Nazareth Brief Diakonische Gemeinschaft Freudenleicht - Diakonische Gemeinschaft ...
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Nr. 2/2021 www.nazareth.de Nazareth Brief Diakonische Gemeinschaft Nazareth Freudenleicht Nazarethbrief 2 21 09.indd 1 16.06.21 10:49
INHALT 4 Vorab 30 Meine freudenleichte Geschichte Wolfgang Roos-Pfeiffer von einem Schlemihl 31 Wir sind ein Wunder Gottes FREUDENLEICHT Chiara Faber 7 Freudenleicht Bibelarbeit zum Gemeinschaftstag Andrea Wagner-Pinggéra AUS DER 18 Freudenleicht – Der Tanz GEMEINSCHAFT Eckhard Vossiek 35 Beginn der Frauenarbeit in Nazareth 20 Wer lacht, Ursel Behr kann keine Angst haben Kirsten Moritz 38 Predigt zum Festgottesdienst Jutta Beldermann, Uta Braune-Krah, 22 Das Geschenk des Singens Werner Arlabosse Matthias Knippenberg 24 Freude an der Bewegung Ulrich Debener INFOS 43 Termine/Impressum 26 Wie nennen wir das, was so viele in Zeiten der Pandemie fühlen? Wolfgang Roos-Pfeiffer 29 Freudenleicht? Uwe Keilpflug 2 Nazarethbrief 2 21 09.indd 2 16.06.21 10:50
INHALT AUF, AUF MEIN HERZ MIT FREUDEN EG 112, Lied zur Bibelarbeit am 08.05.2021 1) Auf, auf, mein Herz, mit Freuden nimm wahr, was heut geschieht; wie kommt nach großem Leiden nun ein so großes Licht! Mein Heiland war gelegt da, wo man uns hinträgt, wenn von uns unser Geist gen Himmel ist gereist. 2) Er war ins Grab gesenket, 4) Die Höll und ihre Rotten, der Feind trieb groß Geschrei; die krümmen mit kein Haar; eh er‘s vermeint und denket, der Sünden kann ich spotten, ist Christus wieder frei bleib allzeit ohn´ Gefahr. und ruft Viktoria, Der Tod mit seiner Macht schwingt fröhlich hier und da Wird nichts bei mir geacht´: sein Fähnlein als ein Held, er bleibt ein totes Bild, der Feld und Mut behält. und wär`er noch so wild. 3) Das ist mir anzuschauen 5) Die Welt ist mir ein Lachen ein rechtes Freudenspiel; mit ihrem großen Zorn; nun soll mir nicht mehr grauen sie zürnt und kann nichts vor allem, was mir will machen, all Arbeit ist verlorn. entnehmen meinen Mut Die Trübsal trübt mir nicht zusamt dem edlen Gut, mein Herz und Angesicht; so mir durch Jesus Christ das Unglück ist mein Glück, aus Lieb erworben ist. die Nacht mein Sonnenblick. Paul Gerhardt 1647 3 Nazarethbrief 2 21 09.indd 3 16.06.21 10:50
VORAB Liebe Schwestern und Brüder, liebe Leserinnen und Leser des Nazareth Briefes, Was würdet Ihr/würden Sie sagen, Die Bedrohlichkeiten des Lebens werden wo beginnt der Himmel? eher unterirdisch angesiedelt, dort wo Dun- kelheit, Intransparenz, Dreck, kriechendes Es könnte sein, dass eine Giraffe auf diese Getier und letztendlich Hölle und Teufel lau- Frage eine andere Antwort hätte als eine ern. Alte, uralte Bilder der Angst und der Maus, der Vogel eine andere als der Maul- Hoffnung. wurf, die Mücke eine andere als die Laus. Allerdings ist mir die menschlich-weltliche „Herr im Himmel“, so beginnt manch ge- Nähe zu allem irdisch Unvollkommnen oder nervter Ruf und ist zugleich die Bitte, dass gar „Unterirdischen“ und die Ferne zum Gott die Dinge anders regeln möge, was Himmel dann doch theologisch fragwürdig. wir selbst nicht vermögen. Wenn es ganz Jesu Himmelfahrt ist doch weniger die Ent- schlimm wurde, rief meine Großmutter rückung Jesu in ferne Himmelsphären als nach dem „Herrscher!“ und alle im Raum vielmehr Zeichen dafür, dass der Himmel wussten, dass mit der herbeigerufenen mit und durch Jesus Christus über uns allen Nähe des Herrschers nun wahrhaft gutes aufgeht, offen ist für uns alle, nicht fern – Benehmen ratsam war. weder räumlich noch zeitlich – sondern nah und gegenwärtig. „Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen, lass dir die matten Gesänge gefallen, wenn dich dein Zion mit Psalmen erhöht!“ So beginnt der dritte Teil des Weihnachtsora- toriums von Johann Sebastian Bach, quasi als Jubelchor all derjenigen, die sich über die Geburt Jesu mitfreuen. „Vater unser im Himmel“ beten wir und geben unserem Bit- ten eine Richtung – alles Gute kommt von oben. 4 Nazarethbrief 2 21 09.indd 4 16.06.21 10:50
VORAB Wann also beginnt der Himmel? Wir können´s ja nicht lassen, rufen wir de- nen zu, die alles und jeden herabziehen Er hat begonnen – wir alle sind immer wollen in den Sog von Vorwürfen und Nie- schon vom Himmel umgeben. Quasi als dergeschlagenheiten. Wir können´s ja nicht Botschafter zwischen allem Gegenwärtigen lassen, von dem zu träumen und zu spre- und Zukünftigen fungiert der Heilige Geist, chen, der uns und unseren Geist aufrichtet die Geistkraft Gottes, die symbolisch im und stärkt. Die Nase, mindestens die Nase Pfingstgeschehen über die Menschen kam. atmet immer schon ein Stück Himmel! Wie hätten die Jüngerinnen, Jünger und die frühen Christen den Verlust des Bruders Darum können wir auch in diesen doch sehr und Gottessohns Jesus Christus je in den speziellen Zeiten Freudenleicht sein und Glauben integrieren können – es gibt bleiben – trotzig und glaubensgewiss gegen gegenwärtige Nähe und zukünftige Wie- alle Unbill des Lebens. Freudenleicht kommt derkehr. So glauben auch wir auch heute. also dieser Nazareth Brief daher und setzt Freudenleicht inmitten all dem irdischen ein paar frühsommerliche Akzente. Danke Wirrwarr auch und besonders in Krisen- an alle, die dazu so viel und im wahrsten zeiten ist also die trotzig hoffnungssture Sinne Bewegendes beigetragen haben. Erwiderung, dass Gottes Zukunft schon begonnen hat und nicht in ach so ferne Reichlich himmlische Luft wünsche ich uns Zeiten verschoben ist. allen für die Sommerzeit, ob nun mit oder ohne Urlaub, ob nun mit oder ohne Reisen. Wo also beginnt der Himmel? Und ich wünsche uns immer eine Handbreit Himmel unter den Füßen. Freudenleicht und Schauen wir mit den Augen des Hamsters himmelweit! oder der Ameise gen Himmel, stehen wir bereits mit beiden Beinen mittendrin im Ihr/Euer Himmel. Das kann und soll beflügeln, das Sein mit Leichtigkeit füllen, Freude stärken und freudenleicht machen mitten in dieser Welt voller Unfertigkeiten und Zerrissenheit. Wolfgang Roos-Pfeiffer Ältester der Gemeinschaft 5 Nazarethbrief 2 21 09.indd 5 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT FREUDENLEICHT BIBELARBEIT ZUM FRÜHJAHRS-GEMEINSCHAFTSTAG AM 08.05.2021 Seit über einem Jahr leben wir nun in einem Die bleierne Schwere, die ihren Ursprung außerordentlichen Modus, oder, wie soll ich darin hat, dass die Tage so im Gleichklang sagen? Dem großen Ausnahmezustand? Es vergehen. Einer nach dem anderen. Einer war und ist ein Wechselbad der Gefühle. wie der andere. Aufstehen, anziehen, es- Wenn ich mich erinnere, war da zuerst die sen, arbeiten. Häufig stundenlang allein Angst und eine ungeheure Anspannung. vor dem Bildschirm. Abends wieder essen. Die Hoffnung des Sommers, alles könnte Dann noch ein bisschen fernsehen, ins Bett. ein kurzer Spuk gewesen sein. Bald darauf, Am nächsten Tag das Gleiche. Am über- die Enttäuschung im Herbst, die vielen Ein- nächsten auch. Da wird schon der Ausflug schläge im November, Dezember und Janu- in den Biomarkt zum Erlebnis. Eintönig ist ar. Schließlich hat sich Resignation breitge- das, langweilig. Selbst die geduldigsten Ge- macht. Wütende Müdigkeit. Gefühlt ewig müter sind inzwischen gereizt. dauert der Zustand schon. Stillstand. Nichts scheint zur rechten Zeit am rechten Ort zu Es sind die Lichter, die fehlen. Die festlichen sein. Höhepunkte des Jahres. Die Feiern. Runde Geburtstage, Abiturfeiern, Kommunion Dabei ist vieles schnell gegangen. Schnell und Konfirmation. Von Hochzeiten ganz zu und ganz gut hat sich das Gesundheitssys- schweigen. „Das holen wir im nächsten Jahr tem auf die Situation eingestellt. Schnell nach.