Nr. 109 Dezember 2022 - Januar - Februar 2023 - WINTERZEIT

Die Seite wird erstellt Dustin Schulze
 
WEITER LESEN
Nr. 109 Dezember 2022 - Januar - Februar 2023 - WINTERZEIT
MAGAZIN FÜR UNNA

           Dezember 2022 – Januar – Februar 2023
                                           Nr. 109

            WINTERZEIT
       AUSSERDEM IN DIESER AUSGABE:
    ROYALES • SATIRE: HUND, KATZE, ESEL
  GESCHICHTE DES RADIOS • O DU FRÖHLICHE
Nr. 109 Dezember 2022 - Januar - Februar 2023 - WINTERZEIT
Herbst-Blatt                        Nr. 109 12.2022                                               Editorial   2

Inhalt                                                       Eine schlaflose Nacht brachte mich zum
                                                             Schreiben dieser Zeilen:
 3      Begegnung mit Trollen und andere
        Ansichten                                            Liebe Leserin, lieber Leser
 4      Gurkensalat zur Weihnachten                          So heißt es in jeder neuen Ausgabe auf Seite
        Die Tiefkühlkost                                     2 im Editorial vom Herbst-Blatt. Hiermit
 5      Die Mistel                                           werden an erster Stelle die Damen schriftlich
 6      Das Ende einer Ära                                   angeredet.
 8      Bockwurst mit Brötchen für die Queen                 In einer gendergerechten Form der Anrede
 9      Hätten Sie es gewusst?                               liest man jetzt öfter in den Zeitungen und
        Natron statt Backpulver                              Zeitschriften, gelegentlich auch schon mal
10      Karl der Große und der Königshof                     im Herbst-Blatt: Liebe Leser*innen, ...
        in Unna                                              Die beiden Geschlechter werden lediglich
12      Wie kommt die Apfelsine auf den                      mit dem Colon „:“ verbunden. Jetzt stehen
        Weihnachtsteller?                                    plötzlich die Männer an erster Stelle der
14      Barry                                                schriftlichen Anrede. Wurden die Männer da-
15      Der Winter ist ein rechter Mann                      durch emanzipiert? Oder ist die neue schrift-
16      Ich heiße Langohr!                                   liche Anrede aus Sparsamkeitsgründen ent-
18      O du fröhliche, o du selige                          standen?, frage ich mich.
19      Geht doch … Hund und Katze                           Gegenüber der vorher üblichen Form der An-
19      Buch-Gutschein – frei nach Eugen Roth                rede fallen die Worte Lieber Leser weg. Bei
20      Herbrecht und die Wechselfälschungen                 der neuen Form kommen die Buchstaben
22      Wie geht‘s? Wie kommt‘s?                             *innen dazu. Also machen jetzt acht Buchsta-
        Erlebnisse mit einer Krücke                          ben einer gekürzten Anrede den Unterschied
23      Mit guten Sprüchen ins Neue Jahr                     aus. Sparsamkeit? Ja!
24      Die Anfänge, Radio zu hören                          Ein Rechenbeispiel: Die Zeitung „Die Welt“
Impressum                                                    druckt pro Tag 21.300 Exemplare. Wie viel
Herausgeberin:   Kreisstadt Unna
                                                             macht dann die Einsparung an Druckerfarbe
                 Hertinger Straße 12, 59423 Unna
Internet:        www.unna.de, Suchbegriff: herbstblatt
V.i.S.d.P:       Dr. Bärbel Beutner
Internet:        Marc Christopher Krug
Redaktion:       Andrea Irslinger, Bärbel Beutner,
                 Benigna Blaß, Brigitte Paschedag,
                 Franz Wiemann, Hans Borghoff,
                 Klaus W. Busse, Klaus Thorwarth,
                 Reinhild Giese
Seniorenarbeit Kreisstadt Unna:
                 Linda Brümmer
                 Tel.: 02303/103-687                         für einen Tag, eine Woche, und … und, und
                 Postanschrift: Rathausplatz 1, 59423 Unna
                                                             aus? Das kann nur ein Fachmann hochrech-
Titelfoto:       Franz Wiemann                               nen. Und das ist ein Beispiel von nur einer
Gestaltung:      Andrea Irslinger
                                                             (!) Zeitung.
Druck:           WIRmachenDRUCK GmbH, Backnang
Auflage:         1500                                        Liebe Frauen, wir Männer bleiben gerne an
                                                             zweiter Stelle.
                                                             Wir fangen euch gerne auf!
            Das nächste
             mit der Nr. 110 erscheint                       Im Namen der Redaktion
                                                             Hans Borghoff
                  im März 2023!
                                                             Foto: Andreas Hermsdorf/pixelio.de
Nr. 109 Dezember 2022 - Januar - Februar 2023 - WINTERZEIT
3   Unterwegs                                     Nr. 109 12.2022       Herbst-Blatt
          Begegnung mit Trollen und andere Ansichten
                                 - von Franz Wiemann -
Dass Reisen bildet, ist unbenommen richtig.      hat dann die ganze Stadtkulisse einschließ-
Eine elftägige Reise nach Oslo hat mich da-      lich Hafenanlagen vor sich liegen. Im Vor-
rin erneut bestätigt. Von Stadtansichten, über   feld Karten für eine Vorstellung zu erwerben
Museen und Architektur bis hin zur Gastro-       ist empfehlenswert. Für uns war die Auffüh-
nomie scheint sich in der Landeshauptstadt       rung des Klassikers Giselle ein einmaliges
ganz Norwegen zu spiegeln.                       Balletterlebnis: Uns bot sich eine einzige tan-
Da die Stadt am nördlichen Ufer eines Fjords     zende Feenwelt.
gelegen ist, sind Eindrücke der Schifffahrt      In der Innenstadt und noch weit darüber hin-
immer präsent. Ob nun Kreuzfahrtschiffe,         aus begegnet man auf Schritt und Tritt Bei-
zahlreiche Fähren, Frachtschiffe, Privatjach-    spielen von Kunst und Kultur. Egal ob in
ten bzw. Segelboote, immer ist auf dem Was-      Parks – hier nur als Beispiel der unbedingt zu
ser etwas los. So schnell langweilig wird ei-    empfehlende Vigelandspark –, ob vor öffent-
nem in dieser Stadt nicht. Zusätzlich hatten     lichen Verwaltungsgebäuden oder in Muse-
wir auch noch mit dem Wetter Glück. In der       en: Nie zuvor habe ich eine solche Fülle von
Regel ist noch Mitte September so hoch im        Skulpturen und Denkmälern verschiedenster
Norden Europas nicht unbedingt mit wär-          Kunstrichtungen gesehen.
menden Sonnenstrahlen zu rechnen.                Schon das rein äußerlich schlicht und klotzig
                                                 wirkende Osloer Rathaus, erbaut 1933, fängt
                                                 einen im Innern wie im äußeren Bereich mit
                                                 Darstellungen aus der nordischen Mytholo-
                                                 gie ein. Ob es sich um Sagengestalten han-
                                                 delt, wie zum Beispiel Sigurd und Guttorm,
                                                 oder Bildnisse von Göttergestalten. Odin als
                                                 der Oberste des Göttergeschlechts der Asen
                                                 und auch Freya, die Wanengöttin der Liebe
                                                 und der Ehe, sind allgegenwärtig. Selbst von
Wesentliche Schwerpunkte für uns waren die       Trollen, Riesen und Geistern, die vornehm-
vielen Museen, darunter besonders zu emp-        lich in Kinderbüchern Gestalt angenommen
fehlen das Munch Museum, das neu eröffne-        haben, wird man dort belehrt. Kaum ein Künst-
te Nationalmuseum sowie das etwas außer-         ler scheint sich der Vielschichtigkeit dieser lan-
halb gelegene Freilichtmuseum Folkemuseet.       destypischen Gestalten entziehen zu können.
Die hauptsächlichen Sehenswürdigkeiten sind      Ein wahres Kaleidoskop der norwegischen
fast alle fußläufig zu erreichen. Unbedingt zu   Landesgeschichte wiederum wird einem in
empfehlen ist auch das FRAM-Museum, das          der frei zugänglichen Bürgerhalle geboten.
dem Polarforscher und Erschließer der Nord-      Das geschieht mal in großflächigen, wand-
West Passage Fridjof Nansen (1861–1930)          füllenden Fresken, in Form von Holzschnitz-
gewidmet ist. Und gleich um die Ecke das         arbeiten, Darstellungen aus Keramik und
Kon Tiki-Museum. Das dichte Straßenbahn-         auch in Form von Skulpturen bzw. Wandre-
und Busliniennetz trägt einen überall hin, so-   liefs. Schließlich ist die prachtvoll ausgestal-
gar bis hinauf zum Holmenkollen mit seiner       tete Bürgerhalle alljährlich am 10. Dezember
spektakulären Skisprunganlage und der tollen     Ort der Verleihung des Friedensnobelpreises.
Aussicht über den Fjord.                         Eine wirklich sehenswerte Landeshauptstadt,
Ein spektakulärer Sonnenuntergang lässt sich     für die man sich unbedingt mehr Zeit neh-
auf dem Dach der vor sechs Jahren eröffne-       men sollte als nur ein paar Stunden während
ten neuen Oper erleben: Zu Fuß gelangt man       einer Kreuzfahrt.
auf einer riesigen Schräge oben hinauf und       Foto: Franz Wiemann
Nr. 109 Dezember 2022 - Januar - Februar 2023 - WINTERZEIT
Herbst-Blatt              Nr. 109 12.2022                                       Berühmte Frauen 4

