Nachbarn - Solidarität in unsicheren Zeiten - Caritas Thurgau
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St. Gallen-Appenzell – Thurgau – Graubünden Nr. 2 / 2020 Nachbarn Solidaritätin unsicherenZeiten DieCorona-KrisetrifftauchMenschen diebislangaufdersicherenSeitelebten Wirallesindgefordert
Inhalt Inhalt 3 Editorial Kurz & bündig 4 News aus dem Caritas-Netz Schwerpunkt 6 Solidarität in unsicheren Zeiten BildZoeTempest Schwerpunkt 10 Prekäre Arbeit: Leben mit der Unsicherheit JacquelineKüntiistselbstständigeWochenbebegleiterin Persönlich ImLockdownkonntesieihrerArbeitnichtmehrnachgehen 12 «Wann hast du zum letzten Mal undgerietwiesovieleinfinanzielleSchwierigkeiten jemandem geholfen? Wobei?» Sechs Antworten von Passantinnen und Passanten Schwerpunkt Caritas Thurgau Solidarität in 14 Gemeinsam kochen und miteinander essen unsicheren Zeiten GeKo – ein Projekt gegen die Einsamkeit Caritas Graubünden 16 Die Regionalisierung ist eine Die Corona-Krise trifft diejenigen am heftig- Herausforderung sten, die bereits vor der Krise wenig hatten. Besonders betroffen sind Menschen in prekä- Wie die Angebote in die Täler kommen ren Arbeitsverhältnissen: Arbeitnehmende im sollen Stundenlohn, auf Abruf, schlecht bezahlt. De- Caritas St. Gallen-Appenzell ren ohnehin unsichere Lage verschärfte sich oft dramatisch. Die Massnahmen zur Eindäm- 18 Gegen Armut und Einsamkeit mung der Pandemie treffen aber auch Bevölke- Das Begegnungscafé im neuen Caritas- rungsgruppen, die scheinbar sicher unterwegs Markt in Wil waren, beispielsweise Selbstständigerwerben- de. Jacqueline Künti, Wochenbettbegleiterin Caritas St. Gallen-Appenzell aus dem Kanton Bern, konnte nicht mehr zu 21 Eine Million Sterne den jungen Müttern nach Hause. Von einem zum fünften Mal in Wil Tag auf den anderen brachen ihr die Aufträge Andreas Stemer sorgt dafür, dass weg. Die Caritas konnte ihr mit einer Über- Hunderte Kerzen brennen brückungszahlung durch die ärgste Phase von Unsicherheit helfen. Lesen Sie in dieser Num- Ich will helfen mer, wie die Caritas dank ihrer Erfahrung und der grossen Solidarität der Bevölkerung hilft, 22 Junge Freiwillige verhindern und was Unsicherheit mit uns allen macht. die Schliessung der Caritas-Märkte Kolumne Spannende Lektüre wünschen wir! 23 Das wunderliche Gefühl abSeite der Gemeinschaft 2 Nachbarn 2 / 20
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser Corona-Krise! Und einmal mehr trifft es die vulnerabelste Gruppe – armutsbetroffene und -gefährdete Menschen, die schon in «normalen» Zeiten zu kämpfen haben. In der Corona-Krise sind diese Menschen in besonders hohem Mass auf Unterstüt- zung angewiesen. Die regionalen Caritas-Organisationen haben ihre Angebote den ungewohnten Bedingungen angepasst. Bei der Caritas Thurgau Alessandro Della Vedova Geschäftsleiter Caritas Graubünden wurde das gemeinsame Kochen auf ein gemeinsames Essen be- Judith Meier Inhelder schränkt, um den Gästen bei einem feinen Menü trotz Corona ein Geschäftsleiterin Caritas Thurgau paar Stunden Gemeinsamkeit und Austausch zu ermöglichen. Philipp Holderegger Die Caritas-Märkte wurden besonders rege frequentiert, auch Geschäftsleiter Caritas St. Gallen- Appenzell wenn die Öffnungszeiten teilweise angepasst werden mussten und die Begegnungscafés geschlossen hatten. Im Kanton Grau- «Nachbarn», das Magazin der regionalen Caritas-Organisationen, bünden setzt man alles daran, die Regionalisierung voranzutrei- erscheint zweimal jährlich: im April ben, damit die Caritas auch in den Tälern präsent ist. Ob und in und im Oktober. welcher Form «Eine Million Sterne» dieses Jahr durchgeführt Gesamtauflage: werden kann, ist derzeit noch offen. Andreas Stemer und sein 34 200 Ex. Team sind jedenfalls bereit für den Einsatz am Wiler Weih- nachtsmarkt. Auflage SG/TG/GR: 3400 Ex. Danke, dass Sie uns bei unserem Engagement unterstützen! Wir Redaktion: wünschen Ihnen eine anregende Lektüre. Susanna Heckendorn (regional) Roland Schuler (national) Gestaltung, Produktion und Druck: Stämpfli AG, Bern Alessandro Della Vedova Philipp Holderegger Judith Meier Inhelder Caritas Graubünden Caritas St. Gallen-Appenzell Caritas Thurgau Tittwiesenstrasse 29 Langgasse 13 Franziskus-Weg 3 7000 Chur 9008 St. Gallen 8570 Weinfelden Telefon 081 258 32 58 Telefon 071 577 50 10 Telefon 071 626 11 81 www.caritasgr.ch www.caritas-stgallen.ch www.caritas-thurgau.ch PC 70-5372-2 PC 90-155888-0 PC 85-1120-0 Nachbarn 2 / 20 3
Kurz&bündig Solidaritätsaktion «Eine Million Sterne» Corona-Hilfe Dieses Jahr ganz Caritas unterstützt – besonders nötig in der Krise erst recht Die Caritas-Solidaritätsaktion «Eine Für viele Menschen an oder unter der Million Sterne» findet dieses Jahr am Armutsgrenze ist die Caritas in der 12. Dezember statt. Die Caritas macht Corona-Krise eine wichtige Stütze. Mithilfe dann besonders auf die wachsende der Glückskee und vieler grosszügiger Armut in der Schweiz aufmerksam und Unterstützerinnen und Unterstützer hält wirbt für Solidarität mit Betroffenen. Caritas in der Krise die Stellung. Die finanzielle Not von vielen Menschen an der Armuts- grenze wurde mit der Corona-Krise und dem Lockdown noch akuter. Schon früh war klar: Caritas muss trotz unklarer Lage und unter Schutzvorkehrungen für Mit- arbeitende und Freiwillige ihre Angebote für Armuts- betroffene möglichst aufrechterhalten – jetzt erst recht. Das gelingt der Caritas dank motivierten Mitarbeiten- den und Freiwilligen, der Glückskette und der grossen BildThomasPlain In der Schweiz leben rund 1,2 Millionen Menschen unter oder knapp über dem Existenzminimum. Die Folgen der Corona-Massnahmen treffen diese Men- BildDominicWenger schen besonders hart. Working Poor, Menschen in unsicheren Anstellungsverhältnissen oder in Bran- chen, die vom Lockdown besonders hart getroffen wurden, müssen noch mehr kämpfen, als dies vor «Corona» ohnehin schon der Fall war. Solidarität in der Bevölkerung. Aufgrund der Erfahrung Zurzeit sind die sozialen Folgen noch nicht absehbar. der Caritas als Hilfswerk und der starken regionalen Sicher ist: Menschen in schwierigen Lagen brauchen Verankerung konnte rasch und auf die Bedürfnisse in unsere Unterstützung. Sie brauchen unsere Solidari- den Regionen abgestimmt reagiert werden. tät. Als Zeichen dieser Solidarität wird am Samstag, 12. Dezember 2020, in der ganzen Schweiz die Aktion Die Caritas-Regionalorganisationen bieten Unterstüt- «Eine Million Sterne» Kerzen zum Leuchten bringen. zung mit ihren bewährten Angeboten wie den Caritas- Märkten und den Sozial- und Schuldenberatungen. Hier Save the date! wurden zum Teil neue Stellen geschaffen, um die hohe Machen auch Sie Ihre Solidarität mit benachteilig- Anzahl Anfragen zu bewältigen. Direkt geholfen wird ten Menschen sichtbar, und reservieren Sie sich den mit Einkaufsgutscheinen für die Caritas-Märkte, Aldi 12. Dezember für ein Zeichen für eine faire Schweiz! und Lidl im Wert von über 300 000 Franken sowie mit Auf wwweinemillionsternech finden Sie ab November finanzieller Soforthilfe bei offenen Mietzins- oder Kran- alle relevanten Informationen. Ebenfalls ab Novem- kenkassenrechnungen im Wert von 2,6 Millionen Fran- ber können Sie Ihre Solidarität wieder mit einer der ken (Zahlen: Stand Ende August). Auch neue Angebote beliebten Wunschkerzen bekunden: wurden ins Leben gerufen. wwwwunschkerzeeinemillionsternech wwwcaritasch/corona 4 Nachbarn 2 / 20