“ Wie oft habe ich das gesagt. Aber sind wenig gefragte Artikel zur Massenware ganz ehrlich: Vieles lässt sich nicht nachho- geworden. Schnell sind Impfstoffe entwi- len. Über manches ist die Zeit hinwegge- ckelt, getestet und auf den Markt gebracht gangen. Es fehlen die Feste. Nicht weil alle worden. Aber gefühlt hat alles ewig gedau- Welt partyverrückt ist. Sie fehlen, „denn wir ert. essen Brot, aber wir leben von Glanz“. So schreibt es Hilde Domin. Und sie hat Recht Der lange Winter, ein Frühling, der zumin- damit. Über ein Jahr ohne Glanz, das wirkt dest hier in Lobetal nicht so recht einer in vielem wie ein verlorenes Jahr. Ein Jahr, werden will. Wie Mehltau liegt das alles auf das, wenn man im biblischen Bild sprechen dem Land. Die Zeit ist bleiern geworden. will, die Heuschrecken gefressen haben. Grau, schwer, zähflüssig. Die Lähmung legt sich auch auf die, die wenig existenzielle So fühlt es sich an. Folgen fürchten müssen. 7 Nazarethbrief 2 21 09.indd 7 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT Höchste Zeit also, die Blickrichtung zu ver- Schließlich lässt sie sich schlecht verordnen. ändern. Sich auf einen Gemütszustand zu Auch gibt es Zeiten im Leben, in denen sich konzentrieren, der mit freudenleicht zu be- die Freude einfach nicht einstellen will, weil schreiben ist. Auch wenn mit dem heutigen einfach zu viel gegen sie spricht. Trauer, ver- Gemeinschaftstag nicht alles plötzlich schön schenkte Gelegenheiten, Verlust. Und doch. und fröhlich ist, ist doch dieser Tag heute Begeben wir uns auf eine Reise, um der ein Meilenstein auf dem Weg, der aus zu Freude auf die Spur zu kommen. viel Erdenschwere herausführen soll. II I Ich habe nachgedacht, was meine Freu- Freudenleicht. Was für ein Wort. Eine Wort- den-Highlights sind. Einige sind mir einge- schöpfung. Wie schon „hoffnungs-stur“ im fallen. Auf wunderliche Weise finden sie vergangenen Jahr. „Freudenleicht“. Da kann zusammen. Aber dazu später. man sich auf den ersten Teil des Wortes konzentrieren. Oder auf den zweiten. Oder „Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und aber hoffen, dass mit der Konzentration auf im Frieden geleitet werden. Berge und den ersten sich das zweite – vielleicht wie Hügel sollen vor euch her frohlocken mit von selbst – einstellt. Das soll mein Weg Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde sein, auf den ich Sie nun mitnehmen will. in die Hände klatschen.“ Jesaja 55,12 Die Freude also. In der Vorbereitung auf „Denn sein Zorn währet einen Augen- den heutigen Vormittag habe ich in einem blick und lebenslang seine Gnade. Den Kommentar zum Johannes-Evangelium – Abend lang währet das Weinen, aber des die Stelle werde ich Ihnen später verraten Morgens ist Freude.“ Psalm 30,6 – folgendes gelesen: „Die Freude sollte ein Kennzeichen der Christen sein wie die Lie- be.“ Nun ist es ja schon mit der Liebe nicht immer ganz einfach, wie soll das erst mit der Freude werden? 8 Nazarethbrief 2 21 09.indd 8 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr Gott ist es, der die Freude wirkt: sie ent- werdet weinen und klagen, aber die steht im Herzen. Sie bleibt aber oft genug Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig nicht auf das Innere eines Menschen be- sein, doch eure Traurigkeit soll zur Freude schränkt, im Sinne der ganz stillen Freude, werden. Eine Frau, wenn sie gebiert, so sondern kann sich ganz lautstark äußern. hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde Für diese mitreißende Freude nenne ich ist gekommen. Wenn sie aber das Kind stellvertretend Jesaja 9,1.2 „Das Volk, geboren hat, denkt sie nicht mehr an das im Finstern wandelt, sieht ein großes die Angst um der Freude willen, dass ein Licht, und über denen, die da wohnen im Mensch zur Welt gekommen ist. Auch ihr finstern Lande, scheint es hell. Du weckst habt nun Traurigkeit; aber ich will euch lauten Jubel, du machst groß die Freude. wiedersehen, und euer Herz soll sich Vor dir freut man sich, wie man sich freut freuen, und eure Freude soll niemand in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn von euch nehmen.“ Johannes 16,20-22 man Beute austeilt.“ Für mich ist diese Stelle ein Freudenzeugnis par excellence. Das ist natürlich eine sehr subjektive Aus- Etliche der hier vorkommenden Motive wahl an Bibelstellen, die sich mir in den werden uns auch an anderer Stelle be- Kopf gedrängt hat; die für mich wesentliche gegnen. Sie haben damit zu tun, dass Stelle habe ich mir noch aufgespart – um sie die Freude nicht ein abstraktes Gefühl ist, Ihnen gleich ausführlicher vorzuführen. sondern sehr konkret und sich mit sehr konkreten Situationen im Leben eines Was allerdings schon einmal in einem ers- Menschen oder im Leben des ganzen Vol- ten, kleinen Fazit festzustellen ist, ist folgen- kes verbinden. des: Besonders interessant und aufschluss- Von der Freude wird in aller Regel nicht reich, wenn man sich mit dem biblischen ohne Anlass gesprochen. Von ihr ist die Befund, was die Freude angeht, beschäf- Rede im Kontext der Nacht, der Angst, tigen möchte, scheint mir Psalm 126 zu der Einsamkeit, der Verwirrung. sein. Er ist wie ein Brennglas all dessen, Die Freude ist Teil der der Verheißung – sie was von Seiten der Bibel her über die liegt in der Zukunft, aber nicht im Reich Freude zu sagen ist. der Fantasie. 9 Nazarethbrief 2 21 09.indd 9 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT III IV Deshalb habe ich den Psalm 126 ausgewählt Psalm 126 und werde zusammen mit Ihnen an ihm 1a Ein Wallfahrtslied entlanggehen. Ich werde mit einer allgemei- 1b Wenn JHWH den Zion wiederherstellt nen Einführung in den Psalm beginnen und 1c - wir sind wie Träumende -, mich dann an den Einzelversen entlanghan- 2a dann füllt sich unser Mund mit Lachen geln. Gelegentlich werde ich Querverweise 2b und unsere Zunge mit Jubel, auf uns heute, in unserer Welt, in unserer 2c dann sagt man unter den Völkern: Situation machen. Ansonsten bitte ich Sie: 2d „Groß erweist sich JHWH, Hören Sie einfach mit dem Gegenwartsohr. so an ihnen zu tun!