Nr. 97 Dezember 2019 - Januar - Februar 2020 - WINTERLICHES - Kreisstadt Unna

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Nr. 97 Dezember 2019 - Januar - Februar 2020 - WINTERLICHES - Kreisstadt Unna
MAGAZIN FÜR UNNA

          Dezember 2019 – Januar – Februar 2020
                                         Nr.   97

          WINTERLICHES
        AUSSERDEM IN DIESER AUSGABE:
    ERINNERUNGEN • LEGENDE • TRADITION
          WEIHNACHTSGESCHICHTEN
Nr. 97 Dezember 2019 - Januar - Februar 2020 - WINTERLICHES - Kreisstadt Unna
Herbst-Blatt                   Nr. 97 12.2019                                              Editorial 2

Inhalt                                                 Liebe Leserin, lieber Leser!

3      Also sprach der Esel:                           sicherlich ist es Ihnen selbst schon aufgefal-
       „Erhebe nie deine Stimme!“                      len. Es dauert nicht mehr lange und die
4      Christrosen                                     100-ste Herbst-Blatt-Ausgabe geht in Druck.
6      Das Adventssingen                               Ist es da nicht an der Zeit, Sie als interes-
7      Ein gestörter Weihnachtsabend                   sierte Leser auch einmal zu Wort kommen
8      Spieglein, Spieglein ...                        zu lassen?
       Wer war Schneewittchen?                         Welche Erfahrungen haben Sie in den letz-
10     Ein Besuch im Sterbehaus der Maria              ten Jahren mit der Seniorenzeitschrift ge-
12     Trauer, Schmerz und Fröhlichkeit                macht? Hat Sie ein Heft in einer besonderen
14     Ein Göttertrank – Kakao                         Lebenssituation erreicht? War die Zustel-
                                                       lung vielleicht unter kuriosen Umständen
16     Zur Nachahmung empfohlen
                                                       erfolgt? Hat ein Bericht Erinnerungen
18     Gedankensplitter – Schöne neue Welt?
                                                       wachgerufen oder eine Antwort auf eine
19     Hätten Sie es gewusst? Schneeränder
                                                       Frage gegeben, mit der Sie sich schon lange
20     Lebensläufe
                                                       auseinander gesetzt haben? Das Leben hat
22     Der Puppenwagen
                                                       so viele Facetten. Vielleicht gibt es aber
23     Eine alte Geschichte aus der
                                                       auch eine Anekdote, die Sie schon immer
       Weihnachtszeit
                                                       einmal mitteilen wollten. Jetzt sollen Sie die
24     Was, bitte, ist ein Bärenticket?
                                                       Gelegenheit dazu bekommen.
       Eine Reise in die Fremde
25     Unvergessliches Weihnachtsgeschenk

Impressum
Herausgeberin:          Kreisstadt Unna
                        Hertinger Straße 12
                        59423 Unna
                        Tel.: 02303/256903
Internet:               www.unna.de/herbstblatt/
V.i.S.d.P:              Dr. Bärbel Beutner
Internet:               Marc Christopher Krug

Redaktion:                                             Sie können uns Ihre Geschichte auch gerne
Andrea Irslinger, Bärbel Beutner, Benigna Blaß,        erzählen oder an unsere Redaktion schrei-
Brigitte Paschedag, Christian Modrok, Franz Wiemann,
Ingrid Faust, Klaus W. Busse, Klaus Thorwarth,         ben. Das Team trifft sich jeden Mittwoch
Reinhild Giese, Ulrike Wehner                          um 9.30 Uhr im Seniorentreff, dem
Seniorenbeauftragter:      Robin Rengers               „Fässchen“, Hertingerstr. 12, Unna, in der
Seniorenarbeit Fäßchen: Markus Niebios
Titelfoto:                 Klaus Thorwarth
                                                       zweiten Etage links.
Gestaltung:                Andrea Irslinger            Haben wir Ihnen Mut gemacht, einen Beitrag
Druck:                     WIRmachenDRUCK GmbH,        zur 100-sten Herbst-Blatt-Ausgabe zu geben?
                           Backnang
                                                       Wir freuen uns auf Ihre Rückmeldungen
                                                       und sehen in Ihrem Engagement die Moti-
                                                       vation, auch die nächsten 100 Herbst-Blätter
                                                       für Sie zu schreiben.
        Das nächste
          mit der Nr. 98 erscheint                     Im Namen der Redaktion
              im März 2020!                            Anne Nühm
                                                       Zeichnung: Andrea Irslinger
Nr. 97 Dezember 2019 - Januar - Februar 2020 - WINTERLICHES - Kreisstadt Unna
3   Meinung                                           Nr. 97 12.2019     Herbst-Blatt
Also sprach der Esel:
„Erhebe nie deine Stimme!“
Als wir im September wieder einmal bei        gazin gelesen, dass ein Ratsherr, wahr-
schönem Wetter mit meinem Freund und          scheinlich unzufrieden mit dem Verlauf der
Treiber durch Unna schlenderten, trafen       Diskussion, mit Gebrüll den Saal verlassen
wir einen alten Bekannten. Er lud uns in      hatte. Mit hochgezogenen Augenbrauen
einen Biergarten ein, denn er wollte in Ru-   fragte mein Freund: „Ein Ratsherr?“ Der
he mit meinem Freund etwas plaudern. Ich      Bekannte bestätigte: „Ja, ein Ratsherr.“ Es
war froh, dass er diesen
Ort wählte, denn da störte
ich niemanden, wenn ich
hinter ihren Stühlen stand
und zuhören konnte. Nach
ein paar Freundlichkeits-
floskeln resümierten beide
das Thema Stadtfest. Bei-
de stellten fest, dass sie
am selben Tag und zur
gleichen Zeit in der Stadt
waren und sich nicht ge-
troffen hatten. Aber beide
waren sich auch einig,
dass man in dem an die-
sen Tagen herrschenden
Gedränge sogar seine Be-
gleiter verlieren kann.
Deswegen hat mich mein
Freund auch nicht mitge-
hen lassen, und er selber war schnell wie-    folgte ein Moment der Stille. Dann zitierte
der zu Hause. Beide waren sich auch einig,    mein Freund einen Satz eines jungen Ver-
dass in allen Teilen der festlich ge-         wandten, eines Jurastudenten: „Erhobene
schmückten Stadt eine entspannte Stim-        Stimme zeugt nicht von Recht.“ Der Be-
mung herrschte, und dass man selten so        kannte quittierte: „So etwas ist eines Rats-
viele fröhliche Gesichter sah. Ich durfte     herrn nicht würdig.“
beim „Nachglühen“ am Montagabend noch
die Lichterflut bestaunen.                    Herzlichst,
Dann aber schnitt unser Bekannter ein an-     Ihr Balduin
deres Thema an. Er fragte meinen Freund,
                                              Zeichnung: Klaus Pfauter
ob er auch von dem Eklat auf einer Ratssit-   Foto: Christian Modrok
zung gelesen hätte. Als mein Freund ver-
neinte, fuhr er fort. Er hatte in einem Ma-
Nr. 97 Dezember 2019 - Januar - Februar 2020 - WINTERLICHES - Kreisstadt Unna
Herbst-Blatt             Nr. 97 12.2019                                           Natur   4

