Nachhaltigkeitsziele in der Wirtschaftspolitik - juristische Überlegungen - Research ...
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ETH Library Nachhaltigkeitsziele in der Wirtschaftspolitik – juristische Überlegungen Other Journal Item Author(s): Bechtold, Stefan Publication date: 2022-05 Permanent link: https://doi.org/10.3929/ethz-b-000549598 Rights / license: Creative Commons Attribution 4.0 International Originally published in: Wirtschaftsdienst 102(5), https://doi.org/10.1007/s10273-022-3182-8 This page was generated automatically upon download from the ETH Zurich Research Collection. For more information, please consult the Terms of use.
Zeitgespräch DOI: 10.1007/s10273-022-3182-8 Wirtschaftsdienst, 2022, 102(5), 334-337 JEL: K00, K20, L50 Stefan Bechtold Nachhaltigkeitsziele in der Wirtschaftspolitik – juristische Überlegungen Stat pro ratione voluntas (Der Wille steht für eine Begrün- Vertrags wirkt die EU auf „die nachhaltige Entwicklung dung) (Flume, 1960). In einer marktwirtschaftlichen Ord- Europas“ hin, und Art. 11 des Vertrags über die Arbeits- nung, die vom Grundsatz der Privatautonomie geprägt weise der EU fordert, dass die EU-Politik Erfordernisse ist, hinterfragt das Recht nicht den Sinn und Zweck einer des Umweltschutzes zur Förderung einer nachhaltigen vertraglichen Bindung. Innerhalb der Grenzen des Rechts Entwicklung einbeziehen muss. In Deutschland wur- wird einer Vertragsbeziehung unabhängig von ihrem In- den 1994 im Zuge des Einigungsvertrags die Staatsziele halt allein aus dem Grund rechtliche Geltungskraft zuer- dahingehend erweitert, dass der Staat „auch in Verant- kannt, dass der Einzelne die Vertragsbeziehung wollte. wortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen“ schützt (Art. 20a GG). In einem histo- Einem solchen freiheitlichen Modell einer Privatrechts- rischen Beschluss zum Klimaschutzgesetz aus dem Jahr ordnung liegt die Idee staatlicher Lenkung fern. Die Auf- 2021 stärkte das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE gabe der Privatrechtsordnung ist begrenzt. Sie stellt Insti- 157, 30) diese Staatszielbestimmung und eröffnete die tutionen zur Verfügung, mit denen Marktteilnehmende ih- Möglichkeit, Fragen des intertemporalen Freiheitsschut- re Verhältnisse selbst regeln können. Aber sie muss auch zes unter dem Blickwinkel von Grundrechtsverletzungen Grenzen setzen, wenn unterschiedliche Arten von Markt- zu betrachten. versagen die privatautonome Gestaltung von Rechts- verhältnissen erschweren. Negative externe Effekte, die Nachhaltigkeit im Wirtschaftsrecht: ein juristischer Dritte in Gegenwart oder Zukunft betreffen, können juris- Baukasten tische Interventionen in Marktprozesse legitimieren. Dazu kann die Verfolgung von Nachhaltigkeitszielen gehören. Ge- und Verbote Auch wenn keine trennscharfe juristische Definition von Traditionellerweise war die Bekämpfung negativer Exter- Nachhaltigkeitszielen existiert, bietet das Völker-, Europa- nalitäten dem Öffentlichen Recht zugewiesen. Jedoch und Verfassungsrecht doch Anhaltspunkte. Die Resoluti- verwendet die Wirtschaftspolitik zunehmend Instrumente on der Vereinten Nationen zu „Sustainable Development des privatrechtlichen Wirtschaftsrechts, um wirtschaftli- Goals“ aus dem Jahr 2015 enthält 17 Ziele hinsichtlich che Austauschprozesse in Bezug auf Nachhaltigkeitsziele nachhaltiger ökonomischer, sozialer und ökologischer zu beeinflussen. Dabei kann der Staat auf das klassische Entwicklung, die von Armutsbekämpfung, Klima- und Instrumentarium von Ge- und Verboten zurückgreifen. Er Gesundheitsschutz bis zur Gleichberechtigung reichen. kann durch den Ausstieg aus der Atomenergie oder die Zwar entfaltet die Resolution keine unmittelbar bindende staatliche Begrenzung