“ Ich bin der Auffassung, Psalm 126 macht 3a Groß erweist sich JHWH, dies leicht. Er ist konkret, dem Alltagsleben so an uns zu tun: des Psalmdichters und des ganzen Volkes 3b Wir sind voll der Freude! entnommen. 4a Stelle du, JHWH, uns wieder her, Wenn ich nun die Welt von Psalm 126 4b so wie die Wadis im Negev! nachzeichne, wird hoffentlich die Freude, 5a Die (jetzt) säen in Tränen, von der er handelt, deutlich. Darüber hin- 5b in Jubel werden sie ernten. aus aber vielleicht noch anderes sichtbar, 6a Der da hingeht und weint was für Reden und Beten wichtig ist. Ob 6b (und) dabei die Keimlinge trägt, die Auslegung der Wortschöpfung „freu- 6c der kommt wieder in Jubel den-leicht“ so ganz und gar gerecht wird, 6d (und) trägt dabei seine Garben. vermag ich nicht zu sagen. Aber vielleicht nimmt ja die Beschäftigung mit dem Psalm etwas von der gegenwärtigen Erdenschwe- re – und auch das ist schon viel. 10 Nazarethbrief 2 21 09.indd 10 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT Bild von Vladis Buss, lettischer Maler* A. Einführung der bäuerlichen Welt entstammen. Sie han- deln vom harten Alltag der Leute, die in Der Psalm 126 steht in der Mitte der Wall- Abhängigkeit einer unberechenbaren Ver- fahrtspsalmen. Das sind die Psalmen 120- waltung oder von Großgrundbesitzern le- 134 (am bekanntesten wohl der Psalm 121: ben müssen. Dieser Alltag wiederum findet „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, seinen scharfen Kontrast in der Sehnsucht von wo kommt mir Hilfe?“). Sie sind wahr- nach Geborgenheit und Schutz durch Gott scheinlich entstanden für Zionspilgergrup- – er ist in der Tat der Gott der „kleinen Leu- pen. te“. Die Hoffnung auf Glück wird gemalt im Bild einer reichen Ernte. Die Befreiung 1. In der Urfassung spiegeln diese Lieder aus tödlicher Gefahr nimmt zum Bild das eindrucksvoll die Lebenswelt der kleinen Netz des Vogelfängers: „Unsere Seele ist Leute: Es ist die Welt der Kleinbauern und entronnen wie ein Vogel / dem Netze des der Handwerker. Die Bilder sind prägnant Vogelfängers; das Netz ist zerrissen, und wir und erfahrungsintensiv, vor allem jene, die sind frei“ (Psalm 124,7). Die Angst vor der 11 Nazarethbrief 2 21 09.indd 11 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT Nacht als der Zeit der Räuber und Mörder 3. Gerade in Psalm 126 wird deutlich, dass findet Eingang im Psalm 130, wo es heißt: der Zion noch nicht bzw. nicht mehr der Ort „Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als ist, den er für Gott, für Israel, für die Völker die Wächter auf den Morgen; mehr als die sein soll. Darauf deutet die Formulierung Wächter auf den Morgen, hoffe Israel auf „Wenn der Herr den Zion wiederherstellt“. den Herrn“. Auch der Psalm 126 lebt von Dies ist die Bitte, die notvolle Gegenwart der Erfahrung des bäuerlichen Lebens und zu beenden. Gleichzeitig zeigt sich in den das macht ihn verständlich. Auch wenn un- ersten drei Versen des Psalms die feste Zu- sere Welt heute eine ganz andere ist und es versicht, dass Gott genau das tun wird: Ge- eines gewissen Studiums bedarf, fangen die wiss den Zion vollenden. Wenn der Psalm Bilder an zu sprechen, wenn der historische 126 also mit einem Zukunftstraum beginnt, Graben erst einmal übersprungen ist. dann in der Absicht, diesen hoffend und glaubend der Gegenwart, der Realität ent- 2. Die Zionstheologie ist für die Wall- gegenzustellen. Der Traum wird kein Traum fahrtspsalmen prägend. Es würde nun zu bleiben, eben weil Gott Gott ist. Er hat sich weit führen, tiefer in die Zionstheologie in der Geschichte seines Volkes als der Gott einzusteigen. Hier nur so viel: Von Zion der Freiheit, des Segens und der Güte er- geht Segen aus. Das zeigt sich besonders wiesen. Diese Segensgeschichte wird wei- schön in Psalm 134, jenem Psalm, der die tergehen, weil Gott sich selbst treu bleibt. Pilger wieder nach Hause sendet, aussen- Darum geht es in diesem Psalm. det gewissermaßen. Da heißt es: „Der Herr segne dich aus Zion, der Himmel und Erde Wie und wo Psalm 126 zunächst verwen- gemacht hat!“ Der am Zion erlangte Segen det wurde, lässt sich nicht mehr feststellen, soll die Wallfahrer begleiten, wenn sie nach auch weil man nicht weiß, in welcher Weise Hause zurückkehren. die Wallfahrtspsalmen in Gebrauch waren – ob als Liedbüchlein, dass sich am liturgi- schen Ablauf der Wallfahrt orientierte oder einfach als eine Zusammenstellung von Pil- gerliedern, die eben aus Anlass der Pilger- fahrt gesungen wurden. 12 Nazarethbrief 2 21 09.indd 12 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT B. Auslegung 1. Mit Jubel feiert man den Antritt eines neuen Königs. Dieser Jubel ist Huldigung Psalm 126 besteht – das kann man auf ei- und Anerkennung der Autorität des neuen nen Blick sehen – aus zwei Strophen. Die Königs zugleich. Bis heute begegnet einem erste Strophe sind die Verse 1-3, die 2. Stro- dieser Jubel in der Welt des Nahen Ostens, phe umfasst die Verse 4-6. wenn der neu geweihte Bischof sich den Gläubigen präsentiert oder anlässlich der Die 1. Strophe ist die Vision einer Heilswen- Hochzeit eines Paares. Sie kennen den Laut de für den Zion und gekennzeichnet von vielleicht: Es ist ein sehr hohes Trillerge- überschäumender Festfreude. Ausdrücklich räusch vor allem der Frauen, das unglaub- werden genannt: Lachen, Jubel, Freude. lich eindrucksvoll ist. Dort, wo von Gott als Das Motiv der Freude ist so stark, dass es dem König der Welt die Rede ist, der Kö- auch in die 2. Strophe überschwappt. Von nigsherrschaft Gottes, ist oft genug auch ihr ergriffen ist das Volk Israel wie auch die die Rede vom Jubel, mit dem Gott gehuldigt anderen Völker, die in der Folge Jahwe als und in seiner Autorität als wahrer König von Gott bekennen, der Großes für sein Volk den Gläubigen anerkannt wird. tut. 2. Die Zeit der Ernte ist eine Zeit des Jubels: Weil die Freude und der mit ihr verbundene Die Vorräte, die neuen Früchte, das durch Jubel sich hier so in den Vordergrund drän- Rösten haltbar gemachte Getreide, der jun- gen, möchte ich dem Wort „Jubel“ und sei- ge Wein werden mit besonderen Festen nem Wortumfeld ein bisschen nachgehen. eingebracht und genossen. Gerade in einer Kultur, die den Mangel wirklich kennt, weil der Ertrag des Ackers gefährdet ist durch Dürre und durch Ungeziefer, Wachsen und Gedeihen auch zum guten Teil menschli- chen Tuns entzogen sind, ist die Erleichte- rung über eine gute Ernte genuin und echt. Davon sind auch in unserer Kultur kleine Reste übriggeblieben: die Weinfeste entlang von Main und Rhein, in Italien die Sagrada, von der es in jedem Ort mindestens eine gibt und natürlich das Erntedankfest, das in ländlichen Gegenden bis zum heutigen Tag 13 Nazarethbrief 2 21 09.indd 13 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT mit großem Ernst und echter Dankbarkeit 3. Vor allem