MITTELMACHT MIT MAGHREB-FOKUS - Eine spanische Sicht auf die Sicherheitspolitik in der Südlichen Nachbarschaft - Bibliothek der Friedrich ...

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A N A LYSE

                                                  •
                                                  Spanien ist ein engagierter
                                                  multilateraler Akteur, der die
                                                  europäische Karte spielt, um
FR I EDEN U N D SI CH ERH EI T                    finanzielle und diplomatische
                                                  Ressourcen zu mobilisieren, die
                                                  das Land allein nicht aufbringen

MITTELMACHT
                                                  kann.

MIT MAGHREB-­                                     •
                                                  Während für die meisten

FOKUS
                                                  EU-Länder und auch die Groß-
                                                  mächte der Nahe Osten im
                                                  Mittelmeerraum die höchste
                                                  Priorität hat, war und ist für
                                                  Spanien der Maghreb am wich-
                                                  tigsten, und dort vor allem
Eine spanische Sicht auf die Sicherheitspolitik   Marokko.
in der Südlichen Nachbarschaft

                                                  •
                                                  Spaniens Position bezüglich der
Von Eduard Soler i Lecha und Pol Morillas
                                                  Mittelmeerthemen wird durch
Dezember 2020
                                                  seine innenpolitische Dynamik;
                                                  die Entwicklung der Konflikt-
                                                  und Kooperationsdynamiken
                                                  in der Region und die Fähigkeit
                                                  der EU zur Artikulierung einer
                                                  robusteren und ehrgeizigeren
                                                  Politik beeinflusst.
FR I EDEN U N D SI CH ERH EI T

MITTELMACHT MIT
MAGHREB-FOKUS
Eine spanische Sicht auf die Sicherheitspolitik
in der Südlichen Nachbarschaft
Inhalt

Zusammenfassung                                                                                                   2

1     EIN NEUER MITTELMEERRAUM, EIN NEUES SPANIEN                                                                 3

2     DIE LAST DER GESCHICHTE                                                                                     4

2.1   Bilaterale Beziehungen mit Israel............................................................               4
2.2   Bilaterale Beziehungen mit Marokko. . .....................................................                 5

3     EINE DEM MULTILATERALISMUS VERPFLICHTETE
      MITTELMACHT                                                                                                 6

3.1   Der Barcelona-Prozess..........................................................................             6
3.2   Union für das Mittelmeer......................................................................              7
3.3   NATO-Mittelmeerdialog und Beiträge zu Friedenseinsätzen........................                             8

4     DER MAGHREB: NACHBARSCHAFT UND GRUND-
      LEGENDE INTERESSEN                                                                                          8

4.1   Marokko............................................................................................         8
4.2   Algerien.............................................................................................      10
4.3   Libyen. . ..............................................................................................   10
4.4   Tunesien. . ...........................................................................................    11
4.5   Mauretanien.......................................................................................         11

5     DIE VERÄNDERUNG DER GEOPOLITIK DES
      NAHEN OSTENS                                                                                               11

5.1   Irak und der Krieg 2003. . ......................................................................          11
5.2   Syrien................................................................................................     11
5.3   Humanitäre Herausforde­rungen für Jordanien und den Libanon. . ................                            12
5.4   Israelisch-Palästinensischer Konflikt.........................................................             12
5.5   Türkei................................................................................................     12
5.6   Ägypten.............................................................................................       12
5.7   Die Golfstaaten...................................................................................         13

6     PROBLEME, POTENTIALE UND BOTSCHAFTEN FÜR
      BRÜSSEL UND BERLIN                                                                                         13

6.1   Triebkräfte der Veränderung gegenüber der südlichen Nachbarschaft.......... 13
6.2   Veränderungen auf der EU-Ebene für Spanien wichtig............................... 14
6.3   Kooperation zu Mittelmeerangelegenheiten mit anderen EU-Mitgliedern..... 14

      Literatur............................................................................................. 16

                                                                          1
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Mittelmacht mit Maghreb-­Fokus

Zusammenfassung

Spaniens geographisch-strategische Lage zwischen dem af-             –– jegliche Versuche zur Deeskalierung der Spannun-
rikanischen Kontinent und dem Rest Europas, seine histori-              gen im Nahen Osten zu unterstützen – mit besonderer
schen und kulturellen Verbindungen zum Maghreb, die neue                Aufmerksamkeit auf die Länder, zu denen Spanien stär-
Priorität der Sahelzone, seine privilegierten Beziehungen               kere wirtschaftliche Verbindungen hat (Türkei), aber
zur Türkei und seine Vergangenheit als konstruktiver Part-              auch auf jene, in denen sich momentan spanische Trup-
ner im Nahost-Friedensprozess machen das Land zu einem                  pen befinden (Libanon, Irak und wiederum die Türkei);
höchst nützlichen Partner für die EU-Institutionen und gleich-
gesinnten Mitgliedstaaten, die bereit sind, die EU-Strategie         –– eine langfristige Strategie für Migration und Entwicklung
auf ihre südliche Nachbarschaft auszuweiten. Spanien wird               mit einem besonderen Schwerpunkt auf die Sahelzone
zu jenen gehören, die sich für einen umfassenden und inte-              zu formulieren;
grierten Ansatz bezüglich Sicherheit und Entwicklung ein-
setzen, der dem Schutz der Menschen einen angemessenen               –– und sich für eine ambitioniertere Reaktion der EU auf
Stellenwert einräumt und von einer langfristigen Vision ge-             die sozialen und wirtschaftlichen Effekte der COVID-19-­
leitet wird.                                                            Pandemie einzusetzen, die sich auch auf ihre Nachbarn
                                                                        erstreckt.
Spaniens nationale Prioritäten in seiner südlichen Nachbar-
schaft bleiben wahrscheinlich folgende:                              Spanien ist sich deutlich bewusst, dass es nicht die nöti-
 –– die Zusammenarbeit und der Dialog mit und zwischen               gen Mittel hat um diese Interessen alleine zu verfolgen. Der
    seinen Nachbarn im Maghreb (in erster Linie Marokko              optimale Weg für Madrid ist die Arbeit auf EU-Ebene, und
    und Algerien) zu fördern;                                        dazu strebt es Bündnisse an – nicht nur mit anderen süd-
                                                                     europäischen Staaten, sondern auch mit Deutschland. Die
–– den euro-mediterranen Rahmen der regionalen Zu-                   bisherige Zusammenarbeit zwischen Madrid und Berlin zu
   sammenarbeit am Leben zu erhalten, der ergänzend zu               diesem Thema, wie beim Barcelona-Prozess von 1995, deu-
   den größeren bi-regionalen Dialogen (zwischen der EU              tet darauf hin, dass dieser Weg realistisch ist.
   und der Afrikanischen Union) und mit privilegierten bi-
   lateralen Beziehungen stattfinden soll;                           Die vorliegende Publikation ist eine Übersetzung des engli-
                                                                     schen Originals, das bereits im Juni erschien.