                                     Christrosen
                                  - von Benigna Blaß -

Die Adventszeit ist da, und in vielen Gärt-   immergrüne Pflanze, die 10–30 cm Höhe
nereien und Blumengeschäften findet man       erreichen kann. An einem geschützten
Weihnachtssterne und Christrosen. Letzte-     Platz kann sie bis zu 25 Jahre alt werden.
re, eine besondere Schönheit, wird in Scha-   Sie besitzt eine schwarze Wurzel und
len zur hübschen Advents- und Weihnachts      schwarze Rhizome, horizontal wachsende
-dekoration gepflanzt. Auch kleine Sträuß-    Sprossenachsen. Diese lassen im Sommer
chen für die Vase finden großen Anklang.      kleine Niederblätter wachsen, um Nahrung
Die Christrose (Helleborus niger) gehört      in Form von Stärke zu speichern, die sie
zur Familie der Hahnenfußgewächse und         der Pflanze im Winter wiedergeben kön-
wird in manchen Gegenden auch Schnee-         nen. Die Rhizome breiten sich weit aus und
                                              können neue Pflanzen erzeugen.
                                              Die Pflanze und besonders die Wurzeln
                                              und Rhizome sind sehr giftig, wurden aber
                                              früher in der Pflanzenheilkunde viel ver-
                                              wendet: als Herzmittel, gegen lang andau-
                                              ernde Melancholie, Wahnsinn, Epilepsie
                                              und Gicht. Sie sind harntreibend und sogar
                                              ein Bestandteil des Niespulvers. Im 16. und
                                              17. Jahrhundert las man schon in Kräuter-
                                              büchern, dass sie giftig ist und dass eine
                                              Überdosierung zum Tode führen kann.
                                              „Drei Tropfen machen rot,
                                              10 Tropfen machen tot.“
                                              Doch gegen Vergiftung sollte Ziegenmilch
                                              helfen.

rose, Weihnachtsrose, in den Alpenländern
Wendewurz, da sie in der Wintersonnen-
wende, in der Zeit der längsten Nächte
blüht, und in Österreich sogar Feuerwurzel
genannt.
In früheren Zeiten wuchs sie nur in höheren
Lagen im Gebirge, doch im 16. Jahrhundert
versuchte man, sie in mitteleuropäischen
Gärten heimisch zu machen.
Erst im 19. Jahrhundert entstanden Zucht-
arten mit großen 5–10 cm weißen Blüten,
die um die Weihnachtzeit erblühen. Die
Samen, die einen Ölkörper besitzen, sind
erst im Frühsommer reif und sind beliebt
bei Ameisen und Schnecken, die sie gleich-
zeitig verbreiten. Die Christrose ist eine
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5   Natur                                             Nr. 97 12.2019      Herbst-Blatt

Im 17. Jahrhundert wurden in England Tei-     In einigen Weihnachtsliedern wird diese
le der Schneerose in der Tierheilkunde ge-    Blume besungen:
gen Husten und Vergiftung verwendet.          Oh schöne Blume, die wir finden,
Man stach dem betreffenden Tier ein Loch
                                              da alle sonst der Frost geraubt.
ins Ohr, steckte ein Stück von der Wurzel
                                              Den Sieg des Lichtes zu verkünden,
hinein: diese musste 24 Stunden drin blei-
                                              Erhebst du überm Schnee das Haupt ...
ben. Beim Schwein wurde gegen die             Von Johannes Trojan (1837–1915)
Schweinepest eine Blüte ins Ohr gelegt.
In der Antike soll der griechische Arzt und   Eduard Mörike ging einst über einen Fried-
Seher Melampus die Töchter des Königs,        hof, sah die Christrose und schrieb:
die an Wahnsinn litten, geheilt haben.
                                              Schön bist du Kind des Mondes,
Noch heute wird es in der Volksmedizin als
                                              nicht der Sonne!
Brech- und Abführmittel gegeben.
                                              Dir wäre tödlich anderer Blume Wonne,
Die Christrose ist so beliebt, dass viele
                                              Dich nährt, den keuschen Leib
Schriftsteller und Dichter sich mit ihr be-
                                              voll Reif und Duft,
fasst haben.
                                              Himmlischer Kälte balsamsüße Luft.
Ludwig Ganghofer erwähnt sie in seinem
Roman „Der Klosterjäger“ als Symbol ewi-      Fotos: Benigna Blaß; Zeichnung: Helga Wirriger
gen Lebens und Heilmittel.
Selma Lagerlöf schrieb eine Legende von
der Christrose; sie handelt von der Gnade
für eine Räubermutter dank der Blume im
Weihnachtsgarten.
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Herbst-Blatt             Nr. 97 12.2019                                         Advent   6

                             Das Adventssingen
                                   - von Anne Nühm -

Sehr lange hatte Tick-Tack-Oma den Tick-      Anne kam auf die Idee, dass die Eltern und
Tack-Opa gepflegt. Er war ganz ruhig ein-     Kinder den Standort wechseln und die
geschlafen und zu Grabe getragen worden.      nächsten Strophen auf dem Flur singen
Die Kinder waren der Meinung, dass es         könnten. Alle waren einverstanden. Sie
nun für ihre Mutter und Großmutter an der     setzten das Adventsingen auf dem Etagen-
Zeit wäre, wieder einmal an sich zu den-      flur fort. Immer mehr der bis dahin ver-
ken, um neue Kraft zu schöpfen. Aber die      schlossenen Türen öffneten sich. Die Grup-
Tick-Tack-Oma sah sich nicht mehr in der      pe fühlte sich bestätigt und beflügelt, den
Lage, ihren kleinen Haushalt allein weiter-   Gesang nicht abbrechen zu lassen. Beson-
zuführen, wollte niemandem zur Last fallen    ders reizvoll war es, dass die Akustik des
und war davon überzeugt, in einem Alten-      Flurs dazu beitrug, dass sich die Stimmen
heim am besten aufgehoben zu sein. Und        wie die eines Chors und nicht wie die einer
so wurde das Seniorenheim in Dortmund-        vierköpfigen, ganz normalen Familie an-
Lütgendortmund ihr neues Zuhause. Bei         hörten.
einem der Besuche wollten Anne, ihr Mann      Ihr Einsatz hat wieder einmal gezeigt, dass
und die Söhne ihr eine besondere Freude       die Freude, die wir geben, ins eigene Herz
machen und hatten eine Gitarre und Lieder-    zurückkehrt. Wie heißt es doch so schön:
bücher mitgebracht. Sie wollten die ange-     Wo man singt, da lass dich nieder. Böse
brochene Adventszeit nutzen, um die Texte     Menschen haben keine Lieder.
der Weihnachtslieder, die sie schließlich     Foto: Franz Wiemann
ein ganzes Jahr nicht mehr ge-
sungen hatten, wieder aufzufri-
schen. Nachdem alle Neuigkeiten
ausgetauscht waren, griff der
Ehemann zum Musikinstrument
und stimmte das erste Lied an.
Schnell hatten sich die Stimmen
eingesungen, wodurch sich die
Lautstärke entsprechend erhöhte.
Als die ersten zwei Lieder ver-
klungen waren, nahm die Familie
ein zaghaftes Klopfen an der
Zimmertür wahr. Auf das
„Herein“ betrat eine ältere Dame
den Raum. Zunächst rechneten
alle mit einer Beschwerde über
ruhestörenden Lärm. Umso er-
staunter waren sie, als die Frau
danach fragte, ob sie die Tür
ganz öffnen dürfte. Der Gesang
würde durch die Wände hörbar
sein und hätte die anderen Heim-
bewohner neugierig gemacht.
Nr. 97 Dezember 2019 - Januar - Februar 2020 - WINTERLICHES - Kreisstadt Unna
7 Weihnachten                                           Nr. 97 12.2019   Herbst-Blatt
                   Ein gestörter Weihnachtsabend
                               - von Christian Modrok -

