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Gutachten 05/2020 Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik
Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen Gutachten 05/2020
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung______________________________________________________1 2. Zwecke der quantitativen Analyse______________________________3 2.1 Grundsätzliche Erwägungen__________________________________________________________________________ 3 2.1.1 Gesetzgebungsprozess und demokratische Willensbildung____________________________________ 3 2.1.2 Steuervollzug________________________________________________________________________________ 4 2.1.3 (Verfassungs-)rechtliche Kontrolle von Steuergesetzen________________________________________ 5 2.2 Konkrete Fragestellungen____________________________________________________________________________ 6 2.2.1 Steuerschätzung______________________________________________________________________________ 6 2.2.2 Quantifizierung der Effizienzkosten von Besteuerung_________________________________________ 7 2.2.3 Heterogenität und Kanäle der Steuerwirkungen______________________________________________ 8 2.2.4 Verteilungseffekte und Steuerinzidenz_______________________________________________________ 10 2.2.5 Ökonomische Effekte von Steuerabzügen____________________________________________________ 10 2.2.6 Steueraufkommenseffekte___________________________________________________________________ 11 2.2.7 Steuerlücke und Steueradministration_______________________________________________________ 12 2.2.8 Steuerliche Befolgungskosten_______________________________________________________________ 13 2.2.9 Weitere Fragestellungen_____________________________________________________________________ 14 2.2.10 Resumee zur empirischen Forschung________________________________________________________ 15 3. Anforderungen an die Datengrundlagen und „Best Practice“___16 I: UK / HRMC_________________________________________________________________________________________ 18 II: Skandinavien________________________________________________________________________________________ 18 III: Niederlande_________________________________________________________________________________________ 19 IV: Frankreich__________________________________________________________________________________________ 19 V: USA_________________________________________________________________________________________________ 19 4. Bestehende Praxis in Deutschland_____________________________19 4.1 Gesetzliche Vorgaben für die Nutzung der Steuerdaten_______________________________________________ 19 4.2 Bestehende Nutzungsmöglichkeiten der Mikrodaten________________________________________________ 21 4.3 Defizite im bestehenden Datenangebot______________________________________________________________ 22 4.4 Datenlage bei den Parafiski: IAB, Rentenversicherung________________________________________________ 23 5. Empfehlungen________________________________________________24 6. Literaturverzeichnis___________________________________________29 Anhang Übersicht über bestehende administrative Mikrodatensätze_ 35 Mitgliederverzeichnis________________________________________________ 44
Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer Einleitung Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik 1. Einleitung Ein präzises Verständnis der Auswirkungen der evident, in denen Verhaltenswirkungen gesetz- Steuergesetzgebung ist für die politische Ent- lich intendiert sind, bspw. in der Umwelt- oder scheidungsfindung zentral. Im parlamentarischen Energiepolitik. Gesetzgebungsprozess kommt den finanziellen Auswirkungen von Steuergesetzen eine erhebliche Die Anforderungen an eine fundierte Gesetzesfol- Bedeutung zu.1 Allerdings sind die in Gesetzesvor- genabschätzung sind hoch und erfordern neben lagen enthaltenen Angaben in der Regel nicht von dem Zugang zu Steuerdaten Methodenexper- unabhängiger Seite überprüfbar. Mitunter wird tise und detailliertes Institutionenwissen. Darü- im Rahmen der Ressortforschung externe Exper- ber hinaus sind die Anforderungen im Zeitablauf tise eingeholt, eine zeitnahe und transparente stetig gestiegen. Zum einen erhöht sich in vielen Berichterstattung erfolgt indes nicht. Eine gegen Bereichen der Anpassungsspielraum der Akteure, politische Einflussnahme immune unabhängige der erfasst werden muss, wenn Gesetzesfolgen Abschätzung der Gesetzesfolgen ist damit nicht quantifiziert werden sollen. Viele große Unter- möglich. Zudem werden Verhaltensreaktionen nehmen agieren beispielsweise heute multinati- auf Steuergesetzänderungen bei der Bestimmung onal und Arbeitnehmer sind zunehmend inter- der finanziellen Implikationen regelmäßig ausge- national mobil. Steuergesetzänderungen können klammert, was zu erheblichen Verzerrungen bei damit über Landesgrenzen hinaus wirken. Zudem der Abschätzung der Gesetzesfolgen führen kann. 2 ist im Zuge der wachsenden Internationalisierung Dass dies ein relevantes Problem ist, wurde dem das Steuerrecht erheblich komplizierter geworden Gesetzgeber deutlich vor Augen geführt durch und es bestehen schon bei der Diagnose der Aus- das überraschende negative Ergebnis beim Auf- wirkungen der bestehenden Regelungen erhebli- kommen der Körperschaftsteuer im Jahre 2001, che Defizite. das durch eine eigentlich vorhersehbare Verhal- tensreaktion auf die Unternehmenssteuerreform Die quantitative Erfassung des Steuersystems und 2001 verursacht worden ist.3 Dennoch wurde die seiner Wirkung ist auch mit Blick auf die Einhal- Praxis der ausschließlich internen Abschätzung tung von Fiskalregeln durch Bund, Länder und der Gesetzesfolgen nicht geändert. Die Relevanz Kommunen von Bedeutung, die für die Glaubwür- solcher Analysen ist vor allem in den Bereichen digkeit der Finanzpolitik zentral ist. Hierfür ist eine verlässliche und unabhängige Vorausschät- zung der Einnahmenentwicklung erforderlich, 1 Gem. § 43 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 44 Abs. 2 GGO (Gemeinsame gerade auch wenn Steuerreformen anstehen. Geschäftsordnung der Bundesministerien) ist notwendiger Inhalt der Gesetzesbegründung die Darstellung der Unabhängige Gesetzesfolgenabschätzungen sind Auswirkungen des Gesetzes auf die Einnahmen und Ausgaben in diesem Kontext von hohem Wert. Die Abschät- der öffentlichen Haushalte. zung der finanziellen Auswirkungen von Steuer- 2 In anderen Ländern, bspw. den USA, ist es gesetzlich vorgeschrieben, dass Verhaltensanpassungen von rechtsänderungen hat zudem großen Einfluss auf Wirtschaftsakteuren in Reaktion auf Steuergesetzänderungen die Einhaltung der Regeln des europäischen Stabi- und gesamtwirtschaftliche Rückkopplungen quantifiziert litätspakts. Denn bei der Überprüfung der Vorga- werden, bevor Gesetzesänderungen implementiert werden können (s. bspw. Mankiw und Weinzierl, 2006; Barros et al. ben für die Ausgabenlinie werden die finanziellen 2018). Auswirkungen von steuerpolitischen Maßnah- 3 Das Körperschaftsteueraufkommen wurde kurzfristig men als Mehr- oder Minderausgaben berücksich- negativ, weil Kapitalgesellschaften zur Sicherung ihrer Körperschaftsteuerguthaben erwartungsgemäß ihre tigt. Dies erfordert, dass die von der Regierung vor- Ausschüttungen erhöhten (s. Werra, 2000). legten Schätzwerte auch extern bewertet werden 1
