Nachbarn - Solidarität in unsicheren Zeiten - Caritas Thurgau

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Nachbarn - Solidarität in unsicheren Zeiten - Caritas Thurgau
St. Gallen-Appenzell – Thurgau – Graubünden                         Nr. 2 / 2020

Nachbarn

                              Solidaritätin
                              unsicherenZeiten
                              DieCorona-KrisetrifftauchMenschen
                              diebislangaufdersicherenSeitelebten
                              Wirallesindgefordert
Nachbarn - Solidarität in unsicheren Zeiten - Caritas Thurgau
Inhalt

                                                                                 Inhalt
                                                                                 3    Editorial
                                                                                      Kurz & bündig

                                                                                 4    News aus dem Caritas-Netz
                                                                                      Schwerpunkt

                                                                                 6    Solidarität in unsicheren Zeiten
                                                             BildZoeTempest
                                                                                      Schwerpunkt

                                                                                 10   Prekäre Arbeit: Leben mit der
                                                                                      Unsicherheit
JacquelineKüntiistselbstständigeWochenbebegleiterin                            Persönlich
ImLockdownkonntesieihrerArbeitnichtmehrnachgehen                        12	«Wann hast du zum letzten Mal
undgerietwiesovieleinfinanzielleSchwierigkeiten                             jemandem geholfen? Wobei?» 	
                                                                                     Sechs Antworten von Passantinnen 
                                                                                      und Passanten
Schwerpunkt
                                                                                      Caritas Thurgau

Solidarität in                                                                   14   Gemeinsam kochen und
                                                                                      miteinander essen

unsicheren Zeiten
                                                                                      GeKo – ein Projekt gegen die Einsamkeit

                                                                                      Caritas Graubünden

                                                                                 16   Die Regionalisierung ist eine
Die Corona-Krise trifft diejenigen am heftig-
                                                                                      Herausforderung
sten, die bereits vor der Krise wenig hatten.
Besonders betroffen sind Menschen in prekä-                                           Wie die Angebote in die Täler kommen
ren Arbeitsverhältnissen: Arbeitnehmende im                                           sollen
Stundenlohn, auf Abruf, schlecht bezahlt. De-
                                                                                      Caritas St. Gallen-Appenzell
ren ohnehin unsichere Lage verschärfte sich
oft dramatisch. Die Massnahmen zur Eindäm-                                       18   Gegen Armut und Einsamkeit
mung der Pandemie treffen aber auch Bevölke-                                          Das Begegnungscafé im neuen Caritas-
rungsgruppen, die scheinbar sicher unterwegs                                          Markt in Wil
waren, beispielsweise Selbstständigerwerben-
de. Jacqueline Künti, Wochenbettbegleiterin                                           Caritas St. Gallen-Appenzell
aus dem Kanton Bern, konnte nicht mehr zu                                        21   Eine Million Sterne
den jungen Müttern nach Hause. Von einem                                              zum fünften Mal in Wil
Tag auf den anderen brachen ihr die Aufträge                                          Andreas Stemer sorgt dafür, dass 
weg. Die Caritas konnte ihr mit einer Über-                                           Hunderte Kerzen brennen
brückungszahlung durch die ärgste Phase von
Unsicherheit helfen. Lesen Sie in dieser Num-                                         Ich will helfen
mer, wie die Caritas dank ihrer Erfahrung und
der grossen Solidarität der Bevölkerung hilft,
                                                                                 22   Junge Freiwillige verhindern
und was Unsicherheit mit uns allen macht.
                                                                                      die Schliessung der Caritas-Märkte
                                                                                      Kolumne
Spannende Lektüre wünschen wir!
                                                                                 23   Das wunderliche Gefühl
abSeite                                                                            der Gemeinschaft

2                                                                                                                    Nachbarn 2 / 20
Nachbarn - Solidarität in unsicheren Zeiten - Caritas Thurgau
Editorial

Liebe Leserin,
lieber Leser
Corona-Krise! Und einmal mehr trifft es die vulnerabelste
Gruppe – armutsbetroffene und -gefährdete Menschen, die schon
in «normalen» Zeiten zu kämpfen haben. In der Corona-Krise
sind diese Menschen in besonders hohem Mass auf Unterstüt-
zung angewiesen.

Die regionalen Caritas-Organisationen haben ihre Angebote den
ungewohnten Bedingungen angepasst. Bei der Caritas Thurgau         Alessandro Della Vedova
                                                                   Geschäftsleiter Caritas Graubünden
wurde das gemeinsame Kochen auf ein gemeinsames Essen be-
                                                                   Judith Meier Inhelder
schränkt, um den Gästen bei einem feinen Menü trotz Corona ein     Geschäftsleiterin Caritas Thurgau
paar Stunden Gemeinsamkeit und Austausch zu ermöglichen.           Philipp Holderegger
Die Caritas-Märkte wurden besonders rege frequentiert, auch        Geschäftsleiter Caritas St. Gallen-
                                                                   Appenzell
wenn die Öffnungszeiten teilweise angepasst werden mussten
und die Begegnungscafés geschlossen hatten. Im Kanton Grau-        «Nachbarn», das Magazin der
                                                                   regionalen Caritas-Organisationen,
bünden setzt man alles daran, die Regionalisierung voranzutrei-
                                                                   erscheint zweimal jährlich: im April
ben, damit die Caritas auch in den Tälern präsent ist. Ob und in   und im Oktober.
welcher Form «Eine Million Sterne» dieses Jahr durchgeführt
                                                                   Gesamtauflage:
werden kann, ist derzeit noch offen. Andreas Stemer und sein       34 200 Ex.
Team sind jedenfalls bereit für den Einsatz am Wiler Weih-
nachtsmarkt.                                                       Auflage SG/TG/GR:
                                                                   3400 Ex.

Danke, dass Sie uns bei unserem Engagement unterstützen! Wir       Redaktion:
wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.                             Susanna Heckendorn (regional)
                                                                   Roland Schuler (national)

                                                                   Gestaltung, Produktion und Druck:
                                                                   Stämpfli AG, Bern

Alessandro Della Vedova       Philipp Holderegger

Judith Meier Inhelder

Caritas Graubünden                  Caritas St. Gallen-Appenzell   Caritas Thurgau
Tittwiesenstrasse 29                Langgasse 13                   Franziskus-Weg 3
7000 Chur                           9008 St. Gallen                8570 Weinfelden
Telefon 081 258 32 58               Telefon 071 577 50 10          Telefon 071 626 11 81
www.caritasgr.ch                    www.caritas-stgallen.ch        www.caritas-thurgau.ch
PC 70-5372-2                        PC 90-155888-0                 PC 85-1120-0

Nachbarn 2 / 20                                                                                          3
Nachbarn - Solidarität in unsicheren Zeiten - Caritas Thurgau
Kurz&bündig

Solidaritätsaktion «Eine Million Sterne»                                     Corona-Hilfe

Dieses Jahr ganz                                                             Caritas unterstützt –
besonders nötig                                                              in der Krise erst recht
Die Caritas-Solidaritätsaktion «Eine                                         Für viele Menschen an oder unter der
Million Sterne» findet dieses Jahr am                                        Armutsgrenze ist die Caritas in der
12. Dezember statt. Die Caritas macht                                        Corona-Krise eine wichtige Stütze. Mithilfe
dann besonders auf die wachsende                                             der Glückskee und vieler grosszügiger
Armut in der Schweiz aufmerksam und                                          Unterstützerinnen und Unterstützer hält
wirbt für Solidarität mit Betroffenen.                                       Caritas in der Krise die Stellung.