                                                                 2
Ein neuer Mittelmeerraum, ein neues Spanien

1 EIN NEUER MITTELMEERRAUM,                                             wiederzubeleben, die Erwartungen nicht erfüllt und ein all-
EIN NEUES SPANIEN                                                       gemeines Gefühl der Erschöpfung hinterlassen. Tatsächlich
                                                                        scheint die neue EU-Führung weniger geneigt, die Idee der
Der Mittelmeerraum wird oft als ein Ring aus Feuer be-                  euro-mediterranen Partnerschaft wiederzubeleben, und hat
schrieben, der die Südgrenze Europas flankiert. Dahinter                stattdessen ganz Afrika zu ihrer größten außenpolitischen
steckt die Idee einer volatilen Nachbarschaft, in der alte Kon-         Priorität erklärt. Andererseits haben auch die arabischen, tür-
flikte lodern und neue ausbrechen, deren Folgen sich leicht             kischen und israelischen Politiker in Hinsicht auf die euro-me-
über Staatsgrenzen hinweg verbreiten und auch die politi-               diterranen Beziehungen völlig unterschiedliche Prioritäten.
schen, wirtschaftlichen und sozialen Dynamiken in Europa                Sie sind mit innenpolitischen Konflikten oder neuen geo-
erschüttern können. Wie auch andere südeuropäische Län-                 politischen Dynamiken beschäftigt, die weit über diesen geo-
der schätzt sich Spanien selbst als besonders verletzlich               graphischen Bereich hinaus reichen.
gegenüber diesen regionalen Krisen ein. Es betont aber
auch immer wieder die Ansicht, dass der einzige Weg, sie                Nicht nur der Mittelmeerraum hat sich in den vergangenen
zu verhindern oder zu bewältigen, im Aufbau einer robuste-              25 Jahren verändert, sondern auch Spanien. Das Land ist
ren und engagierteren europäischen Strategie besteht. In der            durch eine vielfältige Krise gegangen: wirtschaftlich
Nationalen Sicherheitsstrategie von 2017 heißt es, dass »die            (mit hoher Arbeitslosigkeit, wachsenden Ungleichheiten
Fragmentierung des Mittelmeerraums es für Spanien kom-                  und dauerhaften öffentlichen Defiziten), politisch (mit
plizierter macht, diese strategische Priorität, die mit so vielen       Korruptionsskandalen, dem Entstehen der Indignados-Be-
potenziellen Sicherheitsproblemen verbunden ist, in Angriff             wegung im Jahr 2011, der Fragmentierung des politischen
zu nehmen. Darüber hinaus hat Spanien an seiner Südgrenze               Systems im Land und fünf Parlamentswahlen in weniger
ein besonderes Merkmal: seine Landesgrenzen auf dem afri-               als zehn Jahren), und territorial (angesichts der Heraus-
kanischen Kontinent.« Außerdem bezieht sich die Strategie               forderungen durch die Unabhängigkeitsbewegung in Kata-
auf die Notwendigkeit, mit direkten Nachbarn wie Marokko                lonien seit 2012). Diese Probleme haben Spaniens Fähigkeit
zusammenzuarbeiten (Presidencia del Gobierno, 2017: 38–                 untergraben, sich als Antriebskraft für die Entwicklung der
39). Obwohl Spanien weiterhin strategische bilaterale Be-               EU-Außenpolitik zu positionieren. Viele Analysten spanischer
ziehungen zu wichtigen Ländern pflegt, wird das Projekt                 Thinktanks und internationale Beobachter sehen diese Fak-
einer einheitlichen und übergeordneten europäischen Politik             toren als Grund dafür, dass Spanien unterhalb seiner Ge-
gegenüber Nordafrika und dem Nahen Osten so betrachtet,                 wichtsklasse kämpft (Powell, 2012; Molina, 2013), und ei-
dass es den nationalen Interessen des Landes auf natürliche             nige waren der Ansicht, das geschwächte Profil des Landes
Weise entgegen kommt. Aus diesem Grund hat Spanien alle                 bezüglich der Mittelmeerangelegenheiten sei diesen Kri-
Arten multilateraler Initiativen in seiner südlichen Nachbar-           sen vorangegangen (Kausch, 2010). Aus demselben Grund
schaft befürwortet und in einigen Fällen auch unterstützt.              mahnten damals viele, Spanien brauche eine nachdrück-
                                                                        lichere und engagiertere Politik (Ortega Carcelén, 2013;
2020 ist das Jahr des 25sten Jubiläums der Gründung                     Torreblanca, 2015).
der euro-mediterranen Partnerschaft (EMP). 1995 tra-
fen sich, immer noch unter dem Einfluss des Abkommens                   Dass – nach einem erfolgreichen Misstrauensantrag gegen
von Oslo, Minister aus Europa und dem südlichen Mittel-                 den konservativen Politiker Mariano Rajoy – Pedro Sánchez
meerraum in Barcelona, wo sie den Grundstein eines                      im Jahr 2018 zum Regierungspräsidenten gewählt wurde,
neuen und ambitionierten Rahmens der Zusammenarbeit                     schürte viele Erwartungen über die Rolle, die das »neue
legten. 25 Jahre später hat sich die regionale Lage ver-                Spanien« bei den europäischen und internationalen An-
schlechtert, und die Atmosphäre zwischen den politischen                gelegenheiten spielen könnte. Im Gegensatz zu den meisten
Entscheidungsträgern aus Europa und seinen Partnerländern               seiner Vorgänger spricht Sánchez Fremdsprachen und kann
hat sich erheblich abgekühlt. Anstatt Fortschritte bei der Lö-          auf eine professionelle Karriere im Ausland zurückblicken.
sung des arabisch-israelischen Konflikts zu machen, sind die            (Er arbeitete als Assistent im Europäischen Parlament und im
Aussichten auf eine Zweistaatenlösung immer schlechter ge-              Büro für den Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herze-
worden, und in der Umgebung der EU (Libyen und Syrien)                  gowina). Darüber hinaus hieß es, Spanien könne vom Brexit
haben sich neue Konflikte ausgebreitet. Die Migration ist               profitieren, um seinen Status zu verbessern – hauptsächlich
zu einem umstrittenen Thema geworden, das die innen-                    innerhalb der EU, aber auch auf globaler Ebene. Dies war
politischen Entwicklungen beeinflusst; neue Bedrohungen                 die Hauptidee hinter einem hoch gelobten Artikel namens
wie der transnationale Terrorismus haben zu einem über-                 »Madrid’s Moment«, der in Politico veröffentlicht wurde.
mäßig sicherheitsbetonten Ansatz gegenüber dem Mittel-                  Aber dass der Haushalt nicht genehmigt und die Wahl von
meerraum geführt; und bei vielen Entscheidern wurden die                2019 wiederholt wurde, hat Spanien und Sánchez daran ge-
Hoffnungen nach den Aufständen von 2011 durch die prag-                 hindert, eine solche Rolle zu spielen.
matische Überzeugung ersetzt, dass die erste oder gar die
einzige Priorität darin besteht, die Lage zu stabilisieren.             Seit Januar 2020 hat Spanien eine neue, stabilere Re-
                                                                        gierung. Die Sozialistische Partei und Unidas Podemos –
Darüber hinaus haben diese Initiativen trotz aller Ver-                 eine Wahlgemeinschaft aus Podemos und anderen links-
suche (wie zuletzt der »Sommet des deux Rives de la Mé-                 gerichteten Bewegungen – haben eine gemeinsame
diterranée« (Gipfel der zwei Mittelmeerküsten) von Präsi-               Koalitionsvereinbarung unterschrieben. In diesem Doku-
dent Macron), die europäisch-mediterranen Beziehungen                   ment wird der Mittelmeerraum nicht als eine der höchs-

                                                                    3
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Mittelmacht mit Maghreb-­Fokus