Wie jedes Jahr versammelte sich die Fami-       Großvater blieb nur eine leichte Rötung an
lie bei den Großeltern zum feierlichen          seinem Arm.
Weihnachtsessen. Großmutter verstand es,        Der Schock war verflogen, Oma reichte
mit ihren vielfältigen Gerichten für jeden      ihm ein frisches Hemd und der feierliche
Geschmack etwas Besonderes vorzusetzen.         Abend war gerettet. Trotzdem blieb dieses
Großvater war immer stolz auf seinen            Ereignis nicht ohne Konsequenzen. Am
Christbaum. Es musste unbedingt ein ech-        Morgen nach dem zweiten Feiertag schlich
ter sein, wenn möglich
eine Nordmanntanne.
Früher reichte der
Baum auch vom Fuß-
boden bis zur Decke.
Jetzt begnügt er sich
mit einem kleineren,
aufgestellt auf einem
Beistelltisch. Er fand
nie gute Worte für die
künstlichen       Weih-
nachtsbäume.      Auch
durfte kein Plastik-
schmuck an den Baum,
nur Glaskugeln, even-
tuell Omas selbstgeba-
ckene Lebkuchen, da-
zu Lametta und echte
Kerzen.
Es kam der Heilige
Abend. Die Familie
versammelte sich fei-
erlich gekleidet zum
Abendessen. Großva-
ter hatte eine schwarze
Hose, Weste, Fliege und ein weißes Hemd         Großvater aus dem Haus und ging gerade-
angezogen. Er, als der Senior, hatte sich       wegs in den Baumarkt. Dort bekam er
vorbehalten, die ersten Kerzen selbst anzu-     noch eine, schon aus der Ausstellung abge-
zünden. Als er bemerkte, dass er eine weni-     räumte Lichterkette. Diese wurde noch
ger zugängliche Kerze ausgelassen hatte,        nachträglich installiert, denn zu Silvester
wollte er ihr noch das Feuer reichen. In die-   sollte der Baum noch einmal im vollen
sem Moment fing der Hemdsärmel von ei-          Glanz erstrahlen. Spaß hatten auch die En-
ner schon brennenden Kerze Feuer. Ein           kel. Sie durften die Lichterkette ein- und
Laut des Entsetzens kam aus aller Munde.        ausschalten, so wie sie wollten.
Es zeigte sich aber, dass außer dem kaput-
                                                Foto: Christian Modrok
ten Hemd nicht viel passiert war. Dem
Nr. 97 Dezember 2019 - Januar - Februar 2020 - WINTERLICHES - Kreisstadt Unna
Herbst-Blatt             Nr. 97 12.2019                                            Kultur   8

                           Spieglein, Spieglein ...
                            Wer war Schneewittchen?
                              - von Brigitte Paschedag -

Das waren in meiner Kindheit die schöns-       Die sieben Zwerge
ten Zeiten des Tages, wenn meine Mutter        Im Spessart wurde früher sehr viel Bergbau
sich mit einem großen Buch zu mir auf die      betrieben. Dafür brauchte man wegen der
„Chaiselongue“ setzte und mir ein Märchen      niedrigen Stollen Kinder oder Kleinwüch-
vorlas. Einerseits konnte man sich so schön    sige, die zum Schutz vor Steinschlag Kapu-
gruseln, sich aber andererseits auch darüber   zenmäntel trugen.
freuen, dass immer alles gut ausging.
Eins der Märchen hat mich immer beglei-        Die sieben Berge
tet: „Sneewittchen“, wie es bei den Brüdern    Um von Lohr aus zu den Bergwerken zu
Grimm heißt oder „Schneewittchen“, wie         gelangen, musste man sieben Berge über-
man heute meistens sagt: Als Märchen, als      queren.
Zeichentrickfilm von Walt Disney und als       (Den Schneewittchenweg kann man heute
Theaterstück in Santa Ana, Kalifornien.        begehen).
Man geht heute davon aus, dass viele Mär-
chen durchaus einen realen Hintergrund         Wer aber war das historische Vorbild für
haben. Die Stadt Lohr am Main bean-            Schneewittchen? Möglicherweise Maria
sprucht für sich, die Schneewittchenstadt      Sophia von Erthal, deren Grabstein kürz-
zu sein. Was erst nur eine Stammtischidee      lich wieder auftauchte. Sie wuchs im
war, die Dr. Karl-Heinz Bartels aufbrachte,    Schloss in Lohr auf. Über ihr späteres Le-
nämlich dass Schneewittchen aus Lohr           ben in einem Bamberger Kloster ist nicht
stammen müsste, ist heute Thema wissen-        viel bekannt. Sie soll aber besonders schön
schaftlicher Untersuchungen. Und es gibt       und wohltätig gewesen sein.
gute Gründe für die These.                     Nach dem Tod seiner ersten Frau 1741 hei-
                                               ratete ihr Vater Philipp Christoph von Ert-
Die Familie                                    hal, ein Kur-Mainzischer Oberamtmann,
Offensichtlich war Schneewittchens Vater       1743 in zweiter Ehe Claudia Elisabeth von
zum zweiten Mal verheiratet, und die Stief-    Venningen, geb. von Reichenstein. Sie
mutter wollte die Kinder aus seiner ersten     wurde somit zur Stiefmutter der sieben
Ehe loswerden.                                 Kinder aus seiner ersten Ehe. Sie nutzte ih-
                                               re Stellung zum Vorteil ihrer eigenen Kin-
Der Spiegel und der gläserne Sarg              der und galt als herrschsüchtig, gewissen-
In Lohr stellte man früher Gläser und Spie-    los und grausam gegenüber ihren Stiefkin-
gel her. Außerdem gab es am Nordrand des       dern. Im Spessartmuseum wird ein „spre-
Spessart einige Glashütten.                    chender Spiegel“ ausgestellt. Er stammt
Der Spessart war in früheren Zeiten gefähr-    aus dem Jahr 1720, ein besonders prunk-
lich. Räuberbanden trieben dort ihr Unwe-      volles Exemplar. Der Rahmen des Medail-
sen, wie es Wilhelm Hauff in seinem Mär-       lons ist mit rotem Lack und Silber- und
chen „Das Wirtshaus im Spessart“ be-           Goldfolie verziert. Er trägt die Inschrift
schreibt.                                      „Amour Propre“ (Eigenliebe). Wahrschein-
                                               lich war er ein Geschenk ihres Mannes,
                                               dem eine Glasmanufaktur in Lohr unter-
                                               stand. Die Inschrift dürfte für die
Nr. 97 Dezember 2019 - Januar - Februar 2020 - WINTERLICHES - Kreisstadt Unna
9   Kultur                                             Nr. 97 12.2019    Herbst-Blatt
Beschenkte ein Ärgernis gewesen sein.          Trotzdem bleiben viele Fragen offen, wie
Wer lässt sich schon gern Eigenliebe vor-      z. B.: Wer war der Prinz? Wo fand die
werfen? Sogenannte Sprechende Spiegel          Hochzeit statt? Gab es das Zwergenhaus in
gab es häufiger. Sie „sprachen“ durch ihre     Bieber?
Inschrift.                                     Weiß man vom Leben der Maria Sophia
Schneewittchen muss gewusst haben, dass        von Erthal wenig, so ist ihr Tod gut doku-
sie auf Kur-Mainzischem Gebiet nicht si-       mentiert. Sie starb 1796, kurze Zeit bevor
cher war. (Im Märchen schlagen zwei Ver-       die Brüder Grimm das Märchen von
suche, sie zu töten, fehl. Erst beim dritten   Schneewittchen veröffentlichten. Ihr Grab-
Mal scheint der Mord gelungen zu sein.         stein wurde kürzlich wiedergefunden. Er
Aber sie erwacht wieder). Schneewittchen       wurde gereinigt und restauriert und steht
verließ deshalb die Heimat und wanderte        heute im Diözesanmuseum von Bamberg,
bis in die Gegend von Hanau. Hier, hinter      eine unscheinbare graue Marmorplatte, nur
den sieben Bergen, traf sie wohl in Bieber     mit ein paar Sternchen verziert. Ihr Testa-
auf die „Zwerge“. Der ca. 35 km lange          ment befindet sich im Stadtarchiv von
Fluchtweg ist heute bekannt als Schnee-        Bamberg, ebenso ihr Totenzettel.
wittchenwanderweg. Er kann in drei Tagen       Es klingt durchaus überzeugend, dass
begangen werden.                               Maria Sophia von Erthal als Vorbild für
Für die Mordversuche gibt es gute Mög-         Schneewittchen diente. Oder ist alles doch
lichkeiten: Der Apfel, der Schneewittchen      nur ein Märchen?
töten sollte, kam von den Streuobstwiesen,
                                               Zeichnung: wikipedia.de
die es heute noch rund um Lohr gibt, und
das Gift wahrscheinlich von der Tollkir-
sche, die im Spessart häufig vorkommt.
Nr. 97 Dezember 2019 - Januar - Februar 2020 - WINTERLICHES - Kreisstadt Unna
Herbst-Blatt            Nr. 97 12.2019                                         Legende 10