                       Gurkensalat zu Weihnachten
                                    Die Tiefkühlkost
                               - von Brigitte Paschedag -
Es war in den ersten Nachkriegsjahren. Der       bereits nach zwei Jahren ab, aber die Univer-
Kaufmann um die Ecke – den gab es damals         sität verweigerte ihr den wissenschaftlichen
noch – nahm meine Mutter beiseite und flüs-      Grad, da sie eine Frau war. Trotzdem setzte
terte ihr geheimnisvoll zu, er habe zu Weih-     sie ihr Studium fort und tatsächlich erhielt
nachten etwas ganz Besonderes im Angebot:        sie schließlich den Doktorgrad. Sie ist wohl
gefrorenes Gemüse. Das müsse aber sofort         bis heute der einzige Mensch, dem der Ma-
bestellt werden.                                 gistergrad verweigert, aber der Doktorgrad
Meine Mutter sagte zu, und so konnte sie am      zuerkannt wurde.
Heiligen Abend das begehrte Gemüse, eine         Da auch die Arbeitgeber eine wissenschaft-
geschnittene Schlangengurke, abholen. Also       lich ausgebildete Frau als Kuriosum empfan-
gab es diesmal keinen Schweinebraten mit         den, gründete sie einen eigenen Betrieb, das
Rotkohl, sondern mit Gurken-                                   Philadelphia Clinical Laborato-
salat. Zu der Zeit wirklich et-                                ry. Sie befasste sich hauptsäch-
was Besonderes.                                                lich mit der Analyse von Bakte-
Die Tiefkühlkost ist heute nicht                               rien und forschte über verunrei-
mehr wegzudenken, zumal es                                     nigte Milch. Die von ihr gefor-
inzwischen in fast jedem Haus-                                 derten hygienischen Standards
halt einen Kühlschrank gibt, in                                wurden später in den gesamten
dessen Gefrierfach die gefrore-                                USA verbindlich.
ne Ware aufbewahrt werden                                      Harvey W. Wiley, ein alter
kann.                                                          Freund der Familie Pennington,
Bis es zu dieser Erfindung kam,                                suchte dringend jemanden, der
lief man immer Gefahr, sich an                                 eine neue Form der Nahrungs-
verdorbenen Lebensmitteln zu                                   mittelkonservierung untersuch-
infizieren, was nicht selten zum                               te. Mary erschien ihm als die
Tod, zumindest aber zu einer schweren Er-        geeignetste Person dafür, aber er wusste
krankung führte. Dieses Problem wurde be-        auch, dass man ihr, da sie eine Frau war,
sonders groß, als immer mehr Menschen            den Zugang zum Beamtentum verweigern
vom Land in die Stadt zogen und Lebensmit-       würde. Also unterschrieb sie ihr Gesuch mit
tel über größere Entfernung ohne Kühlung         „M.E. Pennington.“ Bis man herausfand,
transportiert werden mussten. Es musste also     dass man eine Frau berufen hatte, war sie
eine Lösung des Problems her.                    längst in ihrem Beruf etabliert.
Hier tat sich besonders Mary Engle Penning-      Mary Engle Pennington hat die Tiefkühlkost
ton hervor. Sie hatte eine theoretisch-          zwar nicht erfunden, aber sie hat den richti-
wissenschaftliche Ausbildung, wandte aber        gen Punkt bei der Temperatur gefunden, an
ihr Wissen schon bald in der Praxis an. Ihre     dem die Nahrungsmittel weder wegen zu
Entwürfe und Modelle sowie ihre Vorschläge       großer Wärme verschimmelten noch wegen
für Transport und Lagerung verderblicher         zu großer Kälte austrockneten. Ihre Neuerun-
Lebensmittel leiteten eine Veränderung unse-     gen im Bereich der Kühltechnik gewannen
rer Ernährungsweise ein.                         besonders im Ersten Weltkrieg an Bedeu-
Mary Engle Pennington wurde am 8. Okto-          tung. Deshalb wurde ihr von Präsident
ber 1872 in Nashville geboren. Ihre offenbar     Hoover eine Medaille für außerordentliche
fortschrittliche Quäkerfamilie erlaubte ihr zu   Verdienste verliehen.
studieren. Mary legte die Magisterprüfung        Foto: wikipedia.de
Nr. 109 Dezember 2022 - Januar - Februar 2023 - WINTERZEIT
5   Natur                                          Nr. 109 12.2022           Herbst-Blatt
                                        Die Mistel
                                    - von Benigna Blaß -

An einem sonnigen Spätherbsttag ging ich          die Samen nicht, sie werden ausgeschieden
durch Unna spazieren. Plötzlich fiel mein         und bleiben im Baum hängen.
Blick auf einen schon entlaubten Baum, an         Hat sich der Samen festgesetzt, bildet er im
dem ich viele runde Nester entdeckte. Ich         ersten Jahr nur Wurzeln. Vier Jahre lang ist
fragte mich, welche Vögel mögen diese gro-        das Wachstum gering, erst im fünften Jahr
ßen Nester gebaut haben. Doch beim näheren        blüht die Mistel zum ersten Mal. Sie kann
Hinsehen erkannte ich, dass diese Nester rund     einen Durchmesser von 1 Meter erreichen
und aus grünen Blättern bestehen, die auch        und bis zu 70 Jahre alt werden.
im Winter grün bleiben. Es sind die Misteln,      Da sie eine immergrüne Pflanze ist, und hoch
                                                  oben im Baum wächst, gibt es viele geheim-
                                                  nisvolle Geschichten.
                                                  Für Menschen früherer Zeiten war sie ein
                                                  Sinnbild der ersehnten ewiger Jugend. Bei
                                                  den Kelten, so wie bei Asterix und Obelix
                                                  schnitt der Druide die Zweige in einer Voll-
                                                  mondnacht mit einer goldenen Sichel ab, um
                                                  seinen Zaubertrank vorzubereiten, der Mut,
                                                  Kraft und Unbesiegbarkeit verleihen sollte.
                                                  Ein Mistelamulett war bei den Kelten sehr
                                                  beliebt, es schützte sie in allen Lebenslagen.
                                                  Auch in unserer Zeit ist die Mistel ein wichti-
                                                  ger Gesundheitsträger. Mistelblättertee wirkt
                                                  beruhigend, blutdrucksenkend und gegen Ge-
                                                  lenkerkrankungen. Zur Stärkung des Immun-
                                                  systems sind Mistelarzneien gefragt. Ein
die sich auf diesem Baum angesiedelt haben.       Weihnachtbrauch, der aus England und
Sie sind Halbschmarotzer, denn ihre Wurzeln       Nordamerika stammt, hat bei uns großen Zu-
saugen vom Wirtsbaum Mineralsalze und             spruch gefunden. Hängt man einen Mistel-
Wasser auf, doch sie bilden auch selbst Nähr-     zweig in den Tür-
stoffe und betreiben Photosynthese. Die Blätter   rahmen, so darf
nehmen Kohlenstoffdioxid aus der Luft auf         ein Mann, wenn
und wandeln es in Sauerstoff und Zucker um.       eine Frau darun-
Wie kommt diese Pflanze auf den Baum? Im          ter steht, sie ohne
Frühling, bevor der Baum Blätter bekommt          zu fragen, küs-
blüht die Mistel. Erst im Spätherbst und          sen.
Winter werden die 1 cm großen, runden             Auch auf vielen
weißlich-glasigen Früchte reif. Im Inneren        Weihnachtskarten
befindet sich nur ein Samenkörnchen in ei-        sind Mistelzwei-
nem zähen Schleim. Dieser wurde früher als        ge, meist mit ro-
Leim zum Vogelfang genutzt. Vielen Vö-            ten Schleifen, dargestellt. Man soll die Mis-
geln, besonders der Misteldrossel, dienen die     telzweige trocken in eine Vase stellen oder
Beeren im Winter als Nahrung. Manchmal            als Büschel dekorativ aufhängen.
bleibt der Schleim mit dem Samenkorn an           Schöne Weihnachten wünsche ich Ihnen und
ihrem Schnabel hängen, sie streifen diese an      einen dicken Kuss von Ihrem Liebsten.
einem anderen Ast ab. Der Magen verdaut           Fotos: Benigna Blass, Franz Wiemann
Nr. 109 Dezember 2022 - Januar - Februar 2023 - WINTERZEIT
Herbst-Blatt             Nr. 109 12.2022                                    Zeitgeschichte   6

