Miteinander leben und aufeinander hören - ANSPRECHEN Nr. 8 - Zoé Magazin
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EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, DAS ZU „Die Maske im Unterricht ist einfach nur schreck- lich“, stöhnte kürzlich eine Lehrerin. „Ich verstehe die Kinder kaum.“ Ähnliche Situationen finden sich Nr. 8 Dezember 2020 WISSEN derzeit überall. Dabei wollen wir doch auch während der Pandemie miteinander im Gespräch bleiben. ANSPRECHEN Wie wir andere Menschen ansprechen und wie wir ansprechbar sind, darum geht es in dieser Ausgabe der Zoé. Herausheben möchte ich die Auslegung von Es gibt ’nen Weg hier raus, Christian Schramm in der Heftmitte. Er schaut sich Titelthema doch der ist steinig und lang // unter diesem Aspekt die Erzählung aus Gen 3 an. Oft 4 Und gesäumt von Geschichten wird sie nur als Vertreibung aus dem Paradies bezeich- Willkommen in der Erwachsenenwelt und dem altbekannten Zwang // net. Dabei ist es die erste Stelle der Bibel, in der Gott Lebensthemen zwischen Ausbildungsfragen – Sich das Schweigen zu erklären den Menschen direkt anspricht. Und der entdeckt da- eine Religionslehrerin an berufsbildenden Schulen und die Blicke und die Fragen // durch zum ersten Mal sein (schlechtes) Gewissen. Die den Kopf nicht ruhen lassen, 11 an schier endlosen Tagen // Natürlich sorgen sich derzeit viele Menschen um die Das „Du“ ist ein Angebot eigene Gesundheit bzw. um die ihrer Angehörigen. Martin Bubers Axiom vom Du zum Ich Es gibt ’nen Weg hier raus, Sorge kann in Panik abgleiten. Vielleicht können wir der sich quälend verbiegt // den Begriff aber auch als Umsorgen verstehen. In 12 Und das Ziel mit Staub bedeckt, wohlgemeinter Sorge tun wir anderen und uns selbst Menschenskinder – Ansprache unter immer dann, wenn man es sieht // etwas Gutes. So kann sich im Vertrauen auf Gott bis anderen Umständen All das Pochen und das Stechen Weihnachten vielleicht auch mehr Gelassenheit aus- Eine Hebamme über aufbauende Begleitung an dem Ort hinter den Rippen // breiten. 16 Schreien das Graue und das Alle Macht dem Ich Schwarze und den Wunsch, Und nun viel Freude beim Lesen! Ferdinand von Schirachs Entscheidungsliteratur nicht auszuflippen // 18 Das ist mir viel zu transparent // Wo steckst Du? Ich kann’s nicht sehen, Rainer Middelberg Der Mensch im Paradies kann's nur fühlen // Chefredakteur Das ist mir viel zu transparent Hier ist mir alles viel zu fremd // 10 Illustration: Patrick Schoden // // Text: Sascha Eigner, Nicholas Müller; Columbia d (Sony Music) Ich packe meine Schultasche Und ich nenne sie beim Namen, Was eine Religionslehrerin im Beruf antreibt und wenn’s so ist für alle Zeiten // 17 Und ich nenne sie beim Namen, zoé – leben mit anderen augen sehen Dumm gelaufen weil ich es müde bin zu streiten // 22 Hallo Angst, hier ist der Typ, den Das Magazin für Religionslehrerinnen und -lehrer In der Stille entstehen mehr Bilder im Kopf Fotos: Titelseite: photocase.com/REHvolution.de // S. 3 privat du seit Jahren täglich beißt // in den (Erz-)Bistümern Berlin, Hildesheim und Erfahrungen einer Telefonseelsorgerin Hier ist der Typ bei dem du wohnst, Osnabrück. Mehr Infos: www.zoe-magazin.de 24 ohne zu wissen, wie er heißt // 22 Fragen an Erik Flügge Der Kommunikationsberater und Wahlkampfprofi Hallo Angst, du Arschloch // Hallo Angst, du Arschloch // zoé bezeichnet in der altgriechischen Sprache physisches 28 Leben im Gegensatz zum Tod. Dabei geht es aber nicht Gottvertrauen trotz Armut Aus: Jupiter Jones, Das zu wissen; nur um die Frage, wie und wodurch man lebt, sondern Eine Freiwilligendienstlerin berichtet auf „Holiday in Catatonia“ auch woraus und wozu. Im Neuen Testament ist Jesus selbst der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6), 32 Auszeit // 34 Aufgelesen das er schenkt. Diese Zeitschrift möchte diese Dimensi- onen von zoé miteinander verknüpfen und erforschen. zoé // 3
ANSPRECHEN ANSPRECHEN Willkommen in der Erwachsenenwelt Auch wenn sie sich nur selten treffen, sprechen ihre Schülerinnen und Schüler sehr persönlich über religiöse Empfindungen. Petra Höft unterrichtet Evangelische Religion an den berufsbildenden Schulen Zeven Mehr als Gesprächspartnerin denn als Wissensvermittlerin tritt Petra Höft im Unterricht ihrer Klasse des Beruflichen Gymnasiums Wirtschaft auf 4 // zoé zoé // 5
ANSPRECHEN ANSPRECHEN Das Kivinan verteilt sich auf mehrere überschaubare Gebäude W as glauben andere? Was glau- be ich? Petra Höft hat State- ments von David Alaba, Pad- dy Kelly, Christian Ulmen und Charlotte Roche in den vier Ecken des Klassenraumes auf- gehängt. Gleichmäßig in Gruppen verteilt lesen sich die Schüle- rinnen und Schüler immer einen Beitrag durch und gehen nach zwei Minuten weiter. Nach und nach durchwandern sie den Raum und besprechen die Positionen der vier Prominenten. Die Das wirkt. Im späteren Unterrichtsgespräch offenbart sich unter den Schülerinnen und Schülern eine ähnliche Bandbreite an Haltungen wie bei den Prominenten. Die 16- bis 18-Jährigen stammen aus den Ausbildungszweigen Wirtschaft und Gesund- heit. Als solche sind sie ausschließlich im Religionsunterricht in einer Lerngruppe. Auch wenn sie sich nur einmal in der Woche treffen und sich nicht näher kennen, wird sehr persönlich über religiöse Empfindungen gesprochen. Nele: „In Religion spre- chen wir über Dinge, die einen auch sonst im Alltag berühren. reichen von Roches „Der aufgeklärte Mensch benötigt keine Re- Man erfährt viel von den anderen.“ ligion“, bis zu Kellys Gewissheit, der Glaube an Jesus beantwor- Der Umgang ist von Offenheit geprägt, andere Meinungen te seine großen Fragen an das Leben. Und von Alabas Haltung, werden akzeptiert. Intoleranz würde sie auch nicht gelten las- im Glauben selbstständig entscheiden zu können, bis zu Ulmens sen, so Petra Höft. Das Klima an der Schule wirkt unaufgeregt. Erkenntnis, die Nichtexistenz Gottes lasse sich ebensowenig be- „Auszubildende erleben ihre Berufsschultage als entspannend“, weisen wie seine Existenz. erklärt Höft. „Und jene, die das Berufliche Gymnasium besu- chen, wissen, was sie wollen.“ Oder, wie sie es an anderer Stelle „Man erfährt viel von den anderen“ sagt: „Willkommen in der Erwachsenenwelt.“ Die Berufsbildenden Schulen Zeven – mit Kivinan benannt „Stellen Sie sich nun bitte zu dem Beitrag, mit dem Sie sich per- nach einem alten Namen der Stadt – nennt sich nicht umsonst sönlich am ehesten identifizieren können“, fordert Petra Höft Bildungszentrum. Das Bildungsangebot reicht von den Be- die Schülerinnen und Schüler auf. Viele wissen sofort, wo sie rufseinstiegsklassen für Schulabgänger ohne oder mit schwa- stehen wollen. Einige sind unsicher, fast als würden die Laufwe- chem Hauptschulabschluss bis zur Fachoberschule Technik für ge eine Glaubenssuche versinnbildlichen. Didaktisch und päd- eine Weiterbildung zum Ingenieur (FH). Allein in Niedersach- agogisch exzellent führt die Lehrerin die Klasse durch den Un- sen besuchen 258.000 Schülerinnen und Schüler eine berufsbil- terricht dieses Jahrgangs 11 des Beruflichen Gymnasiums. Klare dende Schule – im Vergleich zu 211.000 Gymnasiasten. Sind die Formulierungen, verbindlicher Ton, große Präsenz im Raum. Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen zu fast drei Vierteln Noch ohne Corona-Sorgen unterhalten sich die Schülerinnen und Schüler ruhig über die Positionen der Prominenten 6 // zoé zoé // 7