bei dem Propheten Jesaja in gefeiert wird. Ansonsten ist seine Sinnhaf- den Kapiteln 40-55, die mit Trostbuch in der tigkeit doch in weiten Teilen zur Folklore ge- Lutherbibel überschrieben sind, und bei Je- worden! Die Erntezeit ist das Sinnbild für die remia in den Kapiteln 30 und 31 taucht die schönsten Wochen im Jahr; sie ist Fest-Zeit jubelnde Freude im engen Zusammenhang im eigentlichen Sinn des Wortes und wird mit der Ankündigung der großen Heilswen- damit auch zur Metapher überschäumender de auf: jenem Ende des Exils, der Erlösung Freude. Einer Freude, die untrennbar mit der aus der Gefangenschaft, der Sammlung Gemeinschaft verbunden ist. Denn die Ern- der Verstreuten, der Wiederherstellung des te bewerkstelligt man nur gemeinsam. Einer Zion, der Rückkehr Gottes zum Zion und allein kann das nicht. schließlich auch der staunenden Anerken- Das alles zeigt sich sehr schön in einer Weis- nung der Völker. Das wäre eine eigene Bi- sagung des Propheten Jesaja, die wir unter belarbeit wert. So aber lege ich Ihnen die einem ganz anderen Gesichtspunkt kennen Abschnitte der Propheten Jesaja und Jere- und die ich deswegen gerne unter diesem mia ans Herz mit dem Vorschlag, sie einmal Aspekt zu Gehör bringen möchte. Wir lesen unter dem Aspekt der Freude zu lesen. Jesaja 9,1f.: „Das Volk, das im Finstern wan- delt, sieht ein großes Licht, und über denen, Die Königsherrschaft Gottes, die Ernte und die da wohnen im finstern Lande, scheint die große Heilswende – all das schwingt in es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst der 1. Strophe von Psalm 126 mit. Wenn groß die Freude. Vor dir freut man sich, wie hier nun von Wiederherstellung gesprochen man sich freut in der Ernte, wie man fröh- wird, heißt das: Der Zion soll zum Ort wer- lich ist, wenn man Beute austeilt.“ den, von dem aus sich die Fülle Gottes auf Israel und die Völker verströmt. Den Zion hat Gott sich zum Ort seiner Gottesherr- schaft erwählt. 14 Nazarethbrief 2 21 09.indd 14 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT Zum Zion als Berg wäre viel zu sagen. Die Dass der Zion zum Ort des Segens wird, ist Vorstellung des Götterberges ist mit Händen vorerst nur ein Traum. „Wir sind wie Träu- zu greifen. Vom höchsten aller Berge wird in mende“ – heißt es in Psalm 126. Die Reali- diesem Zusammenhang gesprochen. Wenn tät sieht anders aus. Und doch leben die Zi- man dann vor dem tatsächlichen Zionsberg onspilger genau von diesem Traum her. Sie steht, reibt man sich verwundert die Augen. wissen sehr genau, dass die Wallfahrt der Es würde sich lohnen, über den Berg und Völker zum Zion, ihre Bekehrung zu dem die Berge überhaupt als Ort der Gottesbe- einen Gott und folgerichtig, dann auch Hul- gegnung und Gottesoffenbarung zu spre- digung vorerst nur geschaut werden kann. chen. Aber das muss ein andermal sein. Für Also geträumt wird. uns ist wichtig: Der Zion ist der Berg, auf dem Jahwe thront. Aus dieser Rede vom Ich komme zur 2. Strophe. Sie setzt ein Berg Gottes entwickelt sich eine ganze Tra- mit der Bitte um Veränderung: „Stelle uns dition, die schließlich in der Einzigartigkeit wieder her.“ Diese Bitte ist der Widerstand Jahwes gegenüber anderen Göttern und gegen die Versuchung, die Gegenwart, das seiner Weltherrschaft gipfelt. Von hier aus gegenwärtig Erlebte als „ewig“ hinzuneh- kommt den Menschen der göttliche Segen men. Die Gegenwart überhaupt als etwas zu. Psalm 132,13-16 sagt dies ganz deutlich hinzunehmen, das unhinterfragt bleiben und lässt Gott selbst zu Wort kommen: muss. Wer „Träume“ hat im vorgenannten Sinn, schaut über den Tellerrand der Gegen- „Denn der HERR hat Zion erwählt, und es wart hinaus und bittet: „Stelle uns wieder gefällt ihm, dort zu wohnen. her.“ Wer „Träume“ hat, wer die Zukunft sehen kann, bittet von daher um Wohl- »Dies ist die Stätte meiner Ruhe ewiglich; stand, um Freiheit, Frieden und Erneuerung. hier will ich wohnen, denn es gefällt mir Ganz im Sinn des „neuen Bundes“, den der wohl. Ich will ihre Speise segnen und ihren Prophet Jeremia schaut (Jeremia 31,31-33): Armen Brot genug geben. Ihre Priester will „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, ich mit Heil kleiden, und ihre Heiligen sollen da will ich mit dem Hause Israel und mit fröhlich sein.“ dem Hause Juda einen neuen Bund schlie- ßen, nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, mein Bund, den sie gebrochen ha- ben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der 15 Nazarethbrief 2 21 09.indd 15 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT HERR; sondern das soll der Bund sein, den Wenn man das weiß, kann man verstehen, ich mit dem Hause Israel schließen will nach was das heißt: „Stelle uns wieder her, wie dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein die Wadis im Negev.“ Wer so bittet, möch- Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn te zum Ort des Lebens werden. Wer so schreiben, und sie sollen mein Volk sein, bittet, muss deswegen bereit sein, sich ver- und ich will ihr Gott sein.“ ändern zu lassen. Plötzlich und mit Macht. Grundstürzend und tiefgehend, radikal und Wer bittet: „Stelle uns wieder her“, der schnell. Diese Bitte verträgt sich wenig mit muss bereit sein, sich verändern zu lassen. einem Glauben, der es sich in der Bürger- Der muss bereit sein, sich eine Veränderung lichkeit gemütlich eingerichtet hat. Das gilt gefallen zu lassen, die plötzlich kommt und für den Beter damals. Das gilt auch heute. mit Macht. So wie die Sturzfluten in den Wadis im Negev. Ich erinnere mich, als ich Und damit komme ich zu den letzten bei- das erste Mal durch den Negev gefahren den Versen, die mich dazu bewogen haben, bin und mich besonders über ein Verkehrs- meine Gedanken an der Losung „Freuden- zeichen amüsiert habe: Die Warnung vor leicht“ mit einem Gang durch den 126. plötzlichen Überschwemmungen. Mitten Psalm zu illustrieren. „Die jetzt säen in im Sommer scheint nichts ferner zu liegen Tränen, in Jubel werden sie ernten. Der da als auch nur ein Tropfen Wasser in diesen hingeht und weint, dabei Keimlinge trägt, Wadis. Aber im Winter oder Frühjahr, wenn der kommt wieder in Jubel und trägt dabei es auch in der Wüste sehr regnet, sind die- seine Garben.“ se Überschwemmungen gar nicht so selten. Es ist sogar so, dass im Negev mehr Men- Deutlicher als hier beschrieben, könnte der schen ertrinken als verdursten. Wenn nun Kontrast zwischen der Gegenwart und der allerdings die Sturzfluten verschwunden, Zukunft kaum sein. Jetzt ist die Zeit der das Wasser abgetrocknet und vielleicht klug „Saat unter Tränen“, in der die kleinen umgeleitet wurde, geschieht etwas Wun- Keimlinge gesetzt werden. Manche Ausle- dersames: Die Wüste beginnt zu blühen. ger haben darüber spekuliert, ob dieses Wei- Dieses Phänomen erlebt man überall im Na- nen womöglich rituell gemeint sein könnte. hen Osten. Dafür gäbe es manchen Anhaltspunkt, hat doch die Zeit der Aussaat im Herbst in den altorientalischen Religionen häufig mit dem Sterben der Fruchtbarkeitsgötter zu tun. Hier aber ist das nicht der Fall. Vielmehr ist 16 Nazarethbrief 2 21 09.indd 16 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT dieses Bild der Aussaat unter Tränen eine ich ihnen gegeben habe, spricht der HERR, Metapher für die echte, gegenwärtige Not, dein Gott.