und Besteuerung von Emissions- Rechtswirkung unter privaten Marktteilnehmenden. Doch zertifikaten eine nachhaltige Energieproduktion unterstüt- hat sie mittelbar auf nationaler und supranationaler Ebene zen. Er kann Unternehmen verpflichten, in ihren Lieferket- erhebliche Bedeutung gewonnen. ten menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfalts- pflichten zu beachten, entsprechenden Risiken vorzubeu- Auf europäischer Ebene finden sich Nachhaltigkeitszie- gen und Verletzungen zu vermeiden (so § 3 Abs. 1 des le im Primärrecht der EU wieder. Gemäß Art. 3 des EU- Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes, LkSG). © Der/die Autor:in 2022. Open Access: Dieser Artikel wird unter der Im Gesellschaftsrecht kann die Gesetzgebung den Vor- Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröf- fentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de). stand einer Aktiengesellschaft verpflichten, bei der Un- ternehmensführung neben den Aktionärsinteressen auch Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert. Interessen von Arbeitnehmenden und/oder der Allge- meinheit zu berücksichtigen. Dahinter steht die große Fra- ge, ob der Zweck eines Unternehmens auf die Interessen seiner Eigentümer:innen fokussiert sein und die Bekämp- Prof. Dr. Stefan Bechtold ist Professor für Immaterial- fung negativer Externalitäten dem Umwelt-, Arbeits- oder güterrecht an der ETH Zürich. Deliktsrecht zugewiesen werden sollten, oder ob Aspekte der Corporate Social Responsability die Unternehmens- führung mitbestimmen sollten. Wirtschaftsdienst 2022 | 5 334
Zeitgespräch Im Kartellrecht können über die Zielbestimmungen des nicht zu einem Nachhaltigkeitsziel gezwungen, aber sie Kartellrechts Nachhaltigkeitserwägungen eingeführt wer- müssen sich erklären (Comply or Explain). Auch wenn den. So stellt sich die Frage, inwiefern Kartellbehörden ein solches Informationsmodell dem Unternehmen for- bei der Durchsetzung des Kartellverbots und bei der Fusi- mell die Wahl lässt, Nachhaltigkeitsziele zu verfolgen oder onskontrolle Nachhaltigkeitserwägungen berücksichtigen nicht, kann das praktische Resultat eines solchen Regu- können. Sollte das Kartellrecht beispielsweise einer Un- lierungsansatzes sein, dass sich viele Unternehmen dem ternehmenskooperation entgegenstehen, die CO2-Emis- Nachhaltigkeitsziel verschreiben. Dies ist rechtspolitisch sionen reduzieren will, aber gleichzeitig zu einer Wettbe- durchaus erwünscht. Regulatorisch erinnert dies an das werbsbeschränkung führt? Dazu stehen klassische An- verhaltensökonomische Konzept des Nudging, bei dem sätze wie die Freistellung von Kartellen im Rahmen von das Verhalten von Menschen beeinflusst werden soll, Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 GWB, der Kriterienkatalog ohne dabei auf Verbote zurückgreifen oder ökonomische zur Prüfung von Fusionen nach Art. 2 der europäischen Anreize verändern zu müssen. Fusionskontrollverordnung oder das Institut der Minister- erlaubnis zur Freigabe von Fusionen nach § 42 GWB zur Institutionen und Verfahren Verfügung. Auch kann über ein erweitertes Verständnis des Maßstabs der Konsumierendenwohlfahrt als kartell- Setzt die Gesetzgebung im Wirtschaftsrecht auf Ge- oder rechtliche Zielfunktion nachgedacht werden. Verbote oder schaff t sie Transparenzpflichten zur Umset- zung von Nachhaltigkeitszielen, greift sie in materieller Transparenz und Nudging Weise in privatrechtlich organisierte Austauschprozesse ein. Ein anderer Ansatz verändert lediglich das instituti- Das Instrumentarium zur Verankerung von Nachhaltig- onelle oder prozedurale Gefüge des Wirtschaftsrechts, keitszielen im Wirtschaftsrecht reicht weiter als Ge- und um die Rahmenbedingungen zu beeinflussen, unter