              Ein Besuch im Sterbehaus der Maria
                                - von Erhard Kayser -

Fast jeder Türkei-Tourist besucht Ephesus    fens Izimir noch nicht da. Die Andenken-
am Ägäischen Meer. Hier waren auch           buden haben geschlossen. Man hört Hun-
schon bedeutendere Leute zu Besuch: Ale-     derte von Singvögeln in der lauen Sommer-
xander der Große, der römische Kaiser        luft. Das „Haus der Maria“ (türkisch:
Hadrian und der Apostel Paulus. Wieder       Meryam Ana) weist eine (wunderwir-
andere haben hier gewohnt: Krösus, der       kende) Quelle auf. Daneben eine alte Tauf-
Evangelist Johannes, Aquila und Priscilla.   beckenanlage. Im Haus selbst nur fünf klei-
Man kann das in der Bi-                                       ne Räume. Einer heißt
bel oder in Geschichts-                                       „Die Schlafstelle der Ma-
büchern nachlesen!                                            ria“. Im Hauptraum steht
Aber nun das Erstaunli-                                       ein einfacher Steinaltar
che: Auch Maria, die                                          mit einer dunklen Mari-
Mutter Jesu, soll hier ge-                                    enfigur.
wohnt haben und hier                                          Das Gebäude war vor
verstorben sein. Dafür                                        tausend Jahren in die
gibt es tatsächlich An-                                       Form einer kleinen An-
haltspunkte, die man                                          dachtskapelle umgebaut
ernst nehmen kann. Des-                                       worden. Heute wirkt es
wegen waren auch kirch-                                       wie neu errichtet. In der
liche Würdenträger zu                                         Tat wurde es gründlich
Besuch. Papst Paul Vl.                                        renoviert. Das war Ende
kam im Jahr 1967 und                                          der 60er Jahre. Früher
Papst Johannes Paul II                                        war die Anlage nur eine
1979. Sie machten dem                                         verkommene Ruine.
heiligen Ort ihre Reve-                                       Wenn die alten Überliefe-
renz, obwohl auch in Je-                                      rungen stimmen, wonach
rusalem eine Stelle ge-                                       Maria als alte Frau hier
zeigt wird, wo Maria be-                                      gelebt hätte, müsste sich
graben sein soll. Das ist                                     unter den Resten dieser
das schlichte Mariengrab                                      Ruine auch noch etwas
in einer Krypta am Öl-                                        aus uralter Zeit finden. So
berg.                                                         war es denn auch. Archä-
Schlicht, aber ehrwürdig                                      ologen      stießen     auf
ist auch die Verehrungs-                                      Grundmauern eines ural-
stelle bei Ephesus. Pilger früherer Zeiten   ten römischen Hauses aus dem ersten Jahr-
hatten einen extrem anstrengenden Auf-       hundert, in dem Maria wohl gelebt hat.
stieg auf den Nachtigallenberg. Er ragt      Es wird noch wundersamer! Dazu muss
hoch über den Ruinen von Ephesus. Auch       man in Gedanken in den westfälischen Ort
heute fährt der Touristenbus auf gewunde-    Dülmen gehen. Es ist Mitte des 18. Jahr-
ner Waldstraße sieben Kilometer gemäch-      hunderts, dort lebt die Nonne Katharina
lich in die Höhe. Kommt man früh am          Emmerich. Sie sieht in Visionen das Mari-
Morgen, so sind die Hunderte von Interes-    enhaus in der fernen Türkei, obwohl da-
senten von den Kreuzfahrtschiffen des Ha-    mals noch niemand davon wusste.
11 Legende                                             Nr. 97 12.2019   Herbst-Blatt
Ihre Angaben schreibt der Dichter Clemens      Welt stand in Ephesus! Außerdem: Johan-
von Brentano auf – und erst jetzt beginnt      nes beweist in seinen Schriften eine gründ-
man, sich für die Sache zu interessieren.      liche Kenntnis der Lebensweise in den
Die Ruine wird 1891 in dichtem Unterholz       Städten Kleinasiens!
entdeckt.                                      Der Ort hoch oben in der unberührten Natur
Man las auch im Neuen Testament nach           der türkischen Berge hat eine ergreifend-
und fand die Kreuzesworte Jesu, Johannes       anrührende Atmosphäre. Er bezeugt auf
19, 26-27: „Da nun Jesus seine Mutter sah      seine Weise, dass wir Maria als eine le-
und den Jünger dabeistehen, den er lieb        benskluge und menschliche Frau lieben
hatte, spricht er zu seiner Mutter: ‚Weib,     können, die in tiefem Vertrauen auf Gottes
siehe, das ist dein Sohn!‘ Danach spricht er   Zuwendung reagierte. Das ist sicher viel
zu dem Jünger: ‚Siehe, das ist deine Mut-      wichtiger als die Lokalisierung ihres Gra-
ter!‘ Und von der Stunde an nahm sie der       bes!
Jünger zu sich!“                               Auch muslimische Frauen beten hier. Denn
Jetzt wurde deutlich: Wenn Maria bei Jo-       Maria, die Mutter ihres Propheten Isa
hannes blieb, der in die heutige Türkei        (Jesus), genießt im Koran ein sehr hohes
flüchtete, dann könnte er hier mit ihr ge-     Ansehen!
wohnt haben! Das hat große Wahrschein-
                                               Fotos: Erhard Kayser
lichkeit, denn die erste Marienkirche der
Herbst-Blatt              Nr. 97 12.2019                                           Tradition 12

                  Trauer, Schmerz und Fröhlichkeit
                                 - von Bärbel Beutner -