ten spanischen Prioritäten erwähnt. Stattdessen betont der           2 DIE LAST DER GESCHICHTE
Text Spaniens Engagement für den Multilateralismus und
die europäische Integration, aber auch die Notwendigkeit,            Die Literatur über das gegenwärtige Spanien stimmt weit-
die Beziehungen zu Lateinamerika (Iberoamérica im spani-             gehend überein, dass die Demokratisierung, die Mit-
schen Originaltext) und Afrika zu vertiefen. Darüber hinaus          gliedschaft in der Europäischen Union und die Moder-
besteht eine der sehr wenigen spezifischen außenpolitischen          nisierung der spanischen Gesellschaft die drei Prozesse
Verpflichtungen in der »Arbeit daran, Afrika zu einer Priori-        sind, die nicht nur die Veränderungen im Land angetrieben
tät der europäischen Außenpolitik zu machen und in der EU            haben, sondern auch die Außenpolitik (Mesa, 1988; Barbé,
Initiativen vorzuschlagen, um zur nachhaltigen Entwicklung           1999; Powell, 2000: Torreblanca, 2001; Pereira, 2010; Barbé,
des Kontinents beizutragen.« Diese Hinwendung zu Af-                 2011; Pacheco Pardo und García Cantalapiedra, 2014). In
rika könnte auch durch den professionellen Hintergrund               dieser Hinsicht zielten die Formulierung der spanischen Poli-
der neuen Außenministerin Arancha González Laya ver-                 tik gegenüber den südlichen Nachbarn als »Mittelmeer-
stärkt werden. Mit afrikanischen Angelegenheiten – haupt-            politik« und Spaniens stetige Versuche, für diese Region eine
sächlich zu Handelsthemen – ist González vertrauter als mit          ehrgeizigere europäische Politik durchzusetzen, darauf ab,
der mediterranen Agenda. Sie ist Mitglied der Mo-Ibrahim-­           einen massiven Bruch mit der entsprechenden Politik aus der
Stiftung und das einzige spanische Mitglied der Hoch-                Franco-Zeit zu verdeutlichen. Damals wurde Spaniens Poli-
rangigen Gruppe für die EU und Afrika. Bei ihrem ersten              tik gegenüber seinen südlichen Nachbarn als »traditionelle
Auftritt vor der parlamentarischen Kommission für Außen-             Freundschaft mit der arabischen Welt« bezeichnet. Die Be-
politik bestätigte sie indes die traditionelle außenpolitische       ziehungen zu unterschiedlichen arabischen Regimes trugen
Linie Spaniens: Sie erwähnte den Mittelmeerraum als Priori-          entscheidend dazu bei, Spaniens diplomatische Isolation –
tät, betonte Marokko und Algerien als wichtige Nachbarn              insbesondere in den 1950ern – auszugleichen (Algora
und bezeichnete das 25-jährige Gründungsjubiläum des Bar-            Weber, 2007). Indem Spanien zu fast allen arabischen Staats-
celona-Prozesses als Gelegenheit, die Politik gegenüber die-         führern, unabhängig von ihrer Ideologie, freundschaftliche
ser Region zu revitalisieren.                                        Beziehungen aufbaute, versuchte es auch, seine Ölver-
                                                                     sorgung zu sichern und innerhalb der UN die Unterstützung
Was die neue Regierung aber nicht voraussehen konnte, ist,           der arabischen Länder bezüglich der Gibraltarfrage zu be-
dass all ihre Prioritäten durch die Ausbreitung von COVID-19         kommen.
auf den Kopf gestellt wurden. Die Folgen der Pandemie
waren in Spanien besonders verheerend – nicht nur, was               Seit dem Übergang zur Demokratie in den späten 1970ern
die Opferzahlen betrifft, sondern auch in Hinblick auf die           und dem EWG -Beitritt 1986 haben alle spanischen Regierun-
wirtschaftlichen Kosten. Der Umgang mit diesem beispiel-             gen dem Mittelmeerraum höchste Priorität gegeben. Diese
losen Notfall hat die spanische Führung all ihre Energie ge-         Region wurde, gemeinsam mit Lateinamerika und Europa,
kostet, und trotzdem bekräftigen der spanische Minister-             traditionell als einer der drei Eckpunkte des spanischen
präsident und die Außenministerin bei öffentlichen Auftritten        Prioritätendreiecks beschrieben (Barbé, 1998). Das Verhält-
die Notwendigkeit, den Ländern Afrikas und Lateinamerikas            nis zu Europa ist der Scheitelpunkt dieses Dreiecks, durch den
beim Umgang mit den Folgen der Pandemie zu helfen. In                die Beziehungen zu den anderen beiden regionalen Priori-
dieser neuen Lage ist der Mittelmeerraum besonders verletz-          täten dominiert und bestimmt werden. Der damalige Prä-
lich: Erstens sind die südeuropäischen Staaten – als traditio-       sident der spanischen Regierung, Mariano Rajoy, argumen-
nelle Fürsprecher einer engeren mediterranen Zusammen-               tierte in der Einleitung der Nationalen Sicherheitsstrategie
arbeit – politisch und wirtschaftlich geschwächt. Zweitens           von 2017: »Das europäische, mediterrane und atlantische
leiden diese Volkswirtschaften, die stark vom Tourismus ab-          Profil des Landes bestimmt die Bedeutung dieser Regionen
hängig sind – und dies ist mit wenigen Ausnahmen sowohl              für Sicherheit, Stabilität und Wohlstand« (Presidencia del
bei den nördlichen als auch bei den südlichen Mittelmeer-            Gobierno, 2017). González Laya, die neue Außenministerin,
ländern der Fall – stärker unter den wirtschaftlichen Kos-           hat sich eine ähnliche Konzeptualisierung angeeignet – mit
ten der Einschränkungen des internationalen Reiseverkehrs.           einigen kleinen Nuancen, als sie sich in ihrer ersten politi-
Und drittens müssen auch die energieproduzierenden Länder            schen Rede auf »Spaniens Einfluss im sowohl nördlichen als
Haushaltskürzungen vornehmen, weil weltweit Nachfrage                auch südlichen Mittelmeerraum« bezog und Spanien als ein
und Preise sinken. Dies betrifft einige Länder wie Algerien          »nodales Land« bezeichnete (González Laya, 2020).
direkt, aber indirekt auch andere wie Ägypten, die stark von
den Überweisungen ägyptischer Fremdarbeiter aus den Golf-            2.1 BILATERALE BEZIEHUNGEN
staaten und der direkten Finanzierung durch diese Länder             MIT ISRAEL
abhängig sind. Unter solchen Umständen ist die europä-               Ein gutes Beispiel für historisch vorbelastete Beziehungen
isch-mediterrane Kooperation wichtiger als zuvor, aber es            ist Israel. Spanien hat erst 1986 diplomatische Beziehungen
könnte schwieriger sein, politische Energie und finanzielle          zu Israel aufgenommen. Diese ungewöhnlich späte An-
Ressourcen dafür zu mobilisieren.                                    erkennung durch Madrid kann durch die Feindschaft zwi-
                                                                     schen den Hardlinern im Franco-Regime und Israel erklärt
                                                                     werden. Auch hat Israel eine große Rolle bei der Kampa-
                                                                     gne gespielt, durch die Spanien wegen der Verbindungen
                                                                     seines ehemaligen Regimes zu den Achsenmächten wäh-
                                                                     rend des Zweiten Weltkriegs isoliert wurde (Algora Weber,