ANSPRECHEN ANSPRECHEN »Ich befinde mich mit meinen Schülerinnen und Schülern in einer Suchbewegung.« Hier wird fachtheoretisch und fachpraktisch unterrichtet. Die meisten Schülerinnen und Schüler kommen aus einem Umkreis von 25 Kilometern weiblich, ist es an berufsbildenden Schulen rund die Hälfte. Das Durchschnittsalter in den Kollegien liegt mit über 48 Jahren Über das Studium und den Beruf habe ich meinen Glauben ge- festigt. Ich befinde mich mit meinen Schülerinnen und Schülern Danach legen sie die Teiglinge aufs Backblech. Gegenseitig ge- ben sie sich Tipps und korrigieren einander. Das Klima ist ge- »Religion interessiert mich fünf Jahre höher als an Gymnasien. Durch Anforderungen von in einer Suchbewegung.“ Mittlerweile ist Höft Fachberaterin für lassen. Fast typisch für eine Schule, deren Schulklingel einmal eigentlich nicht. Aber wenn Wirtschaft und Politik ändern sich Bildungsgänge oft schnell. Evangelischen Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen ausfiel, aber auch nach der Reparatur dauerhaft stumm bleibt. Und doch prägen die allgemeinbildenden Schulen die schulpo- im Land Niedersachsen. Vermisst wird die Klingel nicht. Auch nicht von den Schülerin- ich schon hier bin, dann litischen Diskussionen. „Vielleicht liegt es daran, dass Politiker Die Samtgemeinde Zeven gehört zum Landkreis Roten- nen und Schüler der Q1. Sie sind pünktlich – ein Beispiel für die selbst selten berufsbildende Schulen besucht haben und das Sys- burg-Wümme und zählt 23.300 Einwohner. Rund 50 Kilome- Eigenverantwortlichkeit aller Beteiligten. Mit einer Art Bin- mache ich auch mit.« tem nicht kennen“, mutmaßt Petra Höft. ter von Bremen und 80 Kilometer von Hamburg entfernt ist sie go-Spiel rekapituliert Petra Höft Grundfragen der Reformati- Rund 2.050 Schülerinnen und Schüler besuchen das Kivinan. mit ihrem Umland ländlich geprägt. Typische Probleme großer on. Gefragt nach Luthers Turmerlebnis erklärt Yunus: „Er war Ein Teil jeden Tag, ein anderer – etwa jene in der dualen Aus- Städte scheinen auf den ersten Blick nicht zu herrschen. Das im Turm und hat gecheckt, dass Gerechtigkeit von Gott kommt bildung – nur an ein oder zwei Tagen die Woche. So wie die Fri- Schulgebäude wirkt gepflegt, keine Schmierereien, kein rumlie- und nicht durch Taten.“ Petra Höft nimmt die Aussage so an. Sie seurinnen, die heute ihren fachpraktischen Unterricht haben. gender Müll. Die Flure sind realtiv schlicht, die Räume ohne De- verbessert nicht jeden Fachbegriff, verbeißt sich nicht in sprach- seien ebenso nötig wie Grundlagen religiösen Sprachverständ- Einige Schülerinnen der Klasse fehlen, perfekt für den engen koration – nüchtern für wechselnde Lerngruppen und ähnlich licher oder orthografischer Korrektheit. Das honorieren auch nisses, sind sie sich einig. Der Religionsunterricht selbst stehe fachlichen und persönlichen Austausch. Der Umgang mit be- den Seminarräumen einer Hochschule. jene, die mit dem Fach wenig anfangen können. „Religion inter- aber nicht in Abrede: „Der gehört dazu. Und wenn die Schülerin- stimmten Haarstrukturen steht auf dem Plan und die Auszu- essiert mich eigentlich nicht“, meint Tom. „Aber wenn ich schon nen und Schüler dasitzen, haben sie eine grundsätzlich positive bildenden berichten von Erfahrungen in ihren Ausbildungsbe- Schulklingel wird nicht vermisst hier bin, dann mache ich auch mit.“ Erwartung.“ Erleichtert werde die Situation dadurch, dass der trieben. Petra Höft unterrichtete diese Klasse im vergangenen Es fällt auf, dass die Schülerinnen und Schüler sich ernst- Religionsunterricht hier kein Prüfungsfach sei. Schuljahr noch selbst. Sie ist nicht nur evangelische Religions- Anders sieht es im Trakt der Fachräume aus. In Vitrinen stel- genommen fühlen. Auch bei der Lektüre der Geschichte vom Es ist 14.30 Uhr. Die Konzentration in der Schülerschaft lehrerin, sondern auch Kosmetologin. Und sie betont die Vortei- len sich Gewerke vor. Bäcker- und Konditormeister Jörg Leuf- verlorenen Sohn werden sofort Bezüge zum eigenen Leben her- schwindet. Während sich die meisten mit einem Text zur Werk- le der beruflichen Schulen: „Ich selbst habe über ein berufliches gen, die Bäckermütze auf dem Kopf, steht in der Backstube und gestellt. Hier geht es um eigene Wertungen. Zwar solle man da- gerechtigkeit beschäftigen, flackert auf einem Laptop Solitär, Gymnasium meinen Abschluss gemacht. Auch unserer Tochter spricht mit sonorer Stimme. „Fühlen Sie den Teig. Hat er genug von ausgehen können, dass die Schülerinnen und Schüler nach später Mincraft auf. „Natürlich weiß ich, dass manche Schüler haben wir diesen Weg ans Herz gelegt. Für viele Jugendliche ist geruht?“ Seine Schüler machen Tastproben. Kurz wird überlegt, der Konfirmation grundlegendes Religionswissen hätten, tat- zwischendurch abschweifen“, sagt Höft später. „Doch das sind es der geeignete Weg zum Abitur.“ wie lange der Teig noch benötigt, um weiterverarbeitet werden sächlich müsse man aber oft von vorn anfangen, beschreibt es junge Erwachsene. Sie wissen, was sie tun.“ Sie selbst hat Körperflege und Evangelische Religion als Un- zu können. Leufgen: „Gut, schauen wir auf die Uhr.“ Mehl wird Schulpastor Christoph Schuster. Mit Petra Höft und Referendar terrichtsfach studiert. Das habe sich aber als richtig erwiesen. bereitgestellt. Dann geht es zu einer Maschine, mit der die Schü- Christoph Schröder bildet er die Fachgruppe Religion am Kivi- TEXT: RAINER MIDDELBERG „Ich stamme nicht aus einem besonders christlichen Haushalt. ler aus einem großen Teigkloß Teiglinge für Brötchen formen. nan. Erklärungen zur Einteilung in Altes und Neues Testament FOTOS: ANDREAS KÜHLKEN 8 // zoé zoé // 9