Einleitung Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik können. In der öffentlichen Debatte zu Steuerge- auslösen. Grundlage dieser Entwicklung ist, dass setzesänderungen spielen zudem Fragen der Steu- Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen ergerechtigkeit und Steuerhinterziehung eine Zugang zu hochwertigen anonymisierten Mikro- große Rolle. Zu beiden existieren für Deutsch- daten der Steuerverwaltung gewährt wurde (vgl. land kaum Erkenntnisse. In welchem Maß Trag- Chetty (2012)).5 Im Vergleich zur schnellen Ent- last und Zahllast von Steuern auseinanderfallen, wicklung im Ausland, ist der Zugang zu Steuerda- weil Steuerbelastungen über Preisänderungen an ten für Wissenschaftler und Wissenschaftlerin- andere Wirtschaftsakteure weitergegeben wer- nen in Deutschland trotz einiger Fortschritte in den, ist beispielsweise weitestgehend unklar. Seit den vergangenen Jahren nach wie vor stark einge- Jahrzehnten bestehen zudem Informationen über schränkt. Über die Wirkungen des deutschen Steu- erhebliche Ausfälle durch betrügerische Praktiken ersystems und seiner spezifischen Regelungen auf bei der Umsatzsteuer und noch immer gibt es über zentrale wirtschaftliche und soziale Zielgrößen das genaue Ausmaß nur Spekulationen.4 Ähnlich gibt es daher in vielen Bereichen nur Mutmaßun- ist die Sachlage beim Steuerbetrug im Zusam- gen. Dies gilt auch, weil Erkenntnisse aus anderen menhang mit Aktiengeschäften rund um den Ländern nicht ohne Weiteres auf den steuerrecht- Dividendenstichtag (Cum-Ex). Hinterziehungs- lichen, steueradministrativen und sozioökonomi- und Vermeidungspraktiken zu quantifizieren, ist schen Kontext in Deutschland übertragen werden methodisch anspruchsvoll, da sie im Verborgenen können. stattfinden. Belastbare Aussagen lassen sich aber gerade durch Analyse administrativer Daten auf Vor diesem Hintergrund befasst sich der Beirat Ebene der einzelnen Steuererklärungen und der in diesem Gutachten mit den Möglichkeiten für Anträge auf Steuererstattungen erzielen. eine Verbesserung der quantitativen Analyse der Besteuerung in Deutschland.6 Nach der Einlei- In der quantitativen Analyse der Besteuerung sind tung wird zunächst auf Funktion und Bedeutung in den vergangenen Jahrzehnten weltweit erheb- der quantitativen Erfassung des Steuersystems liche Fortschritte gemacht worden. Bis in die hingewiesen. Anschließend wird unter Berück- 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren sichtigung des aktuellen Forschungsstands auf- die Steuerwissenschaften noch weitgehend the- gezeigt, welche Erkenntnisse gewonnen werden oretisch ausgerichtet. Entsprechend beschränkte können, wenn Wissenschaftlern und Wissen- man sich seitens der Wissenschaft darauf, die Effi- schaftlerinnen Zugang zu administrativen Steuer- zienz der Steuerpolitik einzufordern und ein ins- daten gewährt wird. Die Abschnitte 3 und 4 dis- gesamt widerspruchsfreies Steuersystem zu ent- kutieren die Anforderungen, die an die statistische wickeln, das grundsätzlichen Anforderungen an Datenbasis zu stellen sind und zeigen auf, in wel- Verfassungsmäßigkeit, Gerechtigkeit und Effizi- chen Bereichen bei der Praxis der quantitativen enz Rechnung trägt und die Steuerbefolgungs- Analyse der Besteuerung in Deutschland Defi- kosten begrenzt. Seitdem hat die datenbasierte zite bestehen. In diesem Kontext wird auch auf Auswertung der tatsächlichen Erfahrungen mit die zu beachtenden rechtlichen Rahmenbedin- dem Steuersystem und seinen Wirkungen welt- gungen im Umgang mit Steuerdaten eingegangen weit ein immer größeres Gewicht gewonnen. Ins- und skizziert, wie andere Länder unter Wahrung besondere wird heute in vielen Ländern anhand des Steuergeheimnisses eine umfassende wissen- von Mikrodaten untersucht, welche Belastungs- schaftliche Nutzung administrativer Steuerdaten wirkungen sich für Steuerzahler ergeben und wel- möglich machen. Der fünfte Abschnitt beinhaltet che Verhaltensreaktionen steuerliche Regelungen Empfehlungen. 4 So lautet die Standardantwort der Bundesregierung zum Thema Unternehmenssteuervermeidung: „Hierzu liegen der 5 Chetty (2012). Bundesregierung keine Erkenntnisse vor“ (vgl. z. B. Bundestag Drucksache 18/1125 http://dipbt.bundestag.de/dip21/ 6 Siehe zu diesem Thema auch Peichl (2017), Drechsel-Grau et btd/18/011/1801125.pdf). al. (2015) sowie Almunia et al. (2019). 2
Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer Zwecke der quantitativen Analyse Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik Konkret spricht sich der Beirat für die Schaffung hinaus werden Ansatzpunkte zur Verbesserung eines eigenen Forschungsdatenzentrums für Steu- und Ausweitung der Statistiken genannt und Vor- ern aus, das speziell für die besonderen Anfor- schläge zur Verknüpfung von bestehenden Daten- derungen der Steuerdaten ausgelegt ist. Darüber sätzen gemacht. 2. Zwecke der quantitativen Analyse 2.1 Grundsätzliche Erwägungen jedoch personell nicht in der Lage.7 Ihr Einfluss im Gesetzgebungsverfahren ist gering.8 Eine dem 2.1.1 Gesetzgebungsprozess und Joint Committee on Taxation des US-Kongresses demokratische Willensbildung mit seinem umfangreichen Stab9 vergleichbare unabhängige Institution existiert in Deutschland Gesetzesvorlagen und Gesetzgebungsverfah- nicht. ren kranken vielfach daran, dass sie auf unklarer Tatsachenbasis ergehen. Oft fehlt es schon hin- Lediglich eine ex-ante Einschätzung der Bürokra- sichtlich des Ausgangssachverhalts an einer vali- tie- bzw. Folgekosten erfolgt standardmäßig. Sie den Datenbasis, dies gilt umso mehr für die Prog- ist auf den unabhängigen Nationalen Normen- nose möglicher Wirkungen der zu beschließenden kontrollrat übertragen. Dieser stellt allerdings Gesetze. Im eigentlichen Gesetzgebungsverfahren keine eigenen Datenerhebungen an, sondern fehlt es dann oft sowohl an Zeit als auch an Mitteln nimmt lediglich eine Plausibilitätskontrolle der für eine quantitative Analyse von Gesetzgebungs- von den Ministerien erarbeiteten Schätzungen der vorhaben. Verfahren zur umfassenden ex-ante Kostenfolgen für Bürger, Wirtschaft und Verwal- Analyse von Gesetzeswirkungen sind derzeit nur tung vor. Weitergehende Wirkungsanalysen sind ansatzweise vorhanden. vom gesetzlichen Arbeitsauftrag des Normenkon- trollrates nicht umfasst. Im Vorfeld von steuerlichen Gesetzgebungsini- tiativen kommt dem Bundesfinanzministerium Auch eine ex-post Evaluation der Gesetzeswirkun- eine zentrale Rolle für die Sachverhaltsermitt- gen ist nur bei bestimmten Zielsetzungen vorge- lung und Datenanalyse zu. § 44 der Gemeinsamen sehen, insbesondere wenn ein erheblicher Erfül- Geschäftsordnung der Bundesministerien enthält lungsaufwand konstatiert wird.10 Teilweise finden Vorgaben für die Erstellung von Gesetzentwür- sich Evaluationsabsichten in Gesetzesbegründun- fen. Danach sind in der Gesetzesvorlage auch die gen, selten sind gesetzliche Evaluationsklauseln Gesetzesfolgen, insbesondere die finanziellen Aus- wirkungen darzustellen. 