                             Das Ende einer Ära
                                - von Bärbel Beutner-

„Eine Ära ist zu Ende gegangen!“ Auf al-      Schule im Kino gesehen hatte. Ich war mit
len Kanälen zeigte das Fernsehen die feier-   meinen Eltern und einer Freundin im Kino.
liche Beisetzung der britischen Königin       Als alberne Grundschülerinnen kicherten
Elisabeth II. am 19. September 2022.          wir über einige der historischen Kostüme.
Das Begräbnis war ein Jahrhundert-Ereig-      Der heutige König Charles III. konnte
nis, dem das 70jährige Thronjubiläum der      schon über die Brüstung der Empore gu-
Queen, ebenfalls ein Jahrhundert-Ereignis,    cken, wo er mit seiner Tante Margarete
im Juni 2022 vorangegangen war. Alle Er-      dem Jahrhundert-Ereignis beiwohnte. Seine
eignisse um „die Queen“ – sie ist längst      Schwester Anne versuchte nach einigen Trod-
nicht mehr nur „eine                                               deln zu grapschen.
Königin“ – haben                                                   Zehn Jahre nach unse-
Jahrhundert-Format:                                                rem Kino-Besuch fand
ihre glanzvolle Krö-                                               der erste Besuch der
nung 1952, ein glo-                                                Queen in Deutschland
bales Medien-Ereig-                                                statt. Im Mai 1965
nis, ihre Weltreisen,                                              besuchte Elisabeth II.
ihre lange Regie-                                                  die Bundesrepublik,
rungszeit, ihre Pflicht-                                           ein Versöhnungsakt
erfüllung bis zu ih-                                               nach dem Krieg, eine
rem Tod.                                                           Wiederaufnahme der
Unser Redaktions-                                                  Deutschen in die Völ-
mitglied Ingrid Faust                                              kergemeinschaft, ein
(†) schrieb im Herbst-                                             Jahrhundert-Ereignis –
Blatt Nr. 68 im Sep-                                               und Unna wurde da-
tember 2012 zum                                                    rin einbezogen.
60jährigen      Thron-                                             Daran erinnerten sich
jubiläum. Die Redak-                                               die Herbst-Blätter bei
tionsmitglieder wa-                                                dem 70jährigen Thron-
ren bei der Krönung                                                jubiläum Elisabeths
noch Kinder, Fernse-                                               II., und sie beschlos-
hen gab es nicht,                                                  sen nachzuforschen.
aber im Radio kamen                                                Das Redaktionsmit-
Nachrichten und am                                                 glied Hans Borghoff
Abend eine Anspra-                                                 konnte uns mit älte-
che der Gekrönten. „Die Stimme ist noch       ren Berichten des „Hellweger Anzeigers“
ganz klar!“, sagte meine Mutter damals mit    versorgen. Der königliche Sonderzug hielt
Bewunderung angesichts der Strapazen          eine Nacht im Bahnhof Lenningsen, und am
dieses Tages. Nach Jahrzehnten ließ die       20.05.1965 schrieb der HA über „Die rol-
Monarchin verlauten, dass die Fahrt in der    lende Residenz der Königin“. Kritiker der
goldenen Märchenkutsche eine recht unbe-      Monarchie dürften bei diesem Artikel Was-
queme Rumpeltour gewesen sein soll…           ser auf die Mühle bekommen. Die rollende
Unsere Ingrid Faust erinnerte sich an den     Residenz bestand aus 15 Waggons. Wagen
Krönungs-Film, den sie offenbar mit der       Nr. 8 enthielt das Appartement der Königin
Nr. 109 Dezember 2022 - Januar - Februar 2023 - WINTERZEIT
7   Zeitgeschichte                             Nr. 109 12.2022      Herbst-Blatt
mit Salon, Schlafraum, Bad und Abteile für    den Zug werfen und übergab einen Kasten
die Kammerzofen. „Die Möbel dieses Sa-        Lindenbier – außerhalb des Protokolls.
lon-Wagens sind champagnerfarben, Vor-        Das Herbst-Blatt hatte viel Material zusam-
hänge und Tapeten aus grauer französi-        mengetragen, aber da es nur vierteljährlich
scher Seide.“ Prinz Philip, die große Liebe   erscheint, wurde es von den Ereignissen
der Königin, bewohnte Wagen Nr. 9, Nr.        „eingeholt“. Am 8. September 2022 endete
10 war der Speisewagen und Nr. 14 „der        die Ära der „Jahrhundert-Queen“, und der
Kino- und Fernsehwagen“. Die Redakti-         HA erinnerte am 10. September 2022 an
onsmitglieder des HB, meist Kriegs- und       die Tage 1965, als in Unna große Historie
Nachkriegskinder, „stolperten“ über Wa-       stattfand. „Königin Elisabeth verbrachte
gen Nr. 7, die „Kleiderkammer“, wo auf        eine ruhige Nacht“ in Bönen-Lenningsen.
einer 12 Meter langen Stange Kleider und      Der Bericht von 1965 wurde unter dieser
Anzüge hingen ... Aber egal – für die Un-     Überschrift noch einmal eingefügt. Der
naer war es wie in einem                                        Kreis Unna habe „für er-
Märchen. Dass der Kö-                                           holsame Ruhe der hohen
nigszug über Massen und                                         Gäste gesorgt“. Und das
Königsborn fuhr, war ja                                         war damals eine gute Tat.
nur ein Teil der Sensation.                                     1965 hatte man schon
Ebenso sensationell: Unna                                       Fernsehen, und der Be-
brachte einen königlichen                                       such der Queen wurde
Hoflieferanten hervor.                                          laufend übertragen. „Es
Die Bäckerei Cramer be-                                         wird gequeent!“, hieß es,
fand sich 1965 in der                                           wenn alles vor dem Appa-
„Katharinenstraße“, die es                                      rat saß, um mitzubekom-
heute nicht mehr gibt. Da-                                      men, wie die Hofknickse
mals war es eine Laden-                                         ausfielen und welche Hüte
zeile. Das ganze Viertel                                        getragen wurden. Einmal
mit dem Kino „Tonhalle“,                                        war Elisabeth am Ende
mit der Gastwirtschaft                                          ihrer Kräfte. Nach einem
„Wittler“ an der Endstation der Straßen-      Opernbesuch wurden ihr die Künstler vor-
bahn von Dortmund, mit dem „Marien-           gestellt, aber sie konnte nur noch huldvoll
heim“ vor der Katharinenkirche – alles ist    mit dem Kopf nicken; Lächeln ging nicht
fort. Heute stehen dort das Rathaus, der      mehr. „Mein Gott, wie ist sie erledigt!“,
„Katharinen-Treff“ und der „Katharinen-       sagte meine Mutter voller Mitgefühl.
hof“. Die Bäckerei Cramer verkaufte Soft-     „Erledigt“ – das ist mehr als „erschöpft“.
eis, eine Besonderheit in der Eislandschaft   Im Ruhrpott sagt man: „Ich bin alle!“ Kein
Unnas damals mit den „Dolomiten“ an der       Wunder bei den Strapazen einer solchen
Bahnhofstraße und den Gebrüdern Jokisch       Reise.
weiter oben in der Stadt.                     Zwei Tage vor ihrem Tod arbeitete die
Nun bekam Bäckermeister Heinz Cramer          96jährige Monarchin noch – die Welt sah
1965 den Auftrag, für Ihre Majestät Früh-     es mit Bewunderung. Ihr Amt sei ein Kno-
stücksbrötchen zu backen. Der HA berich-      chenjob gewesen – sagte man offen. Aber
tete ausführlich über die Übergabe der 200    Unna hat ihr einst eine Erholungspause ge-
„Queens-Brötchen“, die fortan im Sorti-       schenkt.
ment der Bäckerei eine Starrolle innehat-
                                              Fotos: wikipedia.de
ten. Heinz Cramer konnte einen Blick in
Nr. 109 Dezember 2022 - Januar - Februar 2023 - WINTERZEIT
Herbst-Blatt            Nr. 109 12.2022                                          Lokales   8