„Im traurigen Monat November war´s /             Ehemannes, die Pflege der Schwiegermutter,
Die Tage wurden trüber / Der Wind riß von        der eigenen Mutter, die sehr alt geworden
den Bäumen das Laub / Da reist´ ich nach         war. Wo war das eigene Glück? Auch den
Deutschland hinüber.“                            Nachbarn und Freunden hatte sie geholfen,
                                                 ehrenamtlich hatte sie sich engagiert, in der
So dichtete Heinrich Heine (1797–1856) über      Kirchengemeinde, in der Nachbarschaft – hat
den November, den Trauermonat, den Toten-        man es ihr genügend vergolten? Immer,
monat. Damit beginnt sein Gedicht                wenn ein Mensch endgültig geht, bleiben die
„Deutschland, ein Wintermärchen“, das seine      Trauernden mit dem Gefühl zurück, etwas
Reise von Paris nach Hamburg beschreibt, in      versäumt zu haben, etwas nicht gesagt, getan
dem die berühmten Verse über Unna stehen.        zu haben, was hätte gesagt, getan werden
Köln – Hagen „Dicht hinter Hagen ward es         müssen – das ist ein Teil des Abschieds-
Nacht ...“, und in Unna im Gasthaus „tat ich     schmerzes …
mich erwärmen“ – es erfüllt die Unnaer mit       Zum „Leichenschmaus“ wurde in ein be-
berechtigtem Stolz, in der Weltliteratur er-     stimmtes Lokal geladen. Das Wort
wähnt zu werden.                                 „Leichenschmaus“ ist heute nicht mehr ge-
Im traurigen Monat November nahm ich denn        bräuchlich. Man sagt, sehr neutral,
auch an einer Beerdigung teil, nicht in Unna,    „Kaffeetrinken“. Früher war das anders, erst
sondern nebenan in Schwerte. Die Verstorbe-      recht auf dem Lande. Die Trauergäste, die
ne, eine liebe Bekannte, hatte ein gesegnetes    mitunter von weither anreisten, mussten ver-
Alter erreicht. Es war ein trüber Morgen, als    köstigt werden. In Theodor Storms Novelle
sich die Trauergäste zur Totenmesse einfan-      „Der Schimmelreiter“ werden die Gäste nach
den. Nach der Totenmesse ging es zur Trau-       der Beisetzung des Deichgrafen in dessen
erfeier und Beisetzung zum Katholischen          Haus gebeten. Die Tochter ist die Gastgebe-
Friedhof.                                        rin, die nicht mit zur Beerdigung geht. Auch
Die Friedhofskapelle war bis auf den letzten     in Thomas Manns Roman „Buddenbrooks“
Platz gefüllt. Der Priester lobte das große      gehen die Frauen nicht mit zur Beisetzung.
Herz der Verstorbenen, ihre Hilfsbereitschaft,   Wie der Leichenschmaus verlaufen wird,
ihre Güte, ihre vielen positiven Eigenschaf-     kann man daran ablesen, dass vor jedem Ge-
ten. Man sagt, wenn ein guter Mensch zu          deck eine Weinflasche steht …
Grabe getragen wird, scheint die Sonne. Und      Heute ist das alles wesentlich bescheidener.
tatsächlich: Als der Trauerzug nach draußen      Aber der Bruder der Verstorbenen hatte ein
trat, brach die Sonne durch, der trübe Himmel    Lokal in Schwerte ausgesucht, das genau ge-
öffnete sich, und die herbstliche Welt wurde     genüber dem Hause lag, in dem die Familie
bunt. Trotzdem flossen viele Tränen. Es war      damals nach dem tragischen Tod des Vaters
für alle ein schwerer Gang. Sie hatte allen      an Silvester 1944 wohnte und in dem die tap-
Gutes getan, hatte selbst ein schweres Leben     fere Mutter einen Lebensmittelladen betrieb.
gehabt, eine Jugend, die vom Krieg und vom       Sie musste ihre Kinder durchbringen, nach-
Verlust des Vaters geprägt war. Sie hatte        dem der Ernährer ausgefallen war.
früh, viel zu früh Verantwortung übernehmen      So saß man nun an diesem spätherbstlichen
müssen, für die jüngeren Brüder, für die ver-    Tag in einem Schwerter Traditionslokal, das
witwete Mutter, für die schwer aufgebaute        von einem ausländischen Pächter betrieben
Existenz der Familie. Sie hatte alle schweren    wird, und schaute auf die Fenster des alten
Aufgaben übernommen: die Pflege des vom          „Tante Emma Ladens“, hinter denen heute
Krieg gezeichneten und früh verstorbenen         eine Versicherung und ein Sanitätshaus Räu-
13 Tradition                                             Nr. 97 12.2019      Herbst-Blatt
me haben. Dann kamen die Erinnerungen an        Die Trauergesellschaft lachte herzlich. Und
die alten Zeiten. Der Bruder der Verstorbe-     dann kam die Geschichte von Herrn Boje am
nen war der Jüngste. Während die Verstorbe-     Heiligen Abend. Der Laden war schon zu, es
ne damals als Vierzehnjährige mit der Mutter    war später Nachmittag, die Glocken läuteten
den Laden betreiben musste, kamen ihm im        schon zu den ersten Weihnachtsgottesdiens-
Laufe der Jahre bestimmte Aufgaben zu. Er       ten. Weihnachtlicher Friede lag über der
musste den Kunden Waren nach Hause brin-        Stadt. Festliche Stimmung breitete sich aus.
gen, auch mal Botengänge machen, woan-          Da schellte es. Der Bruder der Verstorbenen,
ders etwas besorgen, usw. Manchmal gab es       inzwischen fünfzehn Jahre alt, öffnete. Drau-
Trinkgeld, mal konnte er auch „den Rest be-     ßen stand Herr Boje. Er wirkte nervös. „Frag
halten“, wenn er etwas besorgte. Ein Herr       mal deine Mutter, ob sie eine Flasche Stons-
war darin besonders großzügig. Er beauftrag-    dorfer hat!“ Der Junge gehorchte und kehrte
te ihn, im Laden der Mutter Pfefferminzbon-     mit der Auskunft zurück, Stonsdorfer habe
bons zu kaufen – und gab ihm zwei Mark mit      die Mutter nicht, wohl aber Steinhäger. Das
                                                             würde nichts nützen, sagte Herr
                                                             Boje sichtlich beunruhigt, es
                                                             müsste Stonsdorfer sein.
                                                             Schließlich kam die Mutter
                                                             selbst und erforschte die Lage.
                                                             Herr Boje gestand ihr, dass er in
                                                             großen Schwierigkeiten war.
                                                             Seine Frau wollte ihm eine Fla-
                                                             sche Stonsdorfer zu Weihnach-
                                                             ten schenken und hatte die Fla-
                                                             sche irgendwo gut aufbewahrt.
                                                             Aber er hatte die Flasche trotz-
                                                             dem gefunden und ausgetrunken.
                                                             Nun rückte die Bescherung im-
                                                             mer näher, und eine neue Fla-
                                                             sche Stonsdorfer musste her, be-
                                                             vor die üble Geschichte aufflog.
                                                             Die Mutter behielt einen kühlen
                                                             Kopf und riet dem Verzweifel-
                                                             ten, in der nächsten Kneipe zu
                                                             fragen. Die hatte zwar an Heilig-
                                                             abend auch geschlossen, aber es
                                                             gelang Herrn Boje, „hinten her-
dem Vermerk, den Rest könne er behalten.        um“ an eine Flasche Stonsdorfer zu kommen.
Zwei Mark – ein Vermögen in der damaligen       Er war gerettet.
Zeit. Der Junge führte den Auftrag aus, die     Das Gelächter wurde während dieser Erzäh-
Pfefferminzbonbons aber kosteten nur um         lung immer lauter. Heiterkeit herrschte, wie
die fünfzig Pfennig. Um die spendable Art       oft am Ende eines „Beerdigungskaffees“.
des Kunden nicht aufs Spiel zu setzen,          Noch manche lustige Anekdote wurde er-
schärfte der findige Knabe seiner Mutter ein,   zählt. Ja, die Erinnerung ... Man ging fröh-
dem Kunden, falls er noch einmal Pfeffer-       lich auseinander. Ein guter Mensch lässt sei-
minzbonbons kaufen sollte, diese mit min-       ne Lieben wohl nicht in trauriger Stimmung
destens eins fünfzig zu berechnen, damit er     zurück.
nicht merkte, welche beachtliche Summe er
                                                Foto: Feline Rupprecht/pixelio.de
verschenkt hatte ...
Herbst-Blatt             Nr. 97 12.2019                                        Lebensart 14