                                                                 4
Die Last der Geschichte

2007). Dies erklärt teilweise, warum Spanien erst 1955, als            rück. Diese waren ein Anlass für die Konsolidierung der
die Dynamik des Kalten Krieges zur dominanten Kraft wurde,             sozialistischen und anarchistischen Bewegungen der spani-
den Vereinten Nationen beigetreten ist. Indirekt konnte das            schen Arbeiterklasse. Die Kampfeinsätze in Marokko spielten
Land diese Spannungen gegenüber Israel dazu nutzen, seine              auch für den politischen Aufstieg zweier Militärangehöriger
Arabienpolitik zu verbessern. Der erste internationale Staats-         eine große Rolle, die Spanien jeweils als Anführer diktato-
chef, der Spanien nach den Zweiten Weltkrieg besuchte, war             rischer Regimes regierten: Miguel Primo de Rivera in den
der jordanische König Abdullah im Jahr 1949.                           1920ern und Francisco Franco von den späten 1930ern bis
                                                                       1975.
Obwohl die Kontakte zwischen Spanien und Israel in den
späteren Jahren des Franco-Regimes besser wurden, ins-                 Obwohl die Rückübertragung des spanischen Protektorats
besondere als Ministerien erstmals von Technokraten besetzt            an Marokko 1956 relativ friedlich verlief, hörten die Span-
wurden, normalisierte Spanien erst nach seiner Integration             nungen nicht auf, und marokkanische Nationalisten for-
in die NATO (1982) und die EWG (1986) seine Beziehungen                derten immer wieder, Spanien solle sich auch aus Ceuta
zu Israel vollständig. Rückblickend analysiert könnten diese           und Melilla und anderen Inseln und Enklaven an der nord-
Umstände Spanien dabei geholfen haben, sowohl von Is-                  afrikanischen Küste zurückziehen. Wie weiter unten erklärt,
rael als auch von den arabischen Staaten als neutraler Ak-             bleibt dieses Thema für die spanische Außen- und Sicher-
teur betrachtet zu werden, und dies ist einer der Gründe,              heitspolitik von zentraler Bedeutung. Marokkos Irredentis-
warum Madrid zum allgemein anerkannten Austragungs-                    mus zielte auch darauf ab, die Kontrolle über die von Spanien
ort der Nahost-Friedenskonferenz von 1991 werden konnte                verwaltete Westsahara zu erlangen. Mitte der 1970er Jahre
(Moratinos und León, 2003; Cassinello, Reyes und Khoury,               plante Spanien für diese Provinz ein Referendum zur Selbst-
2011).                                                                 bestimmung, und versuchte damit, dem Beispiel der schnel-
                                                                       len Dekolonialisierung von Äquatorialguinea zu folgen. Da-
Auch 1992 war ein symbolisches Jahr, da es den 500sten                 hinter steckte die offensichtliche Hoffnung, dieses Gebiet
Jahrestag der Vertreibung der Juden aus Spanien darstellte.            könne zu einem freundlichen, unabhängigen Staat unter
In diesem Jahr gab es viele kulturelle und politische Initia-          spanischem Einfluss werden. Doch diese Hoffnung wurde
tiven, darunter eine hochrangige Zeremonie unter der Lei-              enttäuscht. Als Franco 1975 auf dem Sterbebett lag, star-
tung von König Juan Carlos und dem israelischen Präsiden-              tete Hassan II eine bis dahin beispiellose Operation namens
ten Chaim Herzog, sowie die Verabschiedung des Gesetzes                »Grüner Marsch«, die darin bestand, Tausende von Zivilis-
25/1992, mit dem die Beziehungen zwischen Spanien und                  ten dazu aufzurufen, in das von Spanien kontrollierte Gebiet
der Föderation der Israelischen Gemeinschaften Spaniens re-            einzumarschieren. Gerade als Spanien selbst vor sensiblen
guliert wurden. Aber die symbolischste und praktischste Ent-           politischen Veränderungen stand, hätte dies einen Kolonial-
scheidung kam 2015 mit dem Gesetz 12/2015, das sephar-                 krieg gegen Marokko auslösen können. Um diese Gefahr zu
dischen Juden die spanische Staatsbürgerschaft gewährte.               vermeiden, gab die spanische Führung das Gebiet auf und
                                                                       unterzeichnete das dreifache Abkommen zwischen Madrid,
Obwohl Israel und Palästina in den letzten Jahren auf der              Marokko und Mauretanien, mit dem sie die Verwaltung der
spanischen Tagesordnung weniger zentral waren, bleibt die-             Westsahara auf diese beiden Länder übertrug.
ses Thema politisch heikel. Akteure des rechten und rechts-
extremen politischen Spektrums wie Jose María Aznar oder               Dieses Thema, das von den Vereinten Nationen immer noch
Rafael Bardají, der außenpolitische Kopf der kürzlich ge-              als ungelöstes Dekolonialisierungsproblem betrachtet wird,
gründeten Rechtsaußen-Partei VOX, sind aktiv an Initiativen            ist ein großes Hindernis für die regionale Integration im
zur Unterstützung der israelischen Politik beteiligt. Links-           Maghreb und führte zur Mobilisierung großer Teile der spa-
gerichtete Gruppen wie Podemos und Teile der Sozialistischen           nischen Zivilgesellschaft (Ojeda-Garcia; Fernández-­  Molina
Partei hingegen setzen sich traditionell intensiv für die Forde-       & Veguilla, 2011; Barreñada & Ojeda, 2016). Es gibt eine
rungen der Palästinenser ein. Im Jahr 2015 bestätigte die So-          Vielzahl von Graswurzelinitiativen zur Unterstützung der
zialistische Partei das sie bereit sei, dem Beispiel Schwedens         Sahrawi-­Bevölkerung, darunter solche, die spanische Fami-
vom Vorjahr zu folgen. Dies bedeutet, dass sie, wenn sie               lien bei der Aufnahme von Kindern aus den Tindouf-Flücht-
die Wahlen gewinnen würden, Palästina anerkennen woll-                 lingslagern in den Sommerferien unterstützen (über 4.000
ten – und dies unabhängig von der Entwicklung des Nah-                 in 2019). Der Druck dieser sozialen Bewegungen war ge-
ost-Friedensprozesses. Und die Parteiführung von Podemos               meinsam mit der politischen Unterstützung der linken, kata-
bekräftigte mehrmals, sie werde die sozialistische Regierung           lanischen und baskischen nationalistischen Parteien ein
ermutigen, dieser Verpflichtung nachzukommen.                          ständiger Einflussfaktor auf die spanische Politik. Dies ging
                                                                       so weit, dass es zwischen den beiden Ländern immer wie-
2.2 BILATERALE BEZIEHUNGEN                                             der zu Spannungen kam (Vaquer i Fanés, 2007). So protes-
MIT MAROKKO                                                            tierte Marokko Anfang 2020 gegen die Tatsache, dass sich
Der zweite Fall eines großen historischen Erbes ist Marokko.           ein Podemos-Staatssekretär mit einem Minister der Demo-
So wurde Marokko im Jahr 1912 zum spanischen und franzö-               kratischen Arabischen Republik Sahara getroffen und die
sischen Protektorat, das bis 1956 andauerte. Die Bedeutung             Begegnung in den sozialen Medien veröffentlicht hatte.
Marokkos für die spanische Innenpolitik reicht bis zu den un-          Die spanische Außenministerin erklärte daraufhin ebenfalls
populären kolonialen Kriegen im Norden des Landes wäh-                 in den sozialen Medien, sie habe den marokkanischen Be-
rend des ersten Viertels des zwanzigsten Jahrhunderts zu-              hörden versichert, Spanien erkenne diese Bewegung nicht

                                                                   5
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Mittelmacht mit Maghreb-­Fokus

an. Dies wiederum erzürnte die algerischen Behörden, die              hohen Entscheidungspositionen der EU und der NATO prä-
diese Aussage als zu marokkofreundlich betrachteten und               sent waren, die direkt mit mittelmeerbezogenen Portfolios
den Besuch der spanischen Außenministerin in Algier ein-              befasst waren, half dabei, Spaniens Bedeutung in diesem
seitig absagten. Dieser Vorfall illustriert nicht nur, wie hei-       Bereich zu erhöhen. Zu diesen Repräsentanten gehörten
kel dieses Thema ist, sondern auch die Schwierigkeit, inner-          Abel Matutes und Manuel Marín als EU-Kommissare, Miguel
halb einer Koalitionsregierung, in der mehrere ideologische           Ángel Moratinos als erster EU-Sonderbeauftragter für den
Empfindlichkeiten nebeneinander existieren, eine einheit-             Nahost-Friedensprozess, Javier Solana als NATO-General-
liche außenpolitische Linie aufrecht zu erhalten – und in             sekretär und später Hoher Vertreter für die Gemeinsame
dem internationale Angelegenheiten nicht mehr ausschließ-             Außen- und Sicherheitspolitik, und danach Josep Borrell als
lich Sache der Außenminister sind.                                    Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik
                                                                      sowie Vizepräsident der Europäischen Kommission.
Ebenso zeigt der Konflikt um die Westsahara, dass die-
ses Problem nicht nur Spanien betrifft, sondern auch die              Durch die spanischen Aktivitäten in Bezug auf Angelegen-
EU insgesamt (Fernández Molina, 2016). Zu den jüngsten                heiten des Mittelmeerraums gelangten mehrere Initiativen
Entwicklungen gehören die Entscheidungen des Europäi-                 in den Vordergrund oder wurden zumindest auf die Tages-
schen Gerichtshofs aus den Jahren 2016 und 2018, die be-              ordnung gebracht. Dazu gehören die überarbeitete Mittel-
stätigen, dass die Fischerei- und Landwirtschaftsabkommen             meerpolitik der EWG im Jahr 1989; der spanisch-italienische
zwischen der EU und Marokko nicht auf die Gebiete und                 Fehlstart einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit
Produkte der Westsahara anwendbar sind. Dass das marok-               im Mittelmeerraum 1990, die das Paradigma des Helsinki-­
kanische Parlament im Januar 2020 neue Gesetze zur Er-                Prozesses in diesem Bereich aufgreifen sollte; die Aus-
weiterung der territorialen Gewässer und der Ausschließ-              richtung der Madrid-Konferenz für den Nahen Osten im Jahr
lichen Wirtschaftszone verabschiedete, kollidierte nicht nur          1991; der Beginn des NATO-Mittelmeerdialogs 1994; der Be-
mit den spanischen Interessen auf den Kanarischen Inseln,             ginn des Barcelona-Prozesses 1995; das Abkommen der
sondern schuf auch eine neue Ebene von Komplexität, da                euro-mediterranen Konferenz in Valencia von 2002 zur Grün-
Teile dieser Gewässer an die Westsahara angrenzen – und               dung einer europäisch-mediterranen Stiftung für die Förde-
Spanien gezwungen ist, mit den marokkanischen Behörden                rung des weiteren Dialogs zwischen Kulturen und Zivilisatio-
darüber zu verhandeln, was für die EU zum Präzedenzfall               nen, die schließlich in die Gründung der Anna-Lindh-Stiftung
werden könnte. Diese ungelösten bilateralen Spannungen                mündete; der Einbezug der EU in das Nahost-Quartett, das
bedrohen die marokkanischen Beziehungen zur EU und zu                 sich erstmals 2002 in Madrid traf; der gemeinsame Vorschlag
Spanien in einer Zeit, in der Rabats Mitarbeit bei Migrations-        mit der Türkei, innerhalb des UN-Rahmens die Allianz der Zi-
themen für Brüssel und Madrid immer wichtiger wird. Diese             vilisationen zu gründen; und die erfolgreichen Versuche, Prä-
Spannungen zu neutralisieren wird für die neue Führung der            sident Sarkozys ursprüngliche Idee einer Mittelmeerunion zu
EU und für Spaniens Diplomatie eine große Herausforderung             europäisieren, die schließlich in die Union für den Mittel-
sein.                                                                 meerraum (UfM) mündeten.