“ in der der Zion noch nicht ist, was er sein wird. In solchen Zeiten zu säen ist mit ban- Auch hier ist die Rede von der Wende des ger Sorge verbunden und der – zu diesem Schicksals, von einem Leben ohne Mangel Zeitpunkt erst kleinen – Hoffnung, dass die und Sorge. Von einem Leben, das sich voller Tränensaat zur reichen Ernte wird. Das al- Hoffnung gegen das Dunkel stemmt und in les zu einem guten Ende kommt. Zu einer dem am Ende die Freude steht. Wende. Einer Wende zum Guten, zum Heil. Von der Entbehrung zur Freude. Liebe Schwestern und Brüder, das war nun eine lange Reise auf dem Weg zur Freude. Die Kraft dieser Vision stärkt die Hoffnung. Ein längerer Gang an einem Fluss, der mun- Die zweite Strophe von Psalm 126 ist ter vor sich hin mäandert. Aber so ist das genau der Beweis. Sie ist so etwas wie die mit der Freude: Es gibt keine breite Straße, antwortende Bitte der Menschen auf das, die direkt auf sie zugeht. Es ist ein Weg, der was die Propheten verheißen haben. Es ist, sich nach rechts und nach links wendet, der als habe der Beter ein Bild des Propheten eingebettet ist in die Stationen und Situatio- Amos im Auge oder seine Worte im Ohr, nen des Lebens. Die Freude kommt von der das ich Ihnen nun als letztes noch zu Gehör Hoffnung her, die das Schwere leicht macht. bringen möchte. Es sind die letzten Worte So macht die Freude leicht. Freudenleicht. des Amosbuches (Amos 9,13 ff.): „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, Andrea Wagner-Pinggéra dass man zugleich ackern und ernten, zu- Pfarrerin, gleich keltern und säen wird. Und die Berge Geschäftsführung werden von Most triefen, und alle Hügel Hoffnungstaler Stiftung werden fruchtbar sein. Ich will die Gefan- Lobetal genschaft meines Volkes Israel wenden, dass sie die verwüsteten Städte wieder aufbauen * Das farbenfrohe Bild schmückt das Büro und bewohnen sollen, dass sie Weinberge von Frau Wagner-Pinggéra. Der Maler Vla- pflanzen und Wein davon trinken, Gärten dis Buss, der unter der Stalin Diktatur nach anlegen und Früchte daraus essen. Ich will Sibirien verbannt wurde, malte mit Vorliebe sie in ihr Land pflanzen, dass sie nicht mehr Landschaften Sibiriens. aus ihrem Lande ausgerottet werden, das 17 Nazarethbrief 2 21 09.indd 17 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT FREUDENLEICHT DER TANZ „Ach, daran erinnere ich mich so gerne … Beim Thema Freudenleicht ist doch auch wir haben so schön zusammen getanzt.“ schwärmen erlaubt. Oder? Auf der Hochzeit einer Freundin: Sie ist in den späten 50-ern War es bei „Der Gemeinschaftstag tanzt“? und fand nun den Menschen fürs Herz. Sie Auf einem Betriebsfest? Beim 140. Naza- heiratete nach vielen alleinerziehenden Jah- reth-Jahresfest? Wer weiß das schon so ren. Die meisten ihrer Freundinnen waren genau. Aber wie schön es war, das weiß auch aus dieser Zeit, die Kinder waren schon sie noch genau. Ich auch. Es ging einfach groß. Viele waren ohne Partnerin/Partner los: Die Musik war so mitreißend, was soll auf der Feier. Es gab auf der Hochzeit eine man da tun? Die Füße wollten einfach nicht große Lust zu tanzen. Fast alle sagten: „Das mehr stillhalten. Ein Blick, eine kurze Über- tue ich echt viel zu wenig.“ Und los ging‘s. windung, ein Nicken, eine Hand … und Unglaublich – die halbe Nacht lang. Fast dann ging‘s los: Mitten auf die Tanzfläche. ohne Pause. Fast alle hatten am Ende Blasen Bis der Schweiß die Stirn hinunterlief. Auch an den Füßen. Der ergreifendste Augenblick der leichte Schwindel gehört dazu. Wunder- jedoch: Eine Frau in den 70-ern. Sie war bar. mit ihrem Mann dort: Er im Rollstuhl nach Schlaganfall. „Wir haben früher immer so Wie herrlich ist es, einfach drauflos zu tan- schön und so viel miteinander getanzt.“ zen. Die Hand des anderen zu ergreifen, eine Ein kurzer Blick zwischen ihr und ihm. Ein Einheit zu werden. Eine Einheit auf Zeit. Ein Nicken. Und ich durfte sie zur Tanzfläche paar einfache Grundschritte reichen. Mehr begleiten. Sie schwebte. Der erste Tanz seit braucht es nicht. Das ist die Grundlage für fast 10 Jahren. Die meiste Zeit die Augen leichte, gemeinsame Bewegungen. Wenn geschlossen. Sie war bei mir. Aber vielmehr Tanzen Freude macht, dann wird es leicht. war sie bei sich. Und in ihren Gedanken, in Leicht in der Bewegung. Leicht ums Herz. ihren Erinnerungen – und auch ganz in der Und dabei ist es gleich, ob man die Hand Gegenwart. Es war außergewöhnlich: Vor- einer Frau oder eines Mannes ergreift. Er- sichtig, entschieden, hingebungsvoll. Voller griffen ist zumeist jede/r. Unterschiedlich in- Energie, voller Körperlichkeit und Hingabe, tensiv. Unterschiedlich sichtbar. Aber immer voller Tiefe. Und voller Leichtigkeit. Nach deutlich spürbar. zwei Tänzen dankte sie: „Nun ist es genug. Vielen Dank. Ich habe es sehr genossen.“ Ich begleitete sie zurück und blieb überaus gerührt stehen. 18 Nazarethbrief 2 21 09.indd 18 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT Sagen wir einfach so: Tanze, damit die Engel im Himmel etwas mit dir anzufangen wis- sen! Nur mit Gesang jubilieren und frohlo- cken? Nicht nur: Es geht auch mit dem Kör- per! Aber warum auf den Himmel warten? Warum nicht heute schon? Hand aufs Herz: Wann war eigentlich der letzte Tanz? Warum nicht gleich die Musik Wir waren eine kleine Gemeinschaft auf anwerfen und mal ausprobieren? Vielleicht Zeit. Einen kleinen, heiligen Augenblick zaghaft, dann immer mutiger. Und welche lang. Kamen hier zwei in seinem Namen zu- Hand soll ich ergreifen? Mutig eine Hand sammen? War er unter uns? Mit Sicherheit. nehmen und freudenleicht geht’s los. Anders kann es nicht gewesen sein. Und wenn gerade nur meine eigenen Hän- Und wo wir gerade dabei sind: Soll ich noch de in der Nähe sind? Mach’s wie bei der ein kleines Geheimnis verraten? Nächstenliebe: …manchmal kümmerst du dich um dich selbst. Es ist fast das wunderbarste, einen Wiener Walzer rund um die Tanzfläche herum zu Im Hohen Norden sagt man: „Nu‘ hau man tanzen. Ganz am Rand entlang. Ganz au- die Hacken in’nen Teer…“ Also: Los geht’s. ßen herum. Eine lebendige Gemeinsamkeit. Was sollen die Engel denn sonst mit mir an- Schwebend. Leicht. Günstigstenfalls voller fangen? Hier auf der Erde – und vielleicht Freude. auch irgendwann im Himmel. „Mensch, lerne tanzen. Sonst wissen die Im ¾-Takt grüßt herzlich Engel nichts mit dir anzufangen.