Kurz&bündig Caritas Schweiz Peter Marbet wird NEWS neuer Direktor DankefürdievielenMeinungen! InderletztenAusgabedes«Nachbarn»erfragtenwirdie Meinung unserer Leserscha zu unserem Magazin Er- freulichvieleLeserinnenundLesernahmenanderUm- frageteilGanzherzlichenDankdafür!Aktuellläudie Auswertung Eine Schlussfolgerung lässt sich heute be- reits ziehen Einer grossen Mehrheit gefällt das «Nach- barn»sehrDasfreutunsnatürlichundsporntunsanfür SieweiterhineininformativesundansprechendesMaga- zinzuproduzieren Caritas-LieferdienstinBaselland «Bleiben Sie zu Hause» lautete das Gebot der Stunde während des Corona-Lockdowns in der ersten Jahres- hälevorallemfürPersonenabodermitVorerkran- kungenFürdieArmutsbetroffenenund-gefährdetenin Bildzvg ländlichenGebietenweitwegvomCaritas-Marktinder StadtmussteeineLösungherDieCaritasbeiderBasel startete in enger Zusammenarbeit mit Pfarreien einen Der neue Direktor von Caritas Schweiz LieferdienstDieserläubismindestensEnde heisst Peter Marbet. Er tritt am 1. Novem- ber 2020 die Nachfolge von Hugo Fasel CaritasAargaueröffneteineweitereSozialberatung an. Dieser geht nach zwölf Jahren an der Im Juni eröffnete die Caritas Aargau eine neue Spitze der Organisation in Pension. Sozialberatungsstelle im Pfarreizentrum Kleindöingen Der Kirchliche Regionale Sozialdienst KRSD Zurzibiet Peter Marbet (Jahrgang 1967) stammt aus Bern und wird die Seelsorge der Kirchgemeinden ergänzen und studierte neuere Geschichte und Politologie. Später ermöglichtesderCaritasnahebeidenMenschenHilfe absolvierte er die Ausbildung zum Executive Master anzubieten Mit dem KRSD Zurzibiet startet bereits die of Business Administration in NPO-Management achteSozialberatungsstellederCaritasAargau der Universität Freiburg. Der neue Caritas-Direktor wwwcaritas-aargauch/sozialberatung bringt viel Management- und Führungserfahrung sowie breite Kompetenzen in gesundheits-, bildungs- und sozialpolitischen Fragestellungen mit. Diese CaritasLuzernWechselinderGeschäsleitung erwarb er sich an verschiedenen beruflichen Statio- DanielFurrertriamOktoberdieNachfolge nen: als Informationsbeauftragter bei einer grossen vonThomasThalialsGeschäsleiterderCaritasLuzern Krankenversicherung, als Mitglied der Direktion an Der politisch engagierte und gut vernetzte -Jäh- bei santésuisse und Leiter der Abteilung Politik und rige wirkte vorher als stellvertretender Geschäsleiter Kommunikation sowie in seiner letzten Funktion als und Leiter Dienstleistungen und Kommunikation beim Direktor des Berner Bildungszentrums Pflege. Als SAHZentralschweizundistMitglieddesGrossenStadt- Stadtrat der Stadt Bern (Legislative) und Mitglied rats Luzern Auch neu in der Geschäsleitung ist seit verschiedener parlamentarischer Kommissionen ist Anfang September Karin Hunziker Leiterin Berufliche er auch mit einer Vielzahl von sozialpolitischen The- Integration men vertraut. Peter Marbet übernimmt die Leitung von Caritas Schweiz per 1. November von Hugo Fasel, wwwcaritas-luzernch/geschaesleitung der nach zwölf Jahren als Caritas-Direktor in Pension geht. Nachbarn 2 / 20 5
Rubrik DerLockdownverunmöglichteesJacquelineKünti alsWochenbebegleiterinjungeMüerzubesuchen undsiezuunterstützenSiegerietinfinanzielle EinLebeninArmutbringtElternandenRandderVerzweiflung SchwierigkeitenCaritaskonnteihrundvielen undlässtKinderträumeplatzen anderenhelfen 6 Nachbarn 2 / 20
Schwerpunkt AlsdasArbeitsleben plötzlichstillstand Junge Mütter und ihre Neugeborenen zu begleiten, ist mit viel Nähe verbunden. Als Corona kam, fielen bei der freiberuflichen Wochenbettbegleiterin Jacqueline Künti die Aufträge weg. Entsprechend dankbar ist sie für die Unterstützung durch die Caritas. TextUrsulaBinggeliBilderZoeTempest W enn Jacqueline Künti im Garten des des Beziehungs- und Bindungsaufbaus zwischen Mut- Bauernhauses sitzt, in dem sie als Al- ter, Kind und der Familie steht im Zentrum ihres Tuns. leinerziehende mit ihren beiden Teen- «Sie sollen gemeinsam wachsen können.» Achtsamkeit ager-Töchtern lebt, umgeben von viel und Urvertrauen sind wichtige Stichworte für sie. Grün und Blumen, wirkt sie ganz in ihrem Element, ein bisschen elfenhaft und doch geerdet. Der Eindruck Ein harter Frühling täuscht nicht. Jacqueline Künti fühlt sich der Natur 2020 – das fünfte Jahr ihrer Selbstständigkeit – fing gut und den in ihr waltenden Kräften tief verbunden, ohne an für Jacqueline Künti: Die Mund-zu-Mund-Propagan- sich deswegen von den Menschen abzuwenden, im Ge- da schien zum Laufen zu kommen. Ihr Einkommen genteil. Auf ihrer Website schreibt sie: «Begegnung er- reichte zusammen mit den Alimenten und Kinderzula- lebe ich in der freien Natur, im lebendigen Austausch gen zum Leben. mit offenen Menschen, durch Reisen, Ehren und Feiern verschiedener Kulturen und deren Ritualen.» Unter Aber dann kamen Corona und der Lockdown. «Mein anderem gestaltet sie freie Willkommens- und Seg- Arbeitsleben stand von einem Tag auf den anderen nungszeremonien für Kinder. Der weite Horizont der praktisch still.» Laufende Aufträge wurden gestoppt, früheren Kleinkindererzieherin schlägt sich aber auch und neue Anfragen gab es keine. Sehr unsicher sei sie in ihrer hauptberuflichen Tätigkeit nieder. Sorgsame Arbeit in Familien Jacqueline Künti hat in Deutschland die Ausbildung zur «Corona hat mich schier zum Familienlotsin absolviert und unterstützt nun als frei- berufliche Fachfrau für Wochenbettbegleitung Familien Verzweifeln gebracht.» mit einem Neugeborenen in der intensiven ersten Zeit zu Hause. «Wichtigste Ansprechperson für die Mütter ist stets die Hebamme, ich arbeite ergänzend.» Jacque- gewesen in jenen Wochen, erinnert sich Jacqueline line Künti bereitet vollwertige, stillgerechte Mahlzeiten Künti. Hätte sie überhaupt Familien aufsuchen dür- zu, sie wirft bei Bedarf eine Ladung Wäsche in die Ma- fen? «Der Rahmen, in dem ich arbeite, ist doch sehr schine, sie betreut die grösseren Kinder – und sie wid- intim.» Auch als die Lockerungen kamen, blieben die met sich dem Baby und der Wöchnerin. Die Begleitung Fragen. Ab wann waren Besuche am Wochenbett wie- Nachbarn 2 / 20 7