                                                                      Spanien hat verstanden, dass seine Möglichkeiten, als Einzel-
3 EINE DEM MULTILATERALISMUS                                          staat in dieser Region eine Rolle zu spielen, begrenzt sind, und
VERPFLICHTETE MITTELMACHT                                             daraus geschlossen, dass der beste Weg zur Verteidigung der
                                                                      eigenen Interessen über eine robustere europäische Politik
Eine Sache über die sich alle politischen Parteien Spaniens           führt. Indem es auf Europa setzt, kann sich Spanien die fi-
einig wären, ist, das das Land als Mittelmacht angesehen              nanziellen und diplomatischen Ressourcen sichern, die es al-
werden kann. Diesen Begriff haben Politiker und Akade-                lein nicht aufbringen kann. Außerdem ist das Land davon
miker in den letzten vier Jahrzehnten wiederholt verwendet,           überzeugt, dass Multilateralismus, politischer Dialog und
um Spaniens aktuelle oder potenzielle Stellung im inter-              regionale Zusammenarbeit wichtig sind, um eine Wieder-
nationalen System zu charakterisieren. Die Literatur über             holung der Dynamik des Kalten Krieges im Mittelmeerraum
Mittelmächte scheint sich einig zu sein, dass Länder, die             zu verhindern – und dass dies wiederum zur Steigerung sei-
sich so definieren, besonders offen für die Unterstützung             ner internationalen und europäischen Bedeutung beiträgt.
multilateraler Bemühungen sind und sich mit höherer Wahr-
scheinlichkeit aktiv an der Gründung oder Entwicklung                 3.1 DER BARCELONA-PROZESS
multilateraler Organisationen beteiligen (Nolte, 2010;                Der sichtbarste Erfolg war die Eröffnung des Barcelona-Pro-
Jordaan, 2010). Spaniens Politik gegenüber seinen südlichen           zesses im Jahr 1995. Er wurde als »ein wichtiger diplomati-
Nachbarn passt perfekt in dieses Muster.                              scher Triumph für Spanien, der dazu beitrug, als mit Italien
                                                                      vergleichbare südliche Macht innerhalb der EU aufzutreten«
Bereits vor seinem Beitritt zur EWG war Spanien eine der trei-        beschrieben (Gillespie, 2000: 156). Dieser Rahmen, der darauf
benden Kräfte der ersten multilateralen Initiative im Mittel-         abzielt, einen Raum von Frieden und Stabilität, gemeinsamem
meerraum: der UN-Konvention zum Schutz der Meeres-                    Wohlstand und des (Kontakt)es zwischen den Bürgern der
umwelt und der Küstenregion des Mittelmeers von 1976.                 verschiedenen Gesellschaften aufzubauen, wurde durch ei-
Diese multilateralen Reflexe wurden durch den Beitritt zur            nige kontextabhängige Faktoren (wie die Oslo-­Abkommen,
EU – und in geringerem Maße durch die NATO-Mitglied-                  die neue Gelegenheiten boten und alle Mitglieder mit Hoff-
schaft – noch verstärkt. Dass spanische Repräsentanten in             nung erfüllten) und die proaktive Rolle bestimmter Staaten

                                                                  6
Eine dem Multilateralismus verpflichtete Mittelmacht

und Persönlichkeiten ermöglicht. Spanien spielte dabei eine                                   nen (Barbé, Mestres und Soler i Lecha, 2007: 42–46). In die-
große Rolle, da es in der zweiten Jahreshälfte von 1995 die ro-                               ser Hinsicht war Spanien eine der Antriebskräfte hinter der
tierende EU-Präsidentschaft innehatte, aber Hand in Hand mit                                  Idee, für Marokko einen besseren Status auszuhandeln.
europäischen Institutionen (insbesondere der Europäischen
Kommission) sowie Frankreich, Italien und Deutschland arbei-                                  3.2 UNION FÜR DAS MITTELMEER
tete, um diesen Prozess ins Leben zu rufen (Barbé, 1996; Bic-                                 Als Sarkozy im Jahr 2007 die Idee einer Mittelmeerunion
chi, 2007; Morillas & Soler i Lecha, 2017). Entscheidend dafür,                               verkündete, fand sich Spanien gewissermaßen zwischen
den Barcelona-Prozess mit genug Ressourcen auszustatten,                                      zwei Stühlen wieder: Das Land betrachtete den ursprüng-
um ihn für alle Teilnehmer attraktiv zu machen und auch                                       lichen Vorschlag als Bedrohung, da er als Alternative zum
Partner wie Großbritannien oder die Niederlande, die ihm                                      Barcelona-­Prozess präsentiert wurde. Gleichzeitig wollte sich
zunächst mit Widerstand oder Skepsis begegneten, davon                                        Spanien nicht gegen Frankreich stellen, dessen Mitarbeit
zu überzeugen, war die Einigung zwischen Helmut Kohl und                                      weit über außenpolitische Themen hinaus benötigt wurde
Felipe Gonzalez (Tovías, 1999: 228–229).                                                      (beispielsweise in den Bereichen der Terrorbekämpfung, der
                                                                                              Energie, der Infrastruktur oder der Zusammenarbeit im Rah-
Spanien war auch einer der Akteure, die sich für die Öffnung                                  men multilateraler Institutionen wie den G20). So leistete
der Europäischen Nachbarschaftspolitik in Richtung                                            Madrid Frankreich keinen Widerstand, hieß aber Merkels
Süden einsetzten. Madrid argumentierte, diese Politik solle                                   Bemühungen willkommen, die Initiative für alle EU-Länder
die euro-mediterrane Partnerschaft nicht ersetzen, sondern                                    zu öffnen und die EU-Institutionen vollständig daran zu be-
eher vervollständigen. Gleichzeitig war Spanien sich dessen                                   teiligen (Barbé, 2009). In diesem Zusammenhang konnte
bewusst, dass diese Politik das richtige Forum für die EU sein                                Spanien das Sekretariat der UfM übernehmen – eine Ent-
konnte, um ihre Beziehungen zu diesen Nachbarn, die einen                                     scheidung, die im Herbst 2008 in Marseille getroffen wurde.
schnelleren oder stärkeren Wandel wollten, vertiefen zu kön-