de- Verbote. Im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht setzt nen Marktteilnehmende ihre Austauschprozesse organi- der Staat zunehmend auf Transparenzpflichten, mit de- sieren. Zu solchen institutionellen Interventionen zählt die nen Informationsasymmetrien überwunden werden sol- Schaffung neuer Gesellschaftsformen, die auf nachhalti- len. Um Grundsätze guter Unternehmensführung in Un- ge Unternehmenszwecke zugeschnitten sind. Der Koali- ternehmen zu verankern, verpflichtet § 161 Aktiengesetz tionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP börsennotierte Aktiengesellschaften, im Rahmen eines für die Legislaturperiode 2021 – 2025 sieht die Schaffung „Comply-or-Explain“-Ansatzes zu erklären, ob sie den neuer Gesellschaftsformen wie Sozialunternehmen oder Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Gesellschaften mit gebundenem Vermögen vor. Kodex folgen, der auch Regelungen zu einer nachhaltigen Ausrichtung der Vorstandsvergütung enthält. Daneben kann der Staat in die Organisationsverfahren privatrechtlicher Gesellschaften eingreifen, um die Be- Weiter gehen die Berichterstattungspflichten für große Ka- rücksichtigung von Nachhaltigkeitszielen bei der opera- pitalgesellschaften hinsichtlich Umwelt-, Arbeitnehmer-, tionellen Geschäftsführung sicherzustellen. Dazu zählt Sozial- und Menschenrechtsbelangen, die in Umsetzung die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitszielen in Risi- der europäischen Corporate Social Responsability (CSR)- komanagementsystemen oder die Berufung von Nach- Richtlinie im Handelsgesetzbuch verankert wurden (§§ haltigkeitsfachleuten in Aufsichtsräte. Das neue Liefer- 289b, 289c HGB). Auf europäischer Ebene wird derzeit im kettensorgfaltspflichtengesetz verpflichtet Unternehmen Rahmen einer Reform der CSR-Richtlinie eine bedeutende zum Aufbau entsprechender Risikomanagement- und Ausweitung hin zu einer umfassenden Nachhaltigkeitsbe- Dokumentationssysteme. Auch kann der Staat durch richterstattung diskutiert. Daneben schuf die europäische Whistleblowingverfahren (wie in § 8 LkSG) Beschäftigten Offenlegungsverordnung aus dem Jahr 2019 Anforderun- Anreize geben, Verletzungen von Nachhaltigkeitspflichten gen an Finanzmarktteilnehmende und Berater:innen, über offenzulegen, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Nachhaltigkeitsaspekte angebotener Finanzprodukte transparent aufzuklären. Und die europäische Taxonomie- Haftung verordnung aus dem Jahr 2020 legte Kriterien zur Bestim- mung nachhaltiger Wirtschaftstätigkeit fest und erweiterte Neben Ge- und Verboten, Transparenz und Nudging sowie entsprechende Berichtspflichten. der Schaffung von Institutionen und Verfahren kann der Staat durch Haftungsrecht Marktteilnehmenden Anreize Wie diese Beispiele zeigen, setzt das europäischen Ge- bieten, Nachhaltigkeitsziele zu verfolgen. So verpflichte- sellschafts- und Kapitalmarktrecht zunehmend auf Trans- te 2021 ein niederländisches Gericht auf der Grundlage parenz und Information, wenn es um die Verankerung von des allgemeinen niederländischen Deliktsrechts die Royal Nachhaltigkeitsprinzipien geht. Unternehmen werden Dutch Shell Company, ihre Netto-CO2-Emmissionen bis ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 335