Schwerpunkt der vertretbar? Sollte sie mit einem Inserat Werbung die derzeit in einer Kita ein Praktikum macht und ihr für sich machen? Aber das schien ihr in der Zeit des anbot, die Krankenkassenprämien bis auf Weiteres grossen Abstandhaltens zu provokant. von ihrem kleinen Lohn selbst zu bezahlen, berührte sie tief. Jacqueline Künti und ihre Töchter mussten im März mit 1800 Franken auskommen, auch im April war dem Keine Hilfe vom Bund so. «Wir sind es gewohnt, uns einzuschränken – in der Wie Jacqueline Künti standen diesen Frühling viele Zeit meiner Ausbildung zur Familienlotsin wohnten freiberuflich Tätige wegen Corona vor einschneiden- den finanziellen Einbussen. Viele sind der Unsicher- heit weiterhin ausgeliefert. Während diejenigen, die von den Massnahmen des Bundes direkt betroffen wa- Viele sind der Unsicherheit ren und ihre Tätigkeit nicht mehr ausüben konnten, schon bald wussten, dass sie finanzielle Unterstüt- weiterhin ausgeliefert. zung erhalten würden, blieben Freiberufler, die indi- rekt betroffen waren, bis Mitte April im Ungewissen. wir zu dritt in einer 2,5-Zimmer-Wohnung.» Aber Co- Als der Bund beschloss, auch ihnen finanziell unter rona habe sie nun wirklich schier zum Verzweifeln ge- die Arme zu greifen, war Jacqueline Küntis Freude nur bracht. Mit Zuwendungen von Verwandten konnte sie von kurzer Dauer. Ihr Gesuch wurde abgelehnt – der nicht rechnen. Die Solidarität der älteren ihrer Töchter, von ihr als Wochenbettbegleiterin erzielte Gewinn lag EsbrauchtdieNäheJacquelineKüntiunterstütztjungeMüerindererstenZeitnachderNiederkun 8 Nachbarn 2 / 20
Schwerpunkt leicht unter dem unteren Limit für den Anspruch auf Unterstützung. «Meine Einnahmen aus den Ritualbe- gleitungen wurden nicht mitgerechnet, ja, nicht ein- UNSICHERHEIT mal erwähnt, und auch das Ausfallen der von mir für das Jahr 2020 neu aufgegleisten Kurse für Schwangere wurde nicht berücksichtigt.» Der negative Bescheid BELASTET schmerzte. «Für mich ist er unverständlich. Er hat mich wütend gemacht.» ProfDrChristophFlückiger istLeiterAllgemeine Grosse Solidarität Interventionspsychologie Zum Glück hatte Jacqueline Künti schon früh auch und Psychotherapie nach nicht staatlicher Hilfe Ausschau gehalten. Sie anderUniversitätZürich wandte sich an die Caritas. Dort war man auf Anfragen wie die ihre vorbereitet. Dank einem Spendenaufruf Bildzvg «Ich denke an die jungen VieleerlebtenunderlebenUnsicherheitaufgrund Familien, die in der Krise erst vonCoronaWaslöstdieseUnsicherheitinunsaus? Es ist emotional belastend wenn wir aus der Routine recht allein waren.» unddenGewohnheitengeworfenwerdenunddieDinge nichtmehrsowiegewohnteinigermassenvorhersagbar sindDiesreduziertdasGefühldieDingeunterKontrol- zusammen mit der Glückskette stehen Gelder zur Ver- le zu haben Grundsätzlich sind Menschen ganz allge- fügung, die für Menschen eingesetzt werden können, mein relativ intolerant gegenüber Unsicherheit auch die ohnehin in bescheidenen Verhältnissen leben und wennwirdaskalkulierbareAbenteuerbiszueinemge- wegen Corona in akute finanzielle Bedrängnis gerie- wissenPunktauchgernesuchen ten. Brigitte Raviele von der Caritas Bern: «Neben frei- beruflich Tätigen sind es auch von Kurzarbeit Betrof- AufgesellschaftlicherEbeneFührtkollektive fene mit niederen Einkommen, die an uns gelangen. UnsicherheitzumehrSolidarität? Bis heute bearbeiteten wir im Kanton Bern mehrere JasicherjedochnurbiszueinemgewissenPunktSoli- hundert Anfragen.» darität ist immer mit der Frage verbunden gegenüber wem wir uns solidarisch zeigen Interessanterweise Die Caritas konnte Jacqueline Künti mit Beratung und übertragen wir die unangenehmen Dinge gerne nach einer Überbrückungszahlung direkt helfen. Die Unter- aussenSowardieGrippe«spanisch»Coronaist«chi- stützung durch die Caritas trug wesentlich dazu bei, nesisch» Was Solidarität zu echter Solidarität macht dass Jacqueline Künti den Boden unter den Füssen istwennwirunsinanderehineinversetzenunddieWelt nicht verlor. Dass in der ländlich geprägten Ortschaft, ausderSichtderanderninunsereeigeneSichtweisein- in der sie wohnt, viel nachbarschaftliche Solidarität tegrieren Sich in Unsicherheit in andere zu versetzen spürbar ist, tat zusätzlich gut. Auch in der grossen, machtunsMenschenmenschlich selbst verwalteten Hausgemeinschaft, in der ihre Töchter und sie seit drei Jahren leben, fühlt sie sich KönnenwiretwaslernenausdererlebtenUnsicherheit? aufgehoben. «Ich schöpfte neuen Mut.» MirkommtspontanWolfBiermannsLied«Ermutigung» indenSinn«Dulassdichnichtverhärtenindieserhar- Eine neue Klarheit tenZeitDieallzuhartsindbrechenDieallzuspitzsind Die Angst vor einer neuen Corona-Welle stellt Jacque- stechen Und brechen ab sogleich» Sich Unsicherheit line Künti bewusst auf die Seite, sie fokussiert den einzugestehenhatwohlimmerauchmitMutzutunsich Neustart. Der Weg zu einer Form von Normalzustand seinereigenenUnzulänglichkeitWeichheitundVerletz- sei sicher noch lang, sagt sie, aber langsam gehe es mit lichkeit gewahr zu werden und diese sich selbst und Aufträgen wieder aufwärts. «Ich denke an die vielen auch andern offenzulegen Unsicherheit stellt immer jungen Familien, die in der Krise erst recht allein ge- auch die Frage was mir wichtig ist und von welchen wesen sind, und spüre eine neue Klarheit in mir. Für Wertenichmichleitenlasse sie will ich da sein. Ich bin bereit.» wwwfamilienlotsinnch Nachbarn 2 / 20 9
Schwerpunkt PrekäreArbeitLebenmit der Unsicherheit In der Corona-Krise zeigt sich: Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen sind stark betroffen von den Pandemiemassnahmen. Prekäre Arbeit gibt es in der Schweiz in verschiedenen Formen. Neben finanzieller Unsicherheit bringt sie oftmals eine mangelhafte Absicherung und eingeschränkte Zukunftsperspektiven mit sich. TextAnna-KatharinaThürerGrundlagenCaritasZürichIllustrationCorinneBromundt D ie Schweiz verdankt einen Teil ihres wirtschaft- fall: Gerade in diesen Sektoren finden sich viele prekäre lichen Erfolgs einer vergleichsweise liberalen Arbeitsverhältnisse. Solche sind auch in Arbeitsformen Arbeitsgesetzgebung, die nur einen schwachen weitverbreitet, die über Online-Plattformen organisiert Kündigungsschutz bietet und keine obligatorische werden (z.B. Reinigungs- oder Kurierarbeit). Diese wirt- Krankentaggeldversicherung beinhaltet. Ausserdem schaften arbeitsrechtlich in einem Graubereich. Man sind ganze Sektoren wie die Landwirtschaft oder Haus- kann also sagen: Prekäre Arbeitsverhältnisse werden wirtschaft nicht dem Arbeitsgesetz unterstellt. Kein Zu- oft gerade durch fehlende Regulierung begünstigt. 10 Nachbarn 2 / 20