   Karte 1
   Spanische Beiträge zu Internationalen Einsätzen

   EUROPA UND MITTELMEER
    350 Latvia (Enhance Forward Presence, NATO)
       3 Bosnia-Herzegovina (EUFOR Althea, EU)
            SNMG/SNMCMG
            (Standing NATO Maritime Group /
            Standing NATO Mine Countermeasures Group)
            Baltic Air Policing (NATO)
            Sea Guardian (NATO)

   AFRIKA
    280 Mali (EUTM)
     45 Mali (Air support from Senegal)
       8 Central African Republic (EUTM)
      45 Central African Republic (Air support from Gabon)
      38 Somalia (EUTM)
    375 Somalia (Atalanta Operation, EU)

   ASIEN UND NAHER- UND                                  LATEINAMERIKA UND DIE KARIBIK
   MITTLERER OSTEN                                            5 Colombia (UN Mission)
    149 Support to Turkey (NATO)
    610 Libanon (UNIFIL)
    555 Support to Irak
        (International coalition)
      70 Resolute support, Afghanistan

   Die Zahlen beziehen sich auf eingesetztes Militärpersonal. Die Grafik wurde als Übersetzung des englischen Originals vom Juni 2020 erstellt und basiert auf folgenden Daten:
   https://www.defensa.gob.es/Galerias/gabinete/red/2020/01/infografxa-misiones2020.pdf

                                                                                          7
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Mittelmacht mit Maghreb-­Fokus

Als Gastgeberland war Spanien seitdem einer der größten                anhaltende soziale und politische Emotionen in Form von
Unterstützer dieser Initiative.                                        Vorurteilen, Beschwerden und ungelösten bilateralen Proble-
                                                                       men. In dieser Hinsicht ist Marokko ein Sonderfall, der nicht
3.3 NATO-MITTELMEERDIALOG UND                                          mit den Beziehungen zu anderen Ländern verglichen werden
BEITRÄGE ZU FRIEDENSEINSÄTZEN                                          kann. Diese Beziehungen sind nicht nur strategisch, sondern
Was das Engagement für multilaterale Sicherheitsinitiativen            auch politisch aufgeladen, und wurden gelegentlich auch in
betrifft, erstreckte sich die Rolle Spaniens auch auf die Ent-         der Konfrontation zwischen den beiden großen politischen
wicklung des NATO-Mittelmeerdialogs (Núñez Villaverde,                 Parteien als Waffe benutzt (Fernández Molina, 2009). Diese
2000) und die aktive Beteiligung an allen sicherheitspolitischen       Nähe wurde auch als Grund dafür betrachtet, dass Spanien
Aktionen im Rahmen des 5+5-Dialogs – eines informellen                 an die Themen der Demokratisierung und der Menschen-
Rahmens, innerhalb dessen sich Verteidigungsminister,                  rechte in dieser Region besonders vorsichtig herangeht
Innenminister und andere Politiker aus den fünf Maghreb-­              (López García und Hernando de Larramendi, 2002).
Ländern regelmäßig mit ihren südeuropäischen Kollegen
treffen und größtenteils technische Projekte ins Leben rufen           In der Strategie für Außenpolitisches Handeln von 2019 wird
(Albareda & Soler i Lecha, 2012). Außerdem ist Spanien aktiv           bestätigt, dass Spanien den Maghreb als »strategische Re-
an den meisten EU-, NATO- und UN-Friedensmissionen                     gion hoher Priorität« betrachtet. Aber wie in diesem Doku-
und -operationen in der Region beteiligt. Auch wenn                    ment die einzelnen Bestandteile der Beziehungen charak-
COVID-19 unter anderem dazu geführt hat, dass Spanien                  terisiert werden, ist sogar noch aufschlussreicher: Marokko
möglicherweise seinen Beitrag zu internationalen Missionen             wird dort als »unser engster Nachbar im Süden und essen-
verringern muss, beginnend mit jenen in Afghanistan und                tieller Partner«, Algerien als »strategischer Partner« und
im Irak, ist es erwähnenswert, dass das Land einer der größ-           Mauretanien als »stabiler und verlässlicher Partner« be-
ten Mitwirkenden an UNIFIL 2 im Libanon (610 Einsatzkräfte)            zeichnet. Was Tunesien betrifft, äußert Spanien dort die Ab-
war und immer noch ist. Das zweitgrößte Kontingent spa-                sicht, die bilateralen Beziehungen zu verbessern, während es
nischer Truppen (555 Einsatzkräfte) war im Irak als Teil der           Fortschritte beim demokratischen Wandel begrüßt, und im
Globalen Koalition gegen den IS stationiert. Außerdem trug             Fall von Libyen fühlt sich Spanien »den internationalen Be-
Spanien zu den CSDP-Missionen in Somalia (Operation Ata-               mühungen zur Stabilisierung des Landes verpflichtet«. Diese
lanta gegen Piraterie), in Mali (EU-Ausbildungsmission) und            Wortwahl ist zur Erklärung der unterschiedlichen spanischen
im Mittelmeer (EUNAVFOR Med Sophia) bei. Im Post-COVID-                Ansätze bereits ziemlich interessant, aber noch hilfreicher ist
19 Kontext wird Spanien vermutlich seine begrenzten Res-               es, tiefer zu schauen, um die Natur dieser Beziehungen und
sourcen in Einsätzen im Sahel konzentrieren, der sich zu einer         ihre Bedeutung für die spanische Sicherheitspolitik besser zu
der Hauptprioritäten des Landes entwickelt hat.                        verstehen.

                                                                       4.1 MAROKKO
4 DER MAGHREB: NACHBARSCHAFT                                           Zu Marokko hat Spanien außerhalb der EU das mit gro-
UND GRUNDLEGENDE INTERESSEN                                            ßem Abstand wichtigste, aber auch empfindlichste Verhält-
                                                                       nis. Obwohl das Land ein bevorzugter Partner Spaniens ist,
Während für die meisten EU-Länder und auch die Groß-                   haben die bilateralen Beziehungen – aufgrund unterschied-
mächte der Nahe Osten im Mittelmeerraum die höchste                    licher Standpunkte zu schwierigen Themen wie Migration,
Priorität darstellt, stand und steht dort für Spanien – wie            Fischereirechten und vor allem der umstrittenen Kontrolle
auch für Frankreich – der Maghreb an erster Stelle, und                über die zwei spanisch-nordafrikanischen Städte Ceuta und
dabei vor allem Marokko (Hernando de Larramendi, 2009;                 Melilla – bereits einige Höhen und Tiefen erlebt. Um die Ge-
Vaquer i Fanés und Soler i Lecha, 2011). Dies erklärt sich teil-       fahr einer großen Krise im Verhältnis zu Marokko zu ver-
weise durch die Nachbarschaft: Die andalusische Küste ist              ringern, hat Spanien zwei unterschiedliche und sich gegen-
nur 14 Kilometer von Nordmarokko entfernt, und Spanien                 seitig ergänzende Strategien miteinander verbunden.
teilt nahe den Städten Ceuta und Melilla mit seinem süd-
lichen Nachbarn eine sehr empfindliche Landgrenze. Viele               Einerseits betrachtet Madrid seine Mitgliedschaft in der
wissen nicht, dass die Entfernung zwischen Barcelona und               EU – und damit seine Europäisierung – als Mittel dazu,
Algier die gleiche ist wie zwischen der zweitgrößten Stadt             seine Souveränität über diese beiden Städte zu schützen.
Spaniens und Madrid, oder dass die Route zwischen Alicante             Im Gegensatz zu den Ansätzen anderer EU-Mitgliedstaaten
und Oran, die nur 300 Kilometer lang ist, täglich von Fähren           hinsichtlich Ihrer Überseeterritorien sorgte Spanien dafür,
bedient wird. Ebenso ist Spanien das nächstgelegene euro-              dass im Beitrittsabkommen explizit erwähnt wurde, Ceuta
päische Land zu Mauretanien, dessen Entfernung zu den Ka-              und Melilla sollten zu einem integralen Bestandteil der EU
narischen Inseln nur 700 Kilometer beträgt. Und diese Inseln           werden. Also sind diese beiden Städte seit 1986 nicht mehr
liegen wiederum weniger als 95 Kilometer vor der südlichen             ausschließlich ein »spanisches Problem«, sondern auch ein
Küste Marokkos.                                                        europäisches (Gillespie, 2000). Dieselbe Logik trifft auch auf
                                                                       andere kontroverse Themen wie Migration und Fischerei zu
Aber Nachbarschaft oder Nähe geht über geographische                   (Vaquer i Fanés, 2003). Diese Strategie wird nicht nur von
Aspekte hinaus: Besonders intensiv sind die Verbindungen               der Zentralregierung verfolgt, sondern auch von lokalen Ak-
zwischen Spanien und diesem Teil der arabischen Welt in                teuren: Beispielsweise hat die Lokalregierung von Ceuta im
historischer und sozialer Hinsicht. Dies umfasst auch lang-            Februar 2020 angekündigt, sie werde ihre Integration in das