WACHSEN ANSPRECHEN Das „Du“ ist Ich packe meine Schultasche ein Angebot Religionsunterricht ist mehr als Stundentafel und Kerncurriculum. Doch was treibt mich in meinem Beruf an? Gedanken von Carolin Doms Wir brauchen andere Menschen und den Austausch mit ihnen, um uns selbst als Person wahrzunehmen. Martin Bubers Grundgedanken vom Du zum Ich sind unverändert aktuell Das hat mich zu meinem Studium inspiriert: Mit meinem Religionsunter- richt bin ich zufrieden, wenn ... Meine Arbeit als Religionslehrerin lohnt O h, warum weinst du denn jetzt? Müssen wir die Windel wech- seln? Ja, komm, mein Schatz. Wir gehen zum Wickeltisch.“ Mütter fragen ihre keinen Besuch empfangen, mussten teil- weise auf ihren Zimmern oder in ihren Wohngruppen bleiben. Sie fühlten sich einsam, vermissten ihre Angehörigen sich, weil … Babys ständig nach Hunger oder Schmer- und einige verloren ihren Lebensmut. Ausgangspunkt für ein Theologiestudium ... die Schülerinnen und Schüler eine mit- zen und erzählen vom Waldspaziergang Als Menschen brauchen wir die Ge- war meine eigene Suche nach Antworten gestaltende Rolle einnehmen und theo- durch den Religionsunterricht eine Ho- und den zwitschernden Vögeln – ohne meinschaft mit anderen Menschen. Nur auf die großen Fragen des Lebens im Ju- logische Gespräche stattfinden. Ich freue rizonterweiterung stattfindet. Er er- von ihren Kindern eine Antwort zu be- wenn wir zusammenleben, miteinander gendalter. Mein Religionsunterricht war mich, wenn die Reflexion ihres jeweils weitert den Blick der Schülerinnen und kommen. Ist das ein Monolog, der nur reden und Gedanken austauschen, kön- für mich nicht ausreichend, um die Welt eigenen Glaubens angeregt wird und sie Schüler auf die Wirklichkeit und lässt dazu dient, dass das Kind unsere Sprache nen wir uns selbst reflektieren und uns besser zu verstehen. Hier war keine Zeit durch die Auseinandersetzung mit ver- sie die Welt aus einer anderen Perspek- lernt? Nein, es ist viel mehr. Die Stimme weiterentwickeln. Jede unserer Handlun- für persönliche Sinnfragen. Und eigene schiedenen Perspektiven eine eigene Po- tive betrachten. der Mutter, ihr Tonfall, dazu die Berüh- gen löst beim anderen eine Reaktion aus: Deutungen wurden nicht wertgeschätzt. sition entwickeln. Glücklich bin ich, wenn rung und die Blicke zeigen dem Baby: Du Widerspruch, Zustimmung, Wut, Trauer, Die fehlenden Auseinandersetzungen mit die Schülerinnen und Schüler im Religi- bist geliebt, du bist nicht allein, ich passe Enttäuschung, Freude, ein Lächeln. Und Glaubensfragen im Unterricht motivierten onsunterricht nicht wegen einer guten Carolin Doms (26) ist auf dich auf. Das gibt dem Kind ein Gefühl weil wir sehen, dass der andere auf uns re- mich zu meinem Studium. Ich wollte Ant- Note über ihren Glauben nachdenken und Anwärterin im Studien- von Geborgenheit und Wärme – und ein agiert, wissen wir, dass wir existieren – und worten für mein Leben finden und Religi- am Unterrichtsgespräch teilnehmen, son- seminar Osnabrück für Gefühl für die eigene Person: Das ist mei- lernen, Beziehungen aufzubauen. onsunterricht anders gestalten. dern weiterführende Gedanken für ihr ei- die Lehrämter an Grund-, ne Mama und ich bin die Kleine auf dem Ebenso ist es mit der Beziehung zu Gott. genes Leben nutzen. Haupt- und Realschulen Wickeltisch. Die christliche Bibel und die jüdische Tora Ich möchte eine Religions- und unterrichtet an Der jüdische Religionsphilosoph Mar- Fingerzeig auf andere: Bronzeskulptur sprechen von Gott als einem „Du“. Er hat lehrerin sein, die ... Das lerne ich im Umgang mit der Domschule in tin Buber hat die Entwicklung der Per- „What's up“ von Edwin Partoll in Lembruch uns als sein Ebenbild geschaffen, er ruft Osnabrück Kath. Religion sönlichkeit in seinem Hauptwerk „Ich uns zu sich, er hört unsere Hilferufe. Gott den Schülerinnen und Schülern: ihre Schülerinnen und Schüler als Ak- und Mathematik. und Du“ mit dem dialogischen Prinzip ist nicht ein Gegenstand, über den wir phi- teure begreift, die auf dem Weg sind, beschrieben. Er sagt, dass der Mensch Martin Buber sagt auch: „Alles wirk- losophieren können, sondern ein Gegen- Der tägliche Umgang mit Schülerinnen und ihre Wirklichkeit zu erschließen. Dabei erst eine Identität entwickeln kann und liche Leben ist Begegnung.“ Die Coro- über, auf das wir reagieren können. Es liegt Schülern kann sehr bereichernd sein, da sie möchte ich ihren persönlichen Fragen sich als „Ich“ begreift, wenn er ein Gegen- na-Pandemie stellt uns dabei alle auf eine an uns, ob wir ihm begegnen möchten und den Unterricht auf ihre persönliche Weise und Überlegungen Raum geben. Die bib- über hat, wenn er ein „Du“ erlebt. „Am Du harte Probe. Besonders drastisch trifft es ihm Platz in unserem Leben geben. Das mitgestalten. Nicht nur Geduld, sondern vor privat Jacoby Foto: Marius Jacoby lische Botschaft und christliche Tradition werden wir erst zum Ich“, sagt Buber. Wir viele alte Menschen, die in Pflegeheimen „Du“ von Gott ist ein Angebot an uns und allem eine Wertschätzung des Einzelnen ist möchte ich Ihnen als Antwortangebot für brauchen also andere Menschen und den leben und in diesem Frühjahr und auch wir sind frei, darauf einzugehen. Foto: Marius notwendig, um diesen begegnen sowie opti- ihr Leben vorstellen. Austausch mit ihnen, um uns selbst als jetzt wieder aus Angst vor Ansteckung mal fördern und fordern zu können. Foto: Person wahrzunehmen. isoliert wurden. Wochenlang durften sie TEXT: KERSTIN OSTENDORF 10 // zoé zoé // 11
ANSPRECHEN ANSPRECHEN Menschenskinder Ansprache unter anderen Umständen „Hebammen können auch mit den Händen sehen“, sagt Viktoria Borchardt-Ott und spielt auf das in ihrem Beruf so wichtige Finger- spitzengefühl an. Auf dem Weg zur Geburt benötigen Frauen aber auch eine sensible Ansprache. Aufbauend, positiv, Mut machend S eit 35 Jahren zeigt Viktoria Borchardt-Ott schwan- geren Frauen, wie sie souverän ihren eigenen Weg durch den Dschungel an medizinischen Unter- suchungen und gesellschaftlichen Erwartungen finden. „Ich lerne unheimlich viel von den Frauen“, räumt die Hebamme bescheiden ein, die seit Anfang der 1990er Jahre im Münsterland lebt und arbeitet. Ihre Ausbildung begann sie 1984 in Berlin, wo der Werdegang einer Geburtshelferin ähnlich dem Hebamme ausgestellt wird und der die Schwangerschaft penibel dokumentiert. Den bringen die Frauen mit zu einem ausführli- chen Vorgespräch, das mit Borchardt-Ott telefonisch vereinbart wurde. Und was als vertrauliche Datenerhebung und Anamnese beginnt, mündet schnell in einem Beziehungsgespräch: Was er- wartet die Mutter von der Hebamme, was kann und was will sie leisten? Studium an einer Fachhochschule organisiert wurde. Sensorik für den Seelenzustand und Direkt nach der Wende zog sie der Liebe wegen nach Alten- das Umfeld der Mutter berge bei Münster und zog hier mit ihrem Mann drei Kinder groß. Sie hat seitdem in vielen Bereichen gearbeitet: Als an- „Wichtig ist mir dabei die angemessene Augenhöhe“, sagt Vik- gestellte Hebamme in Kliniken, als freischaffende in der Ge- toria Borchardt-Ott. „Ich möchte Frauen die Kompetenz über burtsvorbereitung und -begleitung und heute vornehmlich in ihre eigene Schwangerschaft vor Augen führen und ihnen hel- der Vor- und Nachsorge einschließlich Wochenbett. Das hat fen, diese selbstbewusst wahrzunehmen.