             Bockwurst mit Brötchen für die Queen
                      Eine unvergessliche Begegnung
                     mit Königin Elisabeth von England
                        - Gastbeitrag von Jürgen Sprave -
Der Tod der englischen Königin Elisabeth     gerne begrüßt, aber diese ließ sich zum
am 8. September dieses Jahres gibt Anlass,   großen Bedauern nur kurz blicken. Doch
auf ein besonderes Ereignis in unserer Nä-   der Dorflehrer Otto Schröder gab so
he zurückzublicken.                          schnell nicht auf. Am frühen Morgen stellte
Im Mai 1965 weilte die Monarchin auf ei-     er sich mit seiner Schulklasse am Bahnhof
nem Staatsbesuch in Deutschland, in des-     auf und brachte der Königin mit dem Lied
sen Rahmen sie auch einer in Soest statio-   „Die Morgenfrühe ist unsere Zeit“ ein
                                                                Ständchen. Nach vier
                                                                Strophen riefen die Kin-
                                                                der: „Wir grüßen Ihre
                                                                Majestät, wir grüßen Ihre
                                                                Majestät!“ Zunächst ge-
                                                                schah nichts, doch dann,
                                                                so wird erzählt, sei ein
                                                                Begleiter der Queen aus-
                                                                gestiegen und habe den
                                                                Chor darauf hingewie-
                                                                sen, dass es richtig „Eure
                                                                Majestät“ heiße. Nach-
                                                                dem die Kinder ihren
                                                                Gruß noch einmal in
                                                                richtiger Form laut skan-
                                                                diert hätten, habe sich
                                                                Elisabeth an einem Fens-
                                                                ter des Zuges tatsächlich
                                                                sehen lassen und sogar
nierten britischen Truppeneinheit einen      gewunken. Auch wenn die Ortsbevöl-
Besuch abstatten wollte. Auf dem Weg         kerung die berühmte Reisende kaum
dorthin verbrachte sie die Nacht vom 25.     zu Gesicht be-
auf den 26. Mai in ihrem Sonderzug auf       kam, orderten ihre
einem Gleis des seit 1962 still gelegten     Bediensteten im
Bahnhofs Bönen-Lenningsen, der an der        Dorfgasthaus zum
Eisenbahnstrecke von Dortmund über Wel-      Abendessen Bock-
ver nach Soest lag. Das Bahnhofsgebäude      wurst mit Brötchen
besteht heute noch. Um 21.09 Uhr traf der    und zum Früh-
Zug samt ihrem illustren Fahrgast ein und    stück bei einem
am darauffolgenden Morgen um 9.35 Uhr        Bäcker in Unna
fuhr er Richtung Soest weiter. Das war na-   frische Brötchen,
türlich ein Riesenereignis für die Dorfbe-   die eigens für sie
wohner. Sie hätten die Königin mit aller     gebacken wurden.
Hochachtung und in aller Form liebend        Deshalb hing im
Nr. 109 Dezember 2022 - Januar - Februar 2023 - WINTERZEIT
9   Lokales                                       Nr. 109 12.2022          Herbst-Blatt
Schaufenster der Bäckerei noch eine Zeit         mit der Königin in Lenningsen, obwohl
lang das Schild mit der Aufschrift „König-       man dort längst weitere Vorkehrungen für
liche Hofbäckerei“.                              einen angemessenen Empfang getroffen
Fünfzig Jahre später, also 2015: Wieder          hatte. So hatte man an der Front des Bahn-
weilte Elisabeth auf einem Staatsbesuch in       hofgebäudes ein blau-weiß-rotes Banner
Deutschland. Zu dieser Zeit – es sind die        angebracht mit der Aufschrift: „50th visita-
Tage vom 22. bis zum 25. Mai – feierte der       tion aniversary of Her majesty Queen Eli-
Schützenverein Bramey-Lenningsen-Flie-           sabeth II. – 25.05.1965 The Queen was he-
rich das Schützenfest mit Königsschießen –       re. 25.05.2015 The Queen is back.“ Das
genau 50 Jahre nach dem Besuch der engli-        Bahnhofsschild „Bahnhof Lenningsen“ än-
schen Königin im Dorf. Also war der Tag          derte man in „Bahnhof Elisabeth-Ruh“.
eines Goldjubiläums gekommen. Ausge-             Außerdem legte man am Bahnhof einen
rechnet in diesen Tagen weilte die Queen         Rosengarten mit sog. „Elisabeth-Rosen“
erneut auf einem Staatsbesuch in Deutsch-        an. Schließlich plante man einen Hofball
land. So schickte der Schützenverein ein         mit eleganter Damenrobe „in Lang“ und
Einladungsschreiben an den Buckingham            das Tragen von Bärenfellmützen im Schüt-
Palace und an den damaligen Bundespräsi-         zenumzug durch das Dorf. Alles vergeb-
denten Joachim Gauck. Der Königshof              lich.
zeigte sich erfreut und geehrt, man bedank-      Dennoch: Der Besuch der Queen of England
te sich höflich und sagte eine wohlwollen-       ist bis heute in Lenningsen unvergessen.
de Prüfung der Einladung zu. Natürlich
                                                 Fotos: Franz Wiemann, Ulla Lönne-Wiemann
kam es nicht zu einer zweiten Begegnung

                            Hätten Sie es gewusst?
                           Natron statt Backpulver
                                   - von Benigna Blaß -

     Hätten Sie gewusst, dass man zum
     Backen statt Backpulver Natron neh-
     men kann?
     Es ist viel ergiebiger. Statt 2 Teelöffel
     Backpulver nur 1 Teelöffel Natron. Für
     die Weihnachtsbäckerei eignet es sich
     besonders.
     Nur eines muss man beachten: Etwas
     Säure soll dazugegeben werden: einen
     kleinen Schuss Zitronensaft.
     Foto: Benigna Blaß
Nr. 109 Dezember 2022 - Januar - Februar 2023 - WINTERZEIT
Herbst-Blatt             Nr. 109 12.2022                                       Geschichte   10

          Karl der Große und der Königshof in Unna
                               - von Klaus Thorwarth -

Schon vor 2000 Jahren existierte in unseren   tenhellweg – Ostenhellweg bis zum Masse-
Breiten ein langer Handelsweg vom Westen      ner Hellweg. Dann verlieren sich die Spuren
in den Osten, von Brügge bis nach Nov-        des Namens bis zur Wiederaufnahme am
gorod.                                        Uelzener Hellweg und weiter in östlicher
Ein nicht unbedeutender Teil dieser Strecke   Richtung. In Unna wurde er stattdessen zur
ist unser westfälischer Hellweg, ein heller   Hansastrasse und Victoriastrasse.
Weg, der durch lichtes Gelände und nicht      Ein Nachteil für Unna war, dass der Hell-
durch finsteren Urwald führte.                weg nicht durch die Ansiedlung verlief wie
Er wurde um 800 zur „Heerstrasse“ für die     in Soest und in Dortmund. So fehlten die
Truppen des Frankenkönigs Karl I. ausge-      wichtigen Wegezölle. Der ursprüngliche
baut, den man später „den Großen“ nannte.     Hellweg führte nördlich an Unna vorbei. Es
Dadurch sicherte sich der christliche König   gab aber von Massen her einen Zuweg bis
einen Anmarschweg in einem 30-jährigen        zu einem 6. Stadttor, dem Reckerdingstor,
Krieg gegen die heidnischen Sachsen. End-     das später verschwand.
punkt des Heerzuges war 772 die Eroberung     Die von dort zum Markt führende Straße
der Eresburg und die Zerstörung der Irmin-    hieß 421 Jahre lang, von 1526 bis 1947,
sul, eines Heiligtums der Sachsen.            „Königstrasse“. 14 Generationen hielten al-
Zwischen 775 und 804 führte der König         so die Erinnerung an den Frankenkönig
mindestens 11 Heerzüge über die Hellweg-         wach. Noch vor wenigen Jahren trafen
Strecke. Am Ende der Tagesmärsche                     sich die alten Anwohner stolz unter
wurde von den Franken alle 14 bis                        dem Titel W ir Königssträsser.
18 km eine Etappenstation ange-                            1949 mussten dann alle „belas-
legt, ein sogenannter „Königs-                             teten Namen“ auf Veranlas-
hof“, häufig auch „Pfalz“ ge-                              sung der Besatzungs-Behörden
nannt. Diese dienten dem sicheren                          geändert werden. Im Zuge der
Schutz und boten Unterbringung                            Entnazifizierung betraf das auch
und Verpflegung. In Unna gilt                              die Königstrasse.
dieser Bereich als Ort der ers-                             Östlich vom Unnaer Markt zo-
ten Ansiedlung.                                              gen die fränkischen Truppen
Ich empfehle gern unser                                        weiter an den sicheren,
Hellweg-Museum: Im Ein-                                         hoch gelegenen Platz über
gang ist die Marschroute                                         dem Wasser des Borne-
mit den Etappen-Orten                                             kamp-Baches. Dort er-
anschaulich dargestellt                                           richteten sie ihren „Kö-
und kommentiert: von                                               nigshof“. Das Gelände
Duisburg am Rhein                                                  heißt heute „Krumm-
über Essen – Bochum                                                fuß“. Hier befindet sich
– Dortmund – Unna –                                                 ein Modell der Stadt
Werl – Erwitte – Ge-                                                um 1860, gestiftet von
seke – bis Paderborn.                                               den Rotariern. In der
Die Straßenbezeich-                                                Nähe entstand vermut-
nung Hellweg ist uns                                               lich auch eine erste pri-
nicht nur aus Dort-                                                mitive Kirche, um diese
mund bekannt: Wes-                                                herum für 1000 Jahre
11 Geschichte                                    Nr. 109 12.2022             Herbst-Blatt
der Friedhof der Unna-
er Bürger.
Leider hat man bei
späteren Baumaßnah-
men nie kritisch nach
Spuren im Boden ge-
sucht. Schade! Vom
„Königshof“ zogen die
fränkischen Truppen
weiter in nordöstlicher
Richtung zum eigentli-
chen Hellweg. Diese
Zuwegung hieß seit
1878 Hellwegstraße,
seit 1908 Hellweg, da
sie zum eigentlichen
Hellweg führte.
Heute kann man etwa 40 Namen finden, die        Seit vielen, vielen Jahren
mit dem Hellweg zu tun haben. Ein Beispiel      ist Unna wohlbekannt,
ist der „Hellweger Anzeiger“. Ein Vergleich     weil Unna nah am Haarstrang
zeigt, dass in Unna der Name so häufig ver-     und fast am Hellweg stand,
wendet wird wie in keiner anderen Ort-          Ja, schon zu ew‘gen Zeiten,
schaft am Hellweg! Zum Schluss eine Stro-       zieh‘n Händler durch das Land
phe aus dem Lied vom „Unnaer Wind“. Es          und mancher Kaiser auch schon
ist das beliebteste Lied bei den kleinen Kon-   diesen Weg noch fand.
zerten der Volksmusikanten des SGV und
                                                Foto: Klaus Thorwarth; Karte: Westfälische Salzroute
Heimatvereins.                                  Hellweg, Helmut Papenberg