7 Nach Blum (2004) waren im Jahr 2000 in allen Diensten zusammen 95 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt, Ein Gegengewicht zur Exekutive in der Gesetzes- darunter 64 Wissenschaftler, davon 33 Juristen. vorbereitung bilden die allein den Abgeordne- 8 Schneider (2002), Rz. 93; Blum, (2004), 136 f. ten verpflichteten Wissenschaftlichen Dienste des 9 www.jct.gov/about-us/overview.html. Bundestages. Zur Erstellung quantitativer Analy- 10 Bei Änderungen der Steuergesetze ist dies im Regelfall sen und empirischer Erhebungen sind die Dienste nicht gegeben. So ist z. B. eine Evaluierung der Effekte der Reduktion des Solidaritätszuschlags nicht vorgesehen, vgl. Abschnitt VII des Gesetzentwurfs zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995 (BT Drucksache 19/14103 vom 16.10.2019). 3
Zwecke der quantitativen Analyse Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik (z. B. § 17 Forschungszulagengesetz). Im Zweifel 2.1.2 Steuervollzug sind derartige Evaluationsversprechen nicht ein- klagbar. Gelegentlich werden Gesetze mit unsi- Sowohl verfassungsrechtlich als auch einfach- cheren Wirkungen befristet. Allerdings erfolgen gesetzlich (§ 85 AO) besteht die Pflicht der Finanz- Verlängerungen oftmals automatisch und ohne, verwaltung zum Vollzug der geltenden Steuer- dass zuvor eine Evaluation erfolgt. Selbst wenn gesetze; die Gesetzmäßigkeit der Besteuerung ist eine Evaluation stattfindet, kann sie bei fehlender „sicherzustellen“. Strukturelle Erhebungsdefizite Dateninfrastruktur aber ohnehin nicht verlässlich können im Extremfall sogar die Verfassungswid- erfolgen bzw. nicht extern überprüft werden (siehe rigkeit der zugrundeliegenden materiellen Steu- zu den Anforderungen Abschnitt 3). errechtsnormen begründen, wie es im Fall der Zinsbesteuerung Anfang der 1990er Jahre vom Unabhängige ex-post-Kontrolle von Gesetzeswir- Bundesverfassungsgericht entschieden wurde.11 kungen leistet allenfalls der Bundesrechnungshof, dessen Beanstandungen allerdings keine gesetzge- Zur Beurteilung der Vollzugseffizienz einzelner berischen Abhilfe- bzw. Nachbesserungspflichten Normen muss das tatsächlich erzielte Steuerauf- begründen und in der Regel folgenlos bleiben. kommen ins Verhältnis zu den potentiell steu- erpflichtigen Sachverhalten gesetzt werden. Ein Vor dem Hintergrund, dass die Abgeordneten Zurückbleiben des tatsächlichen Steueraufkom- nicht über unabhängige Stellen verfügen, die sie mens hinter dem Aufkommenspotential kann auf mit der Einschätzung der Wirkungen der von legalen Ausweichgestaltungen oder auf Vollzugs- ihnen zu beschließenden Gesetze beauftragen defiziten beruhen. Letztere können auf Kapazitäts- können, kommt der vom Bundesfinanzministe- grenzen der Finanzverwaltung zurückzuführen rium erarbeiteten Gesetzesbegründung entschei- sein oder ihre Ursache in strukturellen Mängeln dende Bedeutung zu. Gesetzesbegründungen ent- der zu vollziehenden Normen (übergroße Kom- halten jedoch in der Regel keine ausreichenden plexität, schwer zu beschaffende Daten) liegen. So Sachverhaltsangaben, um Annahmen zur Wirk- wird beispielsweise die Vollzugstauglichkeit des samkeit der zu beschließenden Gesetze, zu Ver- deutschen Außensteuerrechts, insbesondere im waltungs- und Befolgungskosten und zu den Bereich der erweiterten Hinzurechnungsbesteue- erwarteten Steuermehr- oder -mindereinnah- rung für Einkünfte aus Kapitalanlagegesellschaf- men nachvollziehen zu können. Zudem fehlt es in ten (§ 7 Abs. 6 AStG) in Zweifel gezogen.12 Quantifi- der Regel an Angaben zu den Verteilungswirkun- zieren lassen sich diese Bedenken bisher nicht. Seit gen von Reformmaßnahmen, obwohl diese in der langem ist auch bekannt, dass es bei der Umsatz- politischen Auseinandersetzung häufig eine zent- steuer im Kontext grenzüberschreitender Trans- rale Rolle spielen. aktionen zum Teil systematisch zu Steuerbetrug kommt. Bei der Quantifizierung der Ausfälle kann Zum Teil ergeben sich in den Anhörungen im indes nicht zwischen den Konsequenzen durch Finanzausschuss zusätzliche Erkenntnisse zu den Insolvenzen und Betrug z. B. durch Karussellge- zugrundeliegenden Rechtstatsachen und erwar- schäfte unterschieden werden.13 teten Gesetzeswirkungen. Allerdings sind abwei- chende Sachverhaltseinschätzungen seitens der Verbände und Interessengruppen vielfach nicht hinreichend belegt und lassen sich im Gesetzge- bungsverfahren nicht empirisch absichern. 11 BVerfG v. 27. 6. 1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239 (Zinsurteil); BVerfG v. 9. 3. 2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 (Spekulationsgewinne). 12 Vgl. Waldhoff (2013). 13 Vgl. Gebauer (2008). 4
Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer Zwecke der quantitativen Analyse Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik Um die begrenzten Sach- und Personalressour- Schließlich trifft den Gesetzgeber eine Beobach- cen der Finanzverwaltung möglichst effektiv ein- tungspflicht. Ändert sich der zugrunde gelegte setzen zu können, müssen Vollzugsdefizite lokali- Sachverhalt in wesentlichen Aspekten, so kann siert und quantifiziert werden. Dies wiederum ist ihn eine Anpassungspflicht treffen17; z. B. ist der Voraussetzung für einen verfassungskonformen Gesetzgeber verfassungsrechtlich zur permanen- Gesamtvollzug. ten Anpassung von Grund- und Kinderfreibeträ- gen in der Einkommensteuer an die steigenden 2.1.3 (Verfassungs-)rechtliche Kontrolle von Lebenshaltungskosten verpflichtet. Steuergesetzen Eine Überprüfung all dieser Vorgaben setzt Sach- Steuerwirkungen spielen auch bei der verfas- verhaltskenntnis voraus. Dabei billigt das Bun- sungsgerichtlichen Kontrolle von Steuergesetzen desverfassungsgericht dem Gesetzgeber im Rah- eine Rolle. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeits- men seiner sog. Einschätzungsprärogative18 prüfung kommt es zur Rechtfertigung steuerli- allerdings großzügige Beurteilungs- und Progno- cher Ungleichbehandlungen auf deren Geeignet- sespielräume19 zu. So wichtig eine sorgfältige vor- heit, Erforderlichkeit und Angemessenheit zur herige Sachverhaltsaufklärung für eine effektive Erreichung der gesetzgeberischen Ziele an. und effiziente Steuerpolitik auch sein mag, es gibt keine eigenständige verfassungsrechtliche Pflicht Die im Steuerrecht weit verbreiteten, der Vereinfa- zur vorherigen Sachverhaltsaufklärung. chung dienenden gesetzlichen Typisierungen und Pauschalierungen sind nur dann gleichheitssatz- Problematisch ist, dass eine Erfolgskontrolle auch konform, wenn der zugrundeliegende Sachver- im Nachhinein oftmals nicht stattfindet und auch halt realitätsgerecht erfasst wird. Dies setzt voraus, im Rahmen von verfassungsgerichtlichen Verfah- dass die gesetzlichen Verallgemeinerungen „von ren in der Regel unterbleibt. Dies liegt vor allem an einer möglichst breiten, alle betroffenen Grup- den eingeschränkten Möglichkeiten des Bundes- pen und Regelungsgegenstände einschließenden verfassungsgerichts zur Überprüfung der gesetz- Beobachtung ausgehen“14. Der Gesetzgeber darf geberischen Annahmen. Zwar ist das Gericht in sich für eine gesetzliche Typisierung keinen atypi- seiner Beweiserhebung grundsätzlich frei20 und schen Fall als Leitbild wählen, sondern muss den damit auch zur Überprüfung von Tatsachen und Durchschnittsfall als Maßstab zugrunde legen.15 Prognosen berechtigt. Eine eigene Beweiser- hebung findet aber regelmäßig aus Kapazitäts- Für steuerliche Lenkungsnormen und Steuerver- gründen nicht statt. Würden dem Gericht ent- günstigungen hat das Bundesverfassungsgericht sprechende Daten vorliegen, müsste es diese aber zudem das Gebot der Zielgenauigkeit aufgestellt.16 berücksichtigen. 14 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268 (279); BVerfG v. 8.10.1991 – 1 BvL 50/86, BVerfGE 84, 348 (359); BVerfG v. 17.11.1992 – 1 BvL 8/87, BVerfGE 87, 234 (255); BVerfG v. 10.4.1997 – 2 BvL 77/92, BVerfGE 96, 1 (6). 15 StRspr., z. B. BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, BVerfGE 122, 210 (238); v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082 (1096) m.w.N. 16 St. Rspr., BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 17 BVerfG v. 28.11.1984 – 1 BvR 1157/82, BVerfGE 68, 287 (309). 121 (147 f.); v. 11.11.1998 – 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280 18 Hierzu z. B. Bickenbach (2014). (296); v. 20.4.2004 – 1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274 (293); v. 19 StRspr., z. B. BVerfG v. 24.10.2002 – 1 BvF 1/01, BVerfGE 106, 21.6.2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (182); v. 7.11.2006 62 (150 f.). – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (32 f.); BVerfG v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, Rz. 124 ff. 20 Keine Beweismittelbeschränkung. 5
Zwecke der quantitativen Analyse Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik 2.2 Konkrete Fragestellungen 2.2.1 Steuerschätzung Informationen zu Aufkommens-, Effizienz- und Die Vorhersage zukünftiger Steuereinnahmen ist Verteilungswirkungen von Steuern und ihren Grundlage der Aufstellung der Haushaltspläne Verwaltungs- und Befolgungskosten sind als des Bundes und der Länder. Auch die Gemeinden Grundlage steuerpolitischer Entscheidungen und Gemeindeverbände basieren ihren Haushalt von zentraler Bedeutung. Eine Quantifizierung auf Vorhersagen der Steuereinnahmen. Hierzu der genannten Effekte kann nicht modelltheore- gibt der Arbeitskreis Steuerschätzungen zwei- tisch erfolgen, sondern bedarf empirischer Ana- mal jährlich Prognosen zur zukünftigen Einnah- lysen, idealerweise auf Basis der Grundgesamtheit meentwicklung der verschiedenen Steuern ab. 22 der Steuerzahler oder großer Zufallsstichproben. Die Schätzung fokussiert dabei auf die Entwick- Einzelfallbeispiele oder aggregierte Statistiken lung in Deutschland, 23 sie ist Grundlage der Regi- auf Länder- oder Bundesebene eignen sich hier- onalisierung durch die Bundesländer. Ein Ausweis für wenig. Sie zeichnen ein verzerrtes Bild, wenn der Schätzmethodik und der zugrunde geleg- Anpassungsreaktionen heterogen sind und bieten ten Annahmen erfolgt nicht. Eine regelmäßige kaum Möglichkeiten zur empirischen Identifika- ex-post Evaluierung der Prognosen wird ebenfalls tion von Kausaleffekten. 21 nicht durchgeführt.24 Kern der Prognosen ist eine Zeitreihenanalyse der Aufkommen nach Steuerar- Die Entwicklung in der weltweiten Forschung ten. Auf Mikrodaten basierende Schätzmethoden belegt eindrücklich, dass Daten der Steueradmi- kommen in Deutschland nicht zur Anwendung.25 nistration für eine verlässliche Quantifizierung der genannten Effekte essentiell sind; eine Quan- Die Verlässlichkeit der Prognosen hat in der Ver- tifizierung ist oftmals erst auf Basis solcher Daten gangenheit immer wieder Anlass zur Diskussion möglich. Sie bieten zudem, wie unten dargestellt, gegeben. 26 Die empirische Literatur hat insbeson- eine Reihe von Vorteilen gegenüber traditionell dere die Vorgabe der vom Arbeitskreis zugrunde genutzten Befragungsdaten. Im Folgenden wer- gelegten Regierungsprognose des gesamtwirt- den Nutzungsmöglichkeiten dieser Daten und schaftlichen Wachstums kritisiert und einen Bei- deren Wert für (Steuer-)Politik, (Steuer-)Verwal- trag der von politischer Seite vorgenommenen tung und akademische Forschung dargestellt. 22 Der Arbeitskreis beinhaltet nicht nur Vertreter von Bundesregierung, Landesregierung und der kommunalen Spitzenverbände sondern auch Vertreter der Bundesbank, der Forschungsinstitute, des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und des Statistischen Bundesamts. Die Beteiligung regierungsexterner Institutionen soll die Informationsbasis verbessern. Sie dient auch dazu, eine politische Beeinflussung 21 Zentrale Herausforderung bei der Identifikation von zu erschweren. Kausaleffekten (steuer-)politischer Interventionen ist es, die Wirkung der Gesetzesänderung von anderen Einflussgrößen 23 Bis 2019 erfolgt ein getrennter Ausweis für Alte und Neue zu trennen, die ebenfalls auf das beobachtete Verhalten Länder (ohne Berlin). von Wirtschaftssubjekten einwirken. Soll bspw. der Effekt 24 Das Bundesfinanzministerium hat zuletzt im Jahre 2006 im einer Einkommensteuererhöhung auf das Arbeitsangebot Rahmen eines Forschungsauftrags eine Evaluierung veranlasst bestimmt werden, besteht das Problem, dass Änderungen im (Büttner und Kauder, 2008). Arbeitsverhalten reforminduziert sein können, möglicherweise 25 Gerade bei komplizierten steuerlichen Sachverhalten bieten aber auch allgemeine Zeittrends wie konjunkturelle sich Methoden der Mikrosimulation an. So setzt das Office Schwankungen reflektieren. Aggregierte Informationen for Budget Responsibility, Mikrosimulationen für Prognosen auf Länderebene bieten, im Gegensatz zu Daten auf des Einkommensteueraufkommens und anderer Steuern ein, Individualebene, nur eingeschränkte Möglichkeiten in der vgl. Office for Budget Responsibility (2011). Zur Methodik der empirischen Analyse vergleichbare, von der Steuerreform Steuerschätzung im internationalen Vergleich siehe Buettner nicht betroffene Kontrolleinheiten zu identifizieren, die und Kauder (2010). geeignet sind, allgemeine Zeittrends zu absorbieren und damit den Kausaleffekt der Reform zu bestimmen. 26 Z. B. Bundesrechnungshof (2005). 6
Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer Zwecke der quantitativen Analyse Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik Prognosen auf die Schätzfehler nachgewie- Belastung mit persönlicher Einkommensteuer? sen.27 Seit 2018 erfolgt nun eine Überprüfung der Beschließen sie weniger in Bildung oder in ihre Wachstumsprognose durch die Gemeinschaftsdi- berufliche Produktivität zu investieren? Wenn agnose, 28 so dass eine Beeinflussung über diesen dem so ist, ergeben sich hierdurch Wohlfahrts- Kanal schwieriger geworden ist. kosten. Die ökonomische Literatur hat gezeigt, dass diese Wohlfahrtskosten unter bestimm- Die Schätzwerte für die Aufkommenseffekte der ten Voraussetzungen durch die Elastizität gemes- Steuerrechtsänderungen werden im Rahmen des sen werden können, mit der das zu versteuernde Gesetzgebungsverfahrens vom Finanzministe- Einkommen eines Steuerzahlers auf Steuersatz- rium bereitgestellt und ebenfalls vom Arbeitskreis änderungen reagiert (da schlussendlich alle Ver- übernommen. Eine Analyse zeigt, dass die Mehr- haltensreaktionen auf Steuersatzänderungen zu einnahmen durch Steuererhöhungen und Minder- Anpassungen des steuerpflichtigen Einkommens einnahmen durch Steuersenkungen regelmäßig führen). In der Literatur wird vor dem Hinter- betragsmäßig überschätzt werden. 29 Dieses Mus- grund der intensiven Befassung mit der Einkom- ter resultiert aus der Vernachlässigung von Ver- mensteuer von der „Elasticity of Taxable Income“ haltenseffekten der Steuerreformen in der quan- (ETI) gesprochen. Eine rationale Steuerpolitik titativen Folgenabschätzung.30 Eine systematische setzt daher die Kenntnis dieser Elastizität nicht ex-post Überprüfung der Schätzwerte erfolgt nur für eine fundierte Abschätzung der Aufkom- jedoch nicht. menseffekte, sondern auch für die Bewertung der Wohlfahrtseffekte voraus. 2.2.2 Quantifizierung der Effizienzkosten von Besteuerung Steuererklärungen bilden die ideale Grundlage, um die ETI zu quantifizieren. Erstens umfassen Bei der Ausgestaltung von Steuersystemen sind sie Informationen zum angegebenen steuerpflich- Fragen der Steuereffizienz von großer Bedeu- tigen Einkommen und damit exakt zu der Größe, tung. Es gilt zu quantifizieren, ob und in welchem die aus theoretischer Sicht von Interesse ist. Zwei- Ausmaß Besteuerung bei Individuen und Fir- tens existieren methodische Ansätze, die erlau- men Belastungen erzeugt, die über die Zahllast ben, auf Basis der Daten Kausaleffekte von Ände- der Steuer und mögliche Befolgungskosten hin- rungen im Einkommensteuersatz zu bestimmen. ausgehen. Wie stark reduzieren bspw. Individuen In der akademischen Literatur wird die ETI zum ihr Arbeitsangebot in Reaktion auf eine erhöhte einen über gesetzliche Steuersatzänderungen identifiziert. Hierbei wird die Entwicklung der 27 Vgl. Gebhardt (2001) und Büttner und Kauder (2015). steuerpflichtigen Einkommen von Individuen, die 28 Nachdem diese Praxis nicht im Einklang mit der von einer Steuersatzänderung betroffen sind, mit Two-Pack-Verordnung stand (Verordnung (EU) Nr. der von nicht betroffenen Individuen verglichen. 473/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates) hat die Bundesregierung per Verordnung (vgl. Letztere dienen als Kontrollgruppe und erlauben Vorausschätzungsverordnung – EgVV) festgelegt, dass es, allgemeine Zeittrends in der Einkommensent- eine gesonderte Bewertung dieser Prognose durch die wicklung zu berücksichtigen.31 Alternativ können Gemeinschaftsdiagnose erfolgt. Sprungstellen im Steuertarif, d.h. Änderungen der 29 Die Analyse von Büttner und Kauder (2015), ibid., zeigt unter anderem, dass der Vorhersagefehler regelmäßig höher marginalen oder durchschnittlichen Steuerbelas- ausfällt, je größer die dabei unterstellten prognostizierten tung an bestimmten Einkommensgrenzen, zur Aufkommenseffekte der Steuerrechtsänderungen sind. Das Ausmaß der geschätzten Verzerrung liegt dabei oberhalb empirischen Identifikation der ETI genutzt wer- von einem Viertel und unterhalb von einem Drittel – der den. Konkret ergeben sich durch die Sprungstellen Standardfehler des Schätzwertes liegt bei einem Achtel. 30 Zwar werden auch die gesamtwirtschaftlichen Rückwirkungen nicht berücksichtigt (vgl. Bundestagsdrucksache 13/5242, 31 Die Klassifizierung der Gruppen ergibt sich z. B. aus der Punkt 7). Der Vorhersagefehler für die gesamtwirtschaftliche Progression im Einkommensteuertarifs. Wird bspw. der Entwicklung ist indes bei Büttner und Kauder (2015) Spitzensteuersatz angehoben, sind nur Individuen mit berücksichtigt. Einkommen in der obersten Progressionszone betroffen. 7
Zwecke der quantitativen Analyse Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik lokale Unterschiede im Anreiz Einkommen zu Steuererklärungsdaten wichtige Vorteile gegen- erzielen und Aufwendungen abzusetzen. Über über Daten aus anderen Quellen, bspw. Bilanz- das resultierende „Bunching“ von Steuerzah- daten. So sind letztere häufig nur für große, an lern an den Sprungstellen kann die ETI bestimmt Börsen gelistete Unternehmen in systematischer werden.32 Weise verfügbar. Da sich steuerliche und bilanzi- elle Wertansätze zudem erheblich unterscheiden Administrative Steuerdaten bieten als Grund- können, stimmen handelsrechtliche Unterneh- lage für die Berechnung der ETI zentrale Vorteile mensergebnisse in der Regel nicht mit dem steu- gegenüber Befragungsdaten. Erstens bilden sie erpflichtigen Einkommen der Unternehmen über- die gesamte Population von Steuerzahlern ab und ein. Zuletzt muss bei Bilanzdaten auch häufig die umfassen nicht nur Stichproben. Zweitens sind Qualität der meist von privaten Datenanbietern Probleme wie ein systematisches Ausscheiden von bereitgestellten Informationen bemängelt wer- Individuen im Zeitablauf, systematische Nichtbe- den. Für eine exakte Quantifizierung der Effekte antwortung von Fragen oder Messfehler, wie sie der Gewinnverlagerung von Unternehmen auf in