Schwerpunkt Arm trotz Erwerbsarbeit Kommentar Prekäre Arbeit bedeutet für die Betroffenen einen hohen Grad an Unsicherheit und damit verbundene Zwänge. Arbeit muss existenz- Die Unsicherheit bezieht sich auf Arbeitszeiten (z.B. auf Abruf zu arbeiten oder befristet angestellt zu sein), sichernd sein aber auch auf finanzielle Unsicherheit oder mangelhaf- te Absicherung gewisser Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Altersarmut. Die Zahlen des Bundes Die Corona-Krise hat deutlich ge- weisen aus, dass sich prekäre Arbeit mehrheitlich in macht, dass viele Menschen in der den klassischen Tieflohnbranchen findet, beispielswei- Schweiz in prekären Situationen se im Gastgewerbe, in der Reinigung, aber auch in der leben. Das trifft besonders auf Ar- Dienstleistungsbranche und im Kunstbetrieb. Nicht beitnehmende in Tieflohnstellen alle Erwerbstätigen tragen ein gleich grosses Risiko und ungeregelten Arbeitsverhält- für prekäre Arbeit: Betroffen sind besonders häufig nissen zu. Tieflohnbranchen wie die Gastronomie, das Reinigungs- gewerbe und der Detailhandel sind infolge der Krise stark von Prekäre Arbeitsverhältnisse Kurzarbeit betroffen. 80 Prozent wirken sich auf viele andere Lohnersatz ist für die meisten An- gestellten nicht existenzsichernd. Lebensbereiche aus. Kurzarbeit hat Entlassungen auch nicht verhindert. Viele haben ihre Einkommensquelle ganz verloren. Frauen, jüngere Arbeitnehmende, Personen mit tiefem Bildungsstand und Menschen ohne Schweizer Pass, vor In Tieflohnbranchen sind befristete allem solche mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Prekä- Arbeitsverträge oder Arbeit auf Ab- re Arbeitsverhältnisse wirken sich auf viele andere Le- ruf im Stundenlohn weitverbreitet. bensbereiche aus und erhöhen das Armutsrisiko. Solche Arbeitsverhältnisse bieten keinerlei Sicherheit. Das Gros der Wenig Forschung auf Abruf Angestellten hat kein Stellt man jedoch Fragen zu prekärer Arbeit, so zeigt garantiertes Minimum an Arbeits- sich schnell, dass es hierzulande nur wenig Forschung stunden und muss trotzdem jeder- zum Thema gibt. Gemäss Zahlen des Bundes sind rund zeit verfügbar sein. Braucht der 2,5 Prozent der Erwerbstätigen in prekären Arbeits- Arbeitgeber sie nicht, bietet er sie verhältnissen tätig. Diese Quote basiert allerdings auf nicht auf. Kündigen muss er ihnen einer sehr eng gefassten Definition von prekärer Ar- nicht. Die Betroffenen haben ohne beit, die einige Betroffenengruppen wie Sans-Papiers Kündigung aber keinen Anspruch und gewisse Arbeitsformen (z. B. gut bezahlte, aber auf Arbeitslosengelder. auf kurze Zeit befristete Arbeit) ausschliesst. Eine Er- weiterung der Definition wäre wichtig, um das wahre Die Caritas fordert, dass die Kurz- Ausmass unsicherer Arbeit in der Schweiz zu erfassen arbeitsentschädigung bei tiefen und die Betroffenen besser zu schützen – und Armut Einkommen 100 Prozent des Loh- vorzubeugen. nes entspricht. Zudem müssen Ar- beitgebende verpflichtet werden, Keine Absicherung in der Krise Arbeitsmodelle zur Verfügung zu Die Corona-Krise hat uns einerseits vor Augen geführt, stellen, die existenzsichernd sind. wie stark wir als Gesellschaft von prekärer Arbeit ab- Dazu muss insbesondere Arbeit hängig sind. Andererseits wurde ersichtlich, wer be- auf Abruf gesetzlich besser gere- sonders schlecht vor Risiken geschützt ist. Deutlich gelt werden. Und es braucht einen wurde, wie das Schweizer System der arbeits- und so- schweizweiten Mindestlohn. zialversicherungsrechtlichen Sicherung, das sich stark an einer unbefristeten Vollzeitstelle orientiert, an sei- ne Grenzen stösst. Denn gerade für prekär Arbeitende AlineMasé steigt durch die Corona-Krise das Risiko für Verschul- LeiterinFachstelleSozialpolitik dung und Altersarmut. CaritasSchweiz Nachbarn 2 / 20 11
Persönlich ChloéJahregehtindie Klasseundwohntin BülachSiefindetesschöndassKinderanandere MenschendenkenUndsichdarumkümmerndass dieseauchinschwerenZeitenFreudehaben 12 Nachbarn 2 / 20
Persönlich «Wann hast du zum letzten Mal jemandem geholfen? Wobei?» Bei allem Unbill, den das Coronavirus und die Massnahmen zum Schutz der Bevölke- rung für Betroffene bedeutet: In der Krise gab und gibt es viel Solidarität. Mit kleinen und grossen Gesten der Solidarität wird der Alltag für viele leichter. Oft braucht es nicht viel, um Erleichterung zu verschaffen und Freude zu bereiten. Ismail Mahmoud, Student, Ingrid Breuss, Sekretärin, Basel Freidorf Kürzlich bei einer Schnitzeljagd Vor Kurzem hielt vor unserem rannte ich auf der Suche nach dem Haus ein Auto. Die Lenkerin stieg nächsten Posten durch den Bahn- aus. Ich vermutete, dass sie eine hof Basel. Plötzlich sah ich, wie Autopanne hatte. Im Wagen sas- eine Frau beim Einsteigen in einen Zug ausrutschte sen eine ältere Frau und ein kleines Kind. Ich ging und zu Boden fiel. Ich half ihr auf, unterhielt mich kurz hin und fragte, ob ich helfen könne. Das verneinte mit ihr, holte ihren Koffer unter der Eisenbahn hervor die Fahrerin. Da es sehr heiss war, brachte ich ihnen und begleitete sie in den Zug hinein. Danach schnapp- etwas zu trinken und führte sie zu einem schattigen te ich mir den dritten Rang bei der Schnitzeljagd. Platz, wo sie auf den Pannendienst warten konnten. Patrick Lang, Tramführer, Lena Rodriguez, Schülerin, Zürich Luzern Eine Bekannte musste zwei defek- Wir gestalten im Handarbeitsun- te Tagesdecken ersetzen. Da sie terricht gerade ein Kissen. Gestern zur Covid-19-Risikogruppe gehört, habe ich einer Klassenkameradin zögerte sie, in ein grosses Geschäft beim Bedrucken geholfen. Sonst zu fahren, um neue Decken zu kaufen. Im Alltag geht wäre sie nicht rechtzeitig fertig geworden und hätte sie in ein lokales Geschäft einkaufen, bei dem sie nachsitzen müssen. Dank meiner Hilfe konnten wir weiss, wann es wenig Leute hat. Als sie mir dies er- beide die Arbeit zum Schluss der Stunde abschlies- zählte, bot ich ihr spontan an, die Decken für sie zu sen. Ich finde es wichtig, dass wir in der Schule zu- besorgen. Das war eine grosse Erleichterung für sie. sammenhalten und uns gegenseitig unterstützen. Seraina Brem, Praktikantin, Sophie Rutishauser, Berikon Schülerin, Münsingen Zuletzt geholfen habe ich in den Im Flussbad «Schwäbis» habe ich Sommerferien. Als Leiterin war ich letzthin ein paar Kindern einen zwei Wochen in einem Lager für Pneuschlauch gegeben. Eigent- Kinder und Jugendliche. Dort fallen lich wollte ich ihn selbst benutzen. verschiedene Aufgaben an: Kinder wecken, Programme Doch ich merkte, dass die Kinder ebenso gerne auf durch den Tag leiten, Rucksäcke packen, Lagertagebuch ihm den Fluss hinuntertreiben wollten. Ich bin ihnen schreiben und vieles mehr. Jedes Jahr freue ich mich auf dann mitsamt dem Pneu flussaufwärts entgegenge- das Lager, da es für mich schon als Kind immer ein tolles schwommen, um ihn zu übergeben. Sie freuten sich Erlebnis war. Nun konnte ich selbst im Team mitwirken. sehr über das «Geschenk». Nachbarn 2 / 20 13