“ Starke Worte, die vor allem versicherungsrechtliche Gründe: Die Kosten für die voraussetzen, dass die beiden im Laufe der Vorbereitung auf Haftpflichtversicherung sind so hoch, dass Geburten ohne Arzt die Geburt zu einer vertrauensvollen Beziehung finden. Wie zunehmend seltener werden. gelingt das? Vor allem durch Zuhören und Empathie, meint die In über 30 Jahren hat Viktoria Tatsächlich hat jede Frau aber ab dem ersten Tag der Schwan- Hebamme. Borchard-Ott mehr als tausend gerschaft bis weit in das erste Lebensjahr des Neugeborenen ei- Während die Stärke der modernen Medizin in immer präzi- Schwangerschaften begleitet nen Anspruch auf die Begleitung durch eine Hebamme. Und die seren Methoden zum Messen, Scannen und Analysieren liegt, meisten werdenden Mütter nehmen ihn wahr. Alles beginnt mit zählen bei der Geburtsvorbereitung durch die Hebamme be- dem Mutterpass, der von einer ärztlichen Praxis oder von einer sonders ein offenes Ohr für Zwischentöne sowie eine sichere 12 // zoé zoé // 13
ANSPRECHEN ANSPRECHEN Sensorik für den Seelenzustand und das soziale Umfeld der Beziehungen werden individuell „ausbuchstabiert“ werdenden Mutter. Letzteres hat sich stark gewandelt. Tenden- ziell nimmt das Alter der Erstgebärenden zu und die familiäre Das ist besonders schwer, wenn sie Warnsignale wahrnimmt, Bindung zur Generation davor ab. Beides kann verunsichern: die unbedingt ärztlich abgeklärt werden müssen. Hier gerät die Bin ich zu alt für eine reibungslose Geburt? Und wer hilft mir, Beziehung von Mutter und Hebamme an Belastungsgrenzen, wenn es Komplikationen gibt? Die selbstverständliche Fami- die oft nicht leicht zu ertragen sind. „Tendenziell rate ich zu lienhilfe ist erschwert, wenn die Eltern der werdenden Eltern Gelassenheit und Selbstvertrauen, aber in medizinischen Kri- nicht greifbar oder in der Begleitung nicht erwünscht sind. Da senfällen hilft das natürlich nicht“, berichtet sie, „da stehen das wird die Hebamme zu einer wichtigen Gesprächspartnerin, Wohl von Kind und Mutter klar im Vordergrund.“ Und das be- im besten Fall für beide Elternteile, was Borchardt-Ott immer deutet unter Umständen auch die Trauerbegleitung, wenn eine anstrebt. Sie ist es auch, die durch Kurse Kontakte zu anderen Schwangerschaft ungewollt unterbrochen wird. Hier muss sie Schwangeren herstellt und – falls nötig und gewünscht – ande- als Hebamme ihre eigenen Grenzen kennen und unter Umstän- re Gesprächspartner vermittelt. Das können junge Eltern sein den rechtzeitig therapeutische Unterstützung vermitteln. oder auch Familien in besonderen Lebenslagen, die etwa ein Viktoria Borchardt-Ott hat bereits mehr als tausend Schwan- Kind mit Down-Syndrom bekommen haben. gere begleitet. Jede hat ihre eigene Biografie, jede Beziehung wur- Ängste und Freude, Leichtigkeit und Sorgen, das alles liegt in de individuell „ausbuchstabiert“. Die genaue Zahl weiß sie nicht. jeder Schwangerschaft eng beieinander. „Ich möchte unbedingt Aber da sie ländlich wohnt, wird sie immer wieder an ihre Bezie- vermeiden, dass Eltern quasi neben ihrer eigenen Schwanger- hungsarbeit erinnert, wenn sie Eltern und Kinder wiedertrifft, die schaft herlaufen“, sagt sie und unterstreicht damit, wie wichtig sie begleiten durfte. Meistens ein bereicherndes, manchmal auch es ist, die Eigenkräfte von Eltern zu fördern und zu fordern. ein lustiges Erlebnis. Vor allem wenn der ehemalige Säugling die Dazu muss eine Hebamme die Mütter bestärken, auf die Signale kleine quirlige Hebamme mittlerweile um einige Köpfe überragt des eigenen Körpers und der Seele zu hören. Denn auch wenn und die sich trotzdem als Erstes an die Besonderheiten der Nabel- vieles in der Entwicklung eines Fötus zum Kind in Tagen und schnur kurz nach dessen Geburt erinnert. Wochen bemessen wird, gibt es individuelle Abweichungen und Besonderheiten. Die muss Borchardt-Ott erkennen, einschät- zen und Mut machend ansprechen. TEXT: PETER BEUTGEN FOTOS: MARIUS JACOBY DU HAST DEINEN NAMEN IN MEINE HAND GESCHRIEBEN UND MEINEN NAMEN IN DEINE HAND. // SO LASS MICH IN DIESER HAND SPÜREN, DASS ICH IN DIR BIN UND DU IN MIR. // Anselm Grün »Tendenziell rate ich zu Gelassenheit Ansprache im Mutterleib amme. Denn die Ansprache wirkt zudem als Simulation einer und Selbstvertrauen, Eins-zu-Eins-Beziehung und fördert dadurch wohl die Bildung des Bereits im Mutterleib entwickeln Babys ihre Sinne. Darauf weist Bindungshormons Oxydocin, das sowohl für die Geburt als auch aber in medizini- Viktoria Borchardt-Ott hin und rät zu einer frühen „Ansprache“, durch Berührungen und behutsames Reden mit dem Kind im Bauch: für partnerschaftliche Gefühle wichtig ist. schen Krisenfällen „Wird das heranreifende Kind bereits im Mutterleib beachtet und So schafft die Ansprache im Mutterleib Anreize für die vorgeburt- fühlt es sich umsorgt und beschützt, dann wirkt sich das auf das liche Entwicklung – den Embryo erreichen auch die Hormone der hilft das natürlich Urvertrauen und damit auf die positive Sicht auf die Welt aus.“ Mutter. Außerdem entsteht direkt nach der Geburt bereits eine Bindung zum Kind, die hilft, Ängste abzubauen und das Gefühl nicht.« Bereits ab dem dritten Schwangerschaftsmonat können Babys von Geborgenheit anzuregen. Das mache es auch für die Mutter Eindrücke von außen wahrnehmen und sind neugierig auf alles, leichter, ihr Kind einmal abzugeben, unterstreicht Borchardt-Ott. was „da draußen“ so passiert. „Eine günstige Gelegenheit für Vorgeburtliche Erfahrungen, da herrscht unter Experten große Mütter und für Väter, sich jetzt schon ins Spiel zu bringen und Einigkeit, bilden eine wichtige Quelle für die spätere Entwicklung sich dem Baby bekanntzumachen“, meint die erfahrene Heb- von Kindern. Lebhaft unterstreicht Viktoria Borchardt-Ott mit ihren Händen die Bedeutung ihrer Worte 14 // zoé zoé // 15