                                                                             Die finanzielle Not von vielen Menschen an der Armuts-
                                                                             grenze wurde mit der Corona-Krise und dem Lockdown
                                                                             noch akuter. Schon früh war klar: Caritas muss trotz
                                                                             unklarer Lage und unter Schutzvorkehrungen für Mit-
                                                                             arbeitende und Freiwillige ihre Angebote für Armuts-
                                                                             betroffene möglichst aufrechterhalten – jetzt erst recht.
                                                                             Das gelingt der Caritas dank motivierten Mitarbeiten-
                                                                             den und Freiwilligen, der Glückskette und der grossen
                                                        BildThomasPlain

In der Schweiz leben rund 1,2 Millionen Menschen
unter oder knapp über dem Existenzminimum. Die
Folgen der Corona-Massnahmen treffen diese Men-

                                                                                                                                         BildDominicWenger
schen besonders hart. Working Poor, Menschen in
unsicheren Anstellungsverhältnissen oder in Bran-
chen, die vom Lockdown besonders hart getroffen
wurden, müssen noch mehr kämpfen, als dies vor
«Corona» ohnehin schon der Fall war.                                         Solidarität in der Bevölkerung. Aufgrund der Erfahrung
Zurzeit sind die sozialen Folgen noch nicht absehbar.                        der Caritas als Hilfswerk und der starken regionalen
Sicher ist: Menschen in schwierigen Lagen brauchen                           Verankerung konnte rasch und auf die Bedürfnisse in
unsere Unterstützung. Sie brauchen unsere Solidari-                          den Regionen abgestimmt reagiert werden.
tät. Als Zeichen dieser Solidarität wird am Samstag,
12. Dezember 2020, in der ganzen Schweiz die Aktion                          Die Caritas-Regionalorganisationen bieten Unterstüt-
«Eine Million Sterne» Kerzen zum Leuchten bringen.                           zung mit ihren bewährten Angeboten wie den Caritas-
                                                                             Märkten und den Sozial- und Schuldenberatungen. Hier
Save the date!                                                               wurden zum Teil neue Stellen geschaffen, um die hohe
Machen auch Sie Ihre Solidarität mit benachteilig-                           Anzahl Anfragen zu bewältigen. Direkt geholfen wird
ten Menschen sichtbar, und reservieren Sie sich den                          mit Einkaufsgutscheinen für die Caritas-Märkte, Aldi
12. Dezember für ein Zeichen für eine faire Schweiz!                         und Lidl im Wert von über 300 000 Franken sowie mit
Auf wwweinemillionsternech finden Sie ab November                          finanzieller Soforthilfe bei offenen Mietzins- oder Kran-
alle relevanten Informationen. Ebenfalls ab Novem-                           kenkassenrechnungen im Wert von 2,6 Millionen Fran-
ber können Sie Ihre Solidarität wieder mit einer der                         ken (Zahlen: Stand Ende August). Auch neue Angebote
beliebten Wunschkerzen bekunden:                                             wurden ins Leben gerufen.
wwwwunschkerzeeinemillionsternech                                         wwwcaritasch/corona

4                                                                                                                      Nachbarn 2 / 20
Nachbarn - Solidarität in unsicheren Zeiten - Caritas Thurgau
Kurz&bündig

Caritas Schweiz

Peter Marbet wird
                                                                    NEWS
neuer Direktor                                                      DankefürdievielenMeinungen!
                                                                    InderletztenAusgabedes«Nachbarn»erfragtenwirdie
                                                                    Meinung unserer Leserscha zu unserem Magazin Er-
                                                                    freulichvieleLeserinnenundLesernahmenanderUm-
                                                                    frageteilGanzherzlichenDankdafür!Aktuellläudie
                                                                    Auswertung Eine Schlussfolgerung lässt sich heute be-
                                                                    reits ziehen Einer grossen Mehrheit gefällt das «Nach-
                                                                    barn»sehrDasfreutunsnatürlichundsporntunsanfür
                                                                    SieweiterhineininformativesundansprechendesMaga-
                                                                    zinzuproduzieren

                                                                    Caritas-LieferdienstinBaselland
                                                                    «Bleiben Sie zu Hause» lautete das Gebot der Stunde
                                                                    während des Corona-Lockdowns in der ersten Jahres-
                                                                    hälevorallemfürPersonenabodermitVorerkran-
                                                                    kungenFürdieArmutsbetroffenenund-gefährdetenin
                                                        Bildzvg

                                                                    ländlichenGebietenweitwegvomCaritas-Marktinder
                                                                    StadtmussteeineLösungherDieCaritasbeiderBasel
                                                                    startete in enger Zusammenarbeit mit Pfarreien einen
Der neue Direktor von Caritas Schweiz                               LieferdienstDieserläubismindestensEnde
heisst Peter Marbet. Er tritt am 1. Novem-
ber 2020 die Nachfolge von Hugo Fasel                               CaritasAargaueröffneteineweitereSozialberatung
an. Dieser geht nach zwölf Jahren an der
                                                                    Im Juni  eröffnete die Caritas Aargau eine neue
Spitze der Organisation in Pension.                                 Sozialberatungsstelle im Pfarreizentrum Kleindöingen
                                                                    Der Kirchliche Regionale Sozialdienst KRSD Zurzibiet
Peter Marbet (Jahrgang 1967) stammt aus Bern und                    wird die Seelsorge der Kirchgemeinden ergänzen und
studierte neuere Geschichte und Politologie. Später                 ermöglichtesderCaritasnahebeidenMenschenHilfe
absolvierte er die Ausbildung zum Executive Master                  anzubieten Mit dem KRSD Zurzibiet startet bereits die
of Business Administration in NPO-Management                        achteSozialberatungsstellederCaritasAargau
der Universität Freiburg. Der neue Caritas-Direktor                 wwwcaritas-aargauch/sozialberatung
bringt viel Management- und Führungserfahrung
sowie breite Kompetenzen in gesundheits-, bildungs-
und sozialpolitischen Fragestellungen mit. Diese                    CaritasLuzernWechselinderGeschäsleitung
erwarb er sich an verschiedenen beruflichen Statio-
                                                                    DanielFurrertriamOktoberdieNachfolge
nen: als Informationsbeauftragter bei einer grossen
                                                                    vonThomasThalialsGeschäsleiterderCaritasLuzern
Krankenversicherung, als Mitglied der Direktion
                                                                    an Der politisch engagierte und gut vernetzte -Jäh-
bei santésuisse und Leiter der Abteilung Politik und
                                                                    rige wirkte vorher als stellvertretender Geschäsleiter
Kommunikation sowie in seiner letzten Funktion als
                                                                    und Leiter Dienstleistungen und Kommunikation beim
Direktor des Berner Bildungszentrums Pflege. Als
                                                                    SAHZentralschweizundistMitglieddesGrossenStadt-
Stadtrat der Stadt Bern (Legislative) und Mitglied
                                                                    rats Luzern Auch neu in der Geschäsleitung ist seit
verschiedener parlamentarischer Kommissionen ist
                                                                    Anfang September Karin Hunziker Leiterin Berufliche
er auch mit einer Vielzahl von sozialpolitischen The-
                                                                    Integration
men vertraut. Peter Marbet übernimmt die Leitung
von Caritas Schweiz per 1. November von Hugo Fasel,                 wwwcaritas-luzernch/geschaesleitung
der nach zwölf Jahren als Caritas-Direktor in Pension
geht.

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Nachbarn - Solidarität in unsicheren Zeiten - Caritas Thurgau
Rubrik

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                                                                        alsWochenbebegleiterinjungeMüerzubesuchen
                                                                        undsiezuunterstützenSiegerietinfinanzielle
         EinLebeninArmutbringtElternandenRandderVerzweiflung SchwierigkeitenCaritaskonnteihrundvielen
         undlässtKinderträumeplatzen                               anderenhelfen
  6                                                                                                           Nachbarn 2 / 20
Nachbarn - Solidarität in unsicheren Zeiten - Caritas Thurgau
Schwerpunkt

AlsdasArbeitsleben
plötzlichstillstand
Junge Mütter und ihre Neugeborenen zu begleiten, ist mit viel Nähe verbunden. Als
Corona kam, fielen bei der freiberuflichen Wochenbettbegleiterin Jacqueline Künti die
Aufträge weg. Entsprechend dankbar ist sie für die Unterstützung durch die Caritas.
TextUrsulaBinggeliBilderZoeTempest

W
               enn Jacqueline Künti im Garten des           des Beziehungs- und Bindungsaufbaus zwischen Mut-
               Bauernhauses sitzt, in dem sie als Al-       ter, Kind und der Familie steht im Zentrum ihres Tuns.
               leinerziehende mit ihren beiden Teen-        «Sie sollen gemeinsam wachsen können.» Achtsamkeit
               ager-Töchtern lebt, umgeben von viel         und Urvertrauen sind wichtige Stichworte für sie.
Grün und Blumen, wirkt sie ganz in ihrem Element,
ein bisschen elfenhaft und doch geerdet. Der Eindruck       Ein harter Frühling
täuscht nicht. Jacqueline Künti fühlt sich der Natur        2020 – das fünfte Jahr ihrer Selbstständigkeit – fing gut
und den in ihr waltenden Kräften tief verbunden, ohne       an für Jacqueline Künti: Die Mund-zu-Mund-Propagan-
sich deswegen von den Menschen abzuwenden, im Ge-           da schien zum Laufen zu kommen. Ihr Einkommen
genteil. Auf ihrer Website schreibt sie: «Begegnung er-     reichte zusammen mit den Alimenten und Kinderzula-
lebe ich in der freien Natur, im lebendigen Austausch       gen zum Leben.
mit offenen Menschen, durch Reisen, Ehren und Feiern
verschiedener Kulturen und deren Ritualen.» Unter           Aber dann kamen Corona und der Lockdown. «Mein
anderem gestaltet sie freie Willkommens- und Seg-           Arbeitsleben stand von einem Tag auf den anderen
nungszeremonien für Kinder. Der weite Horizont der          praktisch still.» Laufende Aufträge wurden gestoppt,
früheren Kleinkindererzieherin schlägt sich aber auch       und neue Anfragen gab es keine. Sehr unsicher sei sie
in ihrer hauptberuflichen Tätigkeit nieder.

