Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik - Gutachten 05/2020 ...

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Gutachten
                                   05/2020

Notwendigkeit, Potenzial und
Ansatzpunkte einer Verbesserung
der Dateninfrastruktur für
die Steuerpolitik
Notwendigkeit, Potenzial und
Ansatzpunkte einer Verbesserung
der Dateninfrastruktur für
die Steuerpolitik

Wissenschaftlicher Beirat
beim Bundesministerium der Finanzen
Gutachten 05/2020
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung______________________________________________________1
2. Zwecke der quantitativen Analyse______________________________3
2.1 Grundsätzliche Erwägungen__________________________________________________________________________ 3
     2.1.1   Gesetzgebungsprozess und demokratische Willensbildung____________________________________ 3
     2.1.2   Steuervollzug________________________________________________________________________________ 4
     2.1.3   (Verfassungs-)rechtliche Kontrolle von Steuergesetzen________________________________________ 5
2.2 Konkrete Fragestellungen____________________________________________________________________________ 6
     2.2.1   Steuerschätzung______________________________________________________________________________ 6
     2.2.2   Quantifizierung der Effizienzkosten von Besteuerung_________________________________________ 7
     2.2.3   Heterogenität und Kanäle der Steuerwirkungen______________________________________________ 8
     2.2.4   Verteilungseffekte und Steuerinzidenz_______________________________________________________ 10
     2.2.5   Ökonomische Effekte von Steuerabzügen____________________________________________________ 10
     2.2.6   Steueraufkommenseffekte___________________________________________________________________ 11
     2.2.7   Steuerlücke und Steueradministration_______________________________________________________ 12
     2.2.8   Steuerliche Befolgungskosten_______________________________________________________________ 13
     2.2.9   Weitere Fragestellungen_____________________________________________________________________ 14
     2.2.10 Resumee zur empirischen Forschung________________________________________________________ 15

3. Anforderungen an die Datengrundlagen und „Best Practice“___16
I:   UK / HRMC_________________________________________________________________________________________ 18
II: Skandinavien________________________________________________________________________________________ 18
III: Niederlande_________________________________________________________________________________________ 19
IV: Frankreich__________________________________________________________________________________________ 19
V: USA_________________________________________________________________________________________________ 19

4. Bestehende Praxis in Deutschland_____________________________19
4.1 Gesetzliche Vorgaben für die Nutzung der Steuerdaten_______________________________________________ 19
4.2 Bestehende Nutzungsmöglichkeiten der Mikrodaten________________________________________________ 21
4.3 Defizite im bestehenden Datenangebot______________________________________________________________ 22
4.4 Datenlage bei den Parafiski: IAB, Rentenversicherung________________________________________________ 23

5. Empfehlungen________________________________________________24
6. Literaturverzeichnis___________________________________________29
Anhang Übersicht über bestehende administrative Mikrodatensätze_ 35
Mitgliederverzeichnis________________________________________________ 44
Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer
Einleitung
                                                                 Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik

1. Einleitung

Ein präzises Verständnis der Auswirkungen der                        evident, in denen Verhaltenswirkungen gesetz-
Steuergesetzgebung ist für die politische Ent-                       lich intendiert sind, bspw. in der Umwelt- oder
scheidungsfindung zentral. Im parlamentarischen                      Energiepolitik.
Gesetzgebungsprozess kommt den finanziellen
Auswirkungen von Steuergesetzen eine erhebliche                      Die Anforderungen an eine fundierte Gesetzesfol-
Bedeutung zu.1 Allerdings sind die in Gesetzesvor-                   genabschätzung sind hoch und erfordern neben
lagen enthaltenen Angaben in der Regel nicht von                     dem Zugang zu Steuerdaten Methodenexper-
unabhängiger Seite überprüfbar. Mitunter wird                        tise und detailliertes Institutionenwissen. Darü-
im Rahmen der Ressortforschung externe Exper-                        ber hinaus sind die Anforderungen im Zeitablauf
tise eingeholt, eine zeitnahe und transparente                       stetig gestiegen. Zum einen erhöht sich in vielen
Berichterstattung erfolgt indes nicht. Eine gegen                    Bereichen der Anpassungsspielraum der Akteure,
politische Einflussnahme immune unabhängige                          der erfasst werden muss, wenn Gesetzesfolgen
Abschätzung der Gesetzesfolgen ist damit nicht                       quantifiziert werden sollen. Viele große Unter-
möglich. Zudem werden Verhaltensreaktionen                           nehmen agieren beispielsweise heute multinati-
auf Steuergesetzänderungen bei der Bestimmung                        onal und Arbeitnehmer sind zunehmend inter-
der finanziellen Implikationen regelmäßig ausge-                     national mobil. Steuergesetzänderungen können
klammert, was zu erheblichen Verzerrungen bei                        damit über Landesgrenzen hinaus wirken. Zudem
der Abschätzung der Gesetzesfolgen führen kann. 2                    ist im Zuge der wachsenden Internationalisierung
Dass dies ein relevantes Problem ist, wurde dem                      das Steuerrecht erheblich komplizierter geworden
Gesetzgeber deutlich vor Augen geführt durch                         und es bestehen schon bei der Diagnose der Aus-
das überraschende negative Ergebnis beim Auf-                        wirkungen der bestehenden Regelungen erhebli-
kommen der Körperschaftsteuer im Jahre 2001,                         che Defizite.
das durch eine eigentlich vorhersehbare Verhal-
tensreaktion auf die Unternehmenssteuerreform                        Die quantitative Erfassung des Steuersystems und
2001 verursacht worden ist.3 Dennoch wurde die                       seiner Wirkung ist auch mit Blick auf die Einhal-
Praxis der ausschließlich internen Abschätzung                       tung von Fiskalregeln durch Bund, Länder und
der Gesetzesfolgen nicht geändert. Die Relevanz                      Kommunen von Bedeutung, die für die Glaubwür-
solcher Analysen ist vor allem in den Bereichen                      digkeit der Finanzpolitik zentral ist. Hierfür ist
                                                                     eine verlässliche und unabhängige Vorausschät-
                                                                     zung der Einnahmenentwicklung erforderlich,
1   Gem. § 43 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 44 Abs. 2 GGO (Gemeinsame
                                                                     gerade auch wenn Steuerreformen anstehen.
    Geschäftsordnung der Bundesministerien) ist notwendiger
    Inhalt der Gesetzesbegründung die Darstellung der                Unabhängige Gesetzesfolgenabschätzungen sind
    Auswirkungen des Gesetzes auf die Einnahmen und Ausgaben         in diesem Kontext von hohem Wert. Die Abschät-
    der öffentlichen Haushalte.
                                                                     zung der finanziellen Auswirkungen von Steuer-
2   In anderen Ländern, bspw. den USA, ist es gesetzlich
    vorgeschrieben, dass Verhaltensanpassungen von                   rechtsänderungen hat zudem großen Einfluss auf
    Wirtschaftsakteuren in Reaktion auf Steuergesetzänderungen       die Einhaltung der Regeln des europäischen Stabi-
    und gesamtwirtschaftliche Rückkopplungen quantifiziert
                                                                     litätspakts. Denn bei der Überprüfung der Vorga-
    werden, bevor Gesetzesänderungen implementiert werden
    können (s. bspw. Mankiw und Weinzierl, 2006; Barros et al.       ben für die Ausgabenlinie werden die finanziellen
    2018).                                                           Auswirkungen von steuerpolitischen Maßnah-
3   Das Körperschaftsteueraufkommen wurde kurzfristig                men als Mehr- oder Minderausgaben berücksich-
    negativ, weil Kapitalgesellschaften zur Sicherung ihrer
    Körperschaftsteuerguthaben erwartungsgemäß ihre
                                                                     tigt. Dies erfordert, dass die von der Regierung vor-
    Ausschüttungen erhöhten (s. Werra, 2000).                        legten Schätzwerte auch extern bewertet werden