Befragungsdaten typischer Weise auftreten, bei das Steueraufkommen sind daher Daten der Steu- administrativen Steuerdaten nicht oder nur ein- erverwaltung heranzuziehen (siehe bspw. Bilicka geschränkt relevant (bspw. Card et al., 2011).33 Der 2019).36 große Datenumfang und die hohe Datenqualität erlauben zudem Kausaleffekte von Steuersatzän- Für Deutschland gibt es aufgrund der schwierigen derungen und anderen Politikreformen mit grö- Datenlage kaum Studien. Eine erste Untersuchung ßerer Zuverlässigkeit zu bestimmen. Empirische von Schellhorn (2005) nutzt Mikrodaten im Rah- Verfahren, die Sprungstellen im Steuertarif zur men des IAW-Einkommensteuerpanels. Dörren- Identifikation der ETI nutzen, sind darüber hin- berg et al. (2017) präsentieren eine Schätzung der aus praktisch nur auf Basis administrativer Steu- ETI für die Einkommensteuer anhand des Tax- erdaten nutzbar, da exakte Informationen zum payer Panels.37 Fossen und Steiner (2018) untersu- steuerpflichtigen Einkommen und viele Beobach- chen die Gewerbesteuer anhand von Mikrodaten, tungen an den Sprungstellen im Steuertarif vor- müssen sich aufgrund der Datenbeschränkungen liegen müssen, um das Verfahren zu nutzen. In allerdings auf die Querschnitte der Jahre 2001 und den vergangenen Jahren wurde die ETI auf Basis 2004 konzentrieren.38 administrativer Daten für verschiedene Länder bestimmt. Siehe beispielsweise Saez et al. (2012), 2.2.3 Heterogenität und Kanäle der Kleven (2016) und Neisser (2018) für Überblicksar- Steuerwirkungen tikel.34 Zudem finden sich in der neueren Literatur verschiedene Arbeiten, die Elastizitäten der steu- Effizienzwirkungen von Steuern hängen aller- erlichen Bemessungsgrundlage auch für andere dings nicht nur von der durchschnittlichen Steuerarten bestimmen. Devereux et al. (2014) Reaktion von Steuerzahlern auf Steuersatzän- und Lediga et al. (2019) nutzen bspw. Informatio- derungen ab. Auch Heterogenität im Anpas- nen aus Körperschaftsteuererklärungen, um die sungsverhalten ist von Bedeutung. Wenn bspw. Elastizität des steuerpflichtigen Unternehmen- Männer und Frauen, Hoch- und Niedriglohnver- seinkommens auf Tarifänderungen bei der Kör- diener oder Menschen in verschiedenen Regionen perschaftsteuer zu bestimmen.35 Auch hier haben 36 Bilicka (2019. 32 Siehe Glogowsky (2018) für eine Analyse von Bunching an 37 Konkret wird das sogenannte Taxpayer Panel verwendet, das Freibetragsgrenzen und Sprungstellen in der Erbschaftsteuer. eine 5 % Stichprobe der Grundgesamtheit der Steuerzahler umfasst (Dörrenberg et al. 2017). 33 Card et al. (2011). 38 Fossen und Steiner (2018) zeigen dabei insbesondere, dass 34 Kleven (2016), Saez et al. (2012), Neisser (2018). ohne den Bezug auf Mikrodaten wie etwa in Buettner (2003) 35 Devereux et al. (2014) und Lediga et al. (2019). Fehlschätzungen resultieren. 8
Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer Zwecke der quantitativen Analyse Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik unterschiedlich stark auf Änderungen im per- andere Steuerbemessungsgrundlagen müssen bei sönlichen Einkommensteuersatz reagieren, kön- der Bestimmung der Wohlfahrtskosten von Steu- nen hieraus Implikationen für eine zielgerichtete ern berücksichtigt werden. Empirische Analy- Ausgestaltung von Steuergesetzen abgeleitet wer- sen in diesem Bereich erfordern in der Regel Ver- den. Analoge Beispiele lassen sich für andere Steu- knüpfungen von steueradministrativen Daten mit erarten nennen. Wenn multinationale und natio- anderen Datenquellen. Im Kontext der persönli- nale Unternehmen oder kleine und große Firmen chen Einkommensteuer kann beispielsweise nur unterschiedlich stark auf Anpassungen des Kör- dann zwischen Einkommensreaktionen durch perschaftsteuersatzes reagieren, hat das ebenfalls Anpassungen im Arbeitsangebot und im Hinter- Folgen für optimale Steuerpolitik. ziehungsverhalten unterschieden werden, wenn Steuererklärungsdaten mit Ergebnissen von Analysen der Heterogenität setzen voraus, dass Steuerprüfungen und Arbeitszeitinformationen Informationen zu Charakteristika der Steuerzah- zusammengeführt werden. ler vorliegen. Das ist im Kontext von Steuererklä- rungen häufig nicht der Fall und erfordert, dass Die ökonomische Literatur hat verschiedene Steuererklärungsdaten mit anderen Datenquellen Ansätze entwickelt, die eine entsprechende zusammengeführt und für Forschungszwecke zur Abschätzung möglich machen (siehe bspw. Bilicka Verfügung gestellt werden. Während eine solche 2019).39 Im Kontext der Körperschaftsteuer kann Verknüpfung in vielen Ländern möglich ist (siehe eine Unterscheidung von Steuervermeidungs- bspw. Chetty et al., 2011, Kleven und Schultz, 2014, reaktionen und realen Anpassungen erfolgen, Harju und Matikka, 2016, Harju et al., 2019), ist das wenn steueradministrative Daten um Informati- Verbinden von amtlichen Mikrodaten auf Perso- onen zur Realaktivität von Firmen erweitert wer- nenebene in Deutschland verboten, es sei denn ein den. Eine Reihe jüngerer Studien nutzt verknüpfte Gesetz erlaubt die Verknüpfung ausdrücklich. Im Daten, um solche Anpassungskanäle zu identifi- Bereich der Personen- und Haushaltsdaten exis- zieren (siehe bspw. Studien von Kleven et al. (2011), tiert ein solches Gesetz nicht. Devereux et al. (2014), Asatryan und Peichl (2017), sowie Asatryan et al. (2019) für Dänemark, Groß- Zudem ist nicht nur von Interesse, wie stark die britannien, Armenien und Österreich).40 Chen et Anpassung des steuerpflichtigen Einkommens in al. (2018) untersuchen die Wirkungen des Körper- Reaktion auf Steuersatzänderungen ist, sondern schaftsteuersatzes auf F&E Investitionen mit ver- auch über welche Kanäle die Anpassung erfolgt. knüpften Mikrodaten für chinesische Firmen. Ob Individuen in Reaktion auf Einkommensteu- ersatzerhöhungen ihr Arbeitsangebot reduzie- Für Deutschland sind entsprechende Verknüpfun- ren, ins Ausland abwandern oder vermehrt Steu- gen und Analysen bislang nicht, bzw. nur einge- ern hinterziehen, ist oftmals entscheidend für schränkt möglich. Insbesondere die Verknüpfung die Bewertung der Steuerpolitik und hat zudem von personen- und firmenbezogenen Statistiken Implikationen für die Steuerverwaltung. Zudem scheitert entweder an den rechtlichen Hürden muss analysiert werden, ob eine Veränderung in oder am pauschalen Einwand des Datenschutzes, der Steuerbasis anderer Steuern induziert wird. Wenn selbstständige Individuen in Reaktion auf erhöhte persönliche Einkommensteuersätze bspw. 39 Bilicka, K. (2019), Comparing UK tax returns of foreign inkorporierte Unternehmen gründen, über die sie multinationals to matched domestic firms, American Economic Review, 2019, 109(8), 2921-53. einen Teil ihrer wirtschaftlichen Aktivität abwi- 40 Teilweise können Anhaltspunkte zu Anpassungskanälen auch ckeln, sinkt ihr steuerpflichtiges Einkommen bei direkt aus Informationen der Steuererklärung gewonnen der persönlichen Einkommensteuer, aber ihr steu- werden. Bachas und Soto (2018) zeigen bspw. auf Basis von Daten für Unternehmenssteuererklärungen in Costa Rica, erpflichtiges Einkommen bei der Körperschaft- dass Steuerzahler in Reaktion auf Steuersatzänderungen v.a. steuer steigt an. Entsprechende Externalitäten auf Änderungen bei steuerlichen Abzügen vornehmen und nicht im Bereich der gemeldeten Umsätze. 9