                                                Und hier für Geschichts-Interessierte ein viel-
                                                leicht wichtiger Hinweis: Das städtische Mu-
                                                seum in Obermarsberg zeigt noch bis zum
                                                18. Dezember 2022 eine Ausstellung über
                                                Karl den Großen und seinen Feldzug gegen
                                                die heidnischen Sachsen. Es wird dort die
                                                Einnahme der Eresburg und die damit einher-
                                                gehende Zerstörung der Irminsul, ein wich-
                                                tiges heidnisches Symbol der Sachsen, the-
                                                matisiert. Man braucht nur die Website
                                                www.Museum-der-Stadt-Marsberg.de anzu-
                                                klicken, und viel Wissenswertes dürfte dort
                                                auch noch nach Schließung der Ausstellung
                                                nachzulesen sein.
Herbst-Blatt              Nr. 109 12.2022                                           Historie   12

                          Wie kommt die Apfelsine
                         auf den Weihnachtsteller?
                                 - von Franz Wiemann -
Es weihnachtet sehr in unseren Breiten. Viel-    rie als sehr hilfreich. Großen Schautafeln
leicht erscheint uns die Stimmung in diesem      konnte man vor Ort entnehmen, dass mit Be-
Jahr ein wenig getrübt. Es sind nicht allein     ginn der Barockzeit ein neuer baulicher Mo-
die Zwänge zur Energieeinsparung, die bei        detrend entstanden war. Die Bauherren neu-
uns die sonst üppig erstrahlenden Lichterket-    er Schlösser, in der Mehrheit Landesfürsten
ten etwas verblassen lassen. Auch werden die     und reiche Adelsfamilien, legten großen
Wunschlisten der Kinder nicht ganz so reich-     Wert darauf, ihrem Besitz eine Orangerie
lich ausfallen, denke ich mir.                   hinzufügen zu können. Schließlich konnte
Wie haben es da, so frage ich mich aber, in      man mit solch einem Gebäude ganz gehörig
den 50er und 60er Jahren meine Eltern im-        sein Prestige aufpolieren.
mer wieder geschafft, unsere Weihnachts-         Orangerien wurden zu attraktiven Orten der
wünsche zu erfüllen? Eigentlich gab es ja        Begegnung und des Gedankenaustausches
herzlich wenig: Es mangelte an Allem. Und        unter Gleichgesinnten. Dort ließ sich vor-
doch erinnere ich mich daran, dass meine         trefflich philosophieren über die Auswirkun-
Mutter Wert darauf legte, jedem der sechs        gen der Renaissance und damit über das
Kinder zusätzlich zu der Handvoll Süßigkei-      Wiederaufleben antiker Vorstellungen vom
ten noch eine Apfelsine auf den Weihnachts-      „ewigen Leben“. Die Rückerinnerung an das
teller zu legen. „Ihr braucht die Vitamine,      sogenannte „Goldene Zeitalter“ in der Anti-
Kinder“, teilte sie uns ganz lapidar mit.        ke kam einer Verinnerlichung paradiesischer
Dass A scorbinsäure – bei uns eher als Vita-     Zustände gleich. Und immer eng verbunden
min C bekannt – dem Körper guttut, weiß
inzwischen wohl jedes Kind. Sie beugt Er-
kältungen vor. Allen Zitrusfrüchten ist zu
eigen, dass die hoch konzentrierte Säure den
Stoffwechselprozess in unserem Körper we-
sentlich mit reguliert, weiß die Wissenschaft.
Den Konsumenten war die so positive Wir-
kung bei ihrem Verzehr ursprünglich wohl
gar nicht so bewusst. Dass die klimatischen
Bedingungen ihr Wachstum in unseren Brei-
tengraden gar nicht erst zulassen, verzögerte
diese Erkenntnis ganz erheblich.
Welchem Umstand aber ist es zu verdanken,
dass die einmal als „China-Apfel“ bekannt
gewordene Frucht, auf holländisch Sinaasap-
pel, bei uns später dann doch ihren Sieges-
zug antreten konnte?
Aufschlussreich in dieser Hinsicht war eine
Reise nach Sachsen-Anhalt. Die sehr sehens-
werten Parkanlagen von Wörlitz, genauer
bekannt als „Gartenreich Dessau-Wörlitz“,
waren eins unserer Ziele. Dabei erwies sich
für mich die Besichtigung des Schlosses von
Oranienbaum mit der dazugehörigen Orange-
13   Historie                                    Nr. 109 12.2022            Herbst-Blatt
damit war die Zitrusfrucht. Man bezeichnete     ren Zitrone erkannt. Sie benutzten sie als
sie auch als „Goldener Apfel“.                  Aphrodisiakum, aber auch als Heilmittel.
Orangerien standen im 17. und 18. Jahrhun-      Und später in der Antike hatte die Zitrus-
dert vornehmlich als Synonym für die            frucht bei den Griechen und Römern große
„Sammlung von exotischen, nicht winterfes-      Symbolkraft. Fanden doch ihre Essenzen und
ten Gewächsen“, so bei Wikipedia nachzule-      Aromen Eingang in zahlreiche Kochrezepte,
sen. Als eine Art Vorläufer unserer heutigen    in Tinkturen und Gesundheitscremes.
Gewächshäuser dienten sie der Aufbewah-         Das änderte sich erst in der Zeit der Renais-
rung diverser exotischer Bäume und Früchte.     sance. Mit dem Bekanntwerden auch der
Zum Schutz vor winterlicher Kälte fand dort,    süßlich schmeckenden Frucht, der ‚Citrus
von der Ananas bis zur Zitrusfrucht, alles      cinensis‘, durch Importe arabischer Kaufleu-
seinen Platz. Ab dem 18. Jahrhundert wurde      te nach Sizilien – das war im Jahr 1450 – war
es üblich, diesen Begriff auch auf Gebäude      auch im Norden eine neue Begehrlichkeit
zu übertragen, in denen fürstliche Samm-        entstanden. Ihren wahren Siegeszug trat die
lungen untergebracht waren. Ein Besuch          Apfelsine, der „China-Apfel“, allerdings erst
des Wasserschlosses Nordkirchen, auch als       Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts an mit
„Versailles von Westfalen“ bekannt, kann        dem gestiegenen Welthandel, dem so ge-
einen schnell darin bestätigen.                 nannten Kolonialwarenhandel.
Doch zurück zur Entstehungsgeschichte des       Es waren vor allen Dingen holländische
Ortes Oranienbaum.                              Kaufleute, die sie neben Kaffee, Kakao und
Zunächst war dies nur einer Heirat zu ver-      Tabak vermehrt über die Seehäfen Antwer-
danken. Im Zuge seiner Vermählung mit der       pen, Rotterdam und Hamburg einführten.
holländische Prinzessin Henriette Catharina     Der Mythos vom späteren „Weihnachts-
von Oranien (1637–1708) vermachte Fürst         apfel“ war geboren.
Johann Georg II. von Anhalt-Dessau im Jahr      Als die ersten Sendungen von Orangen im
1659 den Ort Nischwitz seiner Angetrauten       Jahr 1856 im Hamburger Hafen eintrafen,
zum Hochzeitsgeschenk. Der Ort musste           hätten sie zunächst noch wenig appetitlich
weichen, die ortsansässigen Leibeigenen,        ausgesehen. So wusste die Zeitung „Die
überwiegend Landarbeiter und kleine Hand-       Welt“ in ihrer Weihnachtsausgabe vom
werker, wurden zwangsweise umgesiedelt.         23.12.2009 zu berichten. Erst den für Über-
Auf fürstlichem Grund entstand somit Platz      seetransporte entwickelten Apfelsinenkisten
für eine neue Kleinstadt samt Schloss und       sei es zu verdanken gewesen, dass sich das
Orangerie. Letztere galt für viele Jahre als    besserte. Zusätzlich noch in hübschem Papier
die größte und modernste ihrer Art in Mittel-   eingewickelt, waren sie jetzt besser geschützt
europa. Das zog viele fürstliche Besucher an.   vor Kontamination und Schimmelbildung. In
Bemerkt sei noch, dass in dem Ortsnamen         den Jahren 1898 und 1899 hat sich ihr Im-
von Oranienbaum der niederländische Be-         portanteil in Deutschland mehr als verdop-
griff Oranien einbezogen ist. Er drückt den     pelt. Die ersten Früchte verzierten zur Jahr-
Bezug zur hessischen Linie des holländi-        hundertwende unsere Gabentische. Inzwi-
schen Königshauses Nassau-Oranien aus.          schen war Sizilien, das Land „… wo die Zit-
Kurzum: Der Name schien Programm zu             ronen blüh‘n“, zu einem beliebten Reiseland
sein. Denn schon bald setzte vor Ort, ange-     geworden.
regt von der holländischen Prinzessin, die      Von all dem hat der kleine Junge nichts ge-
Züchtung und Kultivierung von Zitrusfrüch-      wusst. Aber er weiß heute noch, wie gut die
ten ein. Bis dahin war in Europa allerdings     Apfelsine vom Weihnachtsteller geschmeckt
nur die herb schmeckende Zitrusfrucht           hat.
‚Citrus auratium‘ verbreitet. Schon die ägyp-
                                                Foto: knipseline/pixelio.de, Franz Wiemann
tischen Pharaonen hätten den Wert der bitte-
Herbst-Blatt             Nr. 109 12.2022                                         Familie   14