“ Das sagte kein geringerer als der Bischof von Hippo, Philosoph, Kirchenvater und Heilige Augus- tinus Aurelius (354 – 430). Und der müsste es ja wissen. Eckhard Vossiek Diakon 19 Nazarethbrief 2 21 09.indd 19 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT WER LACHT, KANN KEINE ANGST HABEN Kirsten Moritz, Schwester unserer Gemein- Neigung zu Albernheiten erlauben, laut und schaft, engagiert sich als Klinik-Clownin. schräg sein dürfen. Die besondere Kunst Das ist in Zeiten von Corona keine ganz ein- von Klinik-Clowns aber liegt in der Sensi- fache Sache (siehe Nazareth Brief 1/2021). bilität für die Situation und Befinden des Freudenleicht und Lachen haben eine Men- Gegenübers. Ein Clown muss nicht immer ge miteinander zu tun. Deshalb hat uns Kirs- doof und laut sein, sondern kann ein ganz ten Moritz für ein Interview zur Verfügung leiser Begleiter in einer belasteten Situation gestanden, um uns die bewusstseinserwei- sein. Klinik-Clowns agieren an Grenzen, ternden Erfahrungen als Clownin näher zu aber nicht plump und dumm, sondern sen- bringen. sibel, feinfühlig und auf die Situation und das Befinden des Gegenübers bezogen. Nazareth Brief Wir müssen improvisieren, kein Mensch Liebe Kirsten. Wie bist du darauf gekom- und keine Situation ist wie die andere. Das men, dich als Clownin zu engagieren? will gelernt sein, aber da macht Übung die Meisterin. Lernen musste ich auch, dass es Kirsten passieren kann, dass wir bei unserem Ge- Eigentlich bin ich da zufällig reingeraten. Ich genüber nicht ankommen. Das müssen wir hatte eine Ausbildung zur Theaterpädago- akzeptieren und aushalten. gin und wurde gefragt, mal mitzukommen zu einem Clownsworkshop. Ich muss sagen, Nazareth Brief es war witzig, es war ansteckend – das ist Gibt es Situationen, die dir besonders erin- eben diese wunderbare und unmittelbare nerlich sind? Wirksamkeit von Humor. Kisten Nazareth Brief Ja, da denke ich an eine Situation im Hospiz. Was musstest Du lernen, um Clownin sein Da lag ein Mann im Sterben, seine Tochter zu können? Gab es Grenzen, die du über- war bei ihm, als wir kamen, und es war eine winden musstest? ganz belastete und verhärtete Stimmung im Raum. Wir haben ganz leise Lieder ge- Kirsten sungen, und dann haben wir miteinander Vor allem musste ich meine lang gelernte geweint. Aber es konnte sich etwas lösen, Kontrolle wegschieben, gutes Benehmen die Traurigkeit brach sich Bahn, die vorher und Anstand, Verbote des Frechseins pas- versteckt war hinter schützenden Mauern. sen nicht zum Clown. Ich musste mir meine Das war jetzt keine witzige Erfahrung, aber 20 Nazarethbrief 2 21 09.indd 20 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT am Ende für alle Beteiligten eine wirklich beglückende. Nazareth Brief Es wird ja immer gesagt, Lachen sei die bes- te Medizin. Was sagt eine Klinik-Clownin dazu? Kirsten Ja, das stimmt, natürlich! Neurowissen- schaftler haben herausgefunden, dass La- chen und Angst haben gleichzeitig nicht trugen früher die Frauen bei der Landarbeit. gehen. Da macht das Gehirn nicht mit. Damit für den schnellen Toilettengang hin- Beide Emotionen finden in der gleichen term Busch nicht die komplette Bekleidung Hirnregion statt und so können wir beides, abgelegt werden musste, hat sie an den aber nur nacheinander, nicht gleichzeitig. entscheidenden Stellen Löcher ... Man sieht Und übrigens: Humor endet auch nicht am ja von ihr nur den Spitzenabschluss, aber die Ende des Lebens. Bei unseren Besuchen auf meisten alten Menschen wissen genau, wo- Palliativstationen und in Hospizen, egal ob für das Modell gut war, und thematisieren bei Kindern oder Erwachsenen, gibt es viel das von sich aus ... zu lachen. Menschen an der Grenze des Le- bens wollen nicht immer nur mit Ernsthaf- Nazareth Brief tigkeit und Betroffenheit konfrontiert sein. Herzlichen Dank für das Gespräch! Sie sehnen sich nach Freude und Lachen. Kirsten Nazareth Brief Bitte, gerne! Du siehst ja in Deinem Kostüm wirklich sehr besonders aus. Was findet den meisten An- klang? Kirsten Moritz Schwester der Gemein- Kirsten schaft, Theaterpädagogin, Die meiste Aufmerksamkeit findet meine ur- Mediatorin (zert.), alte lange Damenunterhose, nicht nur we- Klinikclownin von Clowns- gen der schicken Spitze. Solche Unterhosen kontakt Herford e. V. 21 Nazarethbrief 2 21 09.indd 21 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT DAS GESCHENK DES SINGENS 2009 machte ich in einer Bielefelder Studen- Wenn man vor Menschen singt, dann steht tenkneipe Musik mit einem Freund: Kontra- oft das Thema der Selbstdarstellung im bass, Gitarre und Gesang. Die Stimme war Raum. Das war und ist für mich immer un- und ist mein Instrument. Zunächst und lan- angenehm gewesen, weil ich einfach nur ge Zeit diente sie mir, um eigene Emotionen das Bedürfnis habe zu singen. Menschen, auszudrücken bzw. als Ventil. Später erlebte die so schwer krank sind, dass ihr Leben nur ich, wie schön es ist, anderen Menschen da- von dieser Krankheit geprägt ist, zeigen sich mit Freude zu bereiten. oft als unglaublich offen für das, was ich ih- nen schenken möchte. Wir spielten also dort und in der Pause sprach ich viele Leute an, da ich einen Job Ich glaube, Gott hat uns die Musik ge- brauchte. Es saßen im Publikum drei Pfle- schenkt, um über die Freude hinaus ohne gedienstleiter aus Bethel und so kam ich Worte Brücken zu schaffen, Gefühle freizu- zu meiner Stelle als Betreuungsassistent in setzen bzw. zu befreien, zu streicheln und Haus Elim. Ich wollte nur kurze Zeit bleiben zu trösten, ohne etwas intellektuell erklä- und nun sind es zwölf Jahre geworden. ren zu müssen. Ich kann gar nicht sagen, Der wichtigste Grund ist, dass ich dort mei- wie viele zauberhafte (ich gebrauche dieses ne Gabe einsetzen kann. Für Menschen, Wort hier gern) Augenblicke ich in meinem die von vielerlei schweren und schwersten Erinnerungsschatzkästchen gespeichert Krankheiten heimgesucht sind, etwas zu habe a us diesen Jahren. tun, dass ihnen nicht nur Freude bereitet, sondern Augenblicke der Entspannung, des Friedens ermöglicht, aber auch Tränen zu weinen, die nur schwer fließen wollen. 22 Nazarethbrief 2 21 09.indd 22 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT Aber das Singen als mein Medium vermisse ich als Brücke zu den Menschen. Ich habe bisher nichts gefunden, was das Singen wirklich ersetzen könnte. Aber jedes mit dem Herzen gespielte Instrument ist in der Lage zu berühren. Wir haben in Haus Elim einige Konzerte mit zwei Gitarren gegeben. Es waren einfache Lieder, denn ich bin kein Meister der Gitarre. Aber die Atmosphäre wurde getragen von unserer Freude und Zugewandtheit und es war schön. Ich habe das Gefühl, verstanden zu haben, Ich freue mich auf die Zeit, wenn ich wie- was in Petrus 4,10-11, gemeint ist: „Die- der singen darf, und bin gleichzeitig dank- net einander, ein jeder mit der Gabe, die bar für die Erfahrung von neu gefundenen er empfangen hat, als die guten Haushal- Möglichkeiten und hartnäckiger Kreativität. ter der mancherlei Gnade Gottes: 11 Wenn jemand redet, rede er‘s als Gottes Wort; wenn jemand dient, tue er‘s aus der Kraft, die Gott gewährt, damit in allen Dingen Gott gepriesen werde durch Jesus Christus.