                                 Ein Göttertrank
                                          Kakao
                                  - von Klaus Busse -
Wie kaum in einer anderen Jahreszeit gehö-    In der fraglichen Region waren sie jedoch
ren sie zur adventlichen Tradition: die im-   erheblich mehr: Man benutzte sie als Zah-
mer dargebotenen Heißgetränke wie Glüh-       lungsmittel, gab sie den Toten mit auf die
wein oder Schokolade auf den Weihnachts-      Reise ins Jenseits. Mit Wasser verflüssigt,
märkten.                                      mit Chilipfeffer und Honig angereichert,
Schokolade! – Das Wort allein zergeht auf     tranken die Reichen das kalt, lauwarm oder
der Zunge. Das klingt so nach vollem Ge-      heiß servierte Gemisch bei ihren Festen.
nuss für Gaumen und Seele. Schokolade
galt schon immer als wertvoll: Man weiß,
dass Getränke aus Kakao einst zu Ritualen
gereicht wurden. Dazu passt, was Alexander
von Humboldt schon ahnte: „Kein zweites
Mal hat die Natur eine solche Fülle der
wertvollsten Nährstoffe auf einem so klei-
nen Raum zusammengedrängt wie gerade
bei der Kakaobohne.“
Als Medizin sowie stärkende Verpflegung
waren die dunkelbraun gefärbten und an-
schließend getrockneten Samen der Kakao-
pflanze bereits den Ureinwohnern Mittel-
amerikas bekannt.

                                              Mit unserer Vorstellung einer verführerisch
                                              süßen Gaumenfreude hatten die Kakaoge-
                                              tränke von einst nichts zu tun.
                                              Forscher konnten nun mit Hilfe von Erbgut-
                                              analysen feststellen, dass Kakaopflanzen
                                              schon vor rund 5000 Jahren angebaut wur-
                                              den – 1500 Jahre früher, als man bisher an-
                                              genommen hatte. Auch ihr Ursprung ist ein
                                              anderer. Demnach liegen die Ursprünge von
                                              Kakao nicht in Mittelamerika, sondern in
                                              Ecuador, was übrigens auch die Heimat des
                                              Jaguars im Amazonasgebiet ist, so nachzule-
                                              sen im Fachblatt „Nature Ecology&Evolu-
                                              tion“. Von dort gelangte die wertvolle Boh-
                                              ne dann in Richtung Norden – und schließ-
                                              lich in die ganze Welt.
                                              Spuren an Keramik-Tongefäßen, die in Ecu-
                                              ador gefunden worden sind, belegen, dass
                                              die Pflanzenart „Theobroma cacao“ dort
                                              mindestens seit etwa 3300 v. Chr. kultiviert
15 Lebensart                                            Nr. 97 12.2019       Herbst-Blatt
wurde. Vermutlich stammt diese Pflanzenart
von dort und wurde später über Mittelameri-
ka bis Tenochtitlan, das heutige Mexiko-
Stadt, verbreitet.
Als „Theobroma cacao“, als „Speise der
Götter“, klassifizierte der Vater der moder-
nen Botanik, Carl von Linne, daher treffend
den Kakaobaum.
Das war im 18. Jahrhundert. Der Kakao
konnte in Europa bereits auf eine über 200-
jährige Geschichte zurückblicken.
Sicher ist man sich erst seit 1544. Damals
kamen Dominikaner an den Hof Prinz Phi-
lipps von Spanien. Erst aus dem Jahre 1585
stammt dann die älteste überlieferte Auf-
zeichnung von einer Ladung Kakaobohnen,
die per Schiff von Veracruz nach Sevilla ge-
langt war.
Bis das Getränk in Europa seinen Siegeszug     kolade zum Konsumartikel für breite Mas-
antreten konnte, musste vor allem die Re-      sen wurde, dauerte es weiterhin gut zwei-
zeptur verändert werden. Erst mit der An-      hundert Jahre.
wendung von Rohrzucker begann es sich          Im 21. Jahrhundert wird sie heute wegen
von den vielfältig eingesetzten Heilmitteln    ihres Zuckergehalts verteufelt. Sei‘s drum:
zum Luxusgut zu wandeln. Noch heute dis-       Es ist nie zu spät, solch ein köstliches Natur-
kutieren Portugiesen, Spanier und Franzosen    produkt, wie die Schokolade, zu genießen.
darüber, wer die Einheimischen auf den Ge-
                                               Fotos: links: wikipedia.de, rechts: pixabay.de, wikipedia.de
schmack gebracht hat. Bis Kakao und Scho-
Herbst-Blatt               Nr. 97 12.2019                                         Lebenserfahrung 16

                       Zur Nachahmung empfohlen
                                     von Ulrike Wehner

Voranstellen möchte ich ein Gedicht von            Für ihre Erkenntnis – ich freue mich, dass
Mascha Kaléko:                                     ich mich freue – hat Mascha Kaléko in ihrem
                                                   Gedicht viele Auslöser angeführt, die wir
Sozusagen grundlos vergnügt                        alle kennen und dasselbe empfinden, wenn