                                           Barry
                                   - von Anne Nühm -

Nach mehreren Jahren der russischen           ihm, Barry zu greifen und an das sichere
Kriegsgefangenschaft war es endlich so-       Ufer zu holen.
weit. Er hatte überlebt und konnte in die     Mit diesem Erlebnis war der Bann gebro-
Heimat zurück. Die Eltern hatten ihn zwar     chen. Zwischen Mensch und Tier entstand
im Krankenhaus besucht und ihren eigenen      eine tiefe Verbundenheit.
Sohn fast nicht wiedererkannt. So sehr hat-   Der Arbeitsmarkt in Norddeutschland war
te ihn die Zeit im Lager gezeichnet. Aber     zur damaligen Zeit überlaufen. Um eine
jetzt war er wieder stabil und konnte nach    Familie zu gründen, war der ehemalige
Hause.                                        Soldat gezwungen, über die Landesgrenzen
In der Pulverstraße im Vorort von Ham-        hinaus Arbeit zu suchen. Das brachte ihn
burg wusste niemand von seiner Entlassung     und seine Frau nach Dortmund. Für Barry
aus der Klinik. Dort hatte
sich einiges geändert. Zum
Beispiel hatte der Vater ei-
nen neuen Wachhund ge-
kauft. Er lag auf der Straße
und nahm seine Aufgabe
sehr ernst. Den Sohn kannte
er nicht und schätzte ihn als
Fremdling ein. Dementspre-
chend wurde er angeknurrt
und verbellt. Darauf wurde
die Familie aufmerksam und
konnte den Sohn endlich in
die Arme schließen. Barry,
der Schäferhund, hatte das
bisher unbekannte Familien-
mitglied von da an zu ak-
zeptieren. Mit der Zeit ließ
er es zu und konnte zumin-
dest Gassi geführt werden.
An einem kalten Wintertag entschied sich      gab es dort aber keine Zukunft. So wurden
der Sohn, die Runde an der Elbe entlang zu    die beiden Freunde getrennt. Den damit
gehen. Am Rand des Flusses hatte sich eine    verbundenen Trennungsschmerz hat Barry
Eisschicht gebildet, die von Barry unter-     nicht verkraftet und ist vor Sehnsucht nach
schätzt wurde. Er sprang darauf, brach ein    kurzer Zeit verstorben. Im Ruhrgebiet hat
und geriet unter die Eisschicht. Sein neues   der junge Mann eine Familie gegründet,
Herrchen erkannte sofort die Situation und    Arbeit und eine neue Existenz gefunden,
wusste, dass das Tier Hilfe brauchte. Des-    darüber hinaus aber nie wieder einen so tie-
halb zog er die Schuhe aus, bat seine         rischen Freund wie Barry.
Freundin, die er im Krankenhaus kennen-
                                              Foto: Dirk Müller/pixelio.de
gelernt hatte, seine Beine zu fassen. Er
kroch unter die Eisfläche. So gelang es
15   Literatur                                    Nr. 109 12.2022             Herbst-Blatt

                      Der Winter ist ein rechter Mann
                            - eingeleitet von Franz Wiemann -

     Passend zum bevorstehenden Kälteein-        hundert an, wie zum Beispiel „Der Win-
     bruch wollen wir Ihnen dieses Winterge-     ter ist ein scharfer Gast“. In ironischer
     dicht in Erinnerung rufen. Es geht zu-      Form wird hier der Winter personifiziert.
     rück auf Matthias Claudius, der es im       Wir sind allenfalls stille Beobachter,
     Jahr 1782 unter dem Titel „Hinter dem       wohlwissend, dass der Frühling ganz be-
     Ofen zu singen“ veröffentlicht hat. Clau-   stimmt zurückkehren wird.
     dius knüpft mit diesem Gedicht an be-       Alle acht Strophen drucken wir Ihnen ab:
     kannte Winterlieder aus dem 16. Jahr-       Die Ironie spüren Sie als Leser selbst.

     Der Winter ist ein rechter Mann,            Sein Schloss von Eis liegt ganz hinaus
     kernfest und auf die Dauer.                 beim Nordpol an dem Strande;
     Sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an,       doch hat er auch ein Sommerhaus
     und scheut nicht süß und sauer.             im lieben Schweizerlande.
     War je ein Mann gesund, ist er‘s;           Da ist er denn bald dort, bald hier,
     er krankt und kränkelt nimmer,              gut‘ Regiment zu führen.
     weiß nichts von Nachtschweiß noch Vapeurs   Und wenn er durchzieht, stehen wir
     und schläft im kalten Zimmer.               und seh‘n ihn an … und frieren.
     Er zieht sein Hemd im Freien an,            Matthias Claudius
     und läßt‘s vorher nicht wärmen;
     und spottet über Fluß im Zahn
     und Kolik in Gedärmen.

     Aus Blumen und aus Vogelsang
     weiß er sich nichts zu machen;
     hasst warmen Drang und warmen Klang
     und alle warmen Sachen.

     Doch wenn die Füchse bellen sehr,
     wenn‘s Holz im Ofen knittert,
     und um den Ofen Knecht und Herr
     die Hände reibt und zittert,

     Wenn Stein und Bein vor Frost zerbricht
     und Teich und Seen krachen:
     Das klingt ihm gut, das hasst er nicht,
     dann will er tot sich lachen.

                                                 Foto: Daniela, Debra Ernst/pixelio.de
Herbst-Blatt              Nr. 109 12.2022                                        Erzählung   16

                            „Ich heiße Langohr!“
                         - Gastbeitrag von Erhard Kayser -
„Ich muss schnell einen Esel haben!“ Jo-        diesem Weg einfach einsam, weil ich nie-
scheew schien sehr nervös zu sein. Er hatte     manden habe, der sich mit mir unterhält.
seine Geldbörse in der Hand. „Du weißt ja,      Dies ist eine sehr langweilige Reise!“
es ist wegen Herodes!“ Als er das sagte,        Gott hörte natürlich ihr Klagen, und er gab
blickte er sich mehrmals um, um sicher zu       dem Esel sofort eine Stimme. Als besonders
gehen, dass niemand ihn gehört hatte.           weises Tier fing der Esel zu sprechen an,
Nathan sagte: „Ich habe nur einen sehr alten    indem er das Nächstliegende sofort sagte.
Esel. Aber er ist durch viele seiner Reisen     Dann aber leitete er schnell auf das Wichtige
sehr weise geworden, kennt viele Wege und       über. Er sprach über die lange Reise, die
wird deine Frau und das kleine Kind gut tra-    weiter zu schaffenden Kilometer und das an-
gen können.“ „Auch einen langen und müh-        gestrebte Ziel.
samen Weg?“, fragte Joscheew. „Was nützt        Er sagte: „Mein Name ist ‚Langohr‘. Ich
mir ein weises Tier? Es kommt nur darauf        trage das Jesus-Kind und seine Mutter Mir-
an, dass es unterwegs nicht müde wird und       jam nach Ägypten. Den Weg kenne ich
seine Last erst dann ablegt, wenn es Abend      schon, in den Vorjahren war ich schon ein-
wird und wir rasten wollen.“                    mal hier. Wir haben jetzt den Sinai hinter
Ohne weiteres Handeln zahlte Joscheew den       uns und kommen zur heiligen Stadt On. Sie
Preis für den Esel. Es war einfach keine Zeit   heißt auch Heliopolis, weil hier der Tempel
mehr zu verlieren. – Der Käufer hatte eine      für den mächtigen Sonnengott Re steht!“
solche Eile, dass Nathan ihm
nicht einmal den Namen des
Grautieres mitteilen konnte!
Joscheew zog also los, und es
dauerte viele, viele Wochen, bis
sie endlich ihr Ziel, das Ufer
des Nils, erreicht hatten. Vorne
ging Joscheew mit dem Wan-
derstab, der Provianttasche und
dem Wasserschlauch. Den Esel
führte er an der Leine hinter sich
her. Tagsüber wanderten sie,
und in der Nacht versuchten sie,
unter dem gewölbten Sternen-
himmel zu schlafen. An einem
Morgen sagte Mirjam: „Unser
Esel hat keinen Namen. Ich wer-
de ihn ,Langohr‘ nennen!“
Als sie das Sinai-Gebirge er-
reicht hatten, wurde Mirjam
missmutig. Sie sagte zu Jo-
scheew: „Du bist ja ein Mann,
der sehr wenig redet. Unser
Kind kann noch nicht richtig
sprechen. Ich fühle mich auf
17   Erzählung                                    Nr. 109 12.2022       Herbst-Blatt
Als sie unter Führung des Esels nach On          und Schein gewesen, und das Jesus-Kind
kamen, verhüllte sich die Sonne vor Scham,       hatte diese Macht entlarvt.
weil sie jetzt, wo Jesus da war, einer stärke-   Der weitere Weg der kleinen Gruppe führte
ren Macht begegnete. Als sie das endlich         zur römischen Festung „Babylon“ am Ufer
anerkannt hatte, bemühte sie sich, den Weg       des Nils. Hier lebten die Legionäre aus
der Wanderer gut zu bescheinen.                  Rom, der größten Stadt der Welt. Sie lebten
Nachdem sie On hinter sich gelassen hatten,      direkt in der Festung. Joscheew bekam bei
meldete sich der weise Esel wieder zu Wort:      den Römern sofort eine Anstellung. Er war
„Ich war schon einmal als Tourist hier. Des-     nämlich von Beruf Zimmermann und konn-
wegen gebe ich einen guten Rat: „Besucht         te für die Römer Türen und Fenster zim-
auch die Pyramiden hier in der Nähe. Sie         mern, damit sie es in der Festung gemütli-
sind nur etwa 30 Kilometer entfernt. Sie         cher hatten.
                                                          Als Arbeiter war er sehr beliebt. Er
                                                          sprach nicht viel, aber er war im-
                                                          mer pünktlich und fleißig, und die
                                                          römischen Befehlshaber konnten
                                                          sich auf ihn verlassen.
                                                          Im Lauf der Zeit – aus dem Wi-
                                                          ckelkind Jesus war inzwischen ein
                                                          Kind von sechs Jahren geworden –
                                                          machte Jesus sich neue Freunde. Er
                                                          besorgte sich einen riesigen Strauß
                                                          roter Rosen, die an bestimmter
                                                          Stelle am Nil wuchsen, und über-
                                                          reichte sie einzeln den Frauen der
                                                          römischen Soldaten. Sie staunten
zeugen von der Macht der Pharaonen und           nicht schlecht und freuten sich sehr. Was sie
von der Macht der alles bescheinenden Son-       aber nicht wussten war: Jesus wollte mit
ne. Sie sind so gebaut, dass ein weißer          diesen Blumen sagen: Wer eine Blume hält,
Kalksteinmantel sie einhüllt, von der Spitze     der kann keine Waffe halten. Gott, der die
bis zur Basis. Der Mantel wurde angelegt,        Blumen wachsen lässt, ist gegen Krieg und
damit die Macht, die von dem Gebäude aus-        Vernichtung auf allen Seiten.
geht, weit und hell in das Land hinein strah-    Dann kam der Tag, als die kleine Reise-
len kann.“                                       gruppe wieder den Heimweg ins Land Pa-
Kurze Zeit später kamen sie tatsächlich zu       lästina und nach Nazareth nahm. Wie ge-
den Pyramiden. Wie der weise Esel erklärt        wohnt, führte sie der weise Esel. Er sagte:
hatte, die Pyramiden standen hell glänzend       „Jesus ist hier im Land Ägypten außeror-
im Sonnenlicht. Da erhob sich wunderbarer-       dentlich beliebt. Seine Blumen haben je-
weise das Jesuskind auf seinem Esel und          dem, der sie bekam, eine große Freude ge-
ließ sich an die Pyramiden heranführen. Es       macht. Ich vermute, dass hier eines Tages –
streckte nur seinen kleinen Arm aus, berühr-     in nicht allzu ferner Zeit – Gedenkhäuser
te die Kalksteinplatten, und es begann zu        für dieses besondere Kind gebaut werden!“
rumpeln und zu krachen. Von der Spitze an        Darüber wunderte sich Mirjam sehr. Aber
lösten sich die herrlichen Kalksteinplatten      was der Esel bisher geäußert hatte, war sehr
und fielen alle nacheinander auf den Boden.      klug und überzeugend gewesen. Warum
Die vormals strahlende Pyramide war nun          auch nicht dies.
nicht mehr schön. Ihre Macht war nur Trug        Fotos: Erhard Kayser
Herbst-Blatt              Nr. 109 12.2022                                           Liedgut   18