Zwecke der quantitativen Analyse Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik ohne dass Anonymisierungsstrategien geprüft die Mehrwertsteuerbelastung 1:1 weitergeben, würden. finden sich keine Anpassungen bei kleinen eigen- tümergeführten Restaurants. 2.2.4 Verteilungseffekte und Steuerinzidenz Auch zur Steuerinzidenz gibt es in Deutschland Zwar sind im Gesetzgebungsverfahren bei Steuer- wegen der Datenlage kaum aussagekräftige Stu- rechtsänderungen Aussagen zur Verteilungswir- dien. Dwenger et al. (2017) verknüpfen Daten zu kung nicht zwingend erforderlich, dennoch spie- Körperschaftsteuererklärungen in Deutschland – len sie im politischen Entscheidungsprozess eine über eine Aggregation auf Ebene von Wirtschafts- wichtige Rolle. Auch hier sind Mikrodaten der zweig und Region – mit Informationen zur Lohn- Steuerstatistik unverzichtbar, da sie viel genaue- höhe von Beschäftigten, und zeigen, dass die ren Aufschluss über die Verteilungswirkung von Unternehmenssteuerlast über niedrigere Löhne Steuern geben als andere Datenquellen. Sie erlau- teilweise an Beschäftigte weitergegeben wird. ben es bspw. im Kontext der Einkommensteuer Administrative Steuerdaten eröffnen damit auch abzuschätzen, wie Steuerlasten zwischen Steu- bei Fragen zur Steuerinzidenz Erkenntnismög- erzahlern verteilt sind und welche Effekte Ände- lichkeiten. In der Regel ist allerdings eine Ver- rungen steuerlicher Regeln auf die Belastungs- knüpfung mit anderen Datenquellen Vorausset- unterschiede zwischen den Steuerzahlern haben. zung für die Analyse. Selbige sollte auf Basis der Wier und Reynolds (2018) und Buyl und Rogge- Individualdaten und nicht auf aggregierter Ebene man (2019) zeigen bspw. anhand steueradminis- erfolgen (u.a. um verzerrte Schätzergebnisse auf- trativer Daten für Südafrika und Belgien, dass sich grund von Selektionseffekten zu vermeiden). die effektive Unternehmenssteuerlast von gro- Fuest et al. (2018) verknüpfen administrative Indi- ßen und kleinen Firmen systematisch unterschei- vidual- und Firmendaten der Bundesagentur für det. Eine ähnliche Thematik ist auch für die steu- Arbeit mit administrativen Gewerbesteuerhebe- erpolitische Debatte in Europa und in den OECD satzdaten auf Gemeindeebene um die Überwäl- Ländern bedeutsam, da multinationale Unterneh- zung der Gewerbesteuer auf Arbeitnehmerlöhne men aufgrund von Steuervermeidung oft weniger zu untersuchen. Wie Dwenger et al. (2017) fin- Steuern bezahlen als nationale Unternehmen.41 den sie Evidenz für eine Überwälzung auf Arbeit- Allgemein macht die für Verteilungsfragen wich- nehmerlöhne. Allerdings bleiben wichtige Fragen tige Betrachtung über längere Zeitperioden die offen, deren Beantwortung die Verknüpfung mit Verwendung sogenannter Paneldaten notwendig: Unternehmenssteuerdaten erfordern würde. Ins- sie ermöglichen es, die Belastung durch Steuern besondere können die Autoren nicht beantwor- über die Zeit zu beobachten. ten, welcher Anteil der Steuerlast auf die Anteils- eigner (Gewinne) und welcher an die Verbraucher Zudem können auf Basis administrativer Daten (über Preise) überwälzt wird. Fragen der Steuerinzidenz untersucht werden, d.h. es kann empirisch bestimmt werden, ob Zahl- 2.2.5 Ökonomische Effekte von last und Traglast von Steuern auseinanderfallen. Steuerabzügen Harju et al. (2018) nutzen u.a. Daten der adminis- trativen Steuerstatistik in Finnland und Schweden, Neben dem tariflichen Steuersatz ist die effek- um zu analysieren, ob Restaurants Mehrwertsteu- tive Steuerbelastung von Steuerzahlern auch eine erzahlungen über höhere Preise an ihre Kunden Funktion der steuerlichen Abzugsmöglichkeiten, weitergeben. Die Ergebnisse zeigen Heterogenität d.h. der Definition der Steuerbemessungsgrund- im Verhalten: Während große Restaurantketten lage. Bei der Gewährung von Abzugsmöglichkeiten stehen i.d.R. Überlegungen zur Steuergerechtig- keit und/oder zu Verhaltensanreizen im Vorder- 41 Finke (2014). grund. Hieraus ergeben sich aus steuerpolitischer 10
Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer Zwecke der quantitativen Analyse Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik Sicht zwei wichtige empirische Fragestellungen. mit den Bilanzdaten des Bureau von Dijk FAME Erstens, in welchem Maß profitieren Steuerzahler Datensatzes um die Wirkung von Abschreibungs- von gesetzlichen Steuerabzügen? Zweitens, indu- anreizen für Informations- und Kommunikati- zieren die Steuerabzüge die gewünschten Verhal- onstechnik auf die Beschäftigung je nach Art der tensreaktionen? In Bezug auf die erste Frage sind a Tätigkeit zu untersuchen. Maffini et al.(2019) nut- priori nicht intendierte Effekte in zwei Richtungen zen eine solche Verknüpfung mit britischen Steu- möglich. Auf der einen Seite ist denkbar, dass Steu- erdaten um die Stärke der Reaktion von Investiti- erzahler, denen gesetzlich ein Steuerabzug zusteht, onen auf bessere steuerliche Abschreibungen zu selbigen nicht nutzen, weil ihnen die notwendige bestimmen. Sie zeigen, dass steuerliche Abschrei- steuerrechtliche Information fehlt oder weil sie bungen im Hinblick auf die Investitionswirkun- vor Befolgungskosten (bspw. dem Sammeln von gen ähnlich stark wirken wie eine Senkung des Belegen) zurückschrecken. Auf der anderen Seite Steuersatzes. eröffnen Steuerabzüge ggf. aber auch Möglichkei- ten zur Steuerhinterziehung - d.h. Möglichkeiten 2.2.6 Steueraufkommenseffekte Steuerabzüge geltend zu machen, obwohl sie dem Steuerzahler gesetzlich nicht zustehen. Daten zu Bei der Bewertung von Steuerreformen sind Steuererklärungen erlauben, entsprechendes Ver- neben möglichen Effizienz- und Verteilungsim- halten von Steuerzahlern zu untersuchen. Gillitzer plikationen vor allem auch Effekte auf das Steu- und Skov (2018) finden bspw. für Dänemark, dass eraufkommen von Bedeutung. Auch hier kön- viele Steuerzahler Spendenabzugsmöglichkeiten nen steueradministrative Daten einen zentralen von der Steuerbasis nicht wahrnehmen. Es wird Beitrag zur Quantifizierung leisten. Aktuell ist gezeigt, dass aggregierte Spendenabzüge durch die es gängige Praxis, im Rahmen von politischen