfolgreich verdrängt. Das Bühne, das sich nicht noch einmal ist die vielleicht wichtigste Lektion ignorieren lässt. Restitution, Deko- aus der Arbeit, die ich 2018 mit dem lonisation, die Frage des Rassismus senegalesischen Ökonom und Schrift- und der sozialen Gerechtigkeit gehen steller Felwine Sarr im Auftrag des Hand in Hand. französischen Präsidenten Emma- Es liegt an unserer Generation, nuel Macron durchgeführt habe. Wir Verantwortung zu übernehmen und gewannen nicht nur in Afrika selbst die Arbeit zu erledigen, die Museums- grundlegende Erkenntnisse; wir direktoren und Kulturfunktionäre entdeckten auch in Paris und Berlin der 70er und 80er Jahre mit Bedacht Restitution, Dekolonisation, ganze Aktenkonvolute in Verwal- versäumt haben: eine ernst gemeinte tungs- und Pressarchiven, aus denen die Frage des Rassismus und angesichts der verstrichenen Zeit hervorgeht, dass schon einmal eine und der sozialen Gerechtig- ebenso zügige wie besonnene Restitu- ausführliche Debatte um kolonialzeit- keit gehen Hand in Hand. tion der Objekte, die im Unrechtskon- liche Sammlungen in europäischen text kolonialer Okkupation zu uns Museen geführt wurde. Sie erreichte Pathosformeln es waren, die in den nach Europa gekommen sind und ihren Höhepunkt zwischen 1978 und 70ern und 80ern das Projekt einer bereits seit einem halben Jahrhundert 1982. geordneten und fairen Rückgabe reklamiert werden. Wir müssen es Es ist für Historikerinnen und His- von Kulturgütern an die „Dritte Welt“, jetzt tun und dürfen die Verantwor- toriker kein Leichtes, die Geschichte wie sie damals genannt wurde, schei- tung nicht selbst auf unsere Kinder verpasster Chancen, des Erstickens tern ließen. und Kindeskinder abschieben. und Verdrängens historischer Optio- Die Archive sprechen eine deut- nen zu schreiben. Schriftliche Quellen liche Sprache: Die Idee unseres fehlen oft. Unterminierende Lobby- 21. Jahrhunderts, Kulturgüter, die Bénédicte Savoy ist Professorin für Kunst- arbeit vollzieht sich meist außerhalb während der Kolonialzeit en masse geschichte an der TU Berlin und am Collège Bénédicte Savoy: AntjeBerghaeuser schriftlicher Koordinatensysteme. in die europäischen Museen gelang- de France in Paris. Am 26. Januar wird sie im Historischen Museum in der Reihe Geschichte Im vorliegenden Fall jedoch lugt unter ten, im Sinne einer postkolonialen Jetzt! ihr neusten Buch „Afrikas Kampf um der Schicht des Vergessens erstaun- und postrassistischen Solidarität seine Kunst – Geschichte einer postkolonialen lich viel Material hervor. Daran lässt zurückzugeben, ist alles andere als Niederlage“ (2021, Verlag C.H. Beck) vor- stellen, siehe S. 42. Der obige Beitrag ist aus sich ablesen, welche Akteure und radikal oder bahnbrechend. Das gab Passagen aus der Einleitung und dem Epilog Strukturen, welche Argumente und es schon einmal. Die Wucht, mit der des Buches zusammengestellt. 10 11
KENNST ENSCHEN Stand: 07/2021, Änderungen vorbehalten 37 MUSEEN DU Der Brückenbauer MUSEUMSUFERCARD FRANK- 1 JAHR FURT? 89 € MUSEUMSUFER Eine Arbeitsgruppe TICKET des Jungen Museums 2 TAGE arbeitet an neuen Frankfurt-Materialien für Grundschulkinder. 21 € Dank seiner Initiative konnten einige Ankäufe getätigt werden: Markus Pfüller in der Dauerausstellung. Kinder für die eigene Stadt und ihre Geschichte zu begeistern, ist eigentlich gar nicht so schwer. Sie sind Markus Pfüller ist renommierter Anwalt und gut vernetzt. Das Museum neugierig, wissbegierig und interessieren sich meist unterstützt er als Kuratoriumsvorsitzender und Kopf des „SaalhofClubs“. für das eigene Lebensumfeld. Umso erschreckender ist daher für Susanne Gesser, wenn sie sieht, mit welchen Markus Pfüller gibt es offen zu: „Von Geschichte habe ich „Unser Zusammenleben braucht ständige Veränderungen Materialien die hiesigen Grundschulen teilweise nicht mehr Ahnung als die meisten.“ Im Historischen und Anpassungen. Deswegen versuche ich, zukunftsge- arbeiten (müssen). „Wenn die Arbeitsblätter für die Museum spielt er dennoch eine wichtige Rolle. „Manche richtete Regeln zu fördern und Prozesse zu verstetigen.