                                                                   8
Der Maghreb: Nachbarschaft und grundlegende Interessen

Schengen-Gebiet fordern, um so Marokkos feindselige Poli-             nicht kooperativ genug, was Marokko dazu bewegte, im Ok-
tik gegenüber der autonomen Stadt auszugleichen.                      tober 2001 seinen Botschafter aus Madrid abzuziehen (Feliú,
                                                                      Lorenzo & Salomón, 2003; Szmolka, 2005). Diese Intensität
Andererseits haben die spanischen Regierungen Anreize                 überraschte alle Beteiligten, einschließlich der Partner und In-
für bilaterale Investitionen und Handelstätigkeiten gegeben           stitutionen aus der EU, war aber auch ein Zeichen dafür, dass
und den institutionalisierten politischen Dialog verbessert –         solche territorialen Streitigkeiten mehr als eine historische
in der Hoffnung, dies könne die bilateralen Spannungen be-            Anekdote sind und dass ihre Folgen auch die Grenzen der
grenzen und die Krisen dämpfen, durch die sie immer wie-              Solidarität und Effizienz der Gemeinsamen EU-Außen- und
der angefacht werden. Diese Politik wurde – und wird immer            Sicherheitspolitik auf die Probe stellen können (Monar, 2002)
noch – als »el colchón de intereses«, also als »Matratze der
Interessen« (Hernando de Larramendi, 2009) bezeichnet.                Nach dieser Krise konnten die beiden Länder die Lage wie-
1991 haben die beiden Länder auch das Abkommen für                    der entschärfen und die Zusammenarbeit auf bilateraler
Freundschaft, gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit                   Ebene – beispielsweise beim Kampf gegen den Menschen-
unterzeichnet und die Praxis der regelmäßigen Regierungs-             und Drogenschmuggel, das organisierte Verbrechen und
gipfel institutionalisiert, an dem die beiden Regierungschefs         den Terrorismus – intensivieren. Gleichzeitig hat sich Spa-
und einige Fachminister teilnehmen. Dies ist ein Modell,              nien auch entschieden dafür eingesetzt, die strategisch wich-
das in Spanien als Reuniones de Alto Nivel (RAN) bekannt              tigen marokkanischen Beziehungen zur EU zu fördern. Die
ist – ein Format, das auch bei den Beziehungen zu einigen             erhebliche Zunahme illegaler Einwanderer – sowohl aus
ausgewählten Ländern zum Einsatz kommt: den großen                    Marokko als auch aus Ländern südlich der Sahara – in den
EU-Ländern, Großbritannien, Portugal, Algerien, Tunesien,             Jahren 2018 und 2019 war eine deutliche Erinnerung an
der Türkei und einmal 2009 auch Ägypten.                              die strategische Bedeutung dieser Zusammenarbeit. Im Fe-
                                                                      bruar 2019, nach einem lang erwarteten Besuch des spa-
Diese Politik hat sich bewährt, und die bilateralen Be-               nischen Königs Felipe VI in Marokko, ging die Anzahl der
ziehungen sind nun umfassender, tiefer und immer stär-                an der spanischen Küste ankommenden Boote sofort zu-
ker miteinander verflochten (Amirah Fernández, 2015).                 rück. Bevor Josep Borrell zum Hohen Vertreter und Vize-
2019 war Spanien Marokkos größter Handelspartner, und                 präsidenten ernannt wurde, hatte er sich nicht nur dafür
Marokko war nach den USA Spaniens zweitgrößter Kunde                  eingesetzt, dass Marokko bei Themen der Grenzkontrolle
außerhalb der EU. Was die ausländischen Direktinvestitionen           von Spanien und Europa stärker unterstützt wird, sondern
betrifft, nimmt Spanien keinen so hohen Stellenwert ein, und          auch die Notwendigkeit von Mechanismen zur Visaerleich-
laut der provisorischen Zahlen von 2018 war das Land nur              terung angedeutet.
der sechstgrößte Investor. Aber da in Marokko 800 spanische
Unternehmen tätig sind, sollten die spanischen Investitionen          Migration und innenpolitische
dort auch nicht vernachlässigt werden. Viele dieser Firmen            Polarisierung
sind klein oder mittelgroß; insgesamt haben sie etwa 20.000           Während der beiden aufeinander folgenden Wahlkämpfe
direkte Arbeitsplätze geschaffen und sind in strategischen            im April und November 2019 war die Migration eins der
Sektoren wie dem Transportwesen, den Erneuerbaren Ener-               wichtigsten Themen. VOX verwendete sie nicht nur dazu,
gien, der Autoindustrie, der Landwirtschaft und dem Touris-           sich gegen die Sozialistische Partei zu positionieren, son-
mus tätig. Auch die zwischenmenschlichen Beziehungen                  dern auch, um sich von sanfteren Positionen der etablier-
sind ein wichtiger Faktor: Über 800.000 marokkanische Bür-            ten Kräfte der Volkspartei und der Ciudadanos abzugrenzen.
ger leben in Spanien und überweisen jährlich etwa 500 Mil-            Dabei übernahm die Partei Präsident Trumps Rhetorik über
lionen Euro zurück an ihre Familien. Zwei Millionen Spanier,          Mauern, Einwanderung, Invasionen und Souveränität. So
davon die Hälfte marokkanischer Herkunft, besuchen jährlich           überrascht es nicht, dass einer ihrer Hauptvorschläge darin
Marokko, und 900.000 Marokkaner reisen jedes Jahr nach                bestand, in Ceuta und Melilla an der Grenze zu Marokko
Spanien. Außerdem besteht in Marokko das zweitgrößte                  eine höhere Mauer zu bauen. Die Tatsache, dass VOX bei der
Netzwerk des Cervantes-Instituts, des spanischen Zentrums             Parlamentswahl den einzigen Sitz in Ceuta gewann und dass
zur Förderung von Sprache und Kultur.                                 sie auch in den Stadträten der beiden Städte als Oppositions-
                                                                      partei vertreten ist, zeigt, dass dieses Thema in der politi-
Periodische bilaterale Krisen                                         schen Debatte Spaniens und den bilateralen Beziehungen zu
All diese Verbindungen waren zwar nicht in der Lage, den              Marokko immer wichtiger wird. Rabats jüngste Maßnahmen
periodischen Ausbruch bilateraler Krisen abzuwenden, aber             zur Beendigung des informellen Handels an den Grenzen
vielleicht haben sie eine Eskalation verhindert. Die schlimmste       der beiden Städte und die unilaterale Schließung des offi-
dieser Krisen ging 2002 aus einem Streit über die Souveräni-          ziellen Zollbüros im Jahr 2018 könnten dazu führen, dass
tät der kleinen Insel Perejil/Leila hervor. Um den militäri-          die Städte wirtschaftlich ersticken – und dass sich ein bereits
schen Konflikt über das, was der damalige US-Außenminister            jetzt heikles Thema weiter entzündet. VOX – und andere
eine »dumme kleine Insel« nannte, zu beenden, war sogar               rechtsgerichtete Oppositionsparteien – kritisieren schon, die
die Vermittlung der USA nötig (Gillespie, 2006). Diesem mili-         spanische Reaktion sei zu schwach und lasse die Einwohner
tärischen Zusammenstoß ging eine politische Eskalation vo-            der beiden Städte im Stich.
raus – zuerst über die Erneuerung des Fischereiabkommens,
aber auch über Spaniens Beschwerden, Marokko sei bei der
Kontrolle der illegalen Migration und des Drogenschmuggels