Einführungen von Meldepflichten für Drittpar- Debatten ebenso wie im Rahmen von Gesetzge- teien und eine elektronische Vorausfüllung der bungsverfahren, mögliche Aufkommenseffekte Spendenabzüge im Steuererklärungsformular sig- ausschließlich über Änderungen der Steuerpara- nifikant ansteigen. meter zu quantifizieren und von Verhaltensanpas- sungen der Wirtschaftssubjekte in Reaktion auf Auf Basis von Steuererklärungsdaten lassen sich Steueränderungen zu abstrahieren. Das Ausblen- zudem Anreizeffekte von Steuerabzügen unter- den von Verhaltensanpassungen führt hierbei zu suchen. Zwick und Mahon (2017) zeigen anhand systematischen Fehlern bei der Quantifizierung steueradministrativer Daten für die USA, dass Fir- der Aufkommenseffekte. Wird bspw. die Aufkom- meninvestitionen in relevantem Maß auf Ände- menswirkung einer möglichen Senkung des Kör- rungen in Abschreibungsregelungen reagieren, perschaftsteuersatzes quantifiziert, ohne dass die Reaktionen von kleinen Firmen aber signifi- positive Effekte der Reform auf Unternehmensin- kant stärker ausfallen als die von großen Unter- vestitionen und -profite berücksichtigt werden, nehmen. Ein anderes Beispiel sind Dechezlepretre kommt es zu einer Überschätzung der Aufkom- et al. (2016) und Guceri und Li (2019), die auf Basis menseffekte. Dies ist in Deutschland regelmäßig von Unternehmenssteuererklärungen in Groß- der Fall (siehe oben 2.2.1). britannien zeigen, wie steuerliche Sonderabzüge für Forschungs- und Entwicklungskosten die For- Aufkommenseffekte können dabei nicht nur schungs- und Entwicklungsaktivitäten von Unter- ex-post, sondern auch ex-ante bestimmt werden. nehmen beeinflussen. Für Hinweise auf konkrete Hierbei sind insbesondere Informationen aus Steu- realwirtschaftliche Sachverhalte werden dabei ererklärungen von großem Wert. Sie ermöglichen Verknüpfungen zwischen Steuerdaten und Bilanz- es, auf Basis von Zufallsstichproben Mikrosimu- daten von Unternehmen verwendet. Gaggl und lationsmodelle zu bauen, mit denen die Aufkom- Wright (2017) nutzen Verknüpfungen der Körper- menseffekte von Reformen oder Reformvorschlä- schaftsteuererklärungen britischer Unternehmen gen ex-ante quantifiziert werden können. Hierbei 11
Zwecke der quantitativen Analyse Notwendigkeit, Potenzial und Ansatzpunkte einer Verbesserung der Dateninfrastruktur für die Steuerpolitik werden in der empirischen Literatur identifizierte Slemrod und Weber, 2012). Dasselbe gilt auch für Verhaltensreaktionen auch in ihrer Heterogenität Schätzungen der Steuerlücke auf Basis von Mak- über Wirtschaftssubjekte hinweg berücksichtigt. roindikatoren, die in der Regel auf starken und schwer verifizierbaren Annahmen fußen (siehe Angesichts gravierender Unterschiede in den Steu- bspw. Fuest und Riedel, 2009). Verschiedene Länder ersystemen, in den gesetzlichen Rahmenbedin- unterhalten daher Programme, um Steuerlücken gungen und in den Wirtschaftsstrukturen können anhand steueradministrativer Daten zu quantifi- Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Literatur, zieren (siehe u.a. die USA, Schweden und Großbri- denen Daten anderer Länder zugrunde liegen, nur tannien). Die US-Steuerbehörde IRS wählt seit den Anhaltspunkte für Voraussagen liefern. Verläss- 1960iger Jahren zufällig eine große Zahl von Ein- liche Schätzungen für Deutschland erfordern die kommensteuererklärungen aus und unterzieht sie eingehende Analyse der Besteuerung in Deutsch- einer intensiven Steuerprüfung.42 Für jede Posi- land anhand aussagefähiger Mikrodaten der Steu- tion in der Steuererklärung wird die Angabe des erstatistik. Zwar lassen sich bestimmte Verhalten- Steuerpflichtigen mit der gemäß der Prüfung kor- seffekte auch anhand anderer für Deutschland rekten Angabe verglichen. Ausgehend davon wird verfügbarer Datensätze untersuchen. Beispiels- die aggregierte Steuerlücke und ihre Zusammen- weise kann der Effekt der Steuern auf die Erwerbs- setzung berechnet (Slemrod und Weber, 2012). beteiligung mit Daten der Sozialversicherung Auch wissenschaftliche Studien haben in den ver- untersucht werden. Allerdings sind Einkommens- gangenen Jahren über eine Analyse von steuerad- informationen in den Sozialversicherungsdaten ministrativen Daten Anhaltspunkte zu Ausmaß nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze verfüg- und Anatomie von Steuerhinterziehungs- und bar. Für die Abschätzung der resultierenden Auf- vermeidungsverhalten geliefert. Grubert und kommenseffekte sind außerdem zumeist nicht Slemrod (1998), Grubert (2003), Wier und Reynolds eine, sondern zahlreiche Verhaltenseffekte von (2018) analysieren bspw. auf Basis steueradminist- Bedeutung. Anhand von Steuerdaten kann eine rativer Daten in den USA und in Südafrika, in wel- umfassende Bewertung der Aufkommenseffekte chem Umfang und über welche Kanäle multinati- erfolgen. Nur Informationen aus den Steuererklä- onale Unternehmen Steuervermeidung betreiben. rungen erlauben Anpassungen der Steuerzahlun- Kreiner et al. (2014) und Alstadsaeter et al. (2019) gen auf individueller Ebene zu bestimmen und zeigen für Dänemark und Norwegen, dass Steu- eine aggregierte Schätzung der Aufkommensef- ervermeidung und Steuerhinterziehung am obe- fekte abzuleiten. ren Ende der Einkommensverteilung konzentriert ist. Paetzold und Winner (2016) und Frimmel et al. 2.2.7 Steuerlücke und Steueradministration (2018) zeigen auf Basis österreichischer Steuerda- ten, dass Steuerhinterziehung und Steuervermei- Daten der Steueradministration werden zudem dung teilweise über Netzwerkeffekte erklärt wer- genutzt, um Steuerlücken, d.h. die Differenz zwi- den können. Alstadsaeter et al. (2018) untersuchen schen der gesetzlich geschuldeten Steuer und der mögliche Zusammenhänge zwischen Steuerhin- tatsächlich gezahlten Steuer, zu quantifizieren terziehung und Steuervermeidung. und Determinanten von Steuerlücken zu bestim- men. Steuerhinterziehung und -vermeidung sind Aus Sicht von Steuerpolitik und Steuerbehörden ist grundsätzlich schwer messbare Phänomene, da es zudem von zentraler Bedeutung zu verstehen, die Steuerpflichtigen natürlich versuchen, die ent- wie steuerpolitische und steueradministrative sprechenden Aktivitäten vor der Öffentlichkeit bzw. den Finanzämtern zu verbergen. Der Infor- 42 Entscheidend ist hierbei, dass Steuererklärungen zufällig mationsgehalt von Befragungsdaten zu Hinter- für die Steuerprüfung (und nicht wie in der ‚normalen‘ Steuerprüfung risikobasiert) ausgewählt werden. Nur so kann ziehungs- und Vermeidungsaktivitäten wird in über die Prüfergebnisse eine Schätzung für die aggregierte der Forschung als gering angesehen (siehe bspw. Steuerlücke abgeleitet werden. 12
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