“ Schüler*innen veraltet und fehlerhaft oder schon so Menschen haben Ideen. Andere haben Möglichkeiten, Um Verstetigung geht es auch im SaalhofClub. Entstan- häufig kopiert worden sind, dass kaum noch etwas sie umzusetzen. Beide zusammenzubringen, darin sehe den ist dieser als Club33 vor acht Jahren. Damals verfügte darauf zu erkennen ist, kann ich das kaum ertragen“, ich meine Aufgabe.“ Brücken schlagen, verknüpfen und das Museum über keinen Etat, um spontan Objekte an- so die Leiterin des Jungen Museums. vernetzen – das tut er gleich in doppelter Funktion: als zukaufen. Pfüller begann zu rechnen: Würden für diesen Deshalb hat Gesser eine Arbeitsgruppe ins Leben Mitglied und inzwischen Vorsitzender des Kuratoriums, Zweck jedes Jahr 100.000 Euro bereitstehen, wäre das eine gerufen. In ihr sitzen Lehrer*innen und Fachleute aus in dem namhafte Persönlichkeiten für das Museum verlässliche Hilfe. Bei 33 Fördernden müsste jede*r 3.333 dem Jungen Museum sowie weitere Kooperationspartner wirken und eintreten, sowie als Initiator und Kopf des Euro geben. Aus der Rechnerei wurde ein Club. Zwar sind wie das Archäologische Museum oder das Institut für SaalhofClubs, einer Gruppe ausgewählter Fördernder. noch „Plätze frei“, aber schon in den letzten Jahren hat Stadtgeschichte. Ziel ist es, eine umfangreiche und Es hätte auch anders kommen können. Denn einst der SaalhofClub ermöglicht, dass das Museum bei Gelegen- modular aufgebaute Frankfurt-Materialsammlung wollte Pfüller, in Sachsenhausen aufgewachsen, nur „fort heiten Objekte erwerben konnte: sei es das im Renten- zu erstellen, die Schulen angeboten werden kann. Mit von hier“. Weg von der bekannten Familie – das Modehaus turmfoyer ausgestellte Gemälde „Ansicht von Frankfurt ihr sollen die Kinder spielerisch etwas über Frankfurt Pfüller ist seit bald 150 Jahren hier ansässig – und den am Main“ von Fritz Wucherer, sei es ein leuchtend blaues Mehr Informationen auf MUSEUMS lernen, über die Stadteile, den Main oder die Wappen, Erwartungen an ihn als Erstgeborenen; aber auch raus aus Figurinenkleid. Besonders hat Pfüller der Ankauf eines museumsufer.de aber auch über die Römer oder den Gründungsvater dem ihm klein und eng erscheinenden Frankfurt. „Ich lebensgroßen Porträts des Obdachlosen Karel Strnad Karl den Großen. Und wann ist mit einer Fertigstellung wollte in die weite Welt“, erinnert er sich. Dies begann mit gefreut, das der Frankfurter Künstler Thomas Ganter 2014 UFER M. Pfüller: Uwe Dettmar der Materialsammlung zu rechnen? Susanne Gesser: einer Banklehre in Stuttgart, es folgten Jura-Studium in gemalt hat. Ein zeitgenössisches Werk? Genau das sei ja Grafik: Gardeners „So schnell wie möglich, zunächst muss alles aber Freiburg und Stationen in Hamburg und London. Dann das Spannende, findet er: „Das Museum muss heute noch gründlich von Kindern getestet werden. Es soll ja kam er zurück und wurde zu dem, was er heute ist: renom- entscheiden, was morgen von Bedeutung sein kann, um richtig gut werden!“ mierter Wirtschaftsanwalt. Was ihn am Recht interessiert? die Vergangenheit zu verstehen.“ Dabei hilft er gerne. 12 13
Kleine Der Frankfurter Konditor Johann Valentin Prehn (1749–1821) trug einst ein Miniaturkabinett mit mehr als Kunst 800 kleinformatigen Gemälden zu- sammen. In 32 Klappkästen sammelte er Gemälde aller Schulen und Genres vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhun- dert. In dieser Sonderausstellung im Sammlermuseum ist diesmal sogar Nur noch bis Mitte Januar HÖCHST das berühmte Paradiesgärtlein zu ist das berühmte Paradies- sehen – das Bild hängt normalerweise gärtlein im Historischen als Dauerleihgabe im Städel. Museum zu sehen – zusammen VIELSEITIG mit vielen anderen Werken Prehns Bilderparadies bis 16.1.2022 im Historischen Museum; der Sammlung Prehn. www.bildersammlung-prehn.de 2023 wird das neue Bolongaro Museum ITMACHEN eröffnet. Bis dahin gibt es viel zu tun. Auch für die Stadtlaborant*innen aus Höchst. Kids on Tour im Tempo! Museum Museen sind für Kinder zuweilen etwas langweilig. Wer durch den Höchster