Ich freu mich, dass am Himmel Wolken ziehen
und dass es regnet, hagelt, friert und schneit.
Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit,
wenn Heckenrosen und Holunder blühen.
Dass Amseln flöten und dass Immen summen,
dass Mücken stechen und dass Brummer brummen.
Dass rote Luftballons ins Blaue steigen.
Dass Spatzen schwatzen.
Und dass Fische schweigen.
Ich freu mich, dass der Mond am Himmel steht
und dass die Sonne täglich neu aufgeht.
Dass Herbst dem Sommer folgt
und Lenz dem Winter,
gefällt mir wohl. Da steckt ein Sinn dahinter,
wenn auch die Neunmalklugen ihn nicht sehn.
Man kann nicht alles mit dem Kopf verstehn!
Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn.
Ich freue mich vor allem, dass ich bin.
In mir ist alles aufgeräumt und heiter:
Die Diele blitzt. Das Feuer ist geschürt.
An solchem Tag erklettert man die Leiter,
die von der Erde in den Himmel führt.
Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben,
weil er sich selber liebt – den Nächsten lieben.
Ich freue mich, dass ich mich an das Schöne
                                                   wir ihnen begegnen. Jeder könnte ihre Liste
und an das Wunder
                                                   fortsetzen, denn jeder hat eigene Vorstellun-
niemals ganz gewöhne.
                                                   gen, die zu erleben ihn glücklich machen.
Dass alles so
                                                   Ich verstehe das Gedicht als Aufforderung an
erstaunlich
                                                   mich – freu dich! –, und an uns alle – freut
bleibt, und neu!
                                                   euch! Zwei Wörter nur, die klar vermitteln:
Ich freu mich,
                                                   Nimm diese Botschaft an, du darfst alles,
dass ich …
                                                   was dir nicht zusagt, hinter dir lassen.
Dass ich
                                                   Schaue nach vorn und vornehmlich auf das
mich freu.
                                                   Schöne, dann wirst du dich freuen. Freude
                                                   bedeutet Lachen. Lachen ist die beste Medi-
                                                   zin, sie lindert so manches Zipperlein. Alles,
                                                   was an Ärgerlichem aus vergangener Zeit
17 Lebenserfahrung                                       Nr. 97 12.2019   Herbst-Blatt
nicht überwunden ist, muss man im Alter          Erich Kästner zusammen. Unter deren Ein-
nicht mehr ausgleichen. Man darf es verges-      fluss schrieb sie Gedichte für Kabarett und
sen, sich davon entlasten, befreien.             interpretierte so die Umwelt der kleinen Leu-
Mascha Kaléko beschreibt eine außerge-           te in Berlin. Zu ihren Lebzeiten veröffent-
wöhnliche Sache: Sozusagen grundlos ver-         lichte sie verschiedene Werke. Nach ihren
gnügt. Es gibt die Erkenntnis, sich grundlos     Tod im Jahre 1975 wurden noch viele weite-
geärgert zu haben. Um ein ärgerliches Ge-        re Arbeiten herausgegeben.
sicht mit Stirnrunzeln und runterhängenden       Wie auch bei Kästner oder Ringelnatz be-
Mundwinkeln zu machen, muss man drei-            wundere ich ihre skurrilen Einfälle und die
zehn Gesichtsmuskeln bewegen, zum Lachen         Fähigkeit, die Sichtweise auf Dinge neu und
nur zwei. Wozu sich also anstrengen?             verblüffend anders zu lenken. Es macht
Es ist genauso leicht, fröhlich und unbe-        Spaß, sich mit ihrer Literatur zu beschäfti-
schwert zu sein, als sich immer nur zu grä-      gen.
men.                                             PS: Freue dich, ´s Christkind kommt bald
Positiv zu denken ist oft der Schlüssel, um so   (aus dem Lied „Leise rieselt der Schnee“)
manches Problem mit kleinem Aufwand aus-
                                                 Fotos: Ulrike Wehner
zuräumen. Der Aufzug im Haus, in dem ich
wohne, ist defekt und fällt
für mehrere Tage aus. Wie
schön, dass es eine Treppe
gibt. Treppenlaufen ist
doch eine gute Trimm-
Dich-Übung. Ich sollte das
öfter machen.
Oder siegt wieder der inne-
re Schweinehund, wenn
der Aufzug repariert ist?
Das Schöne, Lustige, Fröh-
liche, Gute, Erfreuliche,
Angenehme darf nicht we-
niger Bedeutung haben als
das Traurige, das Enttäu-
schende. Es ist bestimmt
nicht schwer, sich selbst in
gute Laune zu bringen.
Man muss nur die trüben
Gedanken      verscheuchen
und an die Dinge denken,
die immer schon Freude
bereitet haben.
Mascha Kaléko wurde
1907 als Kind jüdischer
Eltern in Galicien geboren.
Die Familie ging 1918
nach Berlin. Mitte der
zwanziger Jahre kam sie
mit Joachim Ringelnatz,
Else Lasker-Schüler und
Herbst-Blatt               Nr. 97 12.2019                                            Gedanken 18

                                Gedankensplitter
                               Schöne neue Welt?
                                  - von Franz Wiemann -
Haben Sie, liebe Leser und Leserin, heute         „Schöne neue Welt“, der Roman von Aldous
schon gegoogelt? Also Ihr Smartphone be-          Huxley scheint hier Pate gestanden zu haben.
nutzt, um vielleicht die digitale Fassung Ihrer   Die Lenkung und Manipulierung ganzer
Tageszeitung zu lesen? Gehören auch Sie zu        Menschengruppen hat George Orwell in sei-
den Vielnutzern, sind also vernetzt mit           nem Roman „1984“ schon vor über 70 Jah-
Freunden, Verwandten und Bekannten, und           ren vorhergezeichnet.
zusätzlich auch noch mit diversen techni-         Es liegen jetzt neue Erkenntnisse vor, wo-
schen Geräten des Alltags? Seit über 20 Jah-      nach zu viel Kontaktaufnahme über die sozi-
ren gibt es dieses nützliche Gerät jetzt schon,   alen Medien zu einer Art Sucht führen könn-
und sein Gebrauchswert scheint ins Uner-          te. Schon länger wird das in der Formel
messliche zu steigen.                             „fomo“ ausgedrückt: „fear of missing out“.
Nun steht der Begriff Smartphone, wortwört-       Damit drücke sich ganz salopp die Angst
lich genommen, für „schlaues Telefon“, und        aus, die jemanden befällt, wenn er meint,
das sollten Sie ernstnehmen. Wie viele prak-      nicht über alles rechtzeitig und genauestens
tische Möglichkeiten eröffnen sich doch da-       informiert zu sein. Manche Nutzer zeigen gar
mit, wenn man mehr erreichen will als „nur        Anzeichen von Panik, wenn sie nicht immer
noch zu telefonieren“. Zum Renner gewor-          auf dem neuesten Stand sind. Beobachten Sie
den sind Volkshochschulkurse, die den Älte-       mal Ihre Mitmenschen daraufhin genauer.
ren von uns den Zugang zu diesem Gerät            Bis zu 40 mal in einer Stunde – speziell unter
verschaffen helfen. Wir wollen ja nicht abge-     Schülern/innen wurde das beobachtet – wirft
hängt erscheinen.
Dass wir aber leicht Fußstapfen in der Medi-
enwelt hinterlassen, wenn wir auch nur twit-
tern oder per WhatsApp uns untereinander
austauschen, wissen Sie bestimmt. Ganz böse
Zungen behaupten, die US-Dienstleister
NSA (National Security Agency) und andere
Geheimdienste würden mithören. „Na und? –
Unsinn!“ werden Sie jetzt sicherlich sagen.
Außerdem: „Ich habe nichts zu verbergen.
Denn was ich mitzuteilen habe, kann (fast)
jeder wissen!“
Die Schläue der Anbieter bzw. der Betriebs-
systeme geht aber viel weiter: Wir werden
sozusagen ausgeforscht, um nicht zu sagen
„ausspioniert“. Welchen Wagentyp Sie fah-
ren, was Sie literarisch interessiert und wel-
che Kaufgewohnheiten Sie haben, wissen
diese Experten schon längst von Ihnen: Jeder
Einkauf über den Onlinehandel, Nachfragen
bei Google und per E-Mail abgesetzte Mel-
dungen werden weltweit registriert. Der Da-
tenstrom, der allein von Europa in die USA
fließt, ist nahezu zehnmal höher als umgekehrt.
19 Gedanken                                              Nr. 97 12.2019     Herbst-Blatt
man einen Blick aufs Handy bzw. aufs             Anstrengung, sich zu erinnern, oder besser
Smartphone. Die Rechtfertigung, man habe         noch, etwas gar zu wissen, bleibt dabei ganz
ja nur die Uhrzeit ablesen wollen, erscheint     außen vor. Sie müssen ja nicht diesen Weg
da als pure Ausrede. Allein an diesem simp-      gehen, um an eine Information zu gelangen.
len Beispiel merkt man aber schon, wie sehr      Es bleibt selbstverständlich jedem selbst
sich unsere Gewohnheiten geändert haben.         überlassen, wie sehr er sich vom Einsatz des
Es geht um mehr. Es geht um unser gestiege-      Smartphones abhängig macht.
nes Bedürfnis nach Mitteilsamkeit, die halt      Die Tendenz geht jedoch eindeutig dahin.
auch mit gesteigerter Neugier verbunden ist.     Ob man es nun als Navigationsgerät nutzt,
Etwas nicht zu wissen, was Kollegen, Part-       als Kalender oder als Nachschlagewerk:
ner, Freund und/oder Freundinnen längst          „Mein Handy sagt mir, was ich am Tag so zu
schon wissen – das geht ja gar nicht.            erledigen habe“. Eine To-do-Liste der neuen
Längst sei das Handy, so der Ulmer Profes-       Art entsteht, die täglich abgearbeitet werden
sor für molekulare Psychologie Christian         will. Gleichzeitig greift eine neue Tendenz
Montag, zu „… einer Art Schweizer Ta-            der Vergesslichkeit um sich. Ohne Smart-
schenmesser geworden“, wie er es in einem        phone geht für einige User gar nichts mehr
Interview formuliert hat. Er spricht sogar       ab: Sie sind in hohem Maße verunsichert.
vom „ausgelagerten Gehirn“. Es erscheint         Seien Sie am Heiligen Abend also nicht
doch mehr als angenehm, wenn wir unser           überrascht, wenn neben dem Glöckchen am
Gehirn nicht so oft anzustrengen brauchen.       Tannenbaum noch etwas anderes erklingt: Es
Der so genannte „User“ könne sich derweil        könnte ja auch der Klingelton des neuen
ja anderen Dingen zuwenden.                      Handys sein, das (noch) frisch verpackt im
Um ein Beispiel zu geben: Statt umständlich      Geschenkpapier für Sie unterm Weihnachts-
in einem Lexikon nachblättern zu müssen,         baum liegt.
geht das viel schneller, wenn wir das per
                                                 Foto: Tim Reckmann/pixelio.de
Smartphone erledigen. Das Gehirn, also die