                        O du fröhliche, o du selige
                         - nacherzählt von Klaus Thorwarth -
Alle Jahre wieder sind zu Weihnachten die       erkrankten auf das Schwerste. Die Hungers-
Kirchen gefüllt, wie sonst nie im Jahr. Und     not der Kinder, die an alle Türen der Stadt
zum Schluss erheben sich alle und stimmen       klopfte, war unerträglich. Da entschlossen
lautstark ein in die drei Strophen des Liedes   sich die Eheleute, sich der verwahrlosten
                                                Kinder anzunehmen. Sie nahmen sie in ein
O du fröhliche, o du selige,
                                                eigens gegründetes Heim auf und gaben
gnadenbringende Weihnachtszeit.
                                                ihnen zu essen und zu trinken. Und somit
Und eine wunderbare Ergriffenheit erfasst       auch ein wenig Hoffnung.
jeden. Kein anderes Lied kann ein Gefühl        Eines Nachts, als Falk wieder einmal tief be-
von Wärme und Festlichkeit so tief in jeden     drückt allein durch die verschneiten Straßen
Besucher hineintragen.                          ging, hörte er einen Kriegsgefangenen eine
                                                wunderbare Melodie pfeifen. Er erfuhr, dass
Woher kommt dieses uns so ergreifende Lied?     es ein sizilianisches Volkslied war, das ihn
Bekannt ist, dass seine Melodie auf dem Ma-     sehr berührte. Ganz langsam entstanden in
rienlied O sanctissima beruht, das angeblich    seinem Kopf die drei Strophen, die auch uns
aus Sizilien stammt. Das uns heute so be-       beim Weihnachtsgottesdienst immer so tief
kannte Weihnachtslied entstand viele Jahre      ergreifen.
später im Jahr 1813. In der Zeit der Befrei-
ungskriege hatten Seuchen furchtbar um sich     Gut 200 Jahre später wurde mir bewusst, wie
gegriffen.                                      tief verankert diese Melodie in den Men-
Der in Weimar lebende Legationsrat Johan-       schen ist. Ich saß mit einem Unnaer Freun-
nes Daniel Falk ging eines Abends tief nie-     deskreis in einer italienischen Pizzeria und
dergeschlagen allein durch die Straßen der      wir stimmten leise dieses Lied an. Plötzlich
Stadt. Denn vier seiner sechs Kinder waren      wurden wir ganz still, als wir merkten, wie
inzwischen den Krankheiten zum Opfer ge-        unser italienischer Wirt Domenico auf die-
fallen. Die Verzweiflung der Menschen war       ses, sein Heimatlied, ganz betroffen und trau-
grenzenlos, die Not der Bevölkerung unbe-       rig reagierte.
schreiblich. Auch er selbst und seine Frau      Foto: Klaus Thorwarth
19   Literatur                                    Nr. 109 12.2022             Herbst-Blatt
                                      Geht doch …
                                      Hund und Katze
     Miezel, eine schlaue Katze,
     Molly, ein begabter Hund,
     Wohnhaft an demselben Platze,
     Hassten sich aus Herzensgrund.
     Schon der Ausdruck ihrer Mienen,
     Bei gesträubter Haarfrisur,
     Zeigt es deutlich: Zwischen ihnen
     Ist von Liebe keine Spur.                  Oh, wie jämmerlich miauen
     Doch wenn Miezel in dem Baume,             Die drei Kinderchen daheim.
     Wo sie meistens hin entwich,               Molly eilt, sie zu beschauen,
     Friedlich dasitzt, wie im Träume,          Und ihr Herz geht aus dem Leim.
     Dann ist Molly außer sich.                 Und sie trägt sie kurz entschlossen
     Beide lebten in der Scheune,               Zu der eignen Lagerstatt,
     Die gefüllt mit frischem Heu.              Wo sie nunmehr fünf Genossen
     Alle beide hatten Kleine,                  An der Brust zu Gaste hat.
     Molly zwei und Miezel drei.                Mensch mit traurigem Gesichte,
     Einst zur Jagd ging Miezel wieder          Sprich nicht nur von Leid und Streit.
     Auf das Feld. Da geht es bumm.             Selbst in Brehms Naturgeschichte
     Der Herr Förster schoss sie nieder.        Findet sich Barmherzigkeit.
     Ihre Lebenszeit ist um.                    Text: Wilhelm Busch; Foto: Reinhild Giese

                                     Buch-Gutschein
                                     - frei nach Eugen Roth -
                                                Ein Mensch, der manches Buch gern hätte,
                                                und darauf wag‘ ich jede Wette,
                                                ward stets von Freunden und Bekannten,
                                                sowie natürlich auch Verwandten,
                                                „umhäuft“ von Büchern ohne Zahl,
                                                die oft zu lesen eine Qual.
                                                Indes bekam er leider oft,
                                                nicht jenes Buch, das er erhofft ...
                                                Dem Menschen kann geholfen sein:
                                                ganz einfach – mit dem Buch-Gutschein!
                                                Zeichnung: Andrea Irslinger
Herbst-Blatt              Nr. 109 12.2022                                         Lokales   20