Industriepark in die Altstadt mit ihren schönen Fachwerkhäusern fährt, bemerkt schnell: Dieser Frankfurter Stadtteil ist geprägt von Gegensätzen Alle Zeit Doch das muss nicht sein! Im Sammlermuseum können sie zum Beispiel einfach und Widersprüchen. Aber wie kann ein Stadt(teil)museum mit einer solchen Diversität umgehen? Klar war sofort, dass das neue Bolongaro Museum die ganze Bandbreite abbilden soll, die heute den Stadtteil ausmacht. Und nie- der Welt mitsammeln. mand anders als die Höchster*innen selbst sollen diese 26.9.2021– 6.2.2022 Styling und Model: Mina Pavicevic © Foto: anjajahn.com Geschichten erzählen. Wenn es um Partizipation geht, macht das Histori- Paradiesgärtlein: HMF/Horst Ziegenfusz; Kids on Tour: Uwe Dettmar Mit dem Jungen Museum hat das Das gilt auch für das Sammlermuse- sönlichkeiten, ihren Sammlungen und sche Museum seit 2010 gute Erfahrungen mit seinem Historische Museum Frankfurt um, in dem das Historische Museum dem Sammeln. Mitmachen (und anfas- Stadtlabor. Deshalb kommt dieses Format nun auch einen Ort für Kinder und Jugendliche Privatsammlungen zwölf Frankfurter sen) ist hier nicht nur erlaubt, sondern in Höchst zum Einsatz. Drei Workshops hat es bereits geschaffen. Doch die Arbeit des Jungen Bürger*innen präsentiert – von natur- ausdrücklich erwünscht. So können gegeben, so langsam formen sich erste Beiträge für das Museums beschränkt sich nicht nur historischen Gegenständen über Waf- zum Beispiel Gemäldesammlungen neue Museum heraus. „Neben dem Geschichtsverein und darauf, diesen Ort mit entsprechenden fen oder Münzen bis hin zu wertvoller neu arrangiert, eine zerbrochene Vase dem Museumsverein wird zum Beispiel die alevitische Ausstellungen und Veranstaltungen Malerei. Allein: Ist das für Kinder so zusammengesetzt oder eine Münze Gemeinde oder ein pakistanischer Kulturverein mit dabei Bolongaro: Neven Allgeier zu bespielen. Ziel ist es, das gesamte interessant? Dank einer sogenannten geprägt werden. Außerdem gibt es zu sein“, berichtet Konstantin Lannert, Kurator und Pro- Museum kindgerecht zu machen, Familienspur auf jeden Fall! Denn hier jedem Sammler ein Sammelbildchen, jektleiter. Wo das alles hinführt, sei noch ziemlich offen. museum-sinclair-haus.de kunst-und-natur.de damit sich Groß und Klein überall werden Kinder selbst zu Sammler*in- das in ein Heft eingeklebt werden kann, „Aber genau das ist Teil des Konzepts.“ Wichtig sei nur, willkommen fühlen und es gerne nen. An orangefarbenen Stationen fin- welches am Anfang der Tour ausliegt. dass möglichst viele Höchster*innen am Ende das neue besuchen. den sie Aufgaben zu den Sammlerper- Langweilig ist anders! Museum als ihr Museum annehmen würden. anzgeige_80x250_schneekugel_tempo.indd 2 27.09.21 18:31 14 15
Erstmals zeigt das heute Historische Museum eine Gesamtschau über die NS-Zeit in Frankfurt – mit drei Ausstellungen, verschiedenen Schwerpunkten und Annäherungen an komplexe Fragen: Wie NS darstellen? Was vermitteln? Damals Wie erinnern? ‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑ Es beginnt mit einer Konfrontation und einer Frage. Nach wenigen Schritten in der Ausstellung „Eine Stadt macht mit“ fällt der Blick unweigerlich auf eine großformatige Schwarz-Weiß-Fotografie: Ein Mann steht alleine in einer engen Straßenflucht, über ihm Flagge um Flagge, Haken- kreuz auf Hakenkreuz. Es ist 1933, der Nationalsozialis- mus hat Frankfurts Straßen erobert. Rechts neben dem Foto drängt ein anderer Reiz ins Bild. Auch hier ist es eine Fahne aus Stoff, verblichen zwar, aber noch als einst rot leuchtendes Banner erkennbar. Auf ihr weisen drei markante Pfeile nach links, das Symbol der Eisernen Front, ein antifaschistischer Zusammenschluss demo- kratischer Kräfte, die sich den Nazis entgegenstellten. Die Pfeile der Fahne weisen auf den Mann auf der Foto- grafie und beschwören Fragen herauf: Warum steht er da? Bendergasse: Leonhard Kleemann, 1933 Ist er dafür oder dagegen? Wird er mitlaufen, erst un- willig, später fanatisch? Vielleicht auch: Was hätten die eigenen Großeltern an dieser Stelle getan, die Mutter, der Vater, man selbst? So geht es los. 16 17