                                                                   1
Einleitung
                                                                           Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer
                                                                    Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik

können. In der öffentlichen Debatte zu Steuerge-                        auslösen. Grundlage dieser Entwicklung ist, dass
setzesänderungen spielen zudem Fragen der Steu-                         Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen
ergerechtigkeit und Steuerhinterziehung eine                            Zugang zu hochwertigen anonymisierten Mikro-
große Rolle. Zu beiden existieren für Deutsch-                          daten der Steuerverwaltung gewährt wurde (vgl.
land kaum Erkenntnisse. In welchem Maß Trag-                            Chetty (2012)).5 Im Vergleich zur schnellen Ent-
last und Zahllast von Steuern auseinanderfallen,                        wicklung im Ausland, ist der Zugang zu Steuerda-
weil Steuerbelastungen über Preisänderungen an                          ten für Wissenschaftler und Wissenschaftlerin-
andere Wirtschaftsakteure weitergegeben wer-                            nen in Deutschland trotz einiger Fortschritte in
den, ist beispielsweise weitestgehend unklar. Seit                      den vergangenen Jahren nach wie vor stark einge-
Jahrzehnten bestehen zudem Informationen über                           schränkt. Über die Wirkungen des deutschen Steu-
erhebliche Ausfälle durch betrügerische Praktiken                       ersystems und seiner spezifischen Regelungen auf
bei der Umsatzsteuer und noch immer gibt es über                        zentrale wirtschaftliche und soziale Zielgrößen
das genaue Ausmaß nur Spekulationen.4 Ähnlich                           gibt es daher in vielen Bereichen nur Mutmaßun-
ist die Sachlage beim Steuerbetrug im Zusam-                            gen. Dies gilt auch, weil Erkenntnisse aus anderen
menhang mit Aktiengeschäften rund um den                                Ländern nicht ohne Weiteres auf den steuerrecht-
Dividendenstichtag (Cum-Ex). Hinterziehungs-                            lichen, steueradministrativen und sozioökonomi-
und Vermeidungspraktiken zu quantifizieren, ist                         schen Kontext in Deutschland übertragen werden
methodisch anspruchsvoll, da sie im Verborgenen                         können.
stattfinden. Belastbare Aussagen lassen sich aber
gerade durch Analyse administrativer Daten auf                          Vor diesem Hintergrund befasst sich der Beirat
Ebene der einzelnen Steuererklärungen und der                           in diesem Gutachten mit den Möglichkeiten für
Anträge auf Steuererstattungen erzielen.                                eine Verbesserung der quantitativen Analyse der
                                                                        Besteuerung in Deutschland.6 Nach der Einlei-
In der quantitativen Analyse der Besteuerung sind                       tung wird zunächst auf Funktion und Bedeutung
in den vergangenen Jahrzehnten weltweit erheb-                          der quantitativen Erfassung des Steuersystems
liche Fortschritte gemacht worden. Bis in die                           hingewiesen. Anschließend wird unter Berück-
80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren                           sichtigung des aktuellen Forschungsstands auf-
die Steuerwissenschaften noch weitgehend the-                           gezeigt, welche Erkenntnisse gewonnen werden
oretisch ausgerichtet. Entsprechend beschränkte                         können, wenn Wissenschaftlern und Wissen-
man sich seitens der Wissenschaft darauf, die Effi-                     schaftlerinnen Zugang zu administrativen Steuer-
zienz der Steuerpolitik einzufordern und ein ins-                       daten gewährt wird. Die Abschnitte 3 und 4 dis-
gesamt widerspruchsfreies Steuersystem zu ent-                          kutieren die Anforderungen, die an die statistische
wickeln, das grundsätzlichen Anforderungen an                           Datenbasis zu stellen sind und zeigen auf, in wel-
Verfassungsmäßigkeit, Gerechtigkeit und Effizi-                         chen Bereichen bei der Praxis der quantitativen
enz Rechnung trägt und die Steuerbefolgungs-                            Analyse der Besteuerung in Deutschland Defi-
kosten begrenzt. Seitdem hat die datenbasierte                          zite bestehen. In diesem Kontext wird auch auf
Auswertung der tatsächlichen Erfahrungen mit                            die zu beachtenden rechtlichen Rahmenbedin-
dem Steuersystem und seinen Wirkungen welt-                             gungen im Umgang mit Steuerdaten eingegangen
weit ein immer größeres Gewicht gewonnen. Ins-                          und skizziert, wie andere Länder unter Wahrung
besondere wird heute in vielen Ländern anhand                           des Steuergeheimnisses eine umfassende wissen-
von Mikrodaten untersucht, welche Belastungs-                           schaftliche Nutzung administrativer Steuerdaten
wirkungen sich für Steuerzahler ergeben und wel-                        möglich machen. Der fünfte Abschnitt beinhaltet
che Verhaltensreaktionen steuerliche Regelungen                         Empfehlungen.

4   So lautet die Standardantwort der Bundesregierung zum
    Thema Unternehmenssteuervermeidung: „Hierzu liegen der
                                                                        5   Chetty (2012).
    Bundesregierung keine Erkenntnisse vor“ (vgl. z. B. Bundestag
    Drucksache 18/1125 http://dipbt.bundestag.de/dip21/                 6   Siehe zu diesem Thema auch Peichl (2017), Drechsel-Grau et
    btd/18/011/1801125.pdf).                                                al. (2015) sowie Almunia et al. (2019).

                                                                      2
Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer
Zwecke der quantitativen Analyse
                                                       Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik

Konkret spricht sich der Beirat für die Schaffung            hinaus werden Ansatzpunkte zur Verbesserung
eines eigenen Forschungsdatenzentrums für Steu-              und Ausweitung der Statistiken genannt und Vor-
ern aus, das speziell für die besonderen Anfor-              schläge zur Verknüpfung von bestehenden Daten-
derungen der Steuerdaten ausgelegt ist. Darüber              sätzen gemacht.

2. Zwecke der quantitativen Analyse

2.1 Grundsätzliche Erwägungen                                jedoch personell nicht in der Lage.7 Ihr Einfluss
                                                             im Gesetzgebungsverfahren ist gering.8 Eine dem
2.1.1 Gesetzgebungsprozess und                               Joint Committee on Taxation des US-Kongresses
      demokratische Willensbildung                           mit seinem umfangreichen Stab9 vergleichbare
                                                             unabhängige Institution existiert in Deutschland
Gesetzesvorlagen und Gesetzgebungsverfah-                    nicht.
ren kranken vielfach daran, dass sie auf unklarer
Tatsachenbasis ergehen. Oft fehlt es schon hin-              Lediglich eine ex-ante Einschätzung der Bürokra-
sichtlich des Ausgangssachverhalts an einer vali-            tie- bzw. Folgekosten erfolgt standardmäßig. Sie
den Datenbasis, dies gilt umso mehr für die Prog-            ist auf den unabhängigen Nationalen Normen-
nose möglicher Wirkungen der zu beschließenden               kontrollrat übertragen. Dieser stellt allerdings
Gesetze. Im eigentlichen Gesetzgebungsverfahren              keine eigenen Datenerhebungen an, sondern
fehlt es dann oft sowohl an Zeit als auch an Mitteln         nimmt lediglich eine Plausibilitätskontrolle der
für eine quantitative Analyse von Gesetzgebungs-             von den Ministerien erarbeiteten Schätzungen der
vorhaben. Verfahren zur umfassenden ex-ante                  Kostenfolgen für Bürger, Wirtschaft und Verwal-
Analyse von Gesetzeswirkungen sind derzeit nur               tung vor. Weitergehende Wirkungsanalysen sind
ansatzweise vorhanden.                                       vom gesetzlichen Arbeitsauftrag des Normenkon-
                                                             trollrates nicht umfasst.
Im Vorfeld von steuerlichen Gesetzgebungsini-
tiativen kommt dem Bundesfinanzministerium                   Auch eine ex-post Evaluation der Gesetzeswirkun-
eine zentrale Rolle für die Sachverhaltsermitt-              gen ist nur bei bestimmten Zielsetzungen vorge-
lung und Datenanalyse zu. § 44 der Gemeinsamen               sehen, insbesondere wenn ein erheblicher Erfül-
Geschäftsordnung der Bundesministerien enthält               lungsaufwand konstatiert wird.10 Teilweise finden
Vorgaben für die Erstellung von Gesetzentwür-                sich Evaluationsabsichten in Gesetzesbegründun-
fen. Danach sind in der Gesetzesvorlage auch die             gen, selten sind gesetzliche Evaluationsklauseln
Gesetzesfolgen, insbesondere die finanziellen Aus-
wirkungen darzustellen.
                                                             7   Nach Blum (2004) waren im Jahr 2000 in allen Diensten
                                                                 zusammen 95 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt,
Ein Gegengewicht zur Exekutive in der Gesetzes-
                                                                 darunter 64 Wissenschaftler, davon 33 Juristen.
vorbereitung bilden die allein den Abgeordne-
                                                             8   Schneider (2002), Rz. 93; Blum, (2004), 136 f.
ten verpflichteten Wissenschaftlichen Dienste des
                                                             9   www.jct.gov/about-us/overview.html.
Bundestages. Zur Erstellung quantitativer Analy-
                                                             10 Bei Änderungen der Steuergesetze ist dies im Regelfall
sen und empirischer Erhebungen sind die Dienste                 nicht gegeben. So ist z. B. eine Evaluierung der Effekte der
                                                                Reduktion des Solidaritätszuschlags nicht vorgesehen, vgl.
                                                                Abschnitt VII des Gesetzentwurfs zur Rückführung des
                                                                Solidaritätszuschlags 1995 (BT Drucksache 19/14103 vom
                                                                16.10.2019).