ANSPRECHEN RURIKTITEL Alle Macht dem Ich Dumm Von wegen Zurücklehnen: Ferdinand von Schirach fragt die Leser und Von Schirach tut das nicht zum ersten Mal. Be- gelaufen Zuschauer seiner Stücke „Terror“ und nun „Gott“ unmittelbar nach ihrer reits in „Terror“ (2015) musste das Publikum einen Haltung. Peter Beutgen über diese Form einer Entscheidungsliteratur Richtspruch abgeben. Damals zum Abschuss eines Mottotage angehender Abiturienten mag Flugzeugs im Rahmen eines moralischen Dilemmas, er sowieso nicht. Doch diesen einen wird da mit dem staatlichen Gewaltakt die Zahl von mög- Oliver Rouvray niemals vergessen lichen Terroropfern minimiert werden sollte. Doch N diesmal geht es nicht um Rechtsprechung, sondern Ich mag Mottotage nicht, an denen die Q2 kurz vor den um deren Grundlage. Also Wert-Entscheid als Mehr- Abiturprüfungen sich selbst feiert. Außerdem stimme un sag, wie hast du's mit der Religion?, fragt heitsentscheid. Ob das klug oder populistisch ist, ich Karl Lagerfeld zu, der sagte: „Wer eine Jogginghose Gretchen den Dr. Faust. Und genau so sind muss jeder selbst entscheiden. Erlaubt ist es, zumal in der Öffentlichkeit trägt, hat die Kontrolle über sein wir es in Literatur und Drama gewohnt: Die Haupt- in der Kunst. Leben verloren.“ However, es war Mottotag „Asozi- figur entscheidet, wir starren gebannt zu. Ferdinand Gerade in 2020 erschienen, haben fünf Bühnen al“. Ich war Stufenleiter und sollte mitmachen („Sie von Schirach dreht den Spieß um. Er fragt seine Re- den Stoff in Szene gesetzt. Am Düsseldorfer Schau- müssen sich gar nicht so sehr umstellen.“) Haha. Den zipienten direkt. In seinem Schauspiel „Gott“ müs- spielhaus würden 65,3 Prozent der Zuschauer be- Hipster-Bart stutzte ich zum Schnurrbart, lieh mir sen die über eine Frage urteilen, die weder juristisch fürworten, dass ein Mediziner dem Witwer eine töd- eine graue Jogginghose und besorgte eine Aldi-Tüte. noch ethisch eindeutig beantwortet ist: Wem gehört liche Dosis Pentobarbital aushändigt. In Oldenburg Adiletten besitze ich und so ging es zur Schule. das Leben? und Berlin war die Zustimmung deutlich geringer. Dann das: Eine zerstreute Biolehrerin hatte eine Ex- Ferdinand von Schirach zeichnet in seinem aktu- Das legt die Vermutung nahe, dass nicht nur die Kraft kursion nicht ihren Grundkursen kommuniziert, so dass ellen Bühnenstück eine Sitzung des Ethikrates nach. des Wortes, sondern die Inszenierung das Urteil des ca. ein Drittel der Stufe einen Tag zuvor erfuhr, dass sie Staatsrechtler und Theologen kommen zu Wort, ein Publikums beeinflusst. Ob das den Autor freut? am Mottotag nicht in der Schule sein würde. In Zeiten Mediziner und – ganz entscheidend – ein Betroffener: Wahrscheinlich nicht. Der Autor und Jurist von von Whatsapp kein Problem, zack, hatte die Stufe Kennt- der des Lebens müde, aber körperlich gesunde 78jäh- Schirach lässt in „Gott“ den Juristen Biegler anderes nis, dass der Mottotag verschoben wurde – ich nicht. riger Witwer Richard Gärtner. Er möchte seinem Le- implizieren: „Der Mensch selbst ist das Maß – nicht Vor der ersten Stunde befand es niemand meiner ben ein Ende setzen. Dazu möchte er Gift – aus der die Natur, keine Ideologie (…), keine Kirche, kein Kolleginnen und Kollegen für nötig, mich auf mein Hand eines Mediziners. Gott.“ Ein frommer Wunsch. Denn die Selbster- Outfit anzusprechen. Es wurde irritiert geschaut, aber Es entspinnt sich unter dem lakonischen Erzähl- mächtigung des „Ich“ führt eben nicht zu mehr Ein- peinlich berührt geschwiegen. Erst in der großen Pau- stil des Autors eine herbe Debatte. Unaufgeregt, aber deutigkeit, wie das Publikumsurteil zeigt. Aber noch se merkte ich, dass ich der einzige „Verkleidete“ war, jederzeit emotionsgeladen. Der Mediziner pocht auf ist ja der letzte Vorhang nicht gefallen. sehr zur Freude der Kollegen, die ich bis dahin mei- seinen hippokratischen Eid, der Bischof auf die gött- ne Freunde wähnte und die die Erinnerung bis heute liche Gabe des Lebens, der Jurist auf unveräußer- TEXT: PETER BEUTGEN aufrechterhalten. Den Rest des Tages verbrachte ich liche Rechte: Das Grundgesetz kennt keine Pflicht damit, mir blöde Ausreden auszudenken („Ich muss zum Leben, aber die Freiheit des Einzelnen. Dazwi- heute zwei Sportlehrer vertreten“) und die Sekunden schen: wir. zu zählen, bis ich diesen Schultag beschämt und mei- Ferdinand von Schirach verlangt seinen Rezipien- ner Würde beraubt beenden konnte. ten einiges ab. Darf er das? Darf ein Autor seine Leser Entscheidungen der Zuschauer quasi zwingen, ein moralisches Urteil zu fällen, auch wenn sie sich vielleicht erst einmal in Ruhe – zum Sowohl zu „Terror“ (www.terror.theater) als auch zu Beispiel mit Hilfe von Literatur und Schauspiel – „Gott“ (www.gott.theater) lassen sich im Internet damit befassen möchten? Der Autor nimmt sich das die Abstimmungen auf jeder neuen Bühne verfolgen. Foto: Michael Mann Ferdinand von Schirach treibt Recht und setzt auf die Entscheidungskraft des Re- Zuschauer von „Terror“ werden sogar als Schöffen Oliver Rouvray ist Lehrer für Diskussionen über existenzielle zipienten. Ohne dessen Urteil läuft das Drama nicht. genannt. „Gott“ ist in mehr als einem Dutzend Englisch und Evangelische Religion Foto: privat Themen in die Öffentlichkeit Die Abstimmung ist zentraler Teil des Spiels, sie ist Theatern auf aktuellen Spielplänen. am Max-Planck-Gymnasium Bielefeld das Herz des Plots. 16 // zoé zoé // 17
RUBRIKTITEL NACHGEDACHT GOTT, DER HERR, RIEF NACH DEM MENSCHEN UND SPRACH ZU IHM: WO BIST DU? Gen 3,9 „Wo steckst du?“ Von Fragen, die das Paradies kosten und die Gott-Mensch-Beziehung retten können Angesprochen oder gefragt zu werden, kann toll sein, ehrend. Es kann ein erhebendes Gefühl vermitteln oder „Schmetterlinge in den Bauch” zaubern. Angesprochen oder gefragt zu werden, kann aber auch unangenehm sein, lästig, ein schlechtes Gewissen machen oder die Schamesröte ins Gesicht treiben. Angesprochen oder gefragt zu werden, kann folgenreich sein. Entscheidend ist: Wer spricht oder fragt mich in welcher Situation und mit welcher Intention an? Im Paradiesgarten (Gen 3) wird nicht viel (an-) gesprochen oder gefragt. Aber das, was uns begegnet, hat es in sich. Da wäre zunächst die Schlange. Diese wendet sich unvermittelt an die Frau und Letztere lässt sich in ein folgen- schweres Gespräch verwickeln. Anschließend tritt Gott auf den Plan, ruft nach dem Men- schen und konfrontiert ihn mit der Frage „Wo bist du?“. (Gen 3,9) Diese erste Frage Gottes, die in der Bibel den Illustration: Patrick Schoden Menschen in direkter Ansprache trifft, mag auf einen ersten Blick profan oder banal wirken. Doch hält die gesamte Kommunikationssitua- tion teils überraschende Erkenntnisse für uns bereit – mit existenzieller Bedeutung. zoé // 19