Sorgsame Arbeit in Familien
Jacqueline Künti hat in Deutschland die Ausbildung zur           «Corona hat mich schier zum
Familienlotsin absolviert und unterstützt nun als frei-
berufliche Fachfrau für Wochenbettbegleitung Familien
                                                                   Verzweifeln gebracht.»
mit einem Neugeborenen in der intensiven ersten Zeit
zu Hause. «Wichtigste Ansprechperson für die Mütter
ist stets die Hebamme, ich arbeite ergänzend.» Jacque-      gewesen in jenen Wochen, erinnert sich Jacqueline
line Künti bereitet vollwertige, stillgerechte Mahlzeiten   Künti. Hätte sie überhaupt Familien aufsuchen dür-
zu, sie wirft bei Bedarf eine Ladung Wäsche in die Ma-      fen? «Der Rahmen, in dem ich arbeite, ist doch sehr
schine, sie betreut die grösseren Kinder – und sie wid-     intim.» Auch als die Lockerungen kamen, blieben die
met sich dem Baby und der Wöchnerin. Die Begleitung         Fragen. Ab wann waren Besuche am Wochenbett wie-

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Nachbarn - Solidarität in unsicheren Zeiten - Caritas Thurgau
Schwerpunkt

der vertretbar? Sollte sie mit einem Inserat Werbung                  die derzeit in einer Kita ein Praktikum macht und ihr
für sich machen? Aber das schien ihr in der Zeit des                  anbot, die Krankenkassenprämien bis auf Weiteres
grossen Abstandhaltens zu provokant.                                  von ihrem kleinen Lohn selbst zu bezahlen, berührte
                                                                      sie tief.
Jacqueline Künti und ihre Töchter mussten im März
mit 1800 Franken auskommen, auch im April war dem                     Keine Hilfe vom Bund
so. «Wir sind es gewohnt, uns einzuschränken – in der                 Wie Jacqueline Künti standen diesen Frühling viele
Zeit meiner Ausbildung zur Familienlotsin wohnten                     freiberuflich Tätige wegen Corona vor einschneiden-
                                                                      den finanziellen Einbussen. Viele sind der Unsicher-
                                                                      heit weiterhin ausgeliefert. Während diejenigen, die
                                                                      von den Massnahmen des Bundes direkt betroffen wa-
        Viele sind der Unsicherheit                                   ren und ihre Tätigkeit nicht mehr ausüben konnten,
                                                                      schon bald wussten, dass sie finanzielle Unterstüt-
          weiterhin ausgeliefert.                                     zung erhalten würden, blieben Freiberufler, die indi-
                                                                      rekt betroffen waren, bis Mitte April im Ungewissen.

wir zu dritt in einer 2,5-Zimmer-Wohnung.» Aber Co-                   Als der Bund beschloss, auch ihnen finanziell unter
rona habe sie nun wirklich schier zum Verzweifeln ge-                 die Arme zu greifen, war Jacqueline Küntis Freude nur
bracht. Mit Zuwendungen von Verwandten konnte sie                     von kurzer Dauer. Ihr Gesuch wurde abgelehnt – der
nicht rechnen. Die Solidarität der älteren ihrer Töchter,             von ihr als Wochenbettbegleiterin erzielte Gewinn lag

EsbrauchtdieNäheJacquelineKüntiunterstütztjungeMüerindererstenZeitnachderNiederkun

8                                                                                                            Nachbarn 2 / 20
Nachbarn - Solidarität in unsicheren Zeiten - Caritas Thurgau
Schwerpunkt

leicht unter dem unteren Limit für den Anspruch auf
Unterstützung. «Meine Einnahmen aus den Ritualbe-
gleitungen wurden nicht mitgerechnet, ja, nicht ein-       UNSICHERHEIT
mal erwähnt, und auch das Ausfallen der von mir für
das Jahr 2020 neu aufgegleisten Kurse für Schwangere
wurde nicht berücksichtigt.» Der negative Bescheid
                                                           BELASTET
schmerzte. «Für mich ist er unverständlich. Er hat
mich wütend gemacht.»                                                                            ProfDrChristophFlückiger
                                                                                                 istLeiterAllgemeine
Grosse Solidarität                                                                               Interventionspsychologie
Zum Glück hatte Jacqueline Künti schon früh auch                                                 und Psychotherapie
nach nicht staatlicher Hilfe Ausschau gehalten. Sie                                              anderUniversitätZürich
wandte sich an die Caritas. Dort war man auf Anfragen
wie die ihre vorbereitet. Dank einem Spendenaufruf

                                                                                     Bildzvg
       «Ich denke an die jungen                            VieleerlebtenunderlebenUnsicherheitaufgrund
     Familien, die in der Krise erst                       vonCoronaWaslöstdieseUnsicherheitinunsaus?
                                                           Es ist emotional belastend wenn wir aus der Routine
          recht allein waren.»                             unddenGewohnheitengeworfenwerdenunddieDinge
                                                           nichtmehrsowiegewohnteinigermassenvorhersagbar
                                                           sindDiesreduziertdasGefühldieDingeunterKontrol-
zusammen mit der Glückskette stehen Gelder zur Ver-        le zu haben Grundsätzlich sind Menschen ganz allge-
fügung, die für Menschen eingesetzt werden können,         mein relativ intolerant gegenüber Unsicherheit auch
die ohnehin in bescheidenen Verhältnissen leben und        wennwirdaskalkulierbareAbenteuerbiszueinemge-
wegen Corona in akute finanzielle Bedrängnis gerie-        wissenPunktauchgernesuchen
ten. Brigitte Raviele von der Caritas Bern: «Neben frei-
beruflich Tätigen sind es auch von Kurzarbeit Betrof-      AufgesellschaftlicherEbeneFührtkollektive
fene mit niederen Einkommen, die an uns gelangen.          UnsicherheitzumehrSolidarität?
Bis heute bearbeiteten wir im Kanton Bern mehrere          JasicherjedochnurbiszueinemgewissenPunktSoli-
hundert Anfragen.»                                         darität ist immer mit der Frage verbunden gegenüber
                                                           wem wir uns solidarisch zeigen Interessanterweise
Die Caritas konnte Jacqueline Künti mit Beratung und       übertragen wir die unangenehmen Dinge gerne nach
einer Überbrückungszahlung direkt helfen. Die Unter-       aussenSowardieGrippe«spanisch»Coronaist«chi-
stützung durch die Caritas trug wesentlich dazu bei,       nesisch» Was Solidarität zu echter Solidarität macht
dass Jacqueline Künti den Boden unter den Füssen           istwennwirunsinanderehineinversetzenunddieWelt
nicht verlor. Dass in der ländlich geprägten Ortschaft,    ausderSichtderanderninunsereeigeneSichtweisein-
in der sie wohnt, viel nachbarschaftliche Solidarität      tegrieren Sich in Unsicherheit in andere zu versetzen
spürbar ist, tat zusätzlich gut. Auch in der grossen,      machtunsMenschenmenschlich
selbst verwalteten Hausgemeinschaft, in der ihre
Töchter und sie seit drei Jahren leben, fühlt sie sich     KönnenwiretwaslernenausdererlebtenUnsicherheit?
aufgehoben. «Ich schöpfte neuen Mut.»                      MirkommtspontanWolfBiermannsLied«Ermutigung»
                                                           indenSinn«Dulassdichnichtverhärtenindieserhar-
Eine neue Klarheit                                         tenZeitDieallzuhartsindbrechenDieallzuspitzsind
Die Angst vor einer neuen Corona-Welle stellt Jacque-      stechen Und brechen ab sogleich» Sich Unsicherheit
line Künti bewusst auf die Seite, sie fokussiert den       einzugestehenhatwohlimmerauchmitMutzutunsich
Neustart. Der Weg zu einer Form von Normalzustand          seinereigenenUnzulänglichkeitWeichheitundVerletz-
sei sicher noch lang, sagt sie, aber langsam gehe es mit   lichkeit gewahr zu werden und diese sich selbst und
Aufträgen wieder aufwärts. «Ich denke an die vielen        auch andern offenzulegen Unsicherheit stellt immer
jungen Familien, die in der Krise erst recht allein ge-    auch die Frage was mir wichtig ist und von welchen
wesen sind, und spüre eine neue Klarheit in mir. Für       Wertenichmichleitenlasse
sie will ich da sein. Ich bin bereit.»

wwwfamilienlotsinnch

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Nachbarn - Solidarität in unsicheren Zeiten - Caritas Thurgau
Schwerpunkt

PrekäreArbeitLebenmit
der Unsicherheit
In der Corona-Krise zeigt sich: Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen sind stark
betroffen von den Pandemiemassnahmen. Prekäre Arbeit gibt es in der Schweiz
in verschiedenen Formen. Neben finanzieller Unsicherheit bringt sie oftmals eine
mangelhafte Absicherung und eingeschränkte Zukunftsperspektiven mit sich.
TextAnna-KatharinaThürerGrundlagenCaritasZürichIllustrationCorinneBromundt

D
      ie Schweiz verdankt einen Teil ihres wirtschaft-                 fall: Gerade in diesen Sektoren finden sich viele prekäre
      lichen Erfolgs einer vergleichsweise liberalen                   Arbeitsverhältnisse. Solche sind auch in Arbeitsformen
      Arbeitsgesetzgebung, die nur einen schwachen                     weitverbreitet, die über Online-Plattformen organisiert
Kündigungsschutz bietet und keine obligatorische                       werden (z.B. Reinigungs- oder Kurierarbeit). Diese wirt-
Krankentaggeldversicherung beinhaltet. Ausserdem                       schaften arbeitsrechtlich in einem Graubereich. Man
sind ganze Sektoren wie die Landwirtschaft oder Haus-                  kann also sagen: Prekäre Arbeitsverhältnisse werden
wirtschaft nicht dem Arbeitsgesetz unterstellt. Kein Zu-               oft gerade durch fehlende Regulierung begünstigt.