umso mehr angesichts der Diversität Zurück zu dem Mann auf der Straße, dere hat Zeitschnitte gesetzt und sich der heutigen Stadtgesellschaft: Nicht dem Auftakt von „Eine Stadt macht auf die Umbruchsjahre 1933, 1938, mal mehr die Mehrheit der Menschen mit“. 600 Objekte und Dokumente 1941 und 1945 konzentriert. Letztlich in Frankfurt sind, um es angelehnt sind hier zu sehen. Einem ist zu hat sich das Museum aber für das ärtig, an eine vieldiskutierte Bezeichnung entnehmen, dass Frankfurts neu- „Orte-Konzept“ entschieden: Verteilt ‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑ zu sagen, „Deutsche mit Nazi-Hinter- grund“. Was aber bedeutet denjenigen, eingesetzter Oberbürgermeister Friedrich Krebs bereits am 28. März im Ausstellungsraum sind 19 groß- flächige Baukörper platziert. Sie Der Reihe nach. 2018 fällt im Museum deren Vorfahren am Horn von Afrika 1933 verfügte, alle jüdischen Ange- stehen für Orte urbanen Lebens, mal die Entscheidung, die Jahre von 1933 oder in Anatolien gelebt haben, die stellten und Beamten der Stadt aus konkrete wie Rathaus, Universität, ießen bis 1945 und ihre Nachwirkungen bis düstere deutsche Geschichte, was soll, dem Amt zu entfernen. Die rechtliche Museum oder Gericht, mal abstrakte heute in einem Ausstellungsprojekt was kann sie bedeuten? Grundlage wurde mit dem NS-Gesetz wie Straße oder Zuhause. Es sind Orte, umfassend zu betrachten. Es ist ein zur „Wiederherstellung des Berufs- die es damals gab und heute gibt, in gegenw Novum: Zwar gab es Forschung zu beamtentums“ reichsweit erst zehn Frankfurt wie in jeder anderen Stadt. Hauf und auch Ausstellungen zu Tage später erlassen. Krebs hatte also Die Idee dahinter ist, die Geschichte Teilaspekten. In den über sieben Jahr- vorauseilend gehandelt. An anderer in Frankfurt zu „verorten“ und zehnten seit dem Ende des „Dritten Stelle erfährt man, dass die kommu- damit Anknüpfungspunkte in den ‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑ Reichs“ aber hat weder das Historische nale Verwaltung – die große Mehrheit Lebenswelten der Besucher*innen zu aufschl Museum noch eine andere Frankfur- des Personals war das gleiche wie vor finden – das Damals und das Heute zu ter Institution je eine Gesamtdarstel- 1933 – die NS-Politik von heute auf verbinden. Für das Publikum ist das lung gewagt. Es jetzt zu tun, hat gute Gründe. Eine rechtspopulistische Par- sondern t ab-, „Von Anfang an und stärker noch als sonst“, so Kuratorin Anne Gemein- morgen umsetzte. Beide Geschichten stehen dafür, was sich in dem Titel Möglichkeit wie Zumutung zugleich: Man steht dem Nationalsozialismus ächtig tei sitzt in Parlamenten, geschichts- hardt, „war die Frage der Vermittlung der Ausstellung bündelt: Frankfurt nicht äußerlich gegenüber, vielmehr revisionistische Diskurse strömen zentraler Teil unserer Überlegungen.“ hat mitgemacht. Auch die moderne, wandelt man auf eigenen Pfaden von war all durch die sozialen Medien und überall Intensiv wurde diskutiert, wie sich liberale, demokratisch gesinnte und Ort zu Ort durch eine abstrahierte im Land nimmt rassistische und verschiedene, auch leichte Zugänge wie keine andere von ihrer jüdischen nationalsozialistische Stadt, genauer antisemitische Gewalt zu. Museums- schaffen lassen; wie man das, was Geschichte und Gegenwart geprägte noch: mitten durch das nationalsozia- hte nich direktor Jan Gerchow sagt es so: „Der manche zur Genüge zu kennen Stadt hat sich proaktiv und selbstbe- listische Frankfurt. Nationalsozialismus wirkt offen fort. meinen, noch einmal neu und anders stimmt nazifiziert. Wie das gesche- An den Orten wird aufgezeigt, Die Geschichte und Ideologie des NS erzählen kann; wie sich vermitteln hen konnte – eben das vollzieht die wie der NS sämtliche Lebensbereiche cht allm zu verstehen, um den Versprechen von lässt, dass eine Auseinandersetzung Ausstellung nach. erfasste und durchsetzte. Gleichwohl Rechtspopulisten und Rechtsradika- mit dem NS – individuell wie gesell- ist die Geschichte jeden Ortes viel- len zu widerstehen: Das muss auch schaftlich – niemals „erledigt“ ist, schichtig und widersprüchlich. Am heute ein Hauptziel von historischer sondern immer noch und immer wieder Bahnhof retten sich Verfolgte ins Exil, und politischer Bildung sein.