“ Matthias Knippenberg In der Corona-Zeit durfte und darf ich noch Diakon immer nicht singen. In Ermangelung des- sen sind, wie an so vielen Orten, viele neue Ideen entstanden. Ich bin so begeistert, wie kreativ wir Menschen sind: Da geht immer was! 23 Nazarethbrief 2 21 09.indd 23 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT FREUDE AN DER BEWEGUNG Bewegung und freudenleicht – da muss Die Radtouren legen keinen Fokus auf Leis- ich gleich zu Beginn sagen, das Gefühl der tung, auf Kilometersammeln oder auf den Freude, die Leichtigkeit, das Glücksgefühl, Anspruch, mit einer gewissen Geschwindig- das sich meistens in und nach der Bewe- keit die Strecke zu fahren. Diese Aspekte gung einstellt, kann ich letztlich nur unzu- außen vor zu lassen, ist sehr förderlich, soll reichend beschreiben. Das kann nur erlebt sich doch das Freudenleicht-Gefühl einstel- werden ... len. Leistungsorientiert Sport betrieben, ha- ben wir früher getan, zum Teil sehr intensiv. In den letzten Monaten mache ich recht re- Auch dabei konnte ich Freude an der Bewe- gelmäßig samstags mit einem Freund (ich gung, aber noch eher an meiner Leistung nenne ihn hier Andreas, weil ich nicht weiß, erleben. Jetzt geht’s regelmäßig um einen ob er namentlich genannt werden will) eine Tag wie Urlaub, den wir erleben wollen. größere mehrstündige Radtour. Wir sind dann mit dem Mountainbike oder dem Für unsere Tour an einem Samstag kündig- Rennrad oft vier bis sechs Stunden unter- te mein Radfreund an, dass er einen alten wegs. Andreas kennt sich hervorragend aus Freund mitbrächte. So fuhren wir zu dritt. und so ist das Motto vieler Touren: „Uli, ich Mit Klaus, dem dritten Mitfahrer, kam ich zeige dir deine Heimat“. sehr schnell ins Gespräch. Ich habe von 1987 an in Bielefeld gelebt, also bis zum letzten Februar. Jetzt bin ich Spenger, genauer gesagt, Bardüttingdorfer. Dadurch kenne ich viele Wege. Trotzdem erfreue ich mich immer wieder über neue Wege im Lipperland, in und rund um das Wiehengebirge. Sie sind für mich auf unse- ren Ausflügen oft Neuland, auch nach 20 Jahren Rennradfahren. 24 Nazarethbrief 2 21 09.indd 24 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT Er ist ein fröhlicher Mensch, der erzählte, Auch wenn es in dem Artikel nicht um Leis- dass er als Spätberufener mit 60 Jahren zum tung, sondern um Freude an der Bewegung Radsport kam. Er erzählte mir auch von Tou- geht, wird an Andreas deutlich, dass das ren, die er mit Andreas früher gemacht hat- eine das andere nicht ausschließt. Über die te. Lächelnd fuhren wir durch das Wiehen- BeWEGung, zu der man sich, wie es der Be- gebirge nach Bad Essen, auf der Suche nach griff impliziert, auf den Weg machen muss, einer Bäckerei mit einem guten Kaffee. kann diese Freude erfahren werden. Be- stimmte Leistungen absolvieren zu wollen Klaus war mit dem Rad von Gütersloh aus oder gar erreichen zu müssen, steht dem losgefahren, hatte Andreas in Bielefeld ab- eher im Wege. Etwas durch Bewegung (egal geholt, bevor ich dann in Bardüttingdorf ob Spazierengehen, Laufen, Radfahren etc.) eingesammelt worden war. In moderatem zu leisten und dadurch Freude zu erleben, Tempo mit – wieder einmal neuen Wegen passiert ganz nebenbei ... Als Andreas wie- im Wiehengebirge – war ich nach knapp der in Gütersloh war, wird er wohl 140 Kilo- fünf Stunden, nach dem gefundenen le- meter mit deutlich über 1000 Höhenmetern ckeren Kaffee in der Bäckerei in Bad Essen gefahren sein. Ein strahlender, durch die Be- und gut 80 Kilometern glücklich wieder zu wegung, glücklicher Mensch. Ach, und üb- Hause. Wir hatten schöne Höfe passiert, rigens: Andreas wird im nächsten Jahr 80! Wälder gesehen und durchfahren und nicht mehr ganz so intensiv blühende Rapsfelder Ich wandle hier gerne einen irischen Segens- bewundert und und und ... Diese „Bilder“ wunsch ab, der hervorragend passt: „Möge während des Ausflugs wahr- und aufzuneh- uns die Bewegung zusammenführen und men, gehören für mich auch zum Glücksge- uns (den Rücken) stärken!“ fühl „freudenleicht“. Zurück zu Klaus, der mit seiner Fröhlichkeit, Leichtigkeit mich sehr beeindruckt hat. Er hatte die Tour gestern mit uns als Vorberei- tung, für eine in Kürze anstehende Tour in Ulrich Debener den Alpen gemacht. Dort will er mehrtägig Diakon mit Rucksack von Hütte zu Hütte fahren. 60 bis 80 Kilometer pro Tag ist er dann wohl unterwegs. 25 Nazarethbrief 2 21 09.indd 25 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT WIE NENNEN WIR DAS, WAS SO VIELE IN ZEITEN DER PANDEMIE FÜHLEN? Kennt Ihr das auch? Je länger die Pandemie ebenso zugenommen wie die Krisenanfäl- dauert, desto mehr zehrt sie an den Kräf- ligkeit von Kindern. Kinder- und Jugendpsy- ten. Je mehr und länger Durchhalten und chiatrien sind überfüllt, weil diese Zeit des Ausdauer gefragt sind, desto weniger ha- Durchhaltens und Abstandnehmens, der ben wir das Gefühl, wirklich genug Kraft weitgehenden Bewegungs- und Tatenlosig- zu haben. Und in der Tat schwinden Kräfte, keit Sinn, Begegnung, Bestätigung, Freude schwinden auch die Tankstellen, die helfen, und Freunde nimmt. Was die Erwachsenen den Akku wieder aufzuladen. sich noch halbwegs als notwendig einbläu- en können, raubt Kindern im wahrsten Sinn Die halbe Welt hat das Wandern entdeckt den letzten Nerv. Die Gewalt hat zugenom- und zuweilen stehen Mann und Frau sich im men, unsichtbar, aber doch unüberhörbar. Teutoburger Wald im Wege, wo sich früher Sie richtet sich vor allem gegen Frauen und nur Fuchs und Has´ „Gute Nacht!