                                                         3
Zwecke der quantitativen Analyse
                                                             Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer
                                                      Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik

(z. B. § 17 Forschungszulagengesetz). Im Zweifel          2.1.2 Steuervollzug
sind derartige Evaluationsversprechen nicht ein-
klagbar. Gelegentlich werden Gesetze mit unsi-            Sowohl verfassungsrechtlich als auch einfach-
cheren Wirkungen befristet. Allerdings erfolgen           gesetzlich (§ 85 AO) besteht die Pflicht der Finanz-
Verlängerungen oftmals automatisch und ohne,              verwaltung zum Vollzug der geltenden Steuer-
dass zuvor eine Evaluation erfolgt. Selbst wenn           gesetze; die Gesetzmäßigkeit der Besteuerung ist
eine Evaluation stattfindet, kann sie bei fehlender       „sicherzustellen“. Strukturelle Erhebungsdefizite
Dateninfrastruktur aber ohnehin nicht verlässlich         können im Extremfall sogar die Verfassungswid-
erfolgen bzw. nicht extern überprüft werden (siehe        rigkeit der zugrundeliegenden materiellen Steu-
zu den Anforderungen Abschnitt 3).                        errechtsnormen begründen, wie es im Fall der
                                                          Zinsbesteuerung Anfang der 1990er Jahre vom
Unabhängige ex-post-Kontrolle von Gesetzeswir-            Bundesverfassungsgericht entschieden wurde.11
kungen leistet allenfalls der Bundesrechnungshof,
dessen Beanstandungen allerdings keine gesetzge-          Zur Beurteilung der Vollzugseffizienz einzelner
berischen Abhilfe- bzw. Nachbesserungspflichten           Normen muss das tatsächlich erzielte Steuerauf-
begründen und in der Regel folgenlos bleiben.             kommen ins Verhältnis zu den potentiell steu-
                                                          erpflichtigen Sachverhalten gesetzt werden. Ein
Vor dem Hintergrund, dass die Abgeordneten                Zurückbleiben des tatsächlichen Steueraufkom-
nicht über unabhängige Stellen verfügen, die sie          mens hinter dem Aufkommenspotential kann auf
mit der Einschätzung der Wirkungen der von                legalen Ausweichgestaltungen oder auf Vollzugs-
ihnen zu beschließenden Gesetze beauftragen               defiziten beruhen. Letztere können auf Kapazitäts-
können, kommt der vom Bundesfinanzministe-                grenzen der Finanzverwaltung zurückzuführen
rium erarbeiteten Gesetzesbegründung entschei-            sein oder ihre Ursache in strukturellen Mängeln
dende Bedeutung zu. Gesetzesbegründungen ent-             der zu vollziehenden Normen (übergroße Kom-
halten jedoch in der Regel keine ausreichenden            plexität, schwer zu beschaffende Daten) liegen. So
Sachverhaltsangaben, um Annahmen zur Wirk-                wird beispielsweise die Vollzugstauglichkeit des
samkeit der zu beschließenden Gesetze, zu Ver-            deutschen Außensteuerrechts, insbesondere im
waltungs- und Befolgungskosten und zu den                 Bereich der erweiterten Hinzurechnungsbesteue-
erwarteten Steuermehr- oder -mindereinnah-                rung für Einkünfte aus Kapitalanlagegesellschaf-
men nachvollziehen zu können. Zudem fehlt es in           ten (§ 7 Abs. 6 AStG) in Zweifel gezogen.12 Quantifi-
der Regel an Angaben zu den Verteilungswirkun-            zieren lassen sich diese Bedenken bisher nicht. Seit
gen von Reformmaßnahmen, obwohl diese in der              langem ist auch bekannt, dass es bei der Umsatz-
politischen Auseinandersetzung häufig eine zent-          steuer im Kontext grenzüberschreitender Trans-
rale Rolle spielen.                                       aktionen zum Teil systematisch zu Steuerbetrug
                                                          kommt. Bei der Quantifizierung der Ausfälle kann
Zum Teil ergeben sich in den Anhörungen im                indes nicht zwischen den Konsequenzen durch
Finanzausschuss zusätzliche Erkenntnisse zu den           Insolvenzen und Betrug z. B. durch Karussellge-
zugrundeliegenden Rechtstatsachen und erwar-              schäfte unterschieden werden.13
teten Gesetzeswirkungen. Allerdings sind abwei-
chende Sachverhaltseinschätzungen seitens der
Verbände und Interessengruppen vielfach nicht
hinreichend belegt und lassen sich im Gesetzge-
bungsverfahren nicht empirisch absichern.
                                                          11 BVerfG v. 27. 6. 1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239
                                                             (Zinsurteil); BVerfG v. 9. 3. 2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110,
                                                             94 (Spekulationsgewinne).
                                                          12 Vgl. Waldhoff (2013).
                                                          13 Vgl. Gebauer (2008).

                                                        4
Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer
Zwecke der quantitativen Analyse
                                                                     Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik

Um die begrenzten Sach- und Personalressour-                               Schließlich trifft den Gesetzgeber eine Beobach-
cen der Finanzverwaltung möglichst effektiv ein-                           tungspflicht. Ändert sich der zugrunde gelegte
setzen zu können, müssen Vollzugsdefizite lokali-                          Sachverhalt in wesentlichen Aspekten, so kann
siert und quantifiziert werden. Dies wiederum ist                          ihn eine Anpassungspflicht treffen17; z. B. ist der
Voraussetzung für einen verfassungskonformen                               Gesetzgeber verfassungsrechtlich zur permanen-
Gesamtvollzug.                                                             ten Anpassung von Grund- und Kinderfreibeträ-
                                                                           gen in der Einkommensteuer an die steigenden
2.1.3 (Verfassungs-)rechtliche Kontrolle von                               Lebenshaltungskosten verpflichtet.
      Steuergesetzen
                                                                           Eine Überprüfung all dieser Vorgaben setzt Sach-
Steuerwirkungen spielen auch bei der verfas-                               verhaltskenntnis voraus. Dabei billigt das Bun-
sungsgerichtlichen Kontrolle von Steuergesetzen                            desverfassungsgericht dem Gesetzgeber im Rah-
eine Rolle. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeits-                            men seiner sog. Einschätzungsprärogative18
prüfung kommt es zur Rechtfertigung steuerli-                              allerdings großzügige Beurteilungs- und Progno-
cher Ungleichbehandlungen auf deren Geeignet-                              sespielräume19 zu. So wichtig eine sorgfältige vor-
heit, Erforderlichkeit und Angemessenheit zur                              herige Sachverhaltsaufklärung für eine effektive
Erreichung der gesetzgeberischen Ziele an.                                 und effiziente Steuerpolitik auch sein mag, es gibt
                                                                           keine eigenständige verfassungsrechtliche Pflicht
Die im Steuerrecht weit verbreiteten, der Vereinfa-                        zur vorherigen Sachverhaltsaufklärung.
chung dienenden gesetzlichen Typisierungen und
Pauschalierungen sind nur dann gleichheitssatz-                            Problematisch ist, dass eine Erfolgskontrolle auch
konform, wenn der zugrundeliegende Sachver-                                im Nachhinein oftmals nicht stattfindet und auch
halt realitätsgerecht erfasst wird. Dies setzt voraus,                     im Rahmen von verfassungsgerichtlichen Verfah-
dass die gesetzlichen Verallgemeinerungen „von                             ren in der Regel unterbleibt. Dies liegt vor allem an
einer möglichst breiten, alle betroffenen Grup-                            den eingeschränkten Möglichkeiten des Bundes-
pen und Regelungsgegenstände einschließenden                               verfassungsgerichts zur Überprüfung der gesetz-
Beobachtung ausgehen“14. Der Gesetzgeber darf                              geberischen Annahmen. Zwar ist das Gericht in
sich für eine gesetzliche Typisierung keinen atypi-                        seiner Beweiserhebung grundsätzlich frei20 und
schen Fall als Leitbild wählen, sondern muss den                           damit auch zur Überprüfung von Tatsachen und
Durchschnittsfall als Maßstab zugrunde legen.15                            Prognosen berechtigt. Eine eigene Beweiser-
                                                                           hebung findet aber regelmäßig aus Kapazitäts-
Für steuerliche Lenkungsnormen und Steuerver-                              gründen nicht statt. Würden dem Gericht ent-
günstigungen hat das Bundesverfassungsgericht                              sprechende Daten vorliegen, müsste es diese aber
zudem das Gebot der Zielgenauigkeit aufgestellt.16                         berücksichtigen.

14 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 (279);
   BVerfG v. 8.10.1991 – 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348 (359);
   BVerfG v. 17.11.1992 – 1 BvL 8/87, BVerfGE 87, 234 (255);
   BVerfG v. 10.4.1997 – 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1 (6).
15 StRspr., z. B. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122,
   210 (238); v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082
   (1096) m.w.N.
16 St. Rspr., BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93,               17 BVerfG v. 28.11.1984 – 1 BvR 1157/82, BVerfGE 68, 287 (309).
   121 (147 f.); v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280              18 Hierzu z. B. Bickenbach (2014).
   (296); v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (293); v.
                                                                           19 StRspr., z. B. BVerfG v. 24.10.2002 – 1 BvF 1/01, BVerfGE 106,
   21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (182); v. 7.11.2006
                                                                              62 (150 f.).
   – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (32 f.); BVerfG v. 17.12.2014 – 1
   BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, Rz. 124 ff.                                20 Keine Beweismittelbeschränkung.

                                                                       5
Zwecke der quantitativen Analyse
                                                                           Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer
                                                                    Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik

2.2 Konkrete Fragestellungen                                            2.2.1 Steuerschätzung

Informationen zu Aufkommens-, Effizienz- und                            Die Vorhersage zukünftiger Steuereinnahmen ist
Verteilungswirkungen von Steuern und ihren                              Grundlage der Aufstellung der Haushaltspläne
Verwaltungs- und Befolgungskosten sind als                              des Bundes und der Länder. Auch die Gemeinden
Grundlage steuerpolitischer Entscheidungen                              und Gemeindeverbände basieren ihren Haushalt
von zentraler Bedeutung. Eine Quantifizierung                           auf Vorhersagen der Steuereinnahmen. Hierzu
der genannten Effekte kann nicht modelltheore-                          gibt der Arbeitskreis Steuerschätzungen zwei-
tisch erfolgen, sondern bedarf empirischer Ana-                         mal jährlich Prognosen zur zukünftigen Einnah-
lysen, idealerweise auf Basis der Grundgesamtheit                       meentwicklung der verschiedenen Steuern ab. 22
der Steuerzahler oder großer Zufallsstichproben.                        Die Schätzung fokussiert dabei auf die Entwick-
Einzelfallbeispiele oder aggregierte Statistiken                        lung in Deutschland, 23 sie ist Grundlage der Regi-
auf Länder- oder Bundesebene eignen sich hier-                          onalisierung durch die Bundesländer. Ein Ausweis
für wenig. Sie zeichnen ein verzerrtes Bild, wenn                       der Schätzmethodik und der zugrunde geleg-
Anpassungsreaktionen heterogen sind und bieten                          ten Annahmen erfolgt nicht. Eine regelmäßige
kaum Möglichkeiten zur empirischen Identifika-                          ex-post Evaluierung der Prognosen wird ebenfalls
tion von Kausaleffekten. 21                                             nicht durchgeführt.24 Kern der Prognosen ist eine
                                                                        Zeitreihenanalyse der Aufkommen nach Steuerar-
Die Entwicklung in der weltweiten Forschung                             ten. Auf Mikrodaten basierende Schätzmethoden
belegt eindrücklich, dass Daten der Steueradmi-                         kommen in Deutschland nicht zur Anwendung.25
nistration für eine verlässliche Quantifizierung
der genannten Effekte essentiell sind; eine Quan-                         Die Verlässlichkeit der Prognosen hat in der Ver-
tifizierung ist oftmals erst auf Basis solcher Daten                      gangenheit immer wieder Anlass zur Diskussion
möglich. Sie bieten zudem, wie unten dargestellt,                         gegeben. 26 Die empirische Literatur hat insbeson-
eine Reihe von Vorteilen gegenüber traditionell                           dere die Vorgabe der vom Arbeitskreis zugrunde
genutzten Befragungsdaten. Im Folgenden wer-                              gelegten Regierungsprognose des gesamtwirt-
den Nutzungsmöglichkeiten dieser Daten und                                schaftlichen Wachstums kritisiert und einen Bei-
deren Wert für (Steuer-)Politik, (Steuer-)Verwal-                         trag der von politischer Seite vorgenommenen
tung und akademische Forschung dargestellt.

                                                                          22 Der Arbeitskreis beinhaltet nicht nur Vertreter von
                                                                             Bundesregierung, Landesregierung und der kommunalen
                                                                             Spitzenverbände sondern auch Vertreter der Bundesbank,
                                                                             der Forschungsinstitute, des Sachverständigenrats zur
                                                                             Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
                                                                             und des Statistischen Bundesamts. Die Beteiligung
                                                                             regierungsexterner Institutionen soll die Informationsbasis
                                                                             verbessern. Sie dient auch dazu, eine politische Beeinflussung
21 Zentrale Herausforderung bei der Identifikation von                       zu erschweren.
   Kausaleffekten (steuer-)politischer Interventionen ist es, die
   Wirkung der Gesetzesänderung von anderen Einflussgrößen                23 Bis 2019 erfolgt ein getrennter Ausweis für Alte und Neue
   zu trennen, die ebenfalls auf das beobachtete Verhalten                   Länder (ohne Berlin).
   von Wirtschaftssubjekten einwirken. Soll bspw. der Effekt              24 Das Bundesfinanzministerium hat zuletzt im Jahre 2006 im
   einer Einkommensteuererhöhung auf das Arbeitsangebot                      Rahmen eines Forschungsauftrags eine Evaluierung veranlasst
   bestimmt werden, besteht das Problem, dass Änderungen im                  (Büttner und Kauder, 2008).
   Arbeitsverhalten reforminduziert sein können, möglicherweise
                                                                          25 Gerade bei komplizierten steuerlichen Sachverhalten bieten
   aber auch allgemeine Zeittrends wie konjunkturelle
                                                                             sich Methoden der Mikrosimulation an. So setzt das Office
   Schwankungen reflektieren. Aggregierte Informationen
                                                                             for Budget Responsibility, Mikrosimulationen für Prognosen
   auf Länderebene bieten, im Gegensatz zu Daten auf
                                                                             des Einkommensteueraufkommens und anderer Steuern ein,
   Individualebene, nur eingeschränkte Möglichkeiten in der
                                                                             vgl. Office for Budget Responsibility (2011). Zur Methodik der
   empirischen Analyse vergleichbare, von der Steuerreform
                                                                             Steuerschätzung im internationalen Vergleich siehe Buettner
   nicht betroffene Kontrolleinheiten zu identifizieren, die
                                                                             und Kauder (2010).
   geeignet sind, allgemeine Zeittrends zu absorbieren und damit
   den Kausaleffekt der Reform zu bestimmen.                              26 Z. B. Bundesrechnungshof (2005).