Caritas Thurgau GeKo: Gemeinsam kochen und mit einander essen – ein Projekt gegen die Einsamkeit Armut macht einsam. Deshalb lädt die Caritas Thurgau alle zwei Wochen Armutsbetroffene zum gemeinsamen Kochen und Essen ein. Im 2019 lancierten Projekt «GeKo» geht es um Gemeinschaft, Austausch und die Möglichkeit, neue Bekanntschaften zu schliessen. Text und Bilder: Janine List S eit Erika Zumofen mit Armut zu kämp- fen hat, haben sich viele ihrer alten Freunde und Bekannten von ihr ab- gewandt. Armut ist eine Realität, und, das musste sie selbst erfahren, leider immer noch ein grosses Tabu in unserem Land. Man wolle es nicht wahrhaben und spreche nicht darüber. Wenn sie erwähne, dass sie mit ge- rade mal 300 Franken im Monat durchkom- men müsse, werde sie oft schief angeschaut. Umso mehr schätzt sie die Möglichkeit, sich mit Menschen zu treffen und auszutauschen, die in einer ähnlichen Situation sind. «Hier beim GeKo begegnen wir uns auf Augen- höhe, ich muss mich nicht verstellen und werde respektiert. Wir können offen über unsere Probleme sprechen und nachfühlen, wie es dem Gegenüber geht. Wenn ich am GeKo bin, kann ich abschalten, ich komme aus meinen vier Wänden heraus und fühle mich nicht mehr so allein.» Die entspannte Atmosphäre wird von den Gästen sehr ge- schätzt. Sie geniessen es, sich einfach ein- mal hinsetzen zu dürfen und nichts machen zu müssen. «Ich fühle mich am GeKo sehr wohl und muss mich nicht verstecken. Und natürlich freue ich mich auch über das feine Essen», schmunzelt Erika Zumofen. «Für andere mag das vielleicht normal sein, aber ich muss bei jedem Einkauf genau rechnen und das Essen gut planen, damit das Geld den ganzen Monat reicht.» Armut macht einsam Wer von Armut betroffen ist, geht weniger unter Leute und schon gar nicht ins Restau- rant. Solche Ausgaben liegen einfach nicht 14 Nachbarn 2 / 20
Caritas Thurgau Kopftuch revidiert werden. Zudem will ich ein Vorbild sein für meine Tochter und ihr schon früh Einblicke in andere Lebenssituationen ermöglichen. Taten bedeu- ten für mich viel mehr als Worte. Und was nicht ganz unwichtig ist, ich koche und esse natürlich sehr gern!» Gemeinsam gegen die Einsamkeit Üblicherweise trifft sich bereits um 10 Uhr eine Grup- pe von zwei bis vier Personen, um gemeinsam mit dem oder der Freiwilligen das Menü vorzubereiten. Da wird geschnipselt, gerührt, gewürzt und auch viel gelacht und erzählt. Aufgrund der Corona-Situation muss der- zeit auf das gemeinsame Kochen verzichtet werden, was alle sehr bedauern. Bis die Gäste wieder mithelfen Taten bedeuten für Zahra mehr als Worte, deshalb engagiert sie dürfen, bereiten eine oder zwei Freiwillige das Essen sich für Armutsbetroffene. zu. Um 12 Uhr stossen dann die Gäste des Mittags tisches dazu; schon beim Eingang beginnt das grosse drin, wenn man jeden Franken zweimal umdrehen Hallo. Alle freuen sich, wieder einmal dabei zu sein muss. Aus diesem Grund hat die Caritas Thurgau das und geniessen das feine Menü, das jedes Mal wech- Projekt «GeKo» lanciert, das genau diesem Problem selt. Nach dem Essen wird das Dessert serviert, wer entgegenwirken soll. Alle zwei Wochen treffen sich mag trinkt noch einen Kaffee. Miteinander werden die zwischen fünf und fünfzehn Menschen, die mit einem Tische abgeräumt und die Küche in Ordnung gebracht. knappen Budget über die Runden kommen müssen. Oft bleiben die Leute danach noch lange sitzen. Für sie ist es schon eine Herausforderung, sich ge- sund und ausgewogen zu ernähren. Da ist das feine und erst noch kostenlose Mittagessen in gemütlicher Runde sehr willkommen. Die Kosten für die Mahlzeit trägt die Caritas Thurgau, die Menüplanung und das Kochen übernimmt jeweils ein freiwilliger Helfer oder eine freiwillige Helferin. Taten zählen mehr als Worte und Religion Zahra Al Maliki arbeitet in einem 80-Prozent-Job als Immobilienbewirtschafterin und ist seit Beginn des GeKo im Team. Wenn sie an ihrem freien Tag für den Mittagstisch arbeitet, ist ihre vierjährige Tochter im- mer dabei und hilft tatkräftig mit. «Ich habe schon lan- ge nach einer Möglichkeit gesucht, mich für Armuts- betroffene zu engagieren. Es berührt mich, dass auch in der Schweiz viele arme Menschen leben. Es ist eine andere Armut, als man sie vom Ausland kennt. Hier Am GeKo kann Erika abschalten und geniessen. verhungert niemand, deshalb ist die Armut weniger offensichtlich.» Sie hat sich bei der Caritas gemeldet, weil sie gerne sozial aktiv ist und in diesem Rahmen selbst etwas bewirken kann. «Ich lerne gerne neue Leu- te kennen. Menschen, die nicht viel Geld zur Verfügung haben, ziehen sich oft zurück und sind einsam. Ich geniesse es, mich mit ihnen zu unterhalten und freue mich, wenn sie mir einen Einblick in ihr Leben geben. Wichtig war für Zahra Al Maliki, dass ihr freiwilli- ges Engagement nicht an eine Religion gebunden ist. «Ich selbst trage ein Kopftuch. Durch meinen Einsatz möchte ich auch etwas dazu beitragen, dass die leider noch immer verbreiteten Vorurteile über eine Frau mit Auch ein feines Dessert darf nicht fehlen. Nachbarn 2 / 20 15
Caritas Graubünden Die Regionalisierung ist eine Herausforderung Wie kommt die Caritas mit ihren Angeboten zu den Menschen in den Tälern des flächen mässig grössten Kantons der Schweiz? Diese Frage stellen sich die Verantwortlichen schon seit geraumer Zeit. Die richtige Antwort zu finden, ist eine Herausforderung. Text: Susanna Heckendorn Bilder: Elia Manuel Eberle, Graubünden Ferien Die Grösse und die Geografie des Kantons sind eine Herausforderung für die Caritas Graubünden. I n Chur ist die Caritas sehr gut vertreten. Wer eine und zahlreichen Integrationsarbeitsplätzen bietet die Caritas-Markt-Karte oder eine KulturLegi besitzt, Caritas entsprechend ihrem Leitbild ein breites Un- kann im Caritas-Markt Lebensmittel und Güter des terstützungsangebot für Menschen, die nicht auf der täglichen Bedarfs zu Tiefstpreisen einkaufen. Im Se- Sonnenseite des Lebens stehen. condhand-Laden im Caritas Center gibt es eine grosse Auswahl an schönen und günstigen Kleidern für die Zu wenig bekannt ganze Familie, und im «Ramsch & Raritäten» findet Derzeit ist die Caritas Graubünden nur in Chur prä- man auch Praktisches für den Haushalt. Die beiden sent. Genutzt werden die Angebote daher grösstenteils Cafés – im Markt das Café Georgina, im Center das von Churerinnen und Churern und Personen aus dem Café Gleis C – werden sehr geschätzt und bieten Men- Einzugsgebiet. Einzig in Poschiavo gibt es noch einen schen mit knappem Budget die Möglichkeit, einmal Caritas-Markt-Satelliten, der von einer Freiwilligen auswärts einen Kaffee oder Tee zu trinken. Mit einer betreut wird und an zwei Nachmittagen geöffnet hat. Spielgruppe für Familien mit niedrigem Einkommen, Im übrigen Kanton gibt es keine von der Caritas betrie- dem Deutschkurs «Together», einem Schreibdienst bene Infrastrukturen. 16 Nachbarn 2 / 20