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Schwerpunkt

Arm trotz Erwerbsarbeit                                     Kommentar
Prekäre Arbeit bedeutet für die Betroffenen einen hohen
Grad an Unsicherheit und damit verbundene Zwänge.           Arbeit muss existenz-
Die Unsicherheit bezieht sich auf Arbeitszeiten (z.B.
auf Abruf zu arbeiten oder befristet angestellt zu sein),   sichernd sein
aber auch auf finanzielle Unsicherheit oder mangelhaf-
te Absicherung gewisser Risiken wie Arbeitslosigkeit,
Krankheit oder Altersarmut. Die Zahlen des Bundes           Die Corona-Krise hat deutlich ge-
weisen aus, dass sich prekäre Arbeit mehrheitlich in        macht, dass viele Menschen in der
den klassischen Tieflohnbranchen findet, beispielswei-      Schweiz in prekären Situationen
se im Gastgewerbe, in der Reinigung, aber auch in der       leben. Das trifft besonders auf Ar-
Dienstleistungsbranche und im Kunstbetrieb. Nicht           beitnehmende in Tieflohnstellen
alle Erwerbstätigen tragen ein gleich grosses Risiko        und ungeregelten Arbeitsverhält-
für prekäre Arbeit: Betroffen sind besonders häufig         nissen zu. Tieflohnbranchen wie
                                                            die Gastronomie, das Reinigungs-
                                                            gewerbe und der Detailhandel
                                                            sind infolge der Krise stark von
      Prekäre Arbeitsverhältnisse                           Kurzarbeit betroffen. 80 Prozent
      wirken sich auf viele andere                          Lohnersatz ist für die meisten An-
                                                            gestellten nicht existenzsichernd.
          Lebensbereiche aus.                               Kurzarbeit hat Entlassungen auch
                                                            nicht verhindert. Viele haben ihre
                                                            Einkommensquelle ganz verloren.
Frauen, jüngere Arbeitnehmende, Personen mit tiefem
Bildungsstand und Menschen ohne Schweizer Pass, vor         In Tieflohnbranchen sind befristete
allem solche mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Prekä-       Arbeitsverträge oder Arbeit auf Ab-
re Arbeitsverhältnisse wirken sich auf viele andere Le-     ruf im Stundenlohn weitverbreitet.
bensbereiche aus und erhöhen das Armutsrisiko.              Solche Arbeitsverhältnisse bieten
                                                            keinerlei Sicherheit. Das Gros der
Wenig Forschung                                             auf Abruf Angestellten hat kein
Stellt man jedoch Fragen zu prekärer Arbeit, so zeigt       garantiertes Minimum an Arbeits-
sich schnell, dass es hierzulande nur wenig Forschung       stunden und muss trotzdem jeder-
zum Thema gibt. Gemäss Zahlen des Bundes sind rund          zeit verfügbar sein. Braucht der
2,5 Prozent der Erwerbstätigen in prekären Arbeits-         Arbeitgeber sie nicht, bietet er sie
verhältnissen tätig. Diese Quote basiert allerdings auf     nicht auf. Kündigen muss er ihnen
einer sehr eng gefassten Definition von prekärer Ar-        nicht. Die Betroffenen haben ohne
beit, die einige Betroffenengruppen wie Sans-Papiers        Kündigung aber keinen Anspruch
und gewisse Arbeitsformen (z. B. gut bezahlte, aber         auf Arbeitslosengelder.
auf kurze Zeit befristete Arbeit) ausschliesst. Eine Er-
weiterung der Definition wäre wichtig, um das wahre         Die Caritas fordert, dass die Kurz-
Ausmass unsicherer Arbeit in der Schweiz zu erfassen        arbeitsentschädigung bei tiefen
und die Betroffenen besser zu schützen – und Armut          Einkommen 100 Prozent des Loh-
vorzubeugen.                                                nes entspricht. Zudem müssen Ar-
                                                            beitgebende verpflichtet werden,
Keine Absicherung in der Krise                              Arbeitsmodelle zur Verfügung zu
Die Corona-Krise hat uns einerseits vor Augen geführt,      stellen, die existenzsichernd sind.
wie stark wir als Gesellschaft von prekärer Arbeit ab-      Dazu muss insbesondere Arbeit
hängig sind. Andererseits wurde ersichtlich, wer be-        auf Abruf gesetzlich besser gere-
sonders schlecht vor Risiken geschützt ist. Deutlich        gelt werden. Und es braucht einen
wurde, wie das Schweizer System der arbeits- und so-        schweizweiten Mindestlohn.
zialversicherungsrechtlichen Sicherung, das sich stark
an einer unbefristeten Vollzeitstelle orientiert, an sei-
ne Grenzen stösst. Denn gerade für prekär Arbeitende        AlineMasé
steigt durch die Corona-Krise das Risiko für Verschul-      LeiterinFachstelleSozialpolitik
dung und Altersarmut.                                       CaritasSchweiz

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Persönlich

ChloéJahregehtindie Klasseundwohntin
BülachSiefindetesschöndassKinderanandere
MenschendenkenUndsichdarumkümmerndass
dieseauchinschwerenZeitenFreudehaben
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Persönlich

«Wann hast du zum letzten Mal jemandem
geholfen? Wobei?»
Bei allem Unbill, den das Coronavirus und die Massnahmen zum Schutz der Bevölke-
rung für Betroffene bedeutet: In der Krise gab und gibt es viel Solidarität. Mit kleinen
und grossen Gesten der Solidarität wird der Alltag für viele leichter. Oft braucht es
nicht viel, um Erleichterung zu verschaffen und Freude zu bereiten.

                    Ismail Mahmoud, Student,                                   Ingrid Breuss, Sekretärin,
                    Basel                                                      Freidorf
                    Kürzlich bei einer Schnitzeljagd                           Vor Kurzem hielt vor unserem
                    rannte ich auf der Suche nach dem                          Haus ein Auto. Die Lenkerin stieg
                    nächsten Posten durch den Bahn-                            aus. Ich vermutete, dass sie eine
                    hof Basel. Plötzlich sah ich, wie                          Autopanne hatte. Im Wagen sas-
eine Frau beim Einsteigen in einen Zug ausrutschte          sen eine ältere Frau und ein kleines Kind. Ich ging
und zu Boden fiel. Ich half ihr auf, unterhielt mich kurz   hin und fragte, ob ich helfen könne. Das verneinte
mit ihr, holte ihren Koffer unter der Eisenbahn hervor      die Fahrerin. Da es sehr heiss war, brachte ich ihnen
und begleitete sie in den Zug hinein. Danach schnapp-       etwas zu trinken und führte sie zu einem schattigen
te ich mir den dritten Rang bei der Schnitzeljagd.          Platz, wo sie auf den Pannendienst warten konnten.

                    Patrick Lang, Tramführer,                                  Lena Rodriguez, Schülerin,
                    Zürich                                                     Luzern
                    Eine Bekannte musste zwei defek-                           Wir gestalten im Handarbeitsun-
                    te Tagesdecken ersetzen. Da sie                            terricht gerade ein Kissen. Gestern
                    zur Covid-19-Risikogruppe gehört,                          habe ich einer Klassenkameradin
                    zögerte sie, in ein grosses Geschäft                       beim Bedrucken geholfen. Sonst
zu fahren, um neue Decken zu kaufen. Im Alltag geht         wäre sie nicht rechtzeitig fertig geworden und hätte
sie in ein lokales Geschäft einkaufen, bei dem sie          nachsitzen müssen. Dank meiner Hilfe konnten wir
weiss, wann es wenig Leute hat. Als sie mir dies er-        beide die Arbeit zum Schluss der Stunde abschlies-
zählte, bot ich ihr spontan an, die Decken für sie zu       sen. Ich finde es wichtig, dass wir in der Schule zu-
besorgen. Das war eine grosse Erleichterung für sie.        sammenhalten und uns gegenseitig unterstützen.