NACHGEDACHT NACHGEDACHT Das Buch Genesis Der Mensch im Paradies: 3,9-23 »Die Beziehung Gott–Mensch mag einen Aber Gott, der HERR, rief nach dem Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du? Er antwortete: Ich habe deine Schritte gehört im Garten; da geriet ich in Als der Schöpfergott auftritt, verste- Knacks bekommen haben, komplett zerbrochen Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich. Darauf fragte er: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem ich cken sich der Mensch und seine Frau vor Gott, wie es in Gen 3,8 heißt. Die Men- ist sie jedoch nicht. Der Weg des Menschen dir geboten habe, davon nicht zu essen? Der Mensch antwortete: Die Frau, schen haben etwas ausgefressen; jetzt mit Gott und vice versa geht weiter – dem die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben. So habe ich suchen sie ihr Heil im Blätterwald. Gott gegessen. Gott, der HERR, sprach zu der Frau: Was hast du getan? Die Frau merkt dies sofort. Doch macht sich Gott Gespräch sei Dank.« antwortete: Die Schlange hat mich verführt. So habe ich gegessen. nicht auf die Suche. Gott ruft vielmehr Da sprach Gott, der HEER, zur Schlange: Weil du das getan hast, bist du nach dem Menschen: „Wo bist du?“ (Gen verflucht unter allem Vieh und allen Tieren des Feldes. (...) Zur Frau sprach er: 3,9) Dies ist die allererste Frage, die Gott Viel Mühsal bereite ich dir und häufig wirst du schwanger werden. (...) Zum dem Menschen stellt. Sie führt dazu, dass Menschen sprach er: Weil du auf die Stimme deiner Frau gehört und von dem sich der Mensch seines eigenen Standorts schulterzuckend hin. Gott fragt vielmehr Schlussendlich führt das Angespro- Baum gegessen hast, von dem ich dir geboten hatte, davon nicht zu essen, bewusst werden und sich outen muss. nach dem Menschen: „Wo bist du?“ Und chen- und damit Angefragtsein des ist der Erdboden deinetwegen verflucht. (...) In der Folge schleift Gott den sündigen Gott fragt hartnäckig weiter. Erkenntnis Menschen durch Gott aus dem Paradies Delinquenten nicht an Haaren oder Oh- Nr. 2: Ein „Fehltritt“ kann in kommuni- hinaus (Gen 3,22–24). Die Beziehung ren aus seinem Versteck, sondern der kativer Hinsicht höchst produktiv sein. Gott–Mensch mag einen Knacks be- Mensch stellt sich gewissermaßen selbst: Dumm nur, dass sich das im Vorhinein kommen haben, komplett zerbrochen Er stellt sich vor Gott, wird Gott zum Ge- kaum vorhersagen lässt. ist sie jedoch nicht. Der Weg des Men- genüber – und muss in der Folge auch zu Doch ist die Angelegenheit noch nicht schen mit Gott und vice versa geht wei- dem stehen, was er getan hat. ausgestanden, die befürchtete Strafe ist ter – dem Gespräch sei Dank. Das wäre D „Wo bist du?“ Diese Frage lockt den noch nicht erfolgt. Wobei besser von einer Erkenntnis Nr. 4. Menschen aus der Reserve, er reagiert. Tatfolge zu sprechen ist: Der an Erkennt- Doch während Gott mit dem Men- as Schöpfungsgeschehen ist zen- setzt jeweils etwas in Gang, das den Fort- Doch hören wir nicht etwa ein selbstbe- nis gereifte Mensch kann nicht weiterhin schen in einen dialogischen Austausch tral vom Wort (Gottes) geprägt gang der Ereignisse fundamental verändert. wusstes „Hier bin ich!“, wie aus Beru- unschuldig im Paradies leben. Und damit tritt, bleibt dies bei der Schlange komplett (Gen 1): Gott spricht und Welt und Leben In Gen 3,1 taucht zunächst die Schlan- fungsgeschichten bekannt. Der Mensch gehen weitere Veränderungen einher, die aus. Ihr wird vielmehr nur ihr Geschick entstehen. Diese Schöpfungsworte haben »Dies ist die allererste ge – Kennzeichen: schlauer als alle Tie- antwortet, indem er sich zu rechtferti- Gott benennt. Willkommen in der Wirk- angesagt (Gen 3,14f.). Bei aller Verwandt- keinen direkten Adressaten, ohne deswe- re des Feldes – aus dem Nichts auf. Sie gen versucht. Das wiederum ruft weitere lichkeit, könnte man sagen. Komposito- schaft von Mensch und Tier als Geschöp- gen ins Leere zu gehen: Sie sprechen nicht Frage, die Gott dem quatscht die Frau von der Seite an und Nachfragen Gottes hervor: „Wer hat dir risch ist dies brillant inszeniert: fe Gottes markiert Gen 3 in diesem Punkt an, sondern sie sprechen aus – und sie be- ködert sie mit einer suggestiv gestalteten gesagt, dass du nackt bist?“ (Gen 3,11) Die Schlange (1) spricht die Frau (2) einen deutlichen Unterschied. Erkennt- wirken das, was sie aussprechen. Menschen stellt. Sie Frage: „Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft „Hast du von dem Baum gegessen …?“ an; diese isst und gibt auch ihrem Mann nis Nr. 5: Nur der Mensch ist von Gott als Nachdem der Mensch – männlich und von keinem Baum des Gartens essen?“ (Gen 3,11) „Was hast du getan?“ (Gen (3) davon (Gen 3,1–6). kommunikatives Gegenüber akzeptiert weiblich – geschaffen ist, wird er von Gott führt dazu, dass sich Die Frau antwortet (Gen 3,2f.), indem sie 3,13). Schritt für Schritt wird aufgedeckt, Gott ruft nach dem Menschen (= in – nur der Mensch ist „gottebenbildlich“ gesegnet und beauftragt (Gen 1,28–30). Und im Paradiesgarten ist es zunächst ein der Mensch seines das Gebot Gottes (Gen 2,15f.) fast wört- lich wiedergibt. Und schon sind die bei- was versteckt werden sollte. Das Spannende daran: Erst das Über- diesem Fall: der Mann) (3); dieser ver- weist auf die Frau (2); diese wiederum auf (Gen 1,26f.). Dies ist Auszeichnung und Verpflichtung zugleich – und bringt jede Gebot Gottes, das der Mensch zu hören eigenen Standorts den im Gespräch. Die Replik der Schlange treten des göttlichen Gebotes führt dazu, die Schlange (1) (Gen 3,7–13). Menge Verantwortung mit sich. bekommt (Gen 2,16f.). wiederum stellt die göttliche Strafandro- dass Gott und Mensch so ins Gespräch In der abschließenden Tatfolgenfest- Was bislang fehlt: eine wechselseiti- bewusst werden und hung, den Tod, infrage und lässt das Be- miteinander kommen, dass sie einander stellung kommen erneut alle Akteure vor: TEXT: CHRISTIAN SCHRAMM ge (verbale) Beziehungsaufnahme. Der gehren nach der verbotenen Frucht erwa- zu einem wirklichen Gegenüber werden. Schlange (1) (Gen 3,14f.), Frau (2) (Gen Mensch antwortet nicht, ein Gespräch sich outen muss.« chen. Das Begehren führt zur Tat und so Was zum völligen Beziehungsabbruch 3,16), Mensch/Mann (3) (Gen 3,17–19). Er- kommt nicht zustande. Auch der „Be- kommt eines zum anderen. Erkenntnis führen könnte und immer noch kann – kenntnis Nr. 3: Mit dem Finger auf andere Christian Schramm ist grüßungsjubel“ angesichts der Frau (Gen Nr. 1: Es gilt, gut achtzugeben, wer mich die Gebotsübertretung – führt zumindest zu zeigen und sich so aus der Verantwor- biblischer Fortbildner 2,23f.) bleibt monologisch. anspricht, anfragt. Bei schlauen Schlan- zunächst zu einem intensivierten Bezie- tung stehlen zu wollen, hat bei Gott keinen im Bistum Hildesheim Das ändert sich erst in Gen 3. Hier finden gen ist stets Vorsicht geboten – dummer- hungsaufbau. Der Mensch ist Gott offen- Erfolg. Alle werden zur Rechenschaft gezo- und Privatdozent der Foto: privat wir die ersten „Gespräche“ der Bibel, hier weise sind diese im Alltag nicht so leicht sichtlich nicht gleichgültig. Schon das gen, niemand kann die eigene Verfehlung Katholisch-Theologischen begegnen uns die ersten Fragen. Und dies zu erkennen. Versteckspiel nimmt Gott nicht einfach auf einen Sündenbock abwälzen. Fakultät in Bonn 20 // zoé zoé // 21