Caritas Graubünden Wie und wo immer sich die Caritas engagieren will, ist ten wir das Wissen über die Caritas und ihre Angebote sie auf das Wohlwollen und die Zusammenarbeit mit bei möglichen Partnern in den Regionen verbreiten. verschiedenen Akteuren wie Pfarreien, Kirchgemein- Wir hoffen, dass wir damit den Weg für eine fruchtbare den und Sozialämter angewiesen. Bei der Evaluation Zusammenarbeit ebnen konnten.» der Möglichkeiten für eine geografische Ausbreitung hat sich jedoch gezeigt, dass die Angebote und Leis- Menschen in Not erreichen tungen der Caritas vielerorts kaum bekannt sind. Dies Mit seinen 160 Tälern in 11 Regionen, 3 Amtssprachen, zu ändern, braucht Netzwerkarbeit, Sensibilität für die 3 Kulturen und der dünnen Besiedlung stellt der Kan- unterschiedlichen Kulturen, Sprachkenntnisse und ton Graubünden die Caritas vor ganz besondere Her- vor allem viel Geduld. In einem ersten Schritt werden ausforderungen. Um den Aufbau einer Infrastruktur nun Pfarreien, Kirchgemeinden und Hilfsorganisati- mit den nötigen Angeboten zu rechtfertigen, braucht onen im ganzen Kanton angeschrieben mit der Bitte, es eine minimale Anzahl Klientinnen und Klienten die Angebote der Caritas in ihrem Umfeld und in der aus einem entsprechend grossen Einzugsgebiet. Wie breiten Bevölkerung bekanntzumachen. aber kommen die Menschen zur Caritas? Gerade für Armutsbetroffene sind Mobilitätskosten ein grosses Corona-Krise als Chance Problem. Die wenigsten haben ein eigenes Auto. Und Da verschiedene Hilfsorganisationen ihre Aktivitäten wenn das Geld kaum für das Notwendigste reicht, liegt während des Corona-Lockdowns teilweise reduzieren auch ein Bus- oder Zugbillett nicht drin. oder ganz einstellen mussten, nutzte Caritas Grau- «An Ideen fehlt es uns nicht», bekräftigt Alessandro Della bünden die Chance und sprang ein. So wurden An- Vedova. «Es gibt bereits ein Konzept für mögliche Satelli- fang April 350 Kilogramm Lebensmittel und Kleider ten-Märkte in den Talschaften, die betroffenen Menschen ins Oberengadin geliefert. Der regionale Sozialdienst günstige Einkaufsmöglichkeiten bieten und gleichzeitig Oberengadin-Bergell verteilte diese unter den Bedürf- auf die weiteren Hilfsangebote der Caritas aufmerksam tigen der Täler. machen sollen.» Die umfangreichen Abklärungen über den effektiven Bedarf, mögliche Kooperationen, Standor- Die Zusammenarbeit mit verschiedenen Sozialämtern te und die Betriebsform brauchen jedoch Zeit. Und natür- und Pfarreien während der akuten Phase der Corona- lich die entsprechenden finanziellen Mittel. Krise sieht Alessandro Della Vedova, Geschäftsleiter Mit einer verstärkten Präsenz in den Talschaften will der Caritas Graubünden, denn auch als Chance. «In Caritas Graubünden als Hilfswerk für den ganzen vielen Gesprächen, die ich auf politischer Ebene führen Kanton wahrgenommen werden, und es sollen mehr konnte, wie auch im Kontakt der Caritas-Mitarbeiten- armutsbetroffene Menschen Zugang zu den Hilfsan- den mit den verschiedenen Ansprechpartnern, konn- geboten erhalten. Angebote wie der Caritas-Markt sollen in möglichst vielen Regionen Im Secondhand-Laden einkaufen zu können, entlastet das Budget. zugänglich sein. Nachbarn 2 / 20 17
Caritas St. Gallen-Appenzell Das CafiTass ist ein Ort der Begegnung. Der Kampf gegen die Armut ist auch ein Kampf gegen die Einsamkeit Im Caritas-Markt in Wil gibt es neu auch ein Begegnungscafé, das CafiTass. Hier kann sich auch jemand einen Kaffee leisten, der mit einem sehr knappen Budget leben muss. Das CafiTass schafft Kontaktmöglichkeiten, hier sollen Austausch und Begegnung statt finden. Text: Susanna Heckendorn Bilder: Peter Dotzauer A uch wer sein ganzes Leben lang hart gearbeitet Kontakt zu ihren Kindern und Enkelkindern. Dass sie hat, kann von Armut betroffen werden. So wie im Caritas-Markt einkaufen kann, ist für Heidi B. eine Heidi B., 72. Sie muss jeden Franken zweimal grosse Erleichterung. Sie schätzt die günstigen Preise umdrehen, ein unbeschwertes Dasein kennt sie nicht. und die zentrale Lage. Und obwohl sie sehr zurückge- Mit sieben Geschwistern wuchs sie auf einem Bauern- zogen lebt, hat sie sich im CafiTass schon einmal einen hof auf, ihre Mutter war psychisch krank. Sie selbst Kaffee gegönnt. wurde schon während ihrer Schulzeit schwermütig. Weil sie dem Schulstoff nicht folgen konnte, blieb ihr Endlich am Ziel eine Lehre verwehrt. So arbeitete sie als Putz- und Kü- Als der Caritas-Markt in Wil vor ein paar Jahren eröff- chenhilfe in Restaurants, im Sommer half sie zu Hause net wurde, sprachen die katholische und die reformier- auf dem Hof. Als sie ungewollt schwanger wurde, hei- te Kirchgemeinde eine Defizitgarantie, in der Annah- ratete sie. Erst nach 40 schwierigen Ehejahren fand sie me, dass der Markt nach einiger Zeit selbsttragend sein die Kraft, sich von ihrem alkoholabhängigen Mann zu würde. Bald zeigte sich, dass dies nicht möglich ist. Die trennen. Heute lebt sie alleine und freut sich über den Situation war schwierig – der ehemalige Standort er- 18 Nachbarn 2 / 20