“ neu von Bedeutung und Belang sein brechen Wehrmachtssoldaten auf, Der NS Deshalb also „Frankfurt und wird. Auf den Punkt gebracht: Wie kommen Zwangsarbeiter*innen an ‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑ der NS“. Wie aber macht man das – diese Geschichte nicht ab-, sondern und fahren Sonderzüge in die Kon- „die Geschichte und Ideologie des aufschließen? zentrations- und Vernichtungslager Geschic NS verstehen“? Was erzählen? Und Eine grundlegende Entscheidung ab. Museen profitierten vom Raub an wie? Für wen? Schließlich ist der NS, fiel früh. Statt einer Ausstellung Der Schwerpunkt auf der Täterschaft den Verfolgten des NS-Regimes und so beschreibt es Kuratorin Angela zeigt das Museum zeitgleich drei wirft noch einmal eigene Fragen nach entschädigungsloser Enteignung, aber ni Jannelli, „ein sensibles Thema, für Ausstellungen, die in engem Bezug der Darstellung auf. Schließlich soll gleichzeitig verlieren sie Werke, die viele auch schmerzhaft und wie kaum zueinander entwickelt worden sind. im Fokus auf das Funktionieren der als vermeintlich „entartet“ diffamiert ein anderes politisch brisant“. Hinzu „Eine Stadt macht mit“ zeigt auf NS-Herrschaft das Mitmachen nicht werden. Vor Gericht wird nationalso- kommt: Eine Auseinandersetzung 900 Quadratmetern eine histori- als Notwendigkeit erscheinen. Wie zialistisches Unrecht gesprochen, dort mit der nationalsozialistischen sche Gesamtschau samt Vor- und also vermitteln, dass der Nationalso- wird nach 1945 aber auch nationalso- Herrschaft steht heute unter anderen Nachgeschichte für das allgemeine zialismus von den meisten getragen zialistisches Unrecht verfolgt – bis hin Vorzeichen als vor drei oder vier Museumspublikum. Kinder und wurde, aber keineswegs von allen ge- zu dem 1963 begonnenen Frankfurter Jahrzehnten. Zeitlich ist das „Dritte Jugendliche spricht die interaktive teilt und von einigen auch bekämpft Auschwitz-Prozess. An jedem der Orte Reich“ inzwischen so lange her, dass Ausstellung „Nachgefragt“ des wurde? Anne Gemeinhardt, für also begegnen sich Täter und Verfolgte nur noch wenige Zeitzeug*innen Jungen Museums an. Die dritte Aus- Bildung und Vermittlung zuständig, und die Vielen dazwischen, gibt es berichten können. Bei immer mehr stellung, „Auf Spurensuche im Heute“ erzählt, dass verschiedene Konzepte Verläufe, wird NS-Herrschaft etabliert Frankfurter*innen sind auch Oma vom Stadtlabor, bietet Raum für zur Ausstellungsstruktur in Betracht und exekutiert ebenso wie hinter- und Opa nach 1945 geboren. Es geht unterschiedliche Zugänge zu einer gezogen wurden. In einer war die gangen, infrage gestellt und bekämpft. also darum, Wissen jenseits direkter erinnernden Auseinandersetzung mit Geschichte in thematische Bereiche familiär-biografischer Erfahrungen dem NS. Drei Ausstellungen, drei Per- wie „Antisemitismus“, „Terror“ und weiterzugeben und -entwickeln; dies spektiven, drei Herausforderungen. „Zwangsarbeit“ gegliedert, eine an- 18 19
Im Gegenteil: Sie liegt in einem wir nicht als Gefahr oder Konkurrenz stilisierten Polizeiregal, als aus dem begreifen, sondern als Chance, uns ‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑ n tück Verkehr gezogenes Stück Unrecht. darüber zu verständigen, wie wir zu- Ent- statt Verherrlichung. ‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑ sammenleben möchten.“ Ihr Kollege diverse Damit ist ein Grundprinzip der Aus- Szenenwechsel, hinauf und Gottfried Kößler ergänzt: „Es ist ja stellung genannt: Auf allen Ebenen hinüber zur Ausstellung „Nachge- Von Anfang an hat das Museum nicht so, dass das Erinnern wie ein webt sie in die Herrschaft des NS fragt“ des Jungen Museums. Auch sie auf dem Weg zu „Frankfurt und Kuchen funktioniert: Je mehr Perso- Brüche und Reibungen ein, nicht verfolgt den Ansatz, dem Publikum der NS“ den Austausch mit anderen nen am Tisch sitzen, desto kleiner igt als S gleich mächtig, aber doch präsent. – hier Kinder und Jugendliche ab zehn Institutionen und Initiativen ge- werden die Stücke. Erinnerungen So wird an vielen Stellwänden unter Jahren – das Leben bzw. das Aufwach- sucht. So haben die vor allem in den setzen andere Erinnerungen frei. ung der Überschrift „Kontra!