                                                                  9
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Mittelmacht mit Maghreb-­Fokus

Marokko ist keine klassische außen-                                    Spaniens von Algerien im Energiebereich – 46 Prozent der
politische Angelegenheit für Spanien                                   Erdgasimporte des Landes stammen von dort – und in gerin-
Die Politisierung der territorialen Streitigkeiten mit Marokko,        gerem Maße auch die Höhen und Tiefen der Beziehungen
das Gewicht der historischen Unstimmigkeiten und die                   der beiden Länder zu Marokko (Escribano, 2012; Dris-Ait
Intensität der bilateralen Verbindungen erklären, warum                Hammadouche und Dris, 2007; Thieux & Jordà, 2012).
Marokko keine klassische außenpolitische Angelegenheit
ist und auch nicht als solche behandelt wird. Das Außen-               Später wurde der Liste bilateraler Prioritäten ein weiteres
ministerium ist dabei nur eins von vielen Ministerien, die sich        Element hinzugefügt: 2018 verabschiedete Algerien ein De-
am Prozess der Entscheidungsfindung beteiligen. Die meis-              kret zur Ausweitung seiner Ausschließlichen Wirtschafts-
ten dieser Ministerien arbeiten über Dialogplattformen direkt          zone, dass Spaniens Ansprüche bezüglich der Baleareninseln
mit ihren marokkanischen Kollegen zusammen. Außerdem                   zurückweist, aber dieses Thema hielt erst im Februar 2020
ist die Botschaft in Rabat eine der größten Spaniens und               Einzug in die spanische Debatte. Ähnlich der Kontroverse um
nur mit jenen in Brüssel, Paris und Washington vergleich-              die Kanarischen Inseln mobilisierte das Thema in erster Linie
bar. Innerhalb des Rahmens einer umfassenderen Präsiden-               die regionalen politischen Eliten, wurde aber auch von den
tialisierung der spanischen Außenpolitik (Lemus de la Iglesia          Medien und Parteien der Opposition dazu verwendet, der
& Amirah Fernández, 2009) führt diese Ausgangslage in                  Sánchez-Regierung vorzuwerfen, sie sei bei der Verteidigung
den bilateralen Beziehungen zu einer besonderen Rolle der              der nationalen Interessen Spaniens zu schwach. Darüber hi-
Präsidentschaft der Regierung beim Umgang mit Marokko –                naus kann Spaniens vorsichtige Einstellung gegenüber den
insbesondere bei der Beschäftigung mit zyklischen Krisen.              politischen Entwicklungen in Algerien anhand der beiden
Eine weitere Besonderheit ist, dass der spanische König unter          Faktoren Nachbarschaft und Energie erklärt werden: Mad-
bestimmten Umständen um seine Beteiligung an diesen Be-                rids Schweigen über die algerischen Bürgerproteste zwischen
ziehungen gebeten wird, indem er letztlich einen König-­zu-            2019 und 2020, aber auch die schnelle Reaktion, mit der
König-Kontakt mit Marokkos Mohamed VI herstellt, wie                   Spanien die Ergebnisse der Wahlen vom Dezember 2018
es sein Vater mit Hassan II getan hat. In kritischen Situa-            begrüßte, sind die jüngsten Beispiele für einen bereits be-
tionen wird die Monarchie aufgefordert, entweder die De-               stehenden Trend, bei dem der Sicherheit und Stabilität Vor-
eskalationsbemühungen zu unterstützen oder bessere Be-                 rang vor allen anderen Themen gegeben wird.
dingungen für eine funktionale bilaterale Zusammenarbeit
zu schaffen.                                                           4.3 LIBYEN
                                                                       Energiethemen waren auch ein wichtiges Element der
Die Beziehungen zu anderen Ländern des Maghreb sind                    spanischen Beziehungen zu Libyen. Der spanischde Öl-
ebenfalls wichtig, aber nicht mit denen zu Marokko                     konzern Repsol ist dort seit den 1970ern präsent, und 2019
vergleichbar. Dies spiegelt sich in den relativ geringen poli-         war Spanien nach Italien und Deutschland Libyens dritt-
tischen Kontroversen wider, die sie begleiten – und auch               größter Abnehmer. Die spanische Beteiligung an der NATO-­
in der Tatsache, dass dabei zwar immer noch einige Fach-               Operation von 2011 war ziemlich bescheiden und bezog sich
ministerien eine Rolle spielen können, aber meist nur eins             hauptsächlich auf die maritime Überwachung. Und nach
oder zwei auf einmal (beispielsweise das für Energie im Fall           dem Sturz Gaddafis bestand die einzige große politische Ini-
von Algerien), und dass deshalb das Außenministerium eine              tiative Spaniens in Libyen in der Ausrichtung einer regionalen
viel entscheidendere Rolle spielt.                                     Konferenz im Jahr 2014, die alle Nachbarn Libyens einbezog,
                                                                       um ein Scheitern des politischen Übergangs zu verhindern.
4.2 ALGERIEN                                                           Dieses Ziel wurde definitiv nicht erreicht. Seitdem hält sich
Ein Beispiel für diesen monothematischen Ansatz ist                    Madrid zurück – in erster Linie, weil andere EU-Länder, ins-
Algerien: Die Beziehungen im Energiebereich reichen bis                besondere Frankreich und Italien, in Libyen eine stärkere
in die späten 1960er zurück. Wie Francis Ghilès (2013) er-             Rolle gespielt und sogar jeweils gegnerische Seiten unter-
klärt, hat Pere Durán Farrell, ein katalanischer Unternehmer,          stützt haben. Dies erklärt, warum Spanien trotz der Nachbar-
eine strategische Vision der Beziehungen zu Algerien ge-               schaft und der Intensität der wirtschaftlichen Verbindungen
schaffen, als er erstmals algerisches Flüssiggas (LNG) nach            zu Libyen in den entsprechenden internationalen Konferen-
Barcelona brachte. Im Jahr 2000 wurde die erste Gasleitung             zen, auf denen andere regionale und globale Akteure die dor-
nach ihm benannt, die 1996 eingeweiht worden war und                   tige politische und sicherheitspolitische Lage diskutieren und
Algerien über Marokko mit Spanien und Portugal verbindet.              aushandeln, nicht involviert war. In letzter Zeit kam Libyen
Interessanterweise wurde dieses Projekt in einer für dieses            wieder auf die spanische Tagesordnung, aber aus einem völ-
nordafrikanische Land sehr schwierigen Zeit ins Leben ge-              lig anderen Blickwinkel: Die Zunahme der Migration über
rufen: Die 1990er, die häufig auch Schwarzes Jahrzehnt oder            die Meeresstraße von Sizilien und die trostlosen Bilder immer
Schmutziger Krieg genannt wurden, forderten je nach Quelle             neuer, massiv überladener Schiffe mit Migranten und Flücht-
100.000 bis 200.000 Todesopfer. Die spanische Regierung                lingen führten zur Mobilisierung von Teilen der spanischen
und auch die Unternehmen des Landes waren zuversicht-                  Zivilgesellschaft und linksgerichteter politischer Gruppen.
lich, dass ihre Interessen in Algerien auch in dieser Phase            Dies setzte die spanische Regierung unter Druck, den in die-
akuter Instabilität nicht verletzt werden, und Spanien war             sem Gebiet tätigen Rettungsschiffen einen sicheren Hafen
eines der wenigen europäischen Länder, die ihre dortigen di-           zu bieten. Besonders aktiv war dabei die spanische NRO
plomatischen und kulturellen Zentren nicht schlossen. Wich-            Open Arms, und dies führte gelegentlich zu Spannungen
tige Antriebskräfte für das Verhältnis sind die Abhängigkeit           mit der italienischen Regierung – insbesondere als Matteo

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