Caritas St. Gallen-Appenzell Unterstützung in der Öffentlichkeit Den Mitwirkenden in der Arbeitsgruppe war bewusst, dass der Caritas-Markt und das Begegnungscafé breit abgestützt sein müssen, um den Betrieb und die Finan- zierung langfristig sicherzustellen. Die Bildung eines Matronats-/Patronatskomitees, mit Persönlichkeiten aus Kirche, Politik, Wirtschaft und Kultur, die sich zum Thema Armut engagieren, war dazu ein wichtiger Schritt. «Ich konnte es kaum fassen. Alle Personen, die wir für eine ehrenamtliche Mitarbeit im Komitee an- fragten, haben spontan zugesagt», freut sich Dolores Waser Balmer, Bereichsleiterin Diakonieanimation der Caritas St. Gallen-Appenzell. «Diese Personen sind Bot- schafterinnen und Botschafter, die die Caritas unter- stützen und das Thema Armut und Armutsbekämpfung aktiv in die Öffentlichkeit tragen.» Heidi B. schätzt die günstigen Preise und die zentrale Lage. Für Menschen wie Fabienne, 20 Nach einer Kindheit mit zerstrittenen Eltern und ei- nem gewalttätigen Stiefvater zog Fabienne mit 17 von wies sich als nicht ideal, die Finanzierung und damit zu Hause aus. Eine schwere chronische Krankheit die Weiterführung des Marktes waren infrage gestellt. zwang sie dazu, ihre Lehre abzubrechen. Auch psy- Dennoch waren sich alle Involvierten einig, dass es in chisch ging es ihr schlecht, sie war davon überzeugt, Wil unbedingt einen Caritas-Markt braucht, idealer- niemandem gerecht zu werden. Nach einem kurzen weise mit einem Begegnungscafé. Eine Arbeitsgruppe, Aufenthalt in einer Klinik wurde sie obdachlos. in der die Stadt Wil, die katholische Kirchgemeinde, die Das Blatt wendete sich, als sie von der Polizei aufge- evangelische Kirchgemeinde und die Caritas St. Gallen- griffen wurde. Sie geriet an einen Polizisten, der dafür Appenzell vertreten waren, erarbeitete ein Konzept, das sorgte, dass sie sich bei der Gemeinde anmeldete und ei- von allen involvierten Stellen gutgeheissen wurde. nen Termin beim Sozialamt bekam. «Seither geht es in Mit grossem Engagement wurde die neue Lokalität um- kleinen Schritten aufwärts», freut sie sich. Ihr Betreuer gebaut und dank grosszügigen Spenden, ganz beson- bei der Arbeitsintegration half ihr, eine Lehrstelle zu ders vom Lions Club Wil, konnte das Begegnungscafé finden, und im August konnte sie in ihrem Traumberuf CafiTass samt Spielecke eingerichtet werden. Kaum er- eine Lehre beginnen. Fabienne lebt allein, mit ihrem öffnet, musste das CafiTass bereits wieder schliessen. Lehrlingslohn und der Sozialhilfe muss sie äusserst Die Corona-Krise machte auch vor dem Begegnungsca- haushälterisch umgehen. «Zum Glück kann ich im Ca- fé nicht halt. Inzwischen ist das Café – mit dem erfor- ritas-Markt einkaufen. Vor allem das grosse Angebot an derlichen Sicherheitsabstand – wieder geöffnet. frischen Früchten und Gemüsen finde ich toll.» Briane O. und seine Frau kaufen regelmässig im Caritas-Markt ein. Es braucht viele fleissige Hände – ohne Freiwillige geht es nicht. Nachbarn 2 / 20 19
Caritas St. Gallen-Appenzell Zeit wurden die Aufgaben jedoch so umfangreich, dass jemand dafür angestellt werden musste.» Nun arbeitet Cécile Heuberger seit vielen Jahren zweimal im Monat im Caritas-Markt Wil. Daneben betreut sie ihre Enkel- kinder und engagiert sich als Freiwillige in der Psych iatrischen Klinik Wil, wo sie Patienten begleitet. Begegnungen möglich machen Seit der Eröffnung 2012 leitet Rita Borner den Caritas- Markt in Wil. Sie weiss um die Not ihrer Kundinnen und Kunden, die nicht nur mit Armut, sondern oft auch mit Ausgrenzung und Einsamkeit zu kämpfen haben. «Das CafiTass ist ein Ort der Begegnung, wo sich die Menschen respektiert und angenommen fühlen. Zu- Rita Borner, Marktleiterin (links), und Carla Zappa, Projekt- dem können wir in diesem Umfeld niederschwellig auf leiterin Begegnungscafés, lieben ihre vielfältige Arbeit. Hilfs- und Unterstützungsangebote aufmerksam ma- chen.» Auch das CafiTass lebt vom Einsatz der Freiwilligen. Freiwillig im Einsatz Eine von ihnen ist Trudi Schneider, 76. In einer Gross- Die Caritas-Märkte in St. Gallen und Wil werden gröss- familie mit neun Geschwistern aufgewachsen, lernte tenteils von Freiwilligen betrieben, einzig die beiden sie schon früh mit anzupacken. Als ihre Kinder grösser Ladenleiterinnen und ihre Stellvertreterin sind fest angestellt. Die meisten Freiwilligen sind im Pensions- alter und gehören deshalb zur Risikogruppe; in der Co- rona-Krise eine ganz besondere Herausforderung. Wie Im CafiTass fühlen sich diese gemeistert wurde, steht im Beitrag auf Seite 22. die Menschen angenommen Inzwischen läuft der Betrieb wieder in gewohnten Bah- nen, und fast alle Freiwilligen sind wieder im Einsatz. und respektiert. Was bewegt jemanden dazu, regelmässig im Caritas- Markt zu arbeiten? Für Cécile Heuberger, 75, ist Frei- wurden, übernahmen sie und ihr Mann während vie- willigenarbeit eine Selbstverständlichkeit. «13 Jahre ler Jahre Fronarbeiten in der Zwinglipasshütte. «Aus lang organisierte ich für eine christliche Organisation gesundheitlichen Gründen ist das meinem Mann nicht den Transport von Hilfsgütern nach Russland, Rumä- mehr möglich. Ich bin froh, dass ich jede Woche einen nien und in die Ukraine. Ich war verantwortlich für die halben Tag lang im CafiTass im Einsatz bin, und so Einsatzplanung der rund 30 Freiwilligen. Im Laufe der noch etwas tun kann, das mir viel Freude macht.» Barbara Gysi – Matronatskomitee Nach dem Einkauf noch einen Tee oder Kaffee trinken, sich mit anderen Gästen austauschen und Informationen bekommen – im CafiTass ist alles möglich. Als ehemalige Sozialvorsteherin von Wil kenne ich die Situation von Ar- mutsbetroffenen in unserer Stadt. Ich bin deshalb glücklich, dass dieser Treffpunkt nun möglich geworden ist. Hier spürt man viel Herzlichkeit, Solidarität und Menschlichkeit – eine Wohltat im schwierigen Alltag. Daher unterstütze ich das Projekt CafiTass sehr gerne durch mein Engagement im Matronatskomitee. Barbara Gysi, Nationalrätin SP 20 Nachbarn 2 / 20
Caritas St. Gallen-Appenzell Eine Million Sterne – zum fünften Mal am Weihnachtsmarkt in Wil Es ist ein überwältigender Anblick, wenn auf der Oberen Bahnhofstrasse in Wil Hunderte Kerzen brennen. Dafür sorgen Andreas Stemer und seine vielen Helferinnen und Helfer mit den Wunschkerzen für «Eine Million Sterne». Text: Susanna Heckendorn Bild: Andreas Stemer Am diesjährigen Weihnachtsmarkt – so er denn statt- finden kann – stehen zum fünften Mal zwei Stände der Caritas. An einem werden die Wunschkerzen verkauft, am anderen gibt es Glühwein und Selbstgemachtes vom Caritas-Markt. Möglich machen das Andreas Ste- mer und viele Freiwillige. Es gibt viel zu tun Die Arbeit beginnt schon lange vor der Weihnachtszeit. Bewilligungen müssen eingeholt, Plakate ausgehängt, Flyer gedruckt und verteilt werden. Viele Hundert Glä- ser müssen jedes Jahr neu mit Banderolen und Kerzen bestückt werden. Zu seinem Einsatz kam Andreas Stemer über seine Ehefrau, Lydia Stemer, die in der Diakonie der Kirch- gemeinde Wil arbeitete. Die Stemers sind eine Familie, die anpackt, wenn etwas zu tun ist. Beim ersten Mal wurden die Kinder eingespannt, die Kolleginnen und Kollegen zum Helfen mitbrachten. Arbeitskollegen Ein Teil der Million Sterne leuchtet auch in Wil. meldeten sich, als sie vom Projekt hörten, und auch Mitglieder der Kirchgemeinde wollten helfen. Inzwi- schen kann Andreas Stemer auf erfahrene Unterstüt- Ein bereicherndes Engagement zung zählen, wenn er jeweils im Herbst seine Anfrage Den Austausch mit den