                     Seraina Brem, Praktikantin,                              Sophie Rutishauser,
                     Berikon                                                  Schülerin, Münsingen
                     Zuletzt geholfen habe ich in den                         Im Flussbad «Schwäbis» habe ich
                     Sommerferien. Als Leiterin war ich                       letzthin ein paar Kindern einen
                     zwei Wochen in einem Lager für                           Pneuschlauch gegeben. Eigent-
                     Kinder und Jugendliche. Dort fallen                      lich wollte ich ihn selbst benutzen.
verschiedene Aufgaben an: Kinder wecken, Programme          Doch ich merkte, dass die Kinder ebenso gerne auf
durch den Tag leiten, Rucksäcke packen, Lagertagebuch       ihm den Fluss hinuntertreiben wollten. Ich bin ihnen
schreiben und vieles mehr. Jedes Jahr freue ich mich auf    dann mitsamt dem Pneu flussaufwärts entgegenge-
das Lager, da es für mich schon als Kind immer ein tolles   schwommen, um ihn zu übergeben. Sie freuten sich
Erlebnis war. Nun konnte ich selbst im Team mitwirken.      sehr über das «Geschenk».

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Caritas Thurgau

GeKo: Gemeinsam kochen und mit­
einander essen – ein Projekt gegen
die Einsamkeit
Armut macht einsam. Deshalb lädt die Caritas Thurgau alle zwei Wochen Armutsbetroffene zum
gemeinsamen Kochen und Essen ein. Im 2019 lancierten Projekt «GeKo» geht es um Gemeinschaft,
Austausch und die Möglichkeit, neue Bekanntschaften zu schliessen.
Text und Bilder: Janine List

                                                      S
                                                             eit Erika Zumofen mit Armut zu kämp-
                                                             fen hat, haben sich viele ihrer alten
                                                             Freunde und Bekannten von ihr ab-
                                                       gewandt. Armut ist eine Realität, und, das
                                                       musste sie selbst erfahren, leider immer
                                                       noch ein grosses Tabu in unserem Land. Man
                                                       wolle es nicht wahrhaben und spreche nicht
                                                       darüber. Wenn sie erwähne, dass sie mit ge-
                                                       rade mal 300 Franken im Monat durchkom-
                                                       men müsse, werde sie oft schief angeschaut.
                                                       Umso mehr schätzt sie die Möglichkeit, sich
                                                       mit Menschen zu treffen und auszutauschen,
                                                       die in einer ähnlichen Situation sind. «Hier
                                                       beim GeKo begegnen wir uns auf Augen-
                                                       höhe, ich muss mich nicht verstellen und
                                                       werde respektiert. Wir können offen über
                                                       unsere Probleme sprechen und nachfühlen,
                                                       wie es dem Gegenüber geht. Wenn ich am
                                                       GeKo bin,  kann ich abschalten, ich komme
                                                       aus meinen vier Wänden heraus und fühle
                                                       mich nicht mehr so allein.» Die entspannte
                                                       Atmosphäre wird von den Gästen sehr ge-
                                                       schätzt. Sie geniessen es, sich einfach ein-
                                                       mal hinsetzen zu dürfen und nichts machen
                                                       zu müssen. «Ich fühle mich am GeKo sehr
                                                       wohl und muss mich nicht verstecken. Und
                                                       natürlich freue ich mich auch über das feine
                                                       Essen», schmunzelt Erika Zumofen. «Für
                                                       andere mag das vielleicht normal sein, aber
                                                       ich muss bei jedem Einkauf genau rechnen
                                                       und das Essen gut planen, damit das Geld
                                                       den ganzen Monat reicht.»

                                                       Armut macht einsam
                                                       Wer von Armut betroffen ist, geht weniger
                                                       unter Leute und schon gar nicht ins Restau-
                                                       rant. Solche Ausgaben liegen einfach nicht

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Caritas Thurgau

                                                                 Kopftuch revidiert werden. Zudem will ich ein Vorbild
                                                                 sein für meine Tochter und ihr schon früh Einblicke in
                                                                 andere Lebenssituationen ermöglichen. Taten bedeu-
                                                                 ten für mich viel mehr als Worte. Und was nicht ganz
                                                                 unwichtig ist, ich koche und esse natürlich sehr gern!»

                                                                 Gemeinsam gegen die Einsamkeit
                                                                 Üblicherweise trifft sich bereits um 10 Uhr eine Grup-
                                                                 pe von zwei bis vier Personen, um gemeinsam mit dem
                                                                 oder der Freiwilligen das Menü vorzubereiten. Da wird
                                                                 geschnipselt, gerührt, gewürzt und auch viel gelacht
                                                                 und erzählt. Aufgrund der Corona-Situation muss der-
                                                                 zeit auf das gemeinsame Kochen verzichtet werden,
                                                                 was alle sehr bedauern. Bis die Gäste wieder mithelfen
Taten bedeuten für Zahra mehr als Worte, deshalb engagiert sie   dürfen, bereiten eine oder zwei Freiwillige das Essen
sich für Armutsbetroffene.                                       zu. Um 12 Uhr stossen dann die Gäste des Mittags­
                                                                 tisches dazu; schon beim Eingang beginnt das grosse
drin, wenn man jeden Franken zweimal umdrehen                    Hallo. Alle freuen sich, wieder einmal dabei zu sein
muss. Aus diesem Grund hat die Caritas Thurgau das               und geniessen das feine Menü, das jedes Mal wech-
Projekt «GeKo» lanciert, das genau diesem Problem                selt. Nach dem Essen wird das Dessert serviert, wer
entgegenwirken soll. Alle zwei Wochen treffen sich               mag trinkt noch einen Kaffee. Miteinander werden die
zwischen fünf und fünfzehn Menschen, die mit einem               Tische abgeräumt und die Küche in Ordnung gebracht.
knappen Budget über die Runden kommen müssen.                    Oft bleiben die Leute danach noch lange sitzen.
Für sie ist es schon eine Herausforderung, sich ge-
sund und ausgewogen zu ernähren. Da ist das feine
und erst noch kostenlose Mittagessen in gemütlicher
Runde sehr willkommen. Die Kosten für die Mahlzeit
trägt die Caritas Thurgau, die Menüplanung und das
Kochen übernimmt jeweils ein freiwilliger Helfer oder
eine freiwillige Helferin.

Taten zählen mehr als Worte und Religion
Zahra Al Maliki arbeitet in einem 80-Prozent-Job als
Immobilienbewirtschafterin und ist seit Beginn des
GeKo im Team. Wenn sie an ihrem freien Tag für den
Mittagstisch arbeitet, ist ihre vierjährige Tochter im-
mer dabei und hilft tatkräftig mit. «Ich habe schon lan-
ge nach einer Möglichkeit gesucht, mich für Armuts-
betroffene zu engagieren. Es berührt mich, dass auch
in der Schweiz viele arme Menschen leben. Es ist eine
andere Armut, als man sie vom Ausland kennt. Hier                Am GeKo kann Erika abschalten und geniessen.
verhungert niemand, deshalb ist die Armut weniger
offensichtlich.» Sie hat sich bei der Caritas gemeldet,
weil sie gerne sozial aktiv ist und in diesem Rahmen
selbst etwas bewirken kann. «Ich lerne gerne neue Leu-
te kennen. Menschen, die nicht viel Geld zur Verfügung
haben, ziehen sich oft zurück und sind einsam. Ich
geniesse es, mich mit ihnen zu unterhalten und freue
mich, wenn sie mir einen Einblick in ihr Leben geben.

Wichtig war für Zahra Al Maliki, dass ihr freiwilli-
ges Engagement nicht an eine Religion gebunden ist.
«Ich selbst trage ein Kopftuch. Durch meinen Einsatz
möchte ich auch etwas dazu beitragen, dass die leider
noch immer verbreiteten Vorurteile über eine Frau mit            Auch ein feines Dessert darf nicht fehlen.

Nachbarn 2 / 20                                                                                                              15
Caritas Graubünden

Die Regionalisierung ist
eine Herausforderung
Wie kommt die Caritas mit ihren Angeboten zu den Menschen in den Tälern des flächen­
mässig grössten Kantons der Schweiz? Diese Frage stellen sich die Verantwort­lichen
schon seit geraumer Zeit. Die richtige Antwort zu finden, ist eine Herausforderung.
Text: Susanna Heckendorn Bilder: Elia Manuel Eberle, Graubünden Ferien

Die Grösse und die Geografie des Kantons sind eine Herausforderung für die Caritas Graubünden.