                            Hätten Sie es gewusst?
                                Schneeränder
                                   - von Benigna Blaß -
   Es ist wieder Winter. Man muss durch
   Schnee und Eis gehen. Die Schuhe und
   Stiefel werden nass und bekommen hässli-
   che weiße Ränder. Aber wie beseitigt man
   diese?
   Ein altes Hausmittel kann ihnen helfen.
   Sind die Schuhe und Stiefel sehr nass, bit-
   te reinigen und mit geknülltem Zeitungs-
   papier ausstopfen. Eine große Zwiebel
   oder eine Kartoffel halbieren und die
   Schneeränder damit einreiben. Ist alles
   trocken, so kann man danach das Schuh-
   werk wie gewohnt putzen, besonders mit
   guter Schuhcreme.                             Foto: Benigna Blaß
Herbst-Blatt             Nr. 97 12.2019                                           Biografie 20

                                   Lebensläufe
                               - von Klaus Thorwarth -

Keine Angst: Ich werde Ihnen hier keinen       Es handelt sich um meinen Großvater. Sein
persönlichen Lebenslauf bringen.               Name ist Franz Rudolf Priem, geboren in
Aber etwas gibt mir zu denken: Ist es nicht    Pommern im Jahr 1876. Mit 72 Jahren setzte
eigenartig, dass wir ständig über andere       er sich hin und schrieb ausführlich über sein
Menschen sprechen, dass wir alle möglichen     Leben und seine Familie (zwölf DIN-A4-
Texte schreiben, z. B. für das Herbst-Blatt.   Seiten).
Doch um uns selbst                                              Hier eine stark verkürzte
herrscht ein großes Tabu.                                       Zusammenfassung:
Haben wir zu viele Hem-                                         Seine Jugendzeit war sehr
mungen, über unser eige-                                        bewegt. Immerhin bestand
nes Leben zu schreiben?                                         er die Prüfung zum
Kennen Sie, liebe Leser,                                        „Einjährigen“ im Jahr
die folgende Geschichte?                                        1893. Die Familie be-
Ein Mann, der zu schnell                                        stimmte ihn, ohne sein Zu-
gefahren ist, wird von                                          tun, für die Apothekerlauf-
einem Polizisten angehal-                                       bahn. Wie die Handwerks-
ten.                                                            burschen wanderten da-
„Wie heißen Sie?“                                               mals die Auszubildenden
Antwort: „Konrad Ade-                                           von Ort zu Ort, so auch
nauer.“                                                         von Apotheke zu Apothe-
„Machen Sie keine Witze.                                        ke. Der Großvater berichte-
Wie ist Ihr Name?“ –                                            te, dass er den neuen Apo-
„Lothar Matthäus“.                                              thekenbesitzern immer er-
„Noch einmal, zum letz-                                         klärt habe, nur drei Monate
ten Mal, sonst passiert                                         bleiben zu wollen. Es
was: Ihr Name?“                                drängte ihn, mehr vom Beruf zu lernen und
Darauf der Fahrer: „Johann Wolfgang von        von seinem Heimatland zu erfahren. So kam
Goethe.“                                       er in Deutschland weit herum. Dann folgte
Der Polizist: „Na bitte, es geht also doch!“   1898 ein kurzes Studium an der Universität
Auch Sie denken gewiss: Was für eine           in Berlin. Das Staatsexamen bestand er mit
blöde Geschichte, und ungerecht, dass ein      „gut“. Für eine Promotion hätte er etwa 13
Polizist dabei so schlecht wegkommt.           Semester arbeiten müssen, das war ihm zu
Dabei kennen viele Menschen den Lebens-        lange. Die freiwillige Militärzeit beendete er
lauf von Goethe, als ob es ein naher Ver-      als Unterapotheker mit dem Zeugnis
wandter wäre. Fragt man aber einen Er-         „ausgezeichnet gut“.
wachsenen, so bringt der meist nicht einmal    Doch er wollte mehr von der weiten Welt
die Geburtsnamen seiner Großmütter hinter-     sehen. Mit Erfolg bewarb er sich um eine
einander. Noch weniger die Lebensdaten,        Apotheker-Stelle in Valparaiso in Chile,
die nun wirklich nichts über die Menschen      10.000 km von der Heimat entfernt, ohne
aussagen, oder den Ort der Geburt. Und in      Kenntnis der spanischen Sprache zu haben.
der Regel nichts aus der Lebensgeschichte.     Die Apotheke, die er bald leiten sollte, stat-
Doch Ausnahmen bestätigen die Regel.           tete Übersee-Schiffe mit Arzneimitteln aus.
Von einer solchen Ausnahme möchte ich          Die Zeit im Ausland bezeichnete er als die
hier erzählen.                                 schönste in seinem ganzen Leben.
21 Biografie                                           Nr. 97 12.2019   Herbst-Blatt
Dann kam die Katastrophe: Am 16. August          Es stellte sich sogar noch Nachwuchs ein.
1906 überlebte er nur knapp das desaströse       Die gemeinsame Tochter Ulrike wurde