                                                                      6
Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer
Zwecke der quantitativen Analyse
                                                                  Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik

Prognosen auf die Schätzfehler nachgewie-                               Belastung mit persönlicher Einkommensteuer?
sen.27 Seit 2018 erfolgt nun eine Überprüfung der                       Beschließen sie weniger in Bildung oder in ihre
Wachstumsprognose durch die Gemeinschaftsdi-                            berufliche Produktivität zu investieren? Wenn
agnose, 28 so dass eine Beeinflussung über diesen                       dem so ist, ergeben sich hierdurch Wohlfahrts-
Kanal schwieriger geworden ist.                                         kosten. Die ökonomische Literatur hat gezeigt,
                                                                        dass diese Wohlfahrtskosten unter bestimm-
Die Schätzwerte für die Aufkommenseffekte der                           ten Voraussetzungen durch die Elastizität gemes-
Steuerrechtsänderungen werden im Rahmen des                             sen werden können, mit der das zu versteuernde
Gesetzgebungsverfahrens vom Finanzministe-                              Einkommen eines Steuerzahlers auf Steuersatz-
rium bereitgestellt und ebenfalls vom Arbeitskreis                      änderungen reagiert (da schlussendlich alle Ver-
übernommen. Eine Analyse zeigt, dass die Mehr-                          haltensreaktionen auf Steuersatzänderungen zu
einnahmen durch Steuererhöhungen und Minder-                            Anpassungen des steuerpflichtigen Einkommens
einnahmen durch Steuersenkungen regelmäßig                              führen). In der Literatur wird vor dem Hinter-
betragsmäßig überschätzt werden. 29 Dieses Mus-                         grund der intensiven Befassung mit der Einkom-
ter resultiert aus der Vernachlässigung von Ver-                        mensteuer von der „Elasticity of Taxable Income“
haltenseffekten der Steuerreformen in der quan-                         (ETI) gesprochen. Eine rationale Steuerpolitik
titativen Folgenabschätzung.30 Eine systematische                       setzt daher die Kenntnis dieser Elastizität nicht
ex-post Überprüfung der Schätzwerte erfolgt                             nur für eine fundierte Abschätzung der Aufkom-
jedoch nicht.                                                           menseffekte, sondern auch für die Bewertung der
                                                                        Wohlfahrtseffekte voraus.
2.2.2 Quantifizierung der Effizienzkosten von
      Besteuerung                                                       Steuererklärungen bilden die ideale Grundlage,
                                                                        um die ETI zu quantifizieren. Erstens umfassen
Bei der Ausgestaltung von Steuersystemen sind                           sie Informationen zum angegebenen steuerpflich-
Fragen der Steuereffizienz von großer Bedeu-                            tigen Einkommen und damit exakt zu der Größe,
tung. Es gilt zu quantifizieren, ob und in welchem                      die aus theoretischer Sicht von Interesse ist. Zwei-
Ausmaß Besteuerung bei Individuen und Fir-                              tens existieren methodische Ansätze, die erlau-
men Belastungen erzeugt, die über die Zahllast                          ben, auf Basis der Daten Kausaleffekte von Ände-
der Steuer und mögliche Befolgungskosten hin-                           rungen im Einkommensteuersatz zu bestimmen.
ausgehen. Wie stark reduzieren bspw. Individuen                         In der akademischen Literatur wird die ETI zum
ihr Arbeitsangebot in Reaktion auf eine erhöhte                         einen über gesetzliche Steuersatzänderungen
                                                                        identifiziert. Hierbei wird die Entwicklung der
27 Vgl. Gebhardt (2001) und Büttner und Kauder (2015).                  steuerpflichtigen Einkommen von Individuen, die
28 Nachdem diese Praxis nicht im Einklang mit der                       von einer Steuersatzänderung betroffen sind, mit
   Two-Pack-Verordnung stand (Verordnung (EU) Nr.                       der von nicht betroffenen Individuen verglichen.
   473/2013 des Europäischen Parlaments und des
   Rates) hat die Bundesregierung per Verordnung (vgl.                  Letztere dienen als Kontrollgruppe und erlauben
   Vorausschätzungsverordnung – EgVV) festgelegt, dass                  es, allgemeine Zeittrends in der Einkommensent-
   eine gesonderte Bewertung dieser Prognose durch die
                                                                        wicklung zu berücksichtigen.31 Alternativ können
   Gemeinschaftsdiagnose erfolgt.
                                                                        Sprungstellen im Steuertarif, d.h. Änderungen der
29 Die Analyse von Büttner und Kauder (2015), ibid., zeigt
   unter anderem, dass der Vorhersagefehler regelmäßig höher            marginalen oder durchschnittlichen Steuerbelas-
   ausfällt, je größer die dabei unterstellten prognostizierten         tung an bestimmten Einkommensgrenzen, zur
   Aufkommenseffekte der Steuerrechtsänderungen sind. Das
   Ausmaß der geschätzten Verzerrung liegt dabei oberhalb               empirischen Identifikation der ETI genutzt wer-
   von einem Viertel und unterhalb von einem Drittel – der              den. Konkret ergeben sich durch die Sprungstellen
   Standardfehler des Schätzwertes liegt bei einem Achtel.
30 Zwar werden auch die gesamtwirtschaftlichen Rückwirkungen
   nicht berücksichtigt (vgl. Bundestagsdrucksache 13/5242,             31 Die Klassifizierung der Gruppen ergibt sich z. B. aus der
   Punkt 7). Der Vorhersagefehler für die gesamtwirtschaftliche            Progression im Einkommensteuertarifs. Wird bspw. der
   Entwicklung ist indes bei Büttner und Kauder (2015)                     Spitzensteuersatz angehoben, sind nur Individuen mit
   berücksichtigt.                                                         Einkommen in der obersten Progressionszone betroffen.

                                                                    7
Zwecke der quantitativen Analyse
                                                                         Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer
                                                                  Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik

lokale Unterschiede im Anreiz Einkommen zu                            Steuererklärungsdaten wichtige Vorteile gegen-
erzielen und Aufwendungen abzusetzen. Über                            über Daten aus anderen Quellen, bspw. Bilanz-
das resultierende „Bunching“ von Steuerzah-                           daten. So sind letztere häufig nur für große, an
lern an den Sprungstellen kann die ETI bestimmt                       Börsen gelistete Unternehmen in systematischer
werden.32                                                             Weise verfügbar. Da sich steuerliche und bilanzi-
                                                                      elle Wertansätze zudem erheblich unterscheiden
Administrative Steuerdaten bieten als Grund-                          können, stimmen handelsrechtliche Unterneh-
lage für die Berechnung der ETI zentrale Vorteile                     mensergebnisse in der Regel nicht mit dem steu-
gegenüber Befragungsdaten. Erstens bilden sie                         erpflichtigen Einkommen der Unternehmen über-
die gesamte Population von Steuerzahlern ab und                       ein. Zuletzt muss bei Bilanzdaten auch häufig die
umfassen nicht nur Stichproben. Zweitens sind                         Qualität der meist von privaten Datenanbietern
Probleme wie ein systematisches Ausscheiden von                       bereitgestellten Informationen bemängelt wer-
Individuen im Zeitablauf, systematische Nichtbe-                      den. Für eine exakte Quantifizierung der Effekte
antwortung von Fragen oder Messfehler, wie sie                        der Gewinnverlagerung von Unternehmen auf
in Befragungsdaten typischer Weise auftreten, bei                     das Steueraufkommen sind daher Daten der Steu-
administrativen Steuerdaten nicht oder nur ein-                       erverwaltung heranzuziehen (siehe bspw. Bilicka
geschränkt relevant (bspw. Card et al., 2011).33 Der                  2019).36
große Datenumfang und die hohe Datenqualität
erlauben zudem Kausaleffekte von Steuersatzän-                        Für Deutschland gibt es aufgrund der schwierigen
derungen und anderen Politikreformen mit grö-                         Datenlage kaum Studien. Eine erste Untersuchung
ßerer Zuverlässigkeit zu bestimmen. Empirische                        von Schellhorn (2005) nutzt Mikrodaten im Rah-
Verfahren, die Sprungstellen im Steuertarif zur                       men des IAW-Einkommensteuerpanels. Dörren-
Identifikation der ETI nutzen, sind darüber hin-                      berg et al. (2017) präsentieren eine Schätzung der
aus praktisch nur auf Basis administrativer Steu-                     ETI für die Einkommensteuer anhand des Tax-
erdaten nutzbar, da exakte Informationen zum                          payer Panels.37 Fossen und Steiner (2018) untersu-
steuerpflichtigen Einkommen und viele Beobach-                        chen die Gewerbesteuer anhand von Mikrodaten,
tungen an den Sprungstellen im Steuertarif vor-                       müssen sich aufgrund der Datenbeschränkungen
liegen müssen, um das Verfahren zu nutzen. In                         allerdings auf die Querschnitte der Jahre 2001 und
den vergangenen Jahren wurde die ETI auf Basis                        2004 konzentrieren.38
administrativer Daten für verschiedene Länder
bestimmt. Siehe beispielsweise Saez et al. (2012),                    2.2.3 Heterogenität und Kanäle der
Kleven (2016) und Neisser (2018) für Überblicksar-                          Steuerwirkungen
tikel.34 Zudem finden sich in der neueren Literatur
verschiedene Arbeiten, die Elastizitäten der steu-                    Effizienzwirkungen von Steuern hängen aller-
erlichen Bemessungsgrundlage auch für andere                          dings nicht nur von der durchschnittlichen
Steuerarten bestimmen. Devereux et al. (2014)                         Reaktion von Steuerzahlern auf Steuersatzän-
und Lediga et al. (2019) nutzen bspw. Informatio-                     derungen ab. Auch Heterogenität im Anpas-
nen aus Körperschaftsteuererklärungen, um die                         sungsverhalten ist von Bedeutung. Wenn bspw.
Elastizität des steuerpflichtigen Unternehmen-                        Männer und Frauen, Hoch- und Niedriglohnver-
seinkommens auf Tarifänderungen bei der Kör-                          diener oder Menschen in verschiedenen Regionen
perschaftsteuer zu bestimmen.35 Auch hier haben
                                                                      36 Bilicka (2019.
32 Siehe Glogowsky (2018) für eine Analyse von Bunching an            37 Konkret wird das sogenannte Taxpayer Panel verwendet, das
   Freibetragsgrenzen und Sprungstellen in der Erbschaftsteuer.          eine 5 % Stichprobe der Grundgesamtheit der Steuerzahler
                                                                         umfasst (Dörrenberg et al. 2017).
33 Card et al. (2011).
                                                                      38 Fossen und Steiner (2018) zeigen dabei insbesondere, dass
34 Kleven (2016), Saez et al. (2012), Neisser (2018).
                                                                         ohne den Bezug auf Mikrodaten wie etwa in Buettner (2003)
35 Devereux et al. (2014) und Lediga et al. (2019).                      Fehlschätzungen resultieren.

                                                                    8
Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer
Zwecke der quantitativen Analyse
                                                        Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik

unterschiedlich stark auf Änderungen im per-                  andere Steuerbemessungsgrundlagen müssen bei
sönlichen Einkommensteuersatz reagieren, kön-                 der Bestimmung der Wohlfahrtskosten von Steu-
nen hieraus Implikationen für eine zielgerichtete             ern berücksichtigt werden. Empirische Analy-
Ausgestaltung von Steuergesetzen abgeleitet wer-              sen in diesem Bereich erfordern in der Regel Ver-
den. Analoge Beispiele lassen sich für andere Steu-           knüpfungen von steueradministrativen Daten mit
erarten nennen. Wenn multinationale und natio-                anderen Datenquellen. Im Kontext der persönli-
nale Unternehmen oder kleine und große Firmen                 chen Einkommensteuer kann beispielsweise nur
unterschiedlich stark auf Anpassungen des Kör-                dann zwischen Einkommensreaktionen durch
perschaftsteuersatzes reagieren, hat das ebenfalls            Anpassungen im Arbeitsangebot und im Hinter-
Folgen für optimale Steuerpolitik.                            ziehungsverhalten unterschieden werden, wenn
                                                              Steuererklärungsdaten mit Ergebnissen von
Analysen der Heterogenität setzen voraus, dass                Steuerprüfungen und Arbeitszeitinformationen
Informationen zu Charakteristika der Steuerzah-               zusammengeführt werden.
ler vorliegen. Das ist im Kontext von Steuererklä-
rungen häufig nicht der Fall und erfordert, dass              Die ökonomische Literatur hat verschiedene
Steuererklärungsdaten mit anderen Datenquellen                Ansätze entwickelt, die eine entsprechende
zusammengeführt und für Forschungszwecke zur                  Abschätzung möglich machen (siehe bspw. Bilicka
Verfügung gestellt werden. Während eine solche                2019).39 Im Kontext der Körperschaftsteuer kann
Verknüpfung in vielen Ländern möglich ist (siehe              eine Unterscheidung von Steuervermeidungs-
bspw. Chetty et al., 2011, Kleven und Schultz, 2014,          reaktionen und realen Anpassungen erfolgen,
Harju und Matikka, 2016, Harju et al., 2019), ist das         wenn steueradministrative Daten um Informati-
Verbinden von amtlichen Mikrodaten auf Perso-                 onen zur Realaktivität von Firmen erweitert wer-
nenebene in Deutschland verboten, es sei denn ein             den. Eine Reihe jüngerer Studien nutzt verknüpfte
Gesetz erlaubt die Verknüpfung ausdrücklich. Im               Daten, um solche Anpassungskanäle zu identifi-
Bereich der Personen- und Haushaltsdaten exis-                zieren (siehe bspw. Studien von Kleven et al. (2011),
tiert ein solches Gesetz nicht.                               Devereux et al. (2014), Asatryan und Peichl (2017),
                                                              sowie Asatryan et al. (2019) für Dänemark, Groß-
Zudem ist nicht nur von Interesse, wie stark die              britannien, Armenien und Österreich).40 Chen et
Anpassung des steuerpflichtigen Einkommens in                 al. (2018) untersuchen die Wirkungen des Körper-
Reaktion auf Steuersatzänderungen ist, sondern                schaftsteuersatzes auf F&E Investitionen mit ver-
auch über welche Kanäle die Anpassung erfolgt.                knüpften Mikrodaten für chinesische Firmen.
Ob Individuen in Reaktion auf Einkommensteu-
ersatzerhöhungen ihr Arbeitsangebot reduzie-                  Für Deutschland sind entsprechende Verknüpfun-
ren, ins Ausland abwandern oder vermehrt Steu-                gen und Analysen bislang nicht, bzw. nur einge-
ern hinterziehen, ist oftmals entscheidend für                schränkt möglich. Insbesondere die Verknüpfung
die Bewertung der Steuerpolitik und hat zudem                 von personen- und firmenbezogenen Statistiken
Implikationen für die Steuerverwaltung. Zudem                 scheitert entweder an den rechtlichen Hürden
muss analysiert werden, ob eine Veränderung in                oder am pauschalen Einwand des Datenschutzes,
der Steuerbasis anderer Steuern induziert wird.
Wenn selbstständige Individuen in Reaktion auf
erhöhte persönliche Einkommensteuersätze bspw.                39 Bilicka, K. (2019), Comparing UK tax returns of foreign
inkorporierte Unternehmen gründen, über die sie                  multinationals to matched domestic firms, American
                                                                 Economic Review, 2019, 109(8), 2921-53.
einen Teil ihrer wirtschaftlichen Aktivität abwi-
                                                              40 Teilweise können Anhaltspunkte zu Anpassungskanälen auch
ckeln, sinkt ihr steuerpflichtiges Einkommen bei                 direkt aus Informationen der Steuererklärung gewonnen
der persönlichen Einkommensteuer, aber ihr steu-                 werden. Bachas und Soto (2018) zeigen bspw. auf Basis von
                                                                 Daten für Unternehmenssteuererklärungen in Costa Rica,
erpflichtiges Einkommen bei der Körperschaft-
                                                                 dass Steuerzahler in Reaktion auf Steuersatzänderungen v.a.
steuer steigt an. Entsprechende Externalitäten auf               Änderungen bei steuerlichen Abzügen vornehmen und nicht
                                                                 im Bereich der gemeldeten Umsätze.