I
  n Chur ist die Caritas sehr gut vertreten. Wer eine               und zahlreichen Integrationsarbeitsplätzen bietet die
  Caritas-Markt-Karte oder eine KulturLegi besitzt,                 Caritas entsprechend ihrem Leitbild ein breites Un-
  kann im Caritas-Markt Lebensmittel und Güter des                  terstützungsangebot für Menschen, die nicht auf der
täglichen Bedarfs zu Tiefstpreisen einkaufen. Im Se-                Sonnenseite des Lebens stehen.
condhand-Laden im Caritas Center gibt es eine grosse
Auswahl an schönen und günstigen Kleidern für die                   Zu wenig bekannt
ganze Familie, und im «Ramsch & Raritäten» findet                   Derzeit ist die Caritas Graubünden nur in Chur prä-
man auch Praktisches für den Haushalt. Die beiden                   sent. Genutzt werden die Angebote daher grösstenteils
Cafés – im Markt das Café Georgina, im Center das                   von Churerinnen und Churern und Personen aus dem
Café Gleis C – werden sehr geschätzt und bieten Men-                Einzugsgebiet.  Einzig in Poschiavo gibt es noch einen
schen mit knappem Budget die Möglichkeit, einmal                    Caritas-Markt-Satelliten, der von einer Freiwilligen
auswärts einen Kaffee oder Tee zu trinken. Mit einer                betreut wird und an zwei Nachmittagen geöffnet hat.
Spielgruppe für Familien mit niedrigem Einkommen,                   Im übrigen Kanton gibt es keine von der Caritas betrie-
dem Deutschkurs «Together», einem Schreibdienst                     bene Infrastrukturen.

16                                                                                                           Nachbarn 2 / 20
Caritas Graubünden

Wie und wo immer sich die Caritas engagieren will, ist               ten wir das Wissen über die Caritas und ihre Angebote
sie auf das Wohlwollen und die Zusammenarbeit mit                    bei möglichen Partnern in den Regionen verbreiten.
verschiedenen Akteuren wie Pfarreien, Kirchgemein-                   Wir hoffen, dass wir damit den Weg für eine fruchtbare
den und Sozialämter angewiesen. Bei der Evaluation                   Zusammenarbeit ebnen konnten.»
der Möglichkeiten für eine geografische Ausbreitung
hat sich jedoch gezeigt, dass die Angebote und Leis-                 Menschen in Not erreichen
tungen der Caritas vielerorts kaum bekannt sind. Dies                Mit seinen 160 Tälern in 11 Regionen, 3 Amtssprachen,
zu ändern, braucht Netzwerkarbeit, Sensibilität für die              3 Kulturen und der dünnen Besiedlung stellt der Kan-
unterschiedlichen Kulturen, Sprachkenntnisse und                     ton Graubünden die Caritas vor ganz besondere Her-
vor allem viel Geduld. In einem ersten Schritt werden                ausforderungen. Um den Aufbau einer Infrastruktur
nun Pfarreien, Kirchgemeinden und Hilfsorganisati-                   mit den nötigen Angeboten zu rechtfertigen, braucht
onen im ganzen Kanton angeschrieben mit der Bitte,                   es eine minimale Anzahl Klientinnen und Klienten
die Angebote der Caritas in ihrem Umfeld und in der                  aus einem entsprechend grossen Einzugsgebiet. Wie
breiten Bevölkerung bekanntzumachen.                                 aber kommen die Menschen zur Caritas? Gerade für
                                                                     Armutsbetroffene sind Mobilitätskosten ein grosses
Corona-Krise als Chance                                              Problem. Die wenigsten haben ein eigenes Auto. Und
Da verschiedene Hilfsorganisationen ihre Aktivitäten                 wenn das Geld kaum für das Notwendigste reicht, liegt
während des Corona-Lockdowns teilweise reduzieren                    auch ein Bus- oder Zugbillett nicht drin.
oder ganz einstellen mussten, nutzte Caritas Grau-                   «An Ideen fehlt es uns nicht», bekräftigt Alessandro Della
bünden die Chance und sprang ein. So wurden An-                      Vedova. «Es gibt bereits ein Konzept für mögliche Satelli-
fang April 350 Kilogramm Lebensmittel und Kleider                    ten-Märkte in den Talschaften, die betroffenen Menschen
ins Oberengadin geliefert. Der regionale Sozialdienst                günstige Einkaufsmöglichkeiten bieten und gleichzeitig
Oberengadin-Bergell verteilte diese unter den Bedürf-                auf die weiteren Hilfsangebote der Caritas aufmerksam
tigen der Täler.                                                     machen sollen.» Die umfangreichen Abklärungen über
                                                                     den effektiven Bedarf, mögliche Kooperationen, Standor-
Die Zusammenarbeit mit verschiedenen Sozialämtern                    te und die Betriebsform brauchen jedoch Zeit. Und natür-
und Pfarreien während der akuten Phase der Corona-                   lich die entsprechenden finanziellen Mittel.
Krise sieht Alessandro Della Vedova, Geschäftsleiter                 Mit einer verstärkten Präsenz in den Talschaften will
der Caritas Graubünden, denn auch als Chance. «In                    Caritas Graubünden als Hilfswerk für den ganzen
vielen Gesprächen, die ich auf politischer Ebene führen              Kanton wahrgenommen werden, und es sollen mehr
konnte, wie auch im Kontakt der Caritas-Mitarbeiten-                 armutsbetroffene Menschen Zugang zu den Hilfsan-
den mit den verschiedenen Ansprechpartnern, konn-                    geboten erhalten.

Angebote wie der Caritas-Markt sollen in möglichst vielen Regionen   Im Secondhand-Laden einkaufen zu können, entlastet das Budget.
zugänglich sein.

Nachbarn 2 / 20                                                                                                                   17
Caritas St. Gallen-Appenzell

Das CafiTass ist ein Ort der Begegnung.

Der Kampf gegen die Armut ist auch
ein Kampf gegen die Einsamkeit
Im Caritas-Markt in Wil gibt es neu auch ein Begegnungscafé, das CafiTass. Hier kann
sich auch jemand einen Kaffee leisten, der mit einem sehr knappen Budget leben muss.
Das CafiTass schafft Kontaktmöglichkeiten, hier sollen Austausch und Begegnung statt­
finden.
Text: Susanna Heckendorn Bilder: Peter Dotzauer

A
       uch wer sein ganzes Leben lang hart gearbeitet     Kontakt zu ihren Kindern und Enkelkindern. Dass sie
       hat, kann von Armut betroffen werden. So wie       im Caritas-Markt einkaufen kann, ist für Heidi B. eine
       Heidi B., 72. Sie muss jeden Franken zweimal       grosse Erleichterung. Sie schätzt die günstigen Preise
umdrehen, ein unbeschwertes Dasein kennt sie nicht.       und die zentrale Lage. Und obwohl sie sehr zurückge-
Mit sieben Geschwistern wuchs sie auf einem Bauern-       zogen lebt, hat sie sich im CafiTass schon einmal einen
hof auf, ihre Mutter war psychisch krank. Sie selbst      Kaffee gegönnt.
wurde schon während ihrer Schulzeit schwermütig.
Weil sie dem Schulstoff nicht folgen konnte, blieb ihr    Endlich am Ziel
eine Lehre verwehrt. So arbeitete sie als Putz- und Kü-   Als der Caritas-Markt in Wil vor ein paar Jahren eröff-
chenhilfe in Restaurants, im Sommer half sie zu Hause     net wurde, sprachen die katholische und die reformier-
auf dem Hof. Als sie ungewollt schwanger wurde, hei-      te Kirchgemeinde eine Defizitgarantie, in der Annah-
ratete sie. Erst nach 40 schwierigen Ehejahren fand sie   me, dass der Markt nach einiger Zeit selbsttragend sein
die Kraft, sich von ihrem alkoholabhängigen Mann zu       würde. Bald zeigte sich, dass dies nicht möglich ist. Die
trennen. Heute lebt sie alleine und freut sich über den   Situation war schwierig – der ehemalige Standort er-

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Caritas St. Gallen-Appenzell