Menschen am Stand empfindet per Mail verschickt. Andreas Stemer als überaus bereichernd. «Man kann «Ohne die vielen Sponsoren könnten wir den Anlass den Leuten die Aufgaben der Caritas erklären und auf- nicht auf die Beine stellen», sagt Andreas Stemer. «Ob zeigen, wie wichtig und wirkungsvoll die lokale Arbeit Verpflegung, Dankespräsente oder Inserate, alles wird ist.» Letztes Jahr kam Raphael Troxler, Pfarrer in Wil, grosszügig zur Verfügung gestellt.» auf ein Glas Glühwein vorbei, was von allen als grosse Wertschätzung empfunden wurde. Andreas Stemers Wissen, wofür das Geld eingesetzt wird grosser Wunsch ist ein Besuch des Bischofs. «Wenn Es sei wichtig, weiss Andreas Stemer, den Spenderin- Bischof Markus Büchel am Stand vorbeikäme und sich nen und Spendern aufzeigen zu können, wofür ihr Geld Zeit nehmen würde, um mit den Leuten zu reden, das eingesetzt werde. «Es gibt immer wieder Personen mit wäre ein wahnsinniger Publikumsmagnet!» einer vorgefassten Meinung, die nicht verstehen kön- Obwohl er seinen Arbeitsplatz im April von Gossau nen oder wollen, dass es in der Schweiz armutsbetrof- nach Zürich verlegt hat, ist es für Andreas Stemer kei- fene Menschen gibt. Es ist viel gewonnen, wenn wir ne Frage, auch in diesem Jahr wieder dafür zu sorgen, ihnen erklären können, wofür das im Vorjahr einge- dass in Wil viele Hundert Kerzen ein Teil sind von ei- nommene Geld eingesetzt wurde.» ner Million Sterne. Nachbarn 2 / 20 21
Ichwillhelfen JungeFreiwilligeverhindern dieSchliessungderCaritas-Märkte Ein einziger Aufruf genügte: Dank dem spontanen Einsatz von vielen jungen Freiwilligen konnten die Caritas-Märkte in St. Gallen und Wil auch während des Lockdowns geöffnet bleiben. TextSusannaHeckendornBildGregorScherzinger W er holt das Brot bei den Bäckereien in der Um- gebung, kontrolliert die Waren, füllt Gestelle auf und steht an der Kasse, wenn die Freiwilli- gen von einem Tag auf den andern zu Hause bleiben müssen, weil sie aufgrund ihres Alters zur Risiko- gruppe gehören? «Uns war klar, dass der Lockdown unsere Kundin- nen und Kunden besonders hart treffen würde», erinnert sich Phi- lipp Holderegger, Geschäftsleiter der Caritas St. Gallen-Appenzell. «Es stand deshalb ausser Frage, die Caritas-Märkte zu schliessen. Aber wer, das war die grosse He- ZahlreichejungeFreiwilligehieltendenCaritas-MarktwährendderCorona-KriseamLaufen rausforderung, sollte die Läden betreiben?» Mit einem Aufruf auf Facebook fanden sich innert weni- in die Hand drücken durfte, was schenkt.» Desirée wollte sich so- ger Tage viele junge Freiwillige, die, nicht gestattet ist, fiel ihm sehr lidarisch zeigen und war beein- anstatt im Lockdown zu Hause he- schwer. druckt, wie viele Menschen mit rumzusitzen, etwas Sinnvolles tun sehr wenig zufrieden sind. «Es war wollten. Jael Dahinden und Desirée Stuck schön, die grosse Dankbarkeit der studieren beide Soziale Arbeit. Kundschaft zu spüren und mit den Für Verena Keller, die sonst als Die Mutter von Jael arbeitet jeden Freiwilligen Solidarität zu leben.» Hotelfachfrau arbeitet, war es eine Mittwoch im Caritas-Markt und völlig neue Erfahrung, dass jemand gehört zur Risikogruppe. Spon- Sich zu engagieren und miteinan- so froh ist, sie dabei zu haben und tan entschied sich Jael, ihre Stell- der etwas zu bewirken, so die ein- ihr das auch zeigt. «Diese unerwar- vertretung zu übernehmen. «Die hellige Meinung der temporären tete Wertschätzung war enorm mo- Arbeit im Caritas-Markt hat mir Freiwilligen, ist eine tolle Erfah- tivierend.» Ein paar ernüchternde viele wertvolle Begegnungen ge- rung, die sie nicht missen möchten. Erkenntnisse gewann Fabian Bal- mer. Nie hätte er gedacht, dass es WOLLENSIESICHAUCHFREIWILLIGENGAGIEREN? so viele armutsbetroffene Schwei- zerinnen und Schweizer gibt. «Es AlsFreiwilligeoderFreiwilligerlernenSieMenschenmitanderenPerspektiven war sehr hart mitzuerleben, wie kennen Sie helfen im Alltag und machen Integration möglich Sie können Ihr jemand etwas zurücklegen muss, Wissen weitergeben und Neues dazulernen Die Freiwilligenangebote unter- weil ihm an der Kasse 40 Rappen scheidensichvonRegionzuRegionBieinformierenSiesichaufderWebsite fehlen.» Dass er der Person nicht derCaritas-OrganisationinIhrerRegion einfach zwei Zwanzigrappenstücke 22 Nachbarn 2 / 20
Kolumne DaswunderlicheGefühl derGemeinscha TextChristophSimonIllustrationCorinneBromundt U nsichere Zeiten haben auch ihre reizvollen Sei- Fensterscheiben. Ich hätte vom Specksteinschmirgeln ten. Es lebe die Improvisation! Fahren wir die was an der Schulter und so. War ein lieber Kerl, der Stu- Tage freihändig und gegen den Wind! Winnetou dent. Vermutlich studiert er jetzt wohl wieder sinnlos hat schliesslich auch keinen Sattel gebraucht! Wenn und vermisst die Zeit, wo er einem Menschen in Not uns der Frühling 2020 etwas gelehrt hat, dann dies: beistehen konnte. Wie man das Beste draus macht. Und dann die Erleichterung, als (fast) alles wieder Kommende Generationen werden von unseren Er- aufging! Die alten Paare sind ohne Streit zusammen fahrungen profitieren, denn in der Beschränkung auf Gartenstühle einkaufen gegangen. Die Affen im Zoo Heim und Zoom sind wir keine Amateure. Im Lock- konnten wieder Menschen beobachten. Das Autokino down haben wir den Leis- wurde wiedererfunden: Die tungsdruck auf 110 Prozent Leute reisten mit dem Zug runtergefahren, den Lohn an und nahmen am Bahnhof auf 80 Prozent gesenkt und ein Mobility, um dabei sein den Alkohol auf 40 Prozent zu können. hochgefahren. Wir haben vie- le neue Fähigkeiten erlernt: Eines Morgens werden wir Wie man in der Badewanne aufwachen und feststellen, mit einem Didgeridoo das dass es Masken und Ab- Jacuzzi-Feeling herbei bläst. standsregeln nicht mehr Meine Kulturkollegen hau- braucht. Für die einen werden ten Podcasts raus und Insta- die letzten Monate nur noch gram-Livesessions, sie twit- eine Erinnerung sein, ein fer- terten Romane und erfanden ner Klang. Für andere wer- alle möglichen digitalen For- den die Folgen der Krise zur mate, alles vom Liegestuhl Dauerkrise. Manche werden aus, in der Frühlingssonne behaupten, dass dies alles gar auf dem Balkon. Ich schmir- nie stattgefunden hat. Und gelte Speckstein (was gut für nur eine Minderheit wird sich die Seele sei) und liess mir an dieses Gefühl erinnern, von einem Studenten die Lebensmittel bringen. Ich sei dieses wunderliche und erhebende Gefühl der Gemein- Risikogruppe und so. Der Student putzte sogar meine schaft, das uns für kurze Zeit geeint und getragen hat. ChristophSimon* lebtalsfreier SchristellerundKabareistinBern Bildzvg Nachbarn 2 / 20 23
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