“ gesagt Kinder. haben. Kaum haben wir in den letzten Jah- ren so viele Kilometer zu Fuß gemacht – Wirklich freudenleicht, im Sinne von Juch- kaum wurden sie auch so umfänglich doku- Hu und Juch-He kommt eigentlich kaum mentiert auf schrittzählenden Handys oder etwas daher. Darf ich das sagen als von der Fotoreportagen in sozialen Netzwerken. frohen und freimachenden Botschaft infi- Neben dem Wandern ist auch das Fahrrad- zierter Christ? Wie sprechen wir über die fahren sehr in Mode gekommen – die Fahr- Belastungen, die diese Krise uns allen ab- radindustrie, vor allem die mit elektrischen verlangt? Angeboten, gehört eindeutig zu den Ge- winnern der Krise. Wir haben zugelegt, ich „Stöhnen verboten“, so las ich kürzlich in selbst und viele andere und irgendwie müs- der Zeit. Wir verbieten uns das Stöhnen, sen wir darauf achten, dass das Gewicht weil es immer noch jemanden gibt, der oder halbwegs im Zaum gehalten wird. Der boo- dem es noch schlechter geht. Ich will nicht mende Onlinehandel bringt uns alles, was klagen, mir geht´s ja noch gut. Ich lebe in wir brauchen, bis vor die Haustür, von der einer vergleichsweise sicheren Welt. Ande- Tüte Chips bis zur digitalen Waage, die uns re sind viel mehr herausgefordert in dieser nahelegt, auf den BMI (Body-Maß-Index) Zeit. Ja, das stimmt wirklich und stimmt zu achten und lieber eine Runde zu wan- ohnehin immer, aber die Banalisierung der dern, als die zweite Tüte Chips zu öffnen. eigenen Gefühle trägt auch nicht weiter. Sie Der Alkoholkonsum hat gesellschaftlich ist womöglich sogar schädlich. Ja, Maulen, 26 Nazarethbrief 2 21 09.indd 26 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT das geht noch, über die, die alles falsch pla- nen, die nicht genug Impfstoff produzieren oder den vorhandenen falsch verteilen, oder über die, die im Supermarkt Hamsterkäufe tätigen. Also bleiben wir diszipliniert und appellieren mit Unterstützung der Bundes- kanzlerin an unser Durchhaltevermögen. Bald ist alles vorbei, alles wird sein wie vor- her. Wer´s glaubt, wird selig. Das Leben nach der Pandemie – und wir wissen gegen- wärtig ja noch nicht, wann das eigentlich sein wird – wird anders sein als vorher. So sehr wir uns auch in vorpandemische Zei- ten zurücksehnen, es wird anders sein, das Nachher. Wir werden anders sein. Viele Ein- drücke und Verhaltensweisen, die sich wäh- rend der Krise als ratsam erwiesen haben, werden uns weiter begleiten. Wir werden vermutlich nicht mit offenen Armen durch Mattheit wurde bereits als Gefühl des Jah- die Welt laufen und alles herzen und umar- res 2021 ausgemacht, obwohl noch reich- men, was nicht rechtzeitig auf den Bäumen lich Zeit vor uns liegt. Der amerikanische ist. Womöglich werden uns Gesichtsmasken Psychologe Corey Keyes hat den vielbeach- noch länger begleiten, und wenn es nur teten Begriff des „Languishing“ geprägt1, dem Schutz der anderen dient. der mit „Mattheit“ oder „Dahindümpeln“ anschaulich übersetzt werden kann. Die geistige Ermattung in der fortdauernden pandemiebedingten Krisenzeit unterschei- 1 det sich von der Depression und bekann- Vgl. Online-Wörterbuch ten Burnout-Phänomenen. „Languishing“ für Psychologie und Pädagogik https:// ist irgendwo zwischen Berg (Euphorie) und lexikon.stangl.eu/2972/languishing Tal (Depression) hängen geblieben, ohne 2 Vgl. ebenda https://lexikon.stangl.eu/ wirkliche Aussicht auf Veränderung. Die 2970/flourishing/ fortgesetzte Abwesenheit des Wohlfühlens, 27 Nazarethbrief 2 21 09.indd 27 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT das Nicht-Weiterkommen, das Stagnieren Ich gebe zu, ich kann mit diesem Begriff und die (soziale, kulturelle) Leere sind kenn- des „Languishing“, der Mattheit durchaus zeichnend für das Phänomen. Nachdem uns etwas anfangen. Ja, so geht es mir zuwei- 2020 noch eher Gefühle wie Angst und Sor- len in diesen Zeiten. Was also tun? Reden! ge beschäftigten, ist mit der Fortdauer der Reden über die Mattheit, sich mitteilen und Pandemie die Abwesenheit des Wohlfüh- erleben, dass die Mattheit von anderen ge- lens bestimmend geworden. Sie ist erklär- teilt wird. Die fortdauernden Appelle an das bar, wir können uns und anderen das alles Durchhaltevermögen dürfen kein Tabu be- auch abverlangen, aber sie beeinträchtigt deuten, die Ermattung zu benennen – auch eben doch mehr denn je unser Lebensge- und gerade nicht in Kirche und Diakonie. fühl. Das Reden dient auch der Vergewisserung, dass das Problem nicht wir selbst sind, son- „Flourishig“2, meint das gegenteilige Le- dern die Pandemie. Die Durchbrechung der bensgefühl als selbstbestimmtes, schöpferi- Mattheit ist ebenso wichtig, wie ihre Be- sches, gestalterisches Potential, das gelebt nennung. Alles, was uns dazu dient, kleine werden kann. Wir wachsen mit und an den Höhepunkte im alltäglichen Leben erleben, Herausforderungen, sind optimistisch, was hilft. die Bewältigung angeht. Resilienz, die psy- chische Widerstandskraft, schwierige An- Und eben doch auch die Bewegung – in- forderungen ohne Beeinträchtigung von nerlich wie äußerlich. Also sehen wir uns seelischer und körperlicher Gesundheit zu beim Wandern? Oder beim nächsten Got- bestehen, ist so ein Leitbegriff, der uns auch tesdienst? Oder einem spannenden Film? im Bereich sozialer und pflegerischer Arbeit Oder demnächst in der Außengastronomie? sehr beschäftigt. Gesundbleiben, trotz ho- her Anforderungen. Wolfgang Roos-Pfeiffer Diakon 28 Nazarethbrief 2 21 09.indd 28 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT FREUDENLEICHT? Ich möchte mir gestatten, mit Rilke zu be- Doch darüber nachsinnend, fällt mir ein, kennen: Ich liebe meines Wesens Dunkel- mit welcher Not sich die Luft gegen unse- stunden. re Abgasemissionen erwehren muss. Unter heutigen Bedingungen ist die ständige Ver- Der allzeit moderne Hedonismus ist doch fügbarkeit reinsten Wassers ein nahezu un- suspekt. Nur manchmal, freilich gar nicht zu anständiges Privileg. Und meine Liebe lädt selten, lockt mich der azurne Tag mit Son- sich ihre nächtliche Schwester, die Sorge, zu nenschein und Vogelmelodie. Dann gehe Gast. Mein Vermögen, solche Zusammen- ich in die Landschaft, genieße die reine Luft, hänge erkennen zu können, erfüllt mich die ich atme, das klare Wasser, an dem ich gelegentlich auch mit Freude. Aber diese mich labe, und das Herz ist mir von Liebe Freude ist mit Gewichten behangen. Das und Dank voll. Dann weiß ich intuitiv, dass schwerste Gewicht davon heißt Verantwor- die wahrhaft guten Dinge mit Geld nicht zu tung. Ach, dass wir diese mit Freude allzeit bezahlen sind. Momentweise fühle ich mich leicht tragen könnten, wer wünschte sich dann himmlisch leicht. das nicht? Bruder Uwe Keilpflug Mitglied der Gemeinschaft 29 Nazarethbrief 2 21 09.indd 29 16.06.21 10:50
FREUDENLEICHT FREUDENLEICHTE GESCHICHTE VON EINEM SCHLEMIHL (JIDDISCH: EIN MENSCH, DEM IMMER ALLES MISSLINGT) Einem Schlemihl fiel eine mit Butter bestri- Der Rabbi dachte lange nach und fand kei- chene Brotscheibe auf den Boden und nicht ne Lösung. Er wandte sich an den Kreisrab- – wie es zu erwarten gewesen wäre – auf biner, aber auch der wusste keine Antwort die Butterseite, sondern auf die „richtige“. und stellte das Problem dem Landesrabbiner Der Schlemihl konnte es nicht glauben: vor: „Einem Schlemihl ist eine Brotscheibe „Aber ich bin doch ein Schlemihl. Wie kann heruntergefallen und nicht auf die Butter- das sein?“ Der Schlemihl ging zum Rabbi: seite. Wie kann das sein, Rabbi?“ Auch der „Rabbi, mir ist mein Butterbrot herunter- Landesrabbiner überlegte lange. Schließlich gefallen und nicht auf die Butterseite. Wie fand er die Antwort: „Der Schlemihl muss kann das sein?“ das Brot auf der falschen Seite bestrichen haben.“ Quelle: traditionell 30 Nazarethbrief 2 21 09.indd 30 16.06.21 10:50
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