“ ein Moment sen im Nationalsozialismus in zeit- 1980er-Jahren zahlreich entstande- Deswegen legen wir im Stadtlabor der Gegenwehr erzählt. Auch die übergreifenden Lebenswelten erfahr- nen Geschichtsvereine wichtige Im- das Augenmerk auf das produktive Szenografie arbeitet mit Dominanten bar zu machen: Wie schlugen sich das pulse in die Ausstellungen getragen. Potenzial, das im Erinnern steckt.“ und gezielt gesetzten Störungen. So „Dritte Reich“ und seine Ideologie in Am weitreichendsten beteiligt ist die Genau darin liegt die Bedeutung gehen von den massiven Stellwänden der Familie, in der Schule oder in der Stadtgesellschaft in der Ausstellung dieser Ausstellung. Keineswegs jede*r en ist herrlich s einer seitlich leichtere Flügelwände ab. Freizeit nieder? Visuell wird dem NS des Stadtlabors. Dieses arbeitet stets und nicht einmal mehr die große Der Grundton der Wandflächen ist, dabei kaum Platz zugestanden, an „von Anfang bis Ende“ partizipativ. Mehrheit der diversen Frankfurter in Anspielung auf „NS-Vorlieben“, dem er „wirken“ könnte (siehe den So auch diesmal: Rund 30 Stadtlabo- Bevölkerung hat einen familiär-bio- eine braune Eichenholz-Maserung, te, geze Beitrag ab Seite 28): Verherrlichende, rant*innen haben sich gemeinsam grafischen „Nazi-Hintergrund“. Das die aber nie die gesamte Fläche stigmatisierende, grundsätzlich „Auf Spurensuche im Heute“, so Stadtlabor bringt mit der Vielheit der überzieht. Stets wird sie von Weiß- suggestive Abbildungen sowie der Titel der Ausstellung, begeben Bevölkerung sowohl Unterschiedlich- fläche begrenzt. Jenny Jung, die die Gewaltdarstellungen werden ver- (mehr dazu ab Seite 24). Gemeinsam keiten als auch gemeinsame Themen gemess Ausstellung mitkuratiert hat: „Die mieden, auch auf Originalobjekte hat man sich über das Thema, das im Blick auf die Gewaltgeschichte des Brechungen und leeren Räume er- wird weitgehend verzichtet. Gezeigt Konzept und sogar die Gestaltung NS ins Museum. Dadurch passiert innern daran, dass es auch in dieser werden zum Beispiel Gegenstände verständigt. Was will man mit der etwas: Das Erinnern löst sich aus n, wie e Zeit immer wieder Momente gab, in aus der kindlichen Lebenswelt jener Ausstellung? Welche Atmosphäre der alleinigen „Zuständigkeit“ der tatt Ver denen Menschen hätten Nein sagen Jahre: Da ist eine aus einem zerbomb- soll sie haben? Eher schwarz-weiß bislang dominanten „ethnisch-na- oder anders handeln können.“ ten Haus gerettete Puppenstube, da als farbig, trotz des düsteren Themas tionalen Erinnerungskultur“ – und Jede kritische Auseinanderset- sind Granatsplitter, mit denen Jungen auch leicht, einladend, nicht abwei- damit auch aus deren Begrenzungen zung mit dem Nationalsozialismus und Mädchen im Zweiten Weltkrieg send soll es wirken, lauteten einige und Ausschlüssen. Der NS ist eine tler-Büs steht vor der Herausforderung, Spra- gespielt und „gehandelt“ haben. An- Festlegungen. In Design-Workshops deutsche Geschichte. Eine erin- che, Bild- und Symbolwelten nicht dere Gegenstände und Bilder werden mit den Szenographen von museeon nernde Auseinandersetzung aber ist ungebrochen oder unkommentiert so eingebettet, dass der Zusammen- ist schließlich eine Installation ent- Angelegenheit aller. Wie die Stadt- chaft an wiedergeben zu wollen. Das ist ein hang und die Bedeutung für junge standen, in der Papierbahnen über labor-Ausstellung zeigt, ermöglicht Balanceakt. Die Macher*innen aller Besucher*innen verständlich werden. Stahlgerüsten von der Decke hängen, das neue Perspektiven. Es ist ein drei Ausstellungen haben sich zum Schulbücher aus der NS-Zeit etwa hier Räume bilden, dort Wege „spu- Anfang, der etwas setzt: Er erkennt t: Ent- s Erinner Beispiel zwar frühzeitig