Zeitgespräch 2030 um 45 % zu senken.1 Inzwischen sind in Deutschland Im Folgenden soll auf einige Herausforderungen hingewie- ähnliche Klagen gegen Unternehmen aus der Energie- und sen werden, die sich bei der Umsetzung von Nachhaltig- Automobilbranche hängig, wenn auch deren Ausgang noch keitszielen mit Mitteln des Wirtschaftsrechts stellen. ungewiss ist. Auch im allgemeinen Kaufrecht wird erwogen, ob über Gewährleistungsvorschriften Verletzung von Nach- Evidenzbasiertes Wirtschaftsrecht haltigkeitszielen rechtlich durchsetzbar werden können. Auch wenn die europäische und die nationalen Gesetzge- 2011 verabschiedete der Menschenrechtsrat der Verein- bungen Nachhaltigkeitsziele mit einer bewundernswerten ten Nationen Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschen- regelungstechnischen Innovationskraft im Wirtschaftsrecht rechte, wonach Unternehmen die Verantwortung haben, verankern, steht der empirische Beweis der Wirksamkeit Menschenrechte zu achten, und eine Verletzung dieser der einzelnen Maßnahmen oftmals aus. Ob die einzelnen Pflicht sanktioniert werden sollte. Zwar haben diese Leit- Vorschriften zur Erhöhung von Transparenz und zur Berück- prinzipien keine unmittelbar rechtlich bindende Wirkung, sichtigung von Nachhaltigkeitszielen in Unternehmensab- und die Möglichkeiten einer Haftbarkeit von Unternehmen läufen tatsächlich zu einer verbesserten Unternehmens- für Menschenrechtsverletzungen nach deutschem De- führung in Sachen Nachhaltigkeit führen, ob die Haftung liktsrecht sind begrenzt. Auch sieht das Lieferkettensorg- von Einzelunternehmen für Klimaschäden tatsächlich das faltspflichtengesetz bei Verletzung von Sorgfaltspflichten Klima verbessert, und zu welchen Kosten all dies passiert, keine privatrechtliche Haftungsfolge vor (§ 3 Abs. 3 LkSG). ist inhaltlich wie methodisch schwierig zu beantworten. Aber die rechtspolitische Debatte in vielen Ländern und auf europäischer Ebene zeigt, dass die Durchsetzung von Die Einführung von Nachhaltigkeitszielen in das Wirt- Menschenrechten und Klimaschutzzielen mit Hilfe gesell- schaftsrecht führt zu schwierigen Abwägungsprozessen, schaftsrechtlicher oder deliktsrechtlicher Haftungstatbe- insbesondere wenn inkommensurable oder nicht quantifi- stände zumindest eine politische Option ist. zierbare Werte miteinander abgewogen werden müssen. Wie sollen langfristige und diffuse Umweltauswirkungen Umweltpolitisch mag diese Option interessant erscheinen. einer Unternehmensfusion in einem Verfahren berück- Rechts- und wirtschaftspolitisch droht das Wirtschafts- sichtigt werden, das auf die empirische Quantifizierung recht jedoch auf Abwege zu geraten. Die Bewältigung der von Wohlfahrtseffekten ausgerichtet ist? Und welche Klimakrise erfordert eine Vielzahl von Abwägungs- und Pri- konkreten Handlungsempfehlungen und Haftungsrisiken orisierungsentscheidungen, zu deren Bewältigung die Politik ergeben sich für eine Unternehmensführung, die nicht nur gefragt ist. Wenn solche Konflikte durch Zivilgerichte gelöst dem quantifizierbaren Anlegerinteresse, sondern auch werden sollen, wirft dies nicht nur schwierige Kausalitäts- „weicheren“ Nachhaltigkeitszielen wie Umwelt- oder So- fragen auf. Auch werden die Grenzen zwischen Judikative, zialfaktoren Rechnung tragen muss? Zwar sind dem öf- Exekutive und Legislative verwischt. Es ist fraglich, ob ein fentlichen Recht solche Abwägungsprozesse zwischen Zivilgericht, das sich auf die Bewältigung eines bilateralen inkommensurablen Werten wohl bekannt. Wie diese im Konflikts zwischen zwei Parteien beschränkt, überhaupt ein Privatrecht abgebildet werden sollen, ist aber nicht voll- geeignetes Forum bietet, um die Klimakrise – eine globale ständig ausgeleuchtet. Tragödie der Allmende – bewältigen zu können. Selbst wenn ein Unternehmen auf zivilrechtlicher Grundlage zur Redukti- Beweisanforderungen und strategisches Verhalten on von CO2-Emissionen verpflichtet wird, ist nicht gesichert, ob dies dem Klima hilft. Die Reduktion kann über Preisver- Setzt der Staat Haftungsvorschriften und Transparenz- änderungen die Produktnachfrage verändern. Andere Un- pflichten ein, um Nachhaltigkeitsziele im Geschäfts- ternehmen im In- und Ausland, die keiner Reduktionspflicht gebaren von Unternehmen zu verankern, zeigen