             Herbrecht und die Wechselfälschungen
         Der Prozess des früheren Bankiers Heinrich Herbrecht
                  vor der Strafkammer in Dortmund
                                 - von Hans Borghoff -
Heinrich Herbrecht stand wegen 111-facher       luste gewesen sein. So habe er an Schulte
Wechselfälschungen, sowie der Unterschla-       Korten bei Welver 150.000 Mark, an
gung in drei Fällen am 28. Oktober 1892 vor     Röchling & Rentrop in Unna 250.000 Mark,
Gericht. Es ging zuerst um die Summe von        an den Unternehmer Goldhagen 120.000
800.00 Mark.                                    Mark, an Krupp in Unna 70.000 Mark verlo-
Im Jahr 1845 wurde Herbrecht in Unna ge-        ren.
boren, ging hier zur Schule, bevor er in Köln   Seinem Schwager, Oberstabsarzt Dr. Kirch-
drei Jahre lang den Beruf des Kaufmanns         hoff, unterschlug Herbrecht zwei amerikani-
erlernte. Anschließend fing er im Spediti-      sche Eisenbahnbons zu je 1000 Dollar. Ei-
onsgeschäft seines Vaters an.                   nen weiteren Wechsel über 7.123 Mark, ak-
Nach dem Tod des Vaters, der das Spediti-       zeptiert vom Gutsbesitzer Schulte-Kunp in
onsgeschäft auf Bankgeschäfte erweitert         Heeren. Einem Anderen hatte Herbrecht
hatte, waren die Geschäfte auf die Witwe        Staatsschuldscheine zu je 500 und 1000
übergegangen. Herbrecht arbeitete als Pro-      Mark unterschlagen. Zahlreiche Unterneh-
kurist mit dem Buchhalter Hertrich zusam-       men in Unna kamen dadurch mehr oder we-
men. Dieser war zuvor Steindrucker und Li-      niger in wirtschaftliche Schwierigkeiten.
thograph gewesen, was ihm bei den späreren      Die Reichsbank in Unna habe 150.000 Mark
Fälschungen zu Hilfe kam.
Obwohl       das     Vermögen
600.000 Mark betrug, stand
das Geschäft schwach da. Das
Problem soll mit ausstehenden
Zahlungen angefangen haben.
Um das Problem zu lösen,
nahmen sie sich längst verfal-
lene und bezahlte Wechsel
vor, bei welchen sie mittels
Säure, dem sogenannten „Tin-
tentod“, Datum und Summe
löschten und mit frischen Da-
ten sowie neuen Summen die
alten Wechsel auf neu trimm-
ten. Der Buchhalter Hertrich
war dabei wohl so gut, dass es
selbst in den Banken nicht auf-
fiel. In den Wechselstuben
hatte Herbrecht die falschen
Wechsel mit „vacat“ vermerkt.
Die Fälschungen sollen im
Jahr 1885 angefangen haben.
Grund dafür sollen große Ver-
21   Lokales                                    Nr. 109 12.2022             Herbst-Blatt
                                                         Hertrich sich am Abend des 12.
                                                         November 1891 erschossen hatte.
                                                         Herbrechts Verteidiger, Rechtsan-
                                                         walt Kohn, gab sein Bestes. So
                                                         wurden alle Vergehen als eine ein-
                                                         heitliche Handlung angesehen. Zu-
                                                         gute kam Herbrecht auch sein voll-
                                                         umfängliches Geständnis.
                                                         Das Urteil fiel folgendermaßen
                                                         aus: Unter Anrechnung der Unter-
                                                         suchungshaft von 6 Monaten: 3½
                                                         Jahre Gefängnis und 3 Jahre Ehrver-
                                                         lust (existierte bis zur Strafrechtsre-
                                                         form 1969).
Minus gehabt, die aber durch hypotheka-        Für die Herbrecht‘schen Grundstücke und
risch eingetragene Kaution gedeckt waren.      Gebäude wurden 312.000 Mark geboten.
Verluste hatten dagegen die Sparkasse in       Für das Haus an der Bahnhofstraße nebst
Unna mit 60.000 Mark und die Reichsbank-       Garten sowie für den Garten vor dem Was-
stelle in Münster mit etwa 230.000 Mark.       sertor wurden weitere 82.000 Mark geboten.
Die Voruntersuchung war vom Amtsge-            Die Gläubigerversammlung genehmigte die
richtsrat Seidenstücker aus Unna vorgenom-     Schlussverteilung. Von den berücksichtigten
men worden.                                    Forderungen konnten nur 31.700 Mark zur
Aus dem Verkauf von Grundbesitz, einem         Auszahlung kommen.
Gutsverkauf, sowie Aktiva kam nur eine         Nach der Sterbeurkunde im Stadtarchiv Un-
kleine Summe zusammen. Die Gesamt-             na verstarb Heinrich Herbrecht im Alter von
schulden betrugen aber 910.014 Mark. Sein      69 Jahren 1915 ledig und kinderlos.
Bruder und sein Schwager hatten alles ver-
                                               Quelle der Anzeige: Stadtarchiv Unna/Hellweger
loren.                                         Anzeiger und Bote 18.11.1891
Herbrecht war nach einer Reise, auf der er     Foto: Stadtarchiv Unna, aus 140 Jahre Sparkasse in Unna,
                                               Bankhaus Herbrecht, Bahnhofstraße 40/Ecke Nordring
Geld auftreiben wollte, verhaftet worden. Er
stand allein vor Gericht, da sein Buchhalter

     Frohe Weihnachten
     und ein gesundes
     neues Jahr wünscht
     Ihnen die Redaktion!

                                               Foto: Franz Wiemann
Herbst-Blatt               Nr. 109 12.2022                                           Gesundheit   22

                         Wie geht‘s? Wie kommt‘s?
                             Erlebnisse mit einer Krücke
                                   - von Bärbel Beutner-
Das Herbst-Blatt will seiner Leserschaft          gerechten Wohnung, wegen des erhöhten
Freude bereiten und Mut zusprechen. Alters-       Toilettensitzes ... Und das alles bewirkt die
erscheinungen, Krankheiten, Gebrechen je-         unschuldige Krücke, die ein Nachbar aus
der Art werden folglich ausgeschaltet. Wenn       dem Sperrmüll gezogen hat …
man aber durch die Fußgängerzone geht,            Der schönste Dialog fand auf dem Wochen-
sieht man viele von Krücken Gestützte wan-        markt statt. Begegnung mit einer Bekannten.
deln, und zahlreiche Rollatoren kommen ei-        „Wie geht‘s?“ Antwort: „Das sieht man doch.
nem entgegen. In der Fernsehzeitung steht         Ich brauche immer noch eine Krücke!
immer wieder, dass Arthrose eine echte            („Gehhilfe“ wäre ein
Volkskrankheit sei, gegen die gewisse Wun-        vornehmeres Wort.)
dermittel helfen.                                 Weiterführende Fra-
Wenn man selbst wegen Arthrose humpelt,           ge: „Wie kommt‘s?“
sieht die Welt plötzlich anders aus. Alle We-     „Arthrose im Knie!“
ge ziehen sich in die Länge, man muss abwä-       Der medizinische
gen, welchen Weg man überhaupt nimmt:             Vortrag, der da-
möglichst ohne Unebenheiten, ohne Straßen-        raufhin folgte, war
überquerungen wegen der Bordsteinhöhe, die        überaus lehrreich.
Ästhetik des Straßenpflasters oder sein histo-    Den Auftakt bildete
risches Profil – das alles hat längst seine Be-   das eigene Rücken-
deutung verloren.                                 leiden. Ob es die
Der Anblick der Krücke ruft bei den Passan-       Wirbelsäule war,
ten verschiedene Reaktionen hervor. Hilfsbe-      habe man nicht
reitschaft zeigt sich wohltuend, erst recht,      genau      feststellen
wenn man freundlich darum bittet. Es kann         können. Mit dem
aber auch gute Ratschläge hageln, besonders       Gelenkrheuma der
von Leuten, die man nur flüchtig kennt. „Sie      Cousine 2. Grades
sollten besser einen Rollator nehmen! Meine       ließ sich eine Verbindung zu der Arthrose im
Mutter wollte auch keinen Rollator, bis sie       Knie herstellen. Ein angeheirateter Onkel
endlich einsah, wie bequem das ist!“ –            musste mehrmals operiert werden, weil die
„Sollten Sie nicht besser zwei Krücken neh-       Schulter ... Als das Arthrose-Knie nicht mehr
men? Dann können Sie sich doch besser ab-         länger stehen wollte und um Beendigung des
stützen! Wie? Sie können dann nichts tra-         Gespräches gebeten wurde, gab es leichte
gen? Ein Rucksack ist doch praktisch!“ –          Verstimmung …
„Hatten Sie eine Hüftoperation? Ach so,           Wertvoll ist auch der Lernzuwachs an Volks-
Arthrose im Knie! Das habe ich auch. Ich          gut und Hausmitteln, den man durch so ein
habe mir Spritzen ins Knie geben lassen! Soll     Knie gewinnen kann. Umschläge mit Quark
ich Ihnen die Telefonnummer von Dr. XY            oder Kohlblättern werden öfter genannt. Ein
geben? Man muss da allerdings ein Dreivier-       Teilnehmer bei einer Tagung schwor auf ei-
teljahr auf einen Termin warten!“                 ne Salbe, die eigentlich für Pferde gedacht ist,
Die Menschen sind rührend besorgt. Ein Be-        aber allen großen Sportlern helfen würde.
kannter rät zum Einzug in eine Seniorenresi-      Krankheiten sind eben ein unerschöpfliches
denz. „Da wohnt doch auch der 95jährige Dr.       Thema. Menschen sind merkwürdige Wesen.
Soundso! Da haben Sie doch Anschluss!“
                                                  Foto: pixabay.de
Eine andere Dame rät zu einer behinderten-
Sie können auch lesen