darüber sind kommentiert, auf Infografiken ren“ und die Beiträge miteinander gesellschaftliche Vielfalt als Realität verständigt, vom NS geprägte oder sind Ausschnitte aus Fotografien verbinden. an. „Plural ist normal“ – das ist die kontaminierte Begriffe möglichst zu zu Collagen zusammengesetzt. Ein In dieser Szenerie sind 24 Beiträ- größtmögliche Zurückweisung jeder vermeiden oder als solche kenntlich Beispiel, das zeigt, wie die rassen ge versammelt, die Nachwirkungen völkisch-volksgemeinschaftlichen zu machen, wenn die Benutzung ideologische Ausgrenzung des NS nah des NS in der Gegenwart nachspüren. Ideologie, damals wie heute. (cs) Eine Hi dem Verständnis der ideologischen am kindlichen Leben erzählt werden Worauf bezieht man sich? Was macht Zusammenhänge dient. Die gleiche kann, ist die Parkbank. Sie steht im man damit? Woran erinnert das Problematik gibt es auf der Ebene der Bereich „Draußen spielen“, jeder und Erinnern? Ob es um familiäre Tabus, Gesells NS-Symbolik – hier noch verschärft jede kann sich darauf setzen. Wer kollektives (Ver-)Schweigen oder um dadurch, dass die Ausstellung nicht dort sitzt, entdeckt einen Hinweis: Recherchen im Stadtviertel geht: Unrech als Kulisse für ein „Selfie mit Hitler“ „Ab November 1938 stand auf vielen Immer sind es persönliche, von der missbraucht werden soll. In „Eine Parkbänken ‚Nur für Arier‘. Jüdische jeweils eigenen Geschichte und Ver- Stadt macht mit“ ist am Ort „Polizei“ Familien oder Sinti und Roma durften ortung geprägte Zugänge. Dadurch tatsächlich eine Hitler-Büste zu sehen, sich dort nicht mehr hinsetzen.“ Nun fallen die Antworten notwendig die aus einem vor kurzem sicher- sitzt es sich anders. unterschiedlich aus, meint Angela Figuren: HMF/Horst Ziegenfusz Die Spielfigur zeigt, wie auch gestellten Nachlass mit NS-Devotio- Jannelli, Kuratorin des Stadtlabors: die auf dem Umschlag, einen nalien stammt. Sie wird allerdings „Wenn wir Spuren des NS im Alltag Pimpf des „Deutschen Jung- nicht auf einem Sockel präsentiert. wahrnehmen, treffen verschiedene volks“, eine Jugendorganisation der „Hitlerjugend“ für 10- bis Erinnerungen aufeinander und 14-Jährige. Mehr zu den Figuren setzen etwas Neues frei. Das sollten im Museum auf Seite 5. 20 21
Auf solcher Symbolpolitik wurden auf der Straße die Spaltung der Gesell- schaft rigoros vorangetrieben. Aus der „Volksgemeinschaft“ aus- offener geschlossene Bürger*innen wurden räder Ufer an. Sie waren Teil einer stigmatisiert, drangsaliert und großangelegten Inszenierung, bei in ihren Bewegungsmöglichkeiten der Adolf Hitler den Bau der Reichs- eingeschränkt. Die Ausstellung er- autobahn mit dem ersten Abschnitt zählt zum Beispiel von der sogenann- Frankfurt – Darmstadt eröffnete. te Bettlerrazzia, bei der bereits im Mythen, die bis heute nachwirken: Straße September 1933 als eine erste polizei- Der Führer habe die Massenarbeits- liche Maßnahme „Asoziale“ verfolgt losigkeit beseitigt und die Autobahn und zum Teil inhaftiert wurden. erfunden. Tatsächlich nationalisierte ‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑ Das hatte nicht nur ideologische Gründe: Die NS-Volkswohlfahrt sah der NS das bereits in den 1920er- Jahren in Frankfurt ausgearbeitete Als 1931 mit der Siedlung West- Wohnungslose und Menschen, die internationale Infrastrukturprojekt hausen das letzte große Projekt des „Neuen Frankfurt“ fertiggestellt auf das Betteln angewiesen waren, als Konkurrenz beim Sammeln von HaFraBa, das die deutschen Hanse- städte mit Basel und Genua verbinden Eine Stadt wird, sind die Erschließungsstraßen modern-funktionalistisch mit Buch- Spenden. Diskriminierung und Entrechtung trafen verschiedene sollte. Zurück nach Westhausen. Schon macht mit — staben benannt: A-Straße, B-Straße, Gruppen, etwa auch antiziganistisch bald nach Kriegsende setzen sich Frankfurt C-Straße... Doch schon bald stellt sich die Stadtverwaltung in den Dienst des Verfolgte, und verschärften sich stetig. 