                                                                     Unterstützung in der Öffentlichkeit
                                                                     Den Mitwirkenden in der Arbeitsgruppe war bewusst,
                                                                     dass der Caritas-Markt und das Begegnungscafé breit
                                                                     abgestützt sein müssen, um den Betrieb und die Finan-
                                                                     zierung langfristig sicherzustellen. Die Bildung eines
                                                                     Matronats-/Patronatskomitees, mit Persönlichkeiten
                                                                     aus Kirche, Politik, Wirtschaft und Kultur, die sich
                                                                     zum Thema Armut engagieren, war dazu ein wichtiger
                                                                     Schritt. «Ich konnte es kaum fassen. Alle Personen, die
                                                                     wir für eine ehrenamtliche Mitarbeit im Komitee an-
                                                                     fragten, haben spontan zugesagt», freut sich Dolores
                                                                     Waser Balmer, Bereichsleiterin Diakonieanimation der
                                                                     Caritas St. Gallen-Appenzell. «Diese Personen sind Bot-
                                                                     schafterinnen und Botschafter, die die Caritas unter-
                                                                     stützen und das Thema Armut und Armutsbekämpfung
                                                                     aktiv in die Öffentlichkeit tragen.»
Heidi B. schätzt die günstigen Preise und die zentrale Lage.
                                                                     Für Menschen wie Fabienne, 20
                                                                     Nach einer Kindheit mit zerstrittenen Eltern und ei-
                                                                     nem gewalttätigen Stiefvater zog Fabienne mit 17 von
wies sich als nicht ideal, die Finanzierung und damit                zu Hause aus. Eine schwere chronische Krankheit
die Weiterführung des Marktes waren infrage gestellt.                zwang sie dazu, ihre Lehre abzubrechen. Auch psy-
Dennoch waren sich alle Involvierten einig, dass es in               chisch ging es ihr schlecht, sie war davon überzeugt,
Wil unbedingt einen Caritas-Markt braucht, idealer-                  niemandem gerecht zu werden. Nach einem kurzen
weise mit einem Begegnungscafé. Eine Arbeitsgruppe,                  Aufenthalt in einer Klinik wurde sie obdachlos.
in der die Stadt Wil, die katholische Kirchgemeinde, die             Das Blatt wendete sich, als sie von der Polizei aufge-
evangelische Kirchgemeinde und die Caritas St. Gallen-               griffen wurde. Sie geriet an einen Polizisten, der dafür
Appenzell vertreten waren, erarbeitete ein Konzept, das              sorgte, dass sie sich bei der Gemeinde anmeldete und ei-
von allen involvierten Stellen gutgeheissen wurde.                   nen Termin beim Sozialamt bekam. «Seither geht es in
Mit grossem Engagement wurde die neue Lokalität um-                  kleinen Schritten aufwärts», freut sie sich. Ihr Betreuer
gebaut und dank grosszügigen Spenden, ganz beson-                    bei der Arbeitsintegration half ihr, eine Lehrstelle zu
ders vom Lions Club Wil, konnte das Begegnungscafé                   finden, und im August konnte sie in ihrem Traumberuf
CafiTass samt Spielecke eingerichtet werden. Kaum er-                eine Lehre beginnen. Fabienne lebt allein, mit ihrem
öffnet, musste das CafiTass bereits wieder schliessen.               Lehrlingslohn und der Sozialhilfe muss sie äusserst
Die Corona-Krise machte auch vor dem Begegnungsca-                   haushälterisch umgehen. «Zum Glück kann ich im Ca-
fé nicht halt. Inzwischen ist das Café – mit dem erfor-              ritas-Markt einkaufen. Vor allem das grosse Angebot an
derlichen Sicherheitsabstand – wieder geöffnet.                      frischen Früchten und Gemüsen finde ich toll.»

Briane O. und seine Frau kaufen regel­mässig im Caritas-Markt ein.   Es braucht viele fleissige Hände – ohne Freiwillige geht es nicht.

Nachbarn 2 / 20                                                                                                                           19
Caritas St. Gallen-Appenzell

                                                                    Zeit wurden die Aufgaben jedoch so umfangreich, dass
                                                                    jemand dafür angestellt werden musste.» Nun arbeitet
                                                                    Cécile Heuberger seit vielen Jahren zweimal im Monat
                                                                    im Caritas-Markt Wil. Daneben betreut sie ihre Enkel-
                                                                    kinder und engagiert sich als Freiwillige in der Psych­
                                                                    iatrischen Klinik Wil, wo sie Patienten begleitet.

                                                                    Begegnungen möglich machen
                                                                    Seit der Eröffnung 2012 leitet Rita Borner den Caritas-
                                                                    Markt in Wil. Sie weiss um die Not ihrer Kundinnen
                                                                    und Kunden, die nicht nur mit Armut, sondern oft auch
                                                                    mit Ausgrenzung und Einsamkeit zu kämpfen haben.
                                                                    «Das CafiTass ist ein Ort der Begegnung, wo sich die
                                                                    Menschen respektiert und angenommen fühlen. Zu-
Rita Borner, Marktleiterin (links), und Carla Zappa, Projekt-       dem können wir in diesem Umfeld niederschwellig auf
leiterin Begegnungscafés, lieben ihre vielfältige Arbeit.           Hilfs- und Unterstützungsangebote aufmerksam ma-
                                                                    chen.»

                                                                    Auch das CafiTass lebt vom Einsatz der Freiwilligen.
Freiwillig im Einsatz                                               Eine von ihnen ist Trudi Schneider, 76. In einer Gross-
Die Caritas-Märkte in St. Gallen und Wil werden gröss-              familie mit neun Geschwistern aufgewachsen, lernte
tenteils von Freiwilligen betrieben, einzig die beiden              sie schon früh mit anzupacken. Als ihre Kinder grösser
Ladenleiterinnen und ihre Stellvertreterin sind fest
angestellt. Die meisten Freiwilligen sind im Pensions-
alter und gehören deshalb zur Risikogruppe; in der Co-
rona-Krise eine ganz besondere Herausforderung. Wie
                                                                            Im CafiTass fühlen sich
diese gemeistert wurde, steht im Beitrag auf Seite 22.                   die Menschen angenommen
Inzwischen läuft der Betrieb wieder in gewohnten Bah-
nen, und fast alle Freiwilligen sind wieder im Einsatz.
                                                                               und respektiert.

Was bewegt jemanden dazu, regelmässig im Caritas-
Markt zu arbeiten? Für Cécile Heuberger, 75, ist Frei-              wurden, übernahmen sie und ihr Mann während vie-
willigenarbeit eine Selbstverständlichkeit. «13 Jahre               ler Jahre Fronarbeiten in der Zwinglipasshütte. «Aus
lang organisierte ich für eine christliche Organisation             gesundheitlichen Gründen ist das meinem Mann nicht
den Transport von Hilfsgütern nach Russland, Rumä-                  mehr möglich. Ich bin froh, dass ich jede Woche einen
nien und in die Ukraine. Ich war verantwortlich für die             halben Tag lang im CafiTass im Einsatz bin, und so
Einsatzplanung der rund 30 Freiwilligen. Im Laufe der               noch etwas tun kann, das mir viel Freude macht.»

     Barbara Gysi – Matronatskomitee
     Nach dem Einkauf noch einen Tee oder Kaffee trinken,
     sich mit anderen Gästen austauschen und Informationen
     bekommen – im CafiTass ist alles möglich. Als ehemalige
     Sozialvorsteherin von Wil kenne ich die Situation von Ar-
     mutsbetroffenen in unserer Stadt. Ich bin deshalb glücklich,
     dass dieser Treffpunkt nun möglich geworden ist. Hier spürt
     man viel Herzlichkeit, Solidarität und Menschlichkeit – eine
     Wohltat im schwierigen Alltag. Daher unterstütze ich das
     Projekt CafiTass sehr gerne durch mein Engagement im
     Matronatskomitee.

     Barbara Gysi, Nationalrätin SP

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Caritas St. Gallen-Appenzell

Eine Million Sterne – zum fünften
Mal am Weihnachtsmarkt in Wil
Es ist ein überwältigender Anblick, wenn auf der Oberen Bahnhofstrasse in
Wil Hunderte Kerzen brennen. Dafür sorgen Andreas Stemer und seine vielen
Helferinnen und Helfer mit den Wunschkerzen für «Eine Million Sterne».

Text: Susanna Heckendorn Bild: Andreas Stemer

Am diesjährigen Weihnachtsmarkt – so er denn statt-
finden kann – stehen zum fünften Mal zwei Stände der
Caritas. An einem werden die Wunschkerzen verkauft,
am anderen gibt es Glühwein und Selbstgemachtes
vom Caritas-Markt. Möglich machen das Andreas Ste-
mer und viele Freiwillige.