sich unterliegen, mögen ihre CO2-Emissionen erhöhen (Carbon- allgemeine Probleme, die die Wirksamkeit dieser Regu- Leakage-Problematik). All dies sind Zeichen, dass die Klima- lierungsinstrumente beschränken können. So kann die krise ohne öffentlich-rechtliche und internationale Interventi- Wirksamkeit von Haftungsvorschriften daran scheitern, onen schwerlich in den Griff zu bekommen ist. dass den Geschädigten kein Nachweis eines kausalen Zusammenhangs zwischen einer Pflichtverletzung des Herausforderungen Unternehmens und dem individuellen Schaden gelingt. Transparenzpflichten können Unternehmen zu strategi- Der juristische Baukasten zur Umsetzung von Nachhaltig- schen Umgehungsaktionen verleiten. Bei Greenwashing- keitszielen im Wirtschaftsrecht ist groß und breit gefächert. Praktiken werden nachhaltige Initiativen vorgetäuscht oder einzelne Unternehmensinitiativen als besonders vor- 1 Eine englische Fassung des Urteils ist erhältlich unter https://uitspra- bildlich hervorgehoben, obwohl sie im Gesamtprogramm ken.rechtspraak.nl/inziendocument?id=ECLI:NL:RBDHA:2021:5339. des Unternehmens eine untergeordnete Rolle spielen. Wirtschaftsdienst 2022 | 5 336
Zeitgespräch Verhältnis von Öffentlichem Recht und Privatrecht Die Integration von Nachhaltigkeitszielen ins Wirtschafts- recht verändert damit nicht nur inhaltlich, sondern auch Eingangs erwähnte dieser Beitrag, dass die Bekämpfung institutionell das Verhältnis zwischen Öffentlichem Recht negativer Externalitäten traditionell dem Öffentlichen und Privatrecht. Sie sollte Gerichte nicht dazu verleiten, Recht zugewiesen war. Wenn die bestehenden Vorschrif- ihre Zurückhaltung gegenüber rechtspolitischer Gestal- ten zum Umweltschutz unzureichend waren, war es in tung aufzugeben und das Haftungsrecht mit rechtspoli- dieser Welt Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Umwelt- tischen Zielvorgaben zu überfrachten. Gleichzeitig sollte schutzrechts, Vorschriften zu verschärfen, die dann für al- die Verlagerung von Nachhaltigkeitszielen vom Öffentli- le Unternehmen verbindlich waren. Mit der zunehmenden chen Recht ins Privatrecht der nationalen und internatio- Bedeutung von Nachhaltigkeitszielen im Wirtschaftsrecht nalen Politik nicht als Feigenblatt dienen, um unpopuläre, verschiebt sich die Wirtschaftsregulierung vom Öffentli- aber notwendige Entscheidungen über verschachtelte chen Recht ins Privatrecht. Waren Belange des Umwelt- privatrechtliche Konstruktionen zu implementieren, bei schutzes und der Menschenrechte früher genuine Auf- denen politische Verantwortlichkeiten verwässert und gaben des Öffentlichen Rechts, werden sie nun in privat- dem Klima nur bedingt geholfen wird. rechtlich organisierte Aushandlungsprozesse integriert. Diese Entwicklung birgt Gefahren. Sie kann zu einer Poli- Literatur tisierung des Wirtschaftsrechts führen. Zwar war das Pri- Bechtold, S. (2010), Die Grenzen zwingenden Vertragsrechts: Ein rechts- vatrecht niemals gänzlich unpolitisch. Und das normative ökonomischer Beitrag zu einer Rechtsetzungslehre des Privatrechts. Ekkenga, J., C. Schirrmacher und B. Schneider (2021), Offene Fragen zur Ziel der traditionellen Rechtsökonomie, die Rechtsordnung rechtlichen Steuerung nachhaltigen Unternehmertums, Neue Juristi- solle Effizienz- und Verteilungserwägungen voneinander sche Wochenschrift, 1509. trennen, mag eher in der Theorie als in der Praxis überzeu- Fleischer, H. (2017), Corporate Social Responsability: Vermessung eines Forschungsfeldes aus rechtlicher Sicht, Aktiengesellschaft 2017, 509. gen. Dennoch zeigen sich bei der Integration von Nachhal- Fleischer, H. (2022), Klimaschutz im Gesellschafts-, Bilanz- und Kapital- tigkeitszielen ins Wirtschaftsrecht praktische Probleme. marktrecht, Der Betrieb, 