                                                          9
Zwecke der quantitativen Analyse
                                                             Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer
                                                      Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik

ohne dass Anonymisierungsstrategien geprüft               die Mehrwertsteuerbelastung 1:1 weitergeben,
würden.                                                   finden sich keine Anpassungen bei kleinen eigen-
                                                          tümergeführten Restaurants.
2.2.4 Verteilungseffekte und Steuerinzidenz
                                                          Auch zur Steuerinzidenz gibt es in Deutschland
Zwar sind im Gesetzgebungsverfahren bei Steuer-           wegen der Datenlage kaum aussagekräftige Stu-
rechtsänderungen Aussagen zur Verteilungswir-             dien. Dwenger et al. (2017) verknüpfen Daten zu
kung nicht zwingend erforderlich, dennoch spie-           Körperschaftsteuererklärungen in Deutschland –
len sie im politischen Entscheidungsprozess eine          über eine Aggregation auf Ebene von Wirtschafts-
wichtige Rolle. Auch hier sind Mikrodaten der             zweig und Region – mit Informationen zur Lohn-
Steuerstatistik unverzichtbar, da sie viel genaue-        höhe von Beschäftigten, und zeigen, dass die
ren Aufschluss über die Verteilungswirkung von            Unternehmenssteuerlast über niedrigere Löhne
Steuern geben als andere Datenquellen. Sie erlau-         teilweise an Beschäftigte weitergegeben wird.
ben es bspw. im Kontext der Einkommensteuer               Administrative Steuerdaten eröffnen damit auch
abzuschätzen, wie Steuerlasten zwischen Steu-             bei Fragen zur Steuerinzidenz Erkenntnismög-
erzahlern verteilt sind und welche Effekte Ände-          lichkeiten. In der Regel ist allerdings eine Ver-
rungen steuerlicher Regeln auf die Belastungs-            knüpfung mit anderen Datenquellen Vorausset-
unterschiede zwischen den Steuerzahlern haben.            zung für die Analyse. Selbige sollte auf Basis der
Wier und Reynolds (2018) und Buyl und Rogge-              Individualdaten und nicht auf aggregierter Ebene
man (2019) zeigen bspw. anhand steueradminis-             erfolgen (u.a. um verzerrte Schätzergebnisse auf-
trativer Daten für Südafrika und Belgien, dass sich       grund von Selektionseffekten zu vermeiden).
die effektive Unternehmenssteuerlast von gro-             Fuest et al. (2018) verknüpfen administrative Indi-
ßen und kleinen Firmen systematisch unterschei-           vidual- und Firmendaten der Bundesagentur für
det. Eine ähnliche Thematik ist auch für die steu-        Arbeit mit administrativen Gewerbesteuerhebe-
erpolitische Debatte in Europa und in den OECD            satzdaten auf Gemeindeebene um die Überwäl-
Ländern bedeutsam, da multinationale Unterneh-            zung der Gewerbesteuer auf Arbeitnehmerlöhne
men aufgrund von Steuervermeidung oft weniger             zu untersuchen. Wie Dwenger et al. (2017) fin-
Steuern bezahlen als nationale Unternehmen.41             den sie Evidenz für eine Überwälzung auf Arbeit-
Allgemein macht die für Verteilungsfragen wich-           nehmerlöhne. Allerdings bleiben wichtige Fragen
tige Betrachtung über längere Zeitperioden die            offen, deren Beantwortung die Verknüpfung mit
Verwendung sogenannter Paneldaten notwendig:              Unternehmenssteuerdaten erfordern würde. Ins-
sie ermöglichen es, die Belastung durch Steuern           besondere können die Autoren nicht beantwor-
über die Zeit zu beobachten.                              ten, welcher Anteil der Steuerlast auf die Anteils-
                                                          eigner (Gewinne) und welcher an die Verbraucher
Zudem können auf Basis administrativer Daten              (über Preise) überwälzt wird.
Fragen der Steuerinzidenz untersucht werden,
d.h. es kann empirisch bestimmt werden, ob Zahl-          2.2.5 Ökonomische Effekte von
last und Traglast von Steuern auseinanderfallen.                Steuerabzügen
Harju et al. (2018) nutzen u.a. Daten der adminis-
trativen Steuerstatistik in Finnland und Schweden,        Neben dem tariflichen Steuersatz ist die effek-
um zu analysieren, ob Restaurants Mehrwertsteu-           tive Steuerbelastung von Steuerzahlern auch eine
erzahlungen über höhere Preise an ihre Kunden             Funktion der steuerlichen Abzugsmöglichkeiten,
weitergeben. Die Ergebnisse zeigen Heterogenität          d.h. der Definition der Steuerbemessungsgrund-
im Verhalten: Während große Restaurantketten              lage. Bei der Gewährung von Abzugsmöglichkeiten
                                                          stehen i.d.R. Überlegungen zur Steuergerechtig-
                                                          keit und/oder zu Verhaltensanreizen im Vorder-
41   Finke (2014).                                        grund. Hieraus ergeben sich aus steuerpolitischer

                                                       10
Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer
Zwecke der quantitativen Analyse
                                                        Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik

Sicht zwei wichtige empirische Fragestellungen.               mit den Bilanzdaten des Bureau von Dijk FAME
Erstens, in welchem Maß profitieren Steuerzahler              Datensatzes um die Wirkung von Abschreibungs-
von gesetzlichen Steuerabzügen? Zweitens, indu-               anreizen für Informations- und Kommunikati-
zieren die Steuerabzüge die gewünschten Verhal-               onstechnik auf die Beschäftigung je nach Art der
tensreaktionen? In Bezug auf die erste Frage sind a           Tätigkeit zu untersuchen. Maffini et al.(2019) nut-
priori nicht intendierte Effekte in zwei Richtungen           zen eine solche Verknüpfung mit britischen Steu-
möglich. Auf der einen Seite ist denkbar, dass Steu-          erdaten um die Stärke der Reaktion von Investiti-
erzahler, denen gesetzlich ein Steuerabzug zusteht,           onen auf bessere steuerliche Abschreibungen zu
selbigen nicht nutzen, weil ihnen die notwendige              bestimmen. Sie zeigen, dass steuerliche Abschrei-
steuerrechtliche Information fehlt oder weil sie              bungen im Hinblick auf die Investitionswirkun-
vor Befolgungskosten (bspw. dem Sammeln von                   gen ähnlich stark wirken wie eine Senkung des
Belegen) zurückschrecken. Auf der anderen Seite               Steuersatzes.
eröffnen Steuerabzüge ggf. aber auch Möglichkei-
ten zur Steuerhinterziehung - d.h. Möglichkeiten              2.2.6 Steueraufkommenseffekte
Steuerabzüge geltend zu machen, obwohl sie dem
Steuerzahler gesetzlich nicht zustehen. Daten zu              Bei der Bewertung von Steuerreformen sind
Steuererklärungen erlauben, entsprechendes Ver-               neben möglichen Effizienz- und Verteilungsim-
halten von Steuerzahlern zu untersuchen. Gillitzer            plikationen vor allem auch Effekte auf das Steu-
und Skov (2018) finden bspw. für Dänemark, dass               eraufkommen von Bedeutung. Auch hier kön-
viele Steuerzahler Spendenabzugsmöglichkeiten                 nen steueradministrative Daten einen zentralen
von der Steuerbasis nicht wahrnehmen. Es wird                 Beitrag zur Quantifizierung leisten. Aktuell ist
gezeigt, dass aggregierte Spendenabzüge durch die             es gängige Praxis, im Rahmen von politischen
Einführungen von Meldepflichten für Drittpar-                 Debatten ebenso wie im Rahmen von Gesetzge-
teien und eine elektronische Vorausfüllung der                bungsverfahren, mögliche Aufkommenseffekte
Spendenabzüge im Steuererklärungsformular sig-                ausschließlich über Änderungen der Steuerpara-
nifikant ansteigen.                                           meter zu quantifizieren und von Verhaltensanpas-
                                                              sungen der Wirtschaftssubjekte in Reaktion auf
Auf Basis von Steuererklärungsdaten lassen sich               Steueränderungen zu abstrahieren. Das Ausblen-
zudem Anreizeffekte von Steuerabzügen unter-                  den von Verhaltensanpassungen führt hierbei zu
suchen. Zwick und Mahon (2017) zeigen anhand                  systematischen Fehlern bei der Quantifizierung
steueradministrativer Daten für die USA, dass Fir-            der Aufkommenseffekte. Wird bspw. die Aufkom-
meninvestitionen in relevantem Maß auf Ände-                  menswirkung einer möglichen Senkung des Kör-
rungen in Abschreibungsregelungen reagieren,                  perschaftsteuersatzes quantifiziert, ohne dass
die Reaktionen von kleinen Firmen aber signifi-               positive Effekte der Reform auf Unternehmensin-
kant stärker ausfallen als die von großen Unter-              vestitionen und -profite berücksichtigt werden,
nehmen. Ein anderes Beispiel sind Dechezlepretre              kommt es zu einer Überschätzung der Aufkom-
et al. (2016) und Guceri und Li (2019), die auf Basis         menseffekte. Dies ist in Deutschland regelmäßig
von Unternehmenssteuererklärungen in Groß-                    der Fall (siehe oben 2.2.1).
britannien zeigen, wie steuerliche Sonderabzüge
für Forschungs- und Entwicklungskosten die For-               Aufkommenseffekte können dabei nicht nur
schungs- und Entwicklungsaktivitäten von Unter-               ex-post, sondern auch ex-ante bestimmt werden.
nehmen beeinflussen. Für Hinweise auf konkrete                Hierbei sind insbesondere Informationen aus Steu-
realwirtschaftliche Sachverhalte werden dabei                 ererklärungen von großem Wert. Sie ermöglichen
Verknüpfungen zwischen Steuerdaten und Bilanz-                es, auf Basis von Zufallsstichproben Mikrosimu-
daten von Unternehmen verwendet. Gaggl und                    lationsmodelle zu bauen, mit denen die Aufkom-
Wright (2017) nutzen Verknüpfungen der Körper-                menseffekte von Reformen oder Reformvorschlä-
schaftsteuererklärungen britischer Unternehmen                gen ex-ante quantifiziert werden können. Hierbei

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Zwecke der quantitativen Analyse
                                                             Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer
                                                      Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik

werden in der empirischen Literatur identifizierte        Slemrod und Weber, 2012). Dasselbe gilt auch für
Verhaltensreaktionen auch in ihrer Heterogenität          Schätzungen der Steuerlücke auf Basis von Mak-
über Wirtschaftssubjekte hinweg berücksichtigt.           roindikatoren, die in der Regel auf starken und
                                                          schwer verifizierbaren Annahmen fußen (siehe
Angesichts gravierender Unterschiede in den Steu-         bspw. Fuest und Riedel, 2009). Verschiedene Länder
ersystemen, in den gesetzlichen Rahmenbedin-              unterhalten daher Programme, um Steuerlücken
gungen und in den Wirtschaftsstrukturen können            anhand steueradministrativer Daten zu quantifi-
Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Literatur,          zieren (siehe u.a. die USA, Schweden und Großbri-
denen Daten anderer Länder zugrunde liegen, nur           tannien). Die US-Steuerbehörde IRS wählt seit den
Anhaltspunkte für Voraussagen liefern. Verläss-           1960iger Jahren zufällig eine große Zahl von Ein-
liche Schätzungen für Deutschland erfordern die           kommensteuererklärungen aus und unterzieht sie
eingehende Analyse der Besteuerung in Deutsch-            einer intensiven Steuerprüfung.42 Für jede Posi-
land anhand aussagefähiger Mikrodaten der Steu-           tion in der Steuererklärung wird die Angabe des
erstatistik. Zwar lassen sich bestimmte Verhalten-        Steuerpflichtigen mit der gemäß der Prüfung kor-
seffekte auch anhand anderer für Deutschland              rekten Angabe verglichen. Ausgehend davon wird
verfügbarer Datensätze untersuchen. Beispiels-            die aggregierte Steuerlücke und ihre Zusammen-
weise kann der Effekt der Steuern auf die Erwerbs-        setzung berechnet (Slemrod und Weber, 2012).
beteiligung mit Daten der Sozialversicherung              Auch wissenschaftliche Studien haben in den ver-
untersucht werden. Allerdings sind Einkommens-            gangenen Jahren über eine Analyse von steuerad-
informationen in den Sozialversicherungsdaten             ministrativen Daten Anhaltspunkte zu Ausmaß
nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze verfüg-              und Anatomie von Steuerhinterziehungs- und
bar. Für die Abschätzung der resultierenden Auf-          vermeidungsverhalten geliefert. Grubert und
kommenseffekte sind außerdem zumeist nicht                Slemrod (1998), Grubert (2003), Wier und Reynolds
eine, sondern zahlreiche Verhaltenseffekte von            (2018) analysieren bspw. auf Basis steueradminist-
Bedeutung. Anhand von Steuerdaten kann eine               rativer Daten in den USA und in Südafrika, in wel-
umfassende Bewertung der Aufkommenseffekte                chem Umfang und über welche Kanäle multinati-
erfolgen. Nur Informationen aus den Steuererklä-          onale Unternehmen Steuervermeidung betreiben.
rungen erlauben Anpassungen der Steuerzahlun-             Kreiner et al. (2014) und Alstadsaeter et al. (2019)
gen auf individueller Ebene zu bestimmen und              zeigen für Dänemark und Norwegen, dass Steu-
eine aggregierte Schätzung der Aufkommensef-              ervermeidung und Steuerhinterziehung am obe-
fekte abzuleiten.                                         ren Ende der Einkommensverteilung konzentriert
                                                          ist. Paetzold und Winner (2016) und Frimmel et al.
2.2.7 Steuerlücke und Steueradministration                (2018) zeigen auf Basis österreichischer Steuerda-
                                                          ten, dass Steuerhinterziehung und Steuervermei-
Daten der Steueradministration werden zudem               dung teilweise über Netzwerkeffekte erklärt wer-
genutzt, um Steuerlücken, d.h. die Differenz zwi-         den können. Alstadsaeter et al. (2018) untersuchen
schen der gesetzlich geschuldeten Steuer und der          mögliche Zusammenhänge zwischen Steuerhin-
tatsächlich gezahlten Steuer, zu quantifizieren           terziehung und Steuervermeidung.
und Determinanten von Steuerlücken zu bestim-
men. Steuerhinterziehung und -vermeidung sind             Aus Sicht von Steuerpolitik und Steuerbehörden ist
grundsätzlich schwer messbare Phänomene, da               es zudem von zentraler Bedeutung zu verstehen,
die Steuerpflichtigen natürlich versuchen, die ent-       wie steuerpolitische und steueradministrative
sprechenden Aktivitäten vor der Öffentlichkeit
bzw. den Finanzämtern zu verbergen. Der Infor-            42 Entscheidend ist hierbei, dass Steuererklärungen zufällig
mationsgehalt von Befragungsdaten zu Hinter-                 für die Steuerprüfung (und nicht wie in der ‚normalen‘
                                                             Steuerprüfung risikobasiert) ausgewählt werden. Nur so kann
ziehungs- und Vermeidungsaktivitäten wird in                 über die Prüfergebnisse eine Schätzung für die aggregierte
der Forschung als gering angesehen (siehe bspw.              Steuerlücke abgeleitet werden.

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