Es gibt viel zu tun
Die Arbeit beginnt schon lange vor der Weihnachtszeit.
Bewilligungen müssen eingeholt, Plakate ausgehängt,
Flyer gedruckt und verteilt werden. Viele Hundert Glä-
ser müssen jedes Jahr neu mit Banderolen und Kerzen
bestückt werden.
Zu seinem Einsatz kam Andreas Stemer über seine
Ehefrau, Lydia Stemer, die in der Diakonie der Kirch-
gemeinde Wil arbeitete. Die Stemers sind eine Familie,
die anpackt, wenn etwas zu tun ist. Beim ersten Mal
wurden die Kinder eingespannt, die Kolleginnen und
Kollegen zum Helfen mitbrachten. Arbeitskollegen         Ein Teil der Million Sterne leuchtet auch in Wil.
meldeten sich, als sie vom Projekt hörten, und auch
Mitglieder der Kirchgemeinde wollten helfen. Inzwi-
schen kann Andreas Stemer auf erfahrene Unterstüt-       Ein bereicherndes Engagement
zung zählen, wenn er jeweils im Herbst seine Anfrage     Den Austausch mit den Menschen am Stand empfindet
per Mail verschickt.                                     Andreas Stemer als überaus bereichernd. «Man kann
«Ohne die vielen Sponsoren könnten wir den Anlass        den Leuten die Aufgaben der Caritas erklären und auf-
nicht auf die Beine stellen», sagt Andreas Stemer. «Ob   zeigen, wie wichtig und wirkungsvoll die lokale Arbeit
Verpflegung, Dankespräsente oder Inserate, alles wird    ist.» Letztes Jahr kam Raphael Troxler, Pfarrer in Wil,
grosszügig zur Verfügung gestellt.»                      auf ein Glas Glühwein vorbei, was von allen als grosse
                                                         Wertschätzung empfunden wurde. Andreas Stemers
Wissen, wofür das Geld eingesetzt wird                   grosser Wunsch ist ein Besuch des Bischofs. «Wenn
Es sei wichtig, weiss Andreas Stemer, den Spenderin-     Bischof Markus Büchel am Stand vorbeikäme und sich
nen und Spendern aufzeigen zu können, wofür ihr Geld     Zeit nehmen würde, um mit den Leuten zu reden, das
eingesetzt werde. «Es gibt immer wieder Personen mit     wäre ein wahnsinniger Publikumsmagnet!»
einer vorgefassten Meinung, die nicht verstehen kön-     Obwohl er seinen Arbeitsplatz im April von Gossau
nen oder wollen, dass es in der Schweiz armutsbetrof-    nach Zürich verlegt hat, ist es für Andreas Stemer kei-
fene Menschen gibt. Es ist viel gewonnen, wenn wir       ne Frage, auch in diesem Jahr wieder dafür zu sorgen,
ihnen erklären können, wofür das im Vorjahr einge-       dass in Wil viele Hundert Kerzen ein Teil sind von ei-
nommene Geld eingesetzt wurde.»                          ner Million Sterne.

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Ichwillhelfen

JungeFreiwilligeverhindern
dieSchliessungderCaritas-Märkte
Ein einziger Aufruf genügte: Dank dem spontanen Einsatz von vielen jungen
Freiwilligen konnten die Caritas-Märkte in St. Gallen und Wil auch während
des Lockdowns geöffnet bleiben.
TextSusannaHeckendornBildGregorScherzinger

W
          er holt das Brot bei den
          Bäckereien in der Um-
          gebung, kontrolliert die
Waren, füllt Gestelle auf und steht
an der Kasse, wenn die Freiwilli-
gen von einem Tag auf den andern
zu Hause bleiben müssen, weil sie
aufgrund ihres Alters zur Risiko-
gruppe gehören? «Uns war klar,
dass der Lockdown unsere Kundin-
nen und Kunden besonders hart
treffen würde», erinnert sich Phi-
lipp Holderegger, Geschäftsleiter
der Caritas St. Gallen-Appenzell.
«Es stand deshalb ausser Frage,
die Caritas-Märkte zu schliessen.
Aber wer, das war die grosse He-              ZahlreichejungeFreiwilligehieltendenCaritas-MarktwährendderCorona-KriseamLaufen
rausforderung, sollte die Läden
betreiben?» Mit einem Aufruf auf
Facebook fanden sich innert weni-             in die Hand drücken durfte, was                schenkt.» Desirée wollte sich so-
ger Tage viele junge Freiwillige, die,        nicht gestattet ist, fiel ihm sehr             lidarisch zeigen und war beein-
anstatt im Lockdown zu Hause he-              schwer.                                        druckt, wie viele Menschen mit
rumzusitzen, etwas Sinnvolles tun                                                            sehr wenig zufrieden sind. «Es war
wollten.                                      Jael Dahinden und Desirée Stuck                schön, die grosse Dankbarkeit der
                                              studieren beide Soziale Arbeit.                Kundschaft zu spüren und mit den
Für Verena Keller, die sonst als              Die Mutter von Jael arbeitet jeden             Freiwilligen Solidarität zu leben.»
Hotelfachfrau arbeitet, war es eine           Mittwoch im Caritas-Markt und
völlig neue Erfahrung, dass jemand            gehört zur Risikogruppe. Spon-                 Sich zu engagieren und miteinan-
so froh ist, sie dabei zu haben und           tan entschied sich Jael, ihre Stell-           der etwas zu bewirken, so die ein-
ihr das auch zeigt. «Diese unerwar-           vertretung zu übernehmen. «Die                 hellige Meinung der temporären
tete Wertschätzung war enorm mo-              Arbeit im Caritas-Markt hat mir                Freiwilligen, ist eine tolle Erfah-
tivierend.» Ein paar ernüchternde             viele wertvolle Begegnungen ge-                rung, die sie nicht missen möchten.
Erkenntnisse gewann Fabian Bal-
mer. Nie hätte er gedacht, dass es
                                                 WOLLENSIESICHAUCHFREIWILLIGENGAGIEREN?
so viele armutsbetroffene Schwei-
zerinnen und Schweizer gibt. «Es                 AlsFreiwilligeoderFreiwilligerlernenSieMenschenmitanderenPerspektiven
war sehr hart mitzuerleben, wie                  kennen Sie helfen im Alltag und machen Integration möglich Sie können Ihr
jemand etwas zurücklegen muss,                   Wissen weitergeben und Neues dazulernen Die Freiwilligenangebote unter-
weil ihm an der Kasse 40 Rappen                  scheidensichvonRegionzuRegionBieinformierenSiesichaufderWebsite
fehlen.» Dass er der Person nicht                derCaritas-OrganisationinIhrerRegion
einfach zwei Zwanzigrappenstücke

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Kolumne

            DaswunderlicheGefühl
            derGemeinscha
            TextChristophSimonIllustrationCorinneBromundt

      U
                  nsichere Zeiten haben auch ihre reizvollen Sei-         Fensterscheiben. Ich hätte vom Specksteinschmirgeln
                  ten. Es lebe die Improvisation! Fahren wir die          was an der Schulter und so. War ein lieber Kerl, der Stu-
                  Tage freihändig und gegen den Wind! Winnetou            dent. Vermutlich studiert er jetzt wohl wieder sinnlos
            hat schliesslich auch keinen Sattel gebraucht! Wenn           und vermisst die Zeit, wo er einem Menschen in Not
            uns der Frühling 2020 etwas gelehrt hat, dann dies:           beistehen konnte.
            Wie man das Beste draus macht.
                                                                          Und dann die Erleichterung, als (fast) alles wieder
            Kommende Generationen werden von unseren Er-                  aufging! Die alten Paare sind ohne Streit zusammen
            fahrungen profitieren, denn in der Beschränkung auf           Gartenstühle einkaufen gegangen. Die Affen im Zoo
            Heim und Zoom sind wir keine Amateure. Im Lock-               konnten wieder Menschen beobachten. Das Autokino
            down haben wir den Leis-                                                              wurde wiedererfunden: Die
            tungsdruck auf 110 Prozent                                                            Leute reisten mit dem Zug
            runtergefahren, den Lohn                                                              an und nahmen am Bahnhof
            auf 80 Prozent gesenkt und                                                            ein Mobility, um dabei sein
            den Alkohol auf 40 Prozent                                                            zu können.
            hochgefahren. Wir haben vie-
            le neue Fähigkeiten erlernt:                                                            Eines Morgens werden wir
            Wie man in der Badewanne                                                                aufwachen und feststellen,
            mit einem Didgeridoo das                                                                dass es Masken und Ab-
            Jacuzzi-Feeling herbei bläst.                                                           standsregeln nicht mehr
            Meine Kulturkollegen hau-                                                               braucht. Für die einen werden
            ten Podcasts raus und Insta-                                                            die letzten Monate nur noch
            gram-Livesessions, sie twit-                                                            eine Erinnerung sein, ein fer-
            terten Romane und erfanden                                                              ner Klang. Für andere wer-
            alle möglichen digitalen For-                                                           den die Folgen der Krise zur
            mate, alles vom Liegestuhl                                                              Dauerkrise. Manche werden
            aus, in der Frühlingssonne                                                              behaupten, dass dies alles gar
            auf dem Balkon. Ich schmir-                                                             nie stattgefunden hat. Und
            gelte Speckstein (was gut für                                                           nur eine Minderheit wird sich
            die Seele sei) und liess mir                                                            an dieses Gefühl erinnern,
            von einem Studenten die Lebensmittel bringen. Ich sei         dieses wunderliche und erhebende Gefühl der Gemein-
            Risikogruppe und so. Der Student putzte sogar meine           schaft, das uns für kurze Zeit geeint und getragen hat.

                                ChristophSimon* lebtalsfreier
                                SchristellerundKabareistinBern
Bildzvg

            Nachbarn 2 / 20                                                                                                     23
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