37. Wenn eine Kartellbehörde sich nicht mehr auf ein klar de- Flume, W. (1960), Rechtsgeschäft und Privatautonomie, in Caemmerer u. a. (Hrsg.), Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben: Festschrift zum hundert- finiertes Ziel der Konsumierendenwohlfahrt fokussieren, jährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860-1960, 135, 141. wenn sich eine Unternehmensführung nicht mehr auf die Habersack, M. und M. Ehrl (2019), Verantwortlichkeit inländischer Unter- Steigerung des Unternehmensgewinns konzentrieren kann, nehmen für Menschenrechtsverletzungen durch ausländische Zu- lieferer – de lege lata und de lege ferenda, Archiv für die civilistische ist unklar, wie private Akteur:innen die multidimensionalen Praxis 219 (2019), 155. Optimierungsprozesse bewältigen sollen, die im Privatrecht Möslein, F. und K. Engsig Sørensen (2018), Nudging for Corpoate Long- oft auch mit juristischen Haftungsvorschriften unterlegt Termism and Sustainability: Regulatory Instruments from a Compa- rative and Functional Perspective, 24 Columbia Journal of European sind. Vielleicht überschätzt der Staat auch die Wirksamkeit Law 393. des Privatrechts zur Einführung von Nachhaltigkeitszielen Schirmer, J.-E. (2021), Klimahaftung und Kausalität – und es geht doch!, in privatwirtschaftliche Austauschprozesse. Auf den ers- Juristenzeitung, 1099. Schirmer, J.-E. (2021), Nachhaltigkeit in den Privatrechten Europas, Zeit- ten Blick weniger bedeutsam mag der Einwand scheinen, schrift für Europäisches Privatrecht, 35. die Entwicklung zu einem nachhaltigen Wirtschaftsrecht Spindler, G. (2022), Verantwortlichkeit und Haftung in Lieferketten: Das verwische die Grenzen zwischen Privatrecht und Öffentli- Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz aus nationaler und europäi- scher Perspektive, Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirt- chem Recht. Vielleicht ist es gerade Zeichen einer moder- schaftsrecht (186), 67. nen Rechtsetzungslehre, dass sie die oftmals künstlichen Spindler, G. (2021), Klimaschutz und Aktienrecht: Der Funktionswandel der Grenzen zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht Corporate Governance, Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht, 993. Wagner, G. (2019), Haftung für Menschenrechtsverletzungen, Rabels überwindet. Und doch ist es gefährlich, wenn Gerichte Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht (80), 717. aufgrund allgemeiner zivilrechtlicher Haftungsvorschriften Wagner, G. (2021), Klimaschutz durch Gerichte, Neue Juristische Wochen- Klimaschutz betreiben, der einer unmittelbaren demokra- schrift, 2256. Wegener, B. (2022), Menschenrecht auf Klimaschutz? Grenzen grund- tischen Kontrolle entzogen ist und prozedural gar nicht die rechtsgestützter Klimaklagen gegen Staat und Private, Neue Juristi- Abwägungen treffen kann, die zur Bewältigung eines glo- sche Wochenschrift, 425. balen Problems notwendig sind. Title: Sustainability Goals in Economic Policy – Legal Considerations Abstract: In Europe, legislators are increasingly introducing sustainability goals into the system of private law. By prohibiting certain conduct, increasing transparency, nudging companies, as well as changing institutions, procedures and liability regimes, legislators complement private law with tools and goals traditionally attributed to public law. This article provides an overview and points to critical aspects, including the limited empirical evidence on how effective such measures are, whether such measures invite strategic maneu- vers by companies, and how this affects the general relationship between private and public law. ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 337
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