1941 wurde das Tragen eines einige Bewohner*innen dafür ein, dass die Straßennamen der NS-Zeit und der NS Nationalsozialismus. Im Zuge eines „Judensterns“ im öffentlichen Raum aus ihrer Siedlung verschwinden Ausstellung „kommunalen Kulturkampfs“ werden zur Pflicht. Bald darauf begannen die sollen. Es gelingt. Schon 1947 sind sie – unter reger Mithilfe der Bevölke- Deportationen. nach Menschen benannt, die Wider- 9. Dezember 2021 rung – Straßen, Plätze und Brücken stand gegen den NS gewagt und dafür bis 11. September 2022 umbenannt, die republikanische Persönlichkeiten würdigen, „jüdisch“ ‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑ gestorben sind. Albrecht Ege, die Geschwister-Scholl, Johanna Kirchner klingen oder aus anderen Gründen Die Ausstellung geht auch auf eine und – als Namenspatron der einstigen Die Ausstellung geht der Frage nach, dem völkischen NS-Weltbild zuwider- ganze andere Form der „NS-Straßen- A-Straße – der Frankfurter Redakteur wie sich Frankfurt so schnell und laufen. So wird aus der Untermain- politik“ ein. Am 23. September 1933 Stephan Heise. Es ist ein Anfang. Bis radikal dem NS andienen konnte. brücke die Adolf-Hitler-Brücke. Und traten 700 mit Spaten bewehrte heute sind rund 100 Straßen, Plätze, Hierbei führt sie die Besucher*innen aus der A-Straße in Westhausen wird „Soldaten der Arbeit“ nach einem Wege und Parkanlagen in Frankfurt zu 19 typischen urbanen Orten wie Rathaus, Straße, Universität, Geschäft Stern von Edith Erbrich: Fotografie von Horst Ziegenfusz; Eine Stadt macht mit: Fotografie von Leonhard Kleemann 1933 die Lettow-Vorbeck-Straße, benannt Marsch durch die Stadt am Nieder- nach Personen des Widerstands nach jenem Militär, der als Kompa- sowie nach Opfern und Verfolgten des oder Gericht. Die dort präsentierten niechef in der Kolonie „Deutsch- NS benannt worden. (cs) Schlaglichter machen deutlich, Südwestafrika“ am Völkermord an wie der Nationalsozialismus die ‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑‑ den Herero und Nama beteiligt war. Stadt Frankfurt und den Alltag ihrer Wie der NS in Frankfurt schnell Bewohner*innen prägte und zeigt die Spannweite, von den Täter*innen und umfassend alle Lebensbereiche In einem Tondokument in der Ausstel- bis zu den Opfern staatlicher wie erfasste, zeichnet die Ausstellung „Eine lung erzählt die Frankfurterin Edith kommunaler Gewalt. Eine mediale Stadt macht mit“ entlang verschiede- Erbrich, wie sie als Kind mit dem gelben Stern auf der Brust auf der Straße Topografie Frankfurts ermöglicht die ner städtischer Orte nach, darunter der Die Ausstellung „Eine Stadt macht mit“ öffentliche Raum „Straße“. War diese beschimpft worden ist. Im Februar 1945 wurde sie mit einem der letzten selbständige Recherche in über 2.500 konkreten Frankfurter Adressen und noch zu Beginn der 1930er-Jahre von beleuchtet die Durchsetzung der Demonstrationen und Auseinander- Transporte von der Großmarkthalle ins KZ Theresienstadt deportiert. deren Bedeutung in der NS-Zeit. Die Entstehung der Ausstellung NS-Herrschaft in Frankfurt. Auch der setzungen zwischen links und rechts Nach Jahrzehnten des Schweigens Auf offener Starße: Friedrich Robert Otto Emmel hat sie in den vergangenen 20 Jahren begleiteten bürgerschaftliche Initi- geprägt, kippten die Verhältnisse 1933 an zahlreichen Schulen von ihrem öffentliche Raum wurde zum Feld von endgültig: Die Nazis hatten nicht nur Leben und Überleben berichtet. Und sie hat lange für das heutige ativen kritisch-konstruktiv. Zur Ausstellung erscheint im Michael Verfolgung und Propaganda. das Rathaus erobert, sondern auch die „Macht der Straße“ errungen. Mahnmal an der Großmarkthalle gekämpft. Das sechseckige Stück Stoff, Imhof Verlag ein reich illustriertes Begleitbuch (336 Seiten, 30€). Immer mehr Flaggen, Banner und das sie als Kind tragen musste, hat Ein umfangreiches Begleitprogramm sie bis heute aufbewahrt und für die Uniformen prägten die Öffentlichkeit, Ausstellung zur Verfügung gestellt. (siehe Seite 40), pädagogisches Ermunterung für die einen, Ein- Material und ein Multimedia-Guide schüchterung für die anderen. Neben ergänzen die Ausstellung. 22 23
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