MEIN EINSATZ MEIN EINSATZ In der Stille entstehen mehr Bilder im Kopf G ut 20 Minuten dauerte es, bis »Wer bin ich, den anderen verändern besonders hohes Gut ist. Anrufer bringen seine Stimme brach. Mir kamen sie wie zwei quälend lange Stunden vor. zu wollen, ihn uns großes Vertrauen entgegen, gerade jetzt rufen viele wegen ihrer Einsamkeit Zuhören und einfach da sein – bei Einsamkeit, täglichen Sorgen oder sogar beim Suizid. Unsere Autorin arbeitet seit mehr als 20 Jahren bei Er habe einen Tablettencocktail genom- be- oder verurteilen an. Manche sprechen von intimsten Din- men und ich solle ihm bitte die Hand hal- gen, die sonst niemand kennt. Besonders der Telefonseelsorge Emsland / Grafschaft Bentheim ten. Ich sagte: „Ich halte Ihre Hand.“ – Es zu wollen?« in der Nachtschicht erreichen diese Ge- war das Gespräch mit jemandem, der Ab- spräche eine eigene Dimension – die Stil- schied nimmt. Er wollte keine Hilfe, son- le lässt mehr Bilder im Kopf erscheinen. dern nur sterben. Das Telefonat ging mir Anonymität bedeutet übrigens nicht, lange nach. Ich glaube, dass dieser Mann sion in einer geschützten Gruppe. Aus dass wir manche Anrufer nicht häufig wirklich gestorben ist. Gesehen habe ich der dringt nichts nach außen. Diese Ter- sprechen. Eine mittlerweile junge Frau ihn nicht. Nur seine Stimme gehört. mine sind Sternstunden, sie sind Hilfe hatte sich erstmals als Zwölfjährige an Seit über 20 Jahren arbeite ich bei der und Entlastung, ohne die diese Tätigkeit uns gewandt. Der neue Partner ihrer Telefonseelsorge. Ich hatte meine an Krebs nicht leistbar wäre. Mit großer Wert- Mutter hatte sie missbraucht. Bis heute erkrankte Mutter begleitet und gemerkt, schätzung – aber trotzdem deutlich – ruft sie an. Sie ist aus der Wohnung der wie wichtig es für einen Kranken ist, dass wurden mir zum Beispiel blinde Flecken Familie ausgezogen und macht eine Aus- jemand einfach nur zuhört. Gut gemeinte bewusst gemacht. Meist waren sie es, die bildung. Ich kenne nicht ihren Namen, Ratschläge waren oft nicht willkommen, mich in einem Gespräch blockierten. weiß auch nicht, wo sie wohnt. Und doch das Mitaushalten von Ängsten jedoch sehr. Nur mit totaler Offenheit kann ich ist sie mir unfassbar nah, weil sie sich Schlichtes Dasein konnte neuen Lebens- genau zuhören und bin unvoreingenom- mir geöffnet hat und ich sie auf ihrem mut vermitteln. Diese Erfahrung mache ich men. Dann werden auch Zwischentöne Weg begleiten darf. Eben solche Erfah- auch bei der Telefonseelsorge. wahrnehmbar, wenn etwa der Klang der rungen machen mich demütig. Lege ich Für diese Aufgabe werden alle Mitar- Stimme nicht zum Inhalt des Gespräches nach einem solchen Gespräch den Hörer beitenden speziell ausgebildet. Die hohe passt. Darin haben Menschen schon über auf, spüre ich großes Glück und inneren Sensibilität der Ausbilder machte mir schlimme Missbrauchserlebnisse ge- Frieden. Mut, mich zu öffnen. Lebenserfahrun- sprochen. Das alles gelingt nur durch den gen, die Verletzungen hinterlassen hat- Schutz der Anonymität, die für uns ein TEXT: ANONYM ten, erschienen in anderem Licht. Vieles lernte ich aufzuarbeiten. Ich wurde ein freierer Mensch und erkannte: Wer bin ich, den anderen verändern zu wollen, ihn be- oder verurteilen zu wollen? Das muss ich mir stets in Erinnerung Telefonseelsorge – rund um die Uhr erreichbar rufen. Kürzlich meinte ein Anrufer, Gott habe uns das Coronavirus als Strafe ge- Anonym, kostenfrei und 24 Stunden an jedem Tag der Woche bietet die schickt. Ich selbst bin der festen Über- Telefonseelsorge ihren Dienst an. Auch der Kontakt per Chat und E-Mail ist zeugung, dass Gott uns den freien Willen möglich. Die Mitarbeitenden hören zu, damit Anrufende menschliche Nähe, geschenkt hat. Dennoch darf ich in so Anteilnahme oder Anstöße zu neuem Lebensmut erfahren. Durch ein einer Situation nicht werten und nicht bundesweit genutztes technisches System sprechen Anrufende mit einer missionieren. Auch wenn es mir schwer- Person aus der eigenen Region. Foto: Marius Jacoby fällt und ich die Sicht eines Anrufers nicht teile, muss ich sie respektieren. Telefon: 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222 Probleme bei Anrufen besprechen MEHR INFOS: www.telefonseelsorge.de wir einmal im Monat bei der Supervi- 22 // zoé zoé // 23
INTERVIEW 22 Fragen an Erik Flügge Fast wäre er Religionslehrer geworden, entschied sich dann aber für den Beruf des Kommunikationsberaters. Als Wahlkampfprofi arbeitet Erik Flügge heute unter anderem für die SPD. Etablierte Parteien nimmt er in Schutz: Sie hätten eine Aversion gegen Lügen 1 Was treibt sie in die Kirche? leer. Da muss man schon viele Semester 5 Wie sieht es aber in den Das ist wie vermutlich bei allen: biogra- Theologie studiert haben, um zu verste- Gemeinden aus? fische Prägung, Gewohnheit und Ver- hen, dass man zu Jesus geht, dass das Jeder, der vor der Gemeinde spricht, soll- trauen auf die Botschaft. Ich habe eine nicht automatisch geht, er in der Ge- te sich drei oder vier Personen suchen komplett zweifelsfreie Verbindung zur meinschaft zu finden ist und Brot nicht und sagen: „Sag mir ehrlich, wie du mei- Kirche. Nicht zu allem, was sie sagt, aber Leib Christi ist, sofern es keine konse- ne Predigt findest.“ Das mache ich selbst zu dem, was sie sagen soll. krierte Hostie ist. Diesen Fußabdrücken auch bei meinen Texten. Es tut weh, wenn zu folgen – was soll das anderes auslö- gute Freunde die eigenen Texte verrei- 2 Sie sind ein Kritiker kirchlicher sen als Frustration? ßen, aber sie werden besser. Kommunikation. Nennen Sie bitte ein Beispiel für Ihren Unmut. 4 Wie soll es besser werden? Erik Flügge spricht leise, während Nehmen wir die Aktion des Erzbistums Wir müssen schon an den Universitäten Kollegen im Großraumbüro der Agentur Köln mit den aufgeklebten Fußabdrü- interdisziplinär mit Menschen arbeiten, arbeiten. Dass er mit seiner Kritik an cken „Jesus to go“ vor dem Kölner Dom. die mit Kirchensprache nichts anfangen Kirchensprache selbst zum Gesprächs- Ich folgte den Fußabdrücken bis zu ei- können. Schon hier brauche ich einen thema geworden ist, sei nicht geplant nem Automaten auf dem stand: „Kir- nicht rein theologischen Kommunika- gewesen. „Ich spreche nur aus, was che geht nicht automatisch.“ Also: Ich tionsraum, in dem Menschen theolo- viele andere auch denken. Nur sagt das war einer englischsprachigen „Jesus- gisches Kommunizieren lernen. Dafür sonst kaum jemand.“ to-go“-Botschaft gefolgt, kam an einen haben wir an der Ruhruniversität Bo- Automaten und bekam eine ablehnende chum einen theologischen Studiengang 6 Theologische Begriffe und liturgische Botschaft. Crossmediale Glaubenskommunikation Formeln lassen sich aber nicht alle gegründet, in dem die Dozierenden zu ei- einfach übersetzen. 3 Und dann? nem großen Teil nicht aus der Theologie, Wenn sich unser Sprechen auf Gott rich- Aus dem Automaten fiel ein kleines sondern aus Kommunikationswissen- tet, zum Beispiel beim Hochgebet, darf Kästchen. Auf dem stand „Dies ist nicht schaft und Religionssoziologie kommen. es besonders sein. Wenn es sich an Men- mein Leib“ und in einem kleinen Fens- Das theologische Fundament unterrich- schen richtet, muss es allgemeinver- ter war eine Hostie. Das Kästchen war ten natürlich Theologen. ständlich sein. Das wäre für mich auch 24 // zoé zoé // 25
INTERVIEW INTERVIEW »Schülerinnen und Schüler müssen nachempfinden, was das bedeutet, wenn für Menschen Religion Wahrheit ist.« die Trennung zwischen der Lesung des 15 Warum sind Sie selbst nicht 18 Der Vorwurf der Lüge in der 20 Zum Abschluss die Frage nach Wortes Gottes und der Predigt. Religionslehrer geworden? Politik nimmt aber zu. drei Vorbildern: Wer ist sprachlich für Ich habe in Baden-Württemberg studiert. Nach meinem Erleben ist die Lüge fast Sie ein Vorbild? 7 Welche Bedeutung hat in diesem Dort macht man ein Viertel des Refe- ausschließliches Phänomen populisti- Helmut Schmidt hatte ein ausnehmend gro- Zusammenhang das Fach Religion? rendariats während des Studiums. Das scher Akteure. Sie fälschen Fakten, Sta- ßes Talent, die komplexesten Dinge für sehr Das bietet große Chancen. Ich verstehe Unterrichten machte mir viel Spaß. Aber tistiken und Bilder. Mit der AfD haben wenig gebildete Menschen zu erklären. aber auch, wenn Lehrkräfte daran ver- das Korsett der Institution Schule, die ja wir zum ersten Mal seit der Entstehung zweifeln, dass sie die Brücke zu einer In- auch etwas Behördenhaftes hat, ist nichts der Bundesrepublik eine populistische 21 Wer ist für Sie ein politisches Vorbild? stitution schlagen müssen, die von der für eine chronisch antiautoritäre und Partei im Bundestag, die häufig mit In- Politisch schätze ich Lars Klingbeil sehr, Alltagssprache der Jugendlichen weit kreative Persönlichkeit wie mich. formationen agiert, die unwahr sind. weil er Dinge durchdacht tut und extrem weg ist. loyal sein kann. Auch die Kanzlerin ist 16 Worin liegt der zentrale 19 Auch früher haben Populisten eine hochspannende Persönlichkeit. Sie 8 Wie meinen Sie das? Unterschied zwischen politischer die Wahrheit verdreht. Was ist jetzt handelt besonnen und bleibt bescheiden. Der alte Modus war: Von Kindesbeinen und religiöser Kommunikation? anders? an geht man mit Mutter und Vater in den Die politische Kommunikation will über- Früher sind Politiker, die gelogen ha- 22 Und wer ist für Sie ein Vorbild im Gottesdienst und lernt Kirche kennen. zeugen, dass eine bestimmte Option bes- ben, durchgefallen. Jetzt gewinnen sie Bereich der Religion? Das ist aber nur noch selten. Damit fehlt ser ist als die andere: „Wir wollen das. Die Wahlen. Das beste Beispiel ist der be- Da denke ich an Meister Eckhart. Weil er dieser Erstkontakt. Der erfolgt zumeist wollen das. Entscheidet euch lieber für rühmte Bus in der Brexit-Auseinander- als Mystiker von der Inquisition beäugt medial vermittelt. uns.“ Religion hat den Anspruch, Wahrheit setzung. Man behauptete, dass all das wurde, suchte er sich immer schräge Bi- zu vermitteln, die sie nicht beweisen kann. Geld, das jetzt an die EU gezahlt wird, belstellen, mit denen er seine eigenen Ge- 9 Worauf wollen Sie hinaus? in Zukunft ins Gesundheitssystem gin- danken präsentieren konnte. So spielte er Im Fernsehen sind Bischöfe mit komi- ich Religiosität und Kulturepochen ver- 13 Wie soll diese Erkenntnis gelingen? Ein Positivbeispiel kirchlicher und politi- ge. Das war Quatsch und alle Beteilig- mit den Regeln seiner Zeit. schen Klamotten zu sehen und Wort- stehen will, muss ich begreifen, was re- Erste Erfahrungen mit dem Religiösen scher Kommunikation sei das Flüchtlings- ten wussten das. Selbst Nigel Farrage Zum-Sonntag-Sprecher, die vor einem ligiöses Denken ist. Schülerinnen und sind im Klassenraum extrem schwer rettungsschiff der evangelischen Kirche, hat es einen Tag nach der Brexit-Ab- INTERVIEW: RAINER MIDDELBERG seltsamen Hintergrund in einem ganz Schüler müssen nachempfinden, was das herzustellen. Guter Religionsunterricht so Flügge. Dass das Projekt trotz Wider- stimmung zugegeben. FOTOS: ANDREAS KÜHLKEN besonderen Tonfall reden. Das ist einfach bedeutet, wenn für Menschen Religion sucht sich dafür andere Orte. Das kann spruch durchgezogen werde, würden fremd. Wahrheit ist. Taizé sein, ein Kloster oder ein Kirchort. auch Kritiker anerkennen. "An der Stelle Wichtig ist, dass Lehrer das für die Schü- machen die etwas, was in den Kommuni- 10 Worin sehen Sie das Hauptproblem 12 Warum ist das so wichtig? ler einordnen und ihnen zeigen, was es kationsrahmen unserer Zeit passt." für Jugendliche vor Ort? Nach der aktuellen Shell-Jugendstudie heißt, zu glauben. Viele Kinder und Jugendliche erleben in sind mehr als 50 Prozent der Jugendli- 17 In der Politik wird nicht immer „SPD ist Currywurst“ einem Schulgottesdienst, zur Kommuni- chen nicht mehr gläubig. Sie können ei- 14 Was folgt daraus für Lehrkräfte? die Wahrheit gesagt. Wie ist das für Sie on oder Konfirmation zum ersten Mal ei- nen großen Teil von Gesellschaft nicht Das ist ein ganz fieses Thema. Wenn ich als Wahlkampforganisator? Erik Flügge (34) ist Politikberater, Wahlkampfprofi und Beteiligungsexperte. Der nen Gottesdienst. Für sie und viele Eltern verstehen. Einfachstes Beispiel ist als Religionslehrer die Frage nach meinem Die etablierten Parteien haben bis heute Germanist und Politikwissenschaftler hat auch drei Jahre katholische Theologie ist das total schräg. Winfried Kretschmann. Er begründet eigenen Glauben mit Nein beantworte, eine Aversion gegen das Lügen. In einer studiert. Mit Oliver Zeisberger ist er Geschäftsführer einer Kommunikations- seine Politik aus seinem katholischen schlage ich ganz viele Türen für Jugendli- Talkshow werden Sie nicht hören „Das agentur. Kennengelernt haben sie sich bei einem Plakatwettbewerb für den 11 Noch einmal zum Religionsunter- Glauben. Wenn ich nie verstehe, was che zu. Da bin ich als Lehrer in einer Wahr- stimmt so nicht.“, sondern „Das ist viel zu Landtagswahlkampf 2012 für Hannelore Kraft. Zeisberger als Organisator und richt. Was muss der Ihrer Meinung das bedeutet, dann kann ich einen Mi- haftigkeitsfalle oder Beauftragungsfalle. einfach“. Man spürt, dass es um die Aus- Flügge als Gewinner mit dem Slogan „SPD ist Currywurst“. Zum Bestseller nach leisten? nisterpräsidenten, der politisch über Andererseits ist erfundene Religiosität wahl der für die Partei wichtigen Fakten wurde 2016 sein Buch „Der Jargon der Betroffenheit. Wie die Kirche an ihrer Guter Religionsunterricht leistet Teilha- mein Leben mitentscheidet, nicht ver- schwierig. Schüler checken ja, wenn das geht. Es wird nur Wahrheit gedehnt und Sprache verreckt“. be an gesellschaftlichem Wissen. Wenn stehen. Gegenüber nicht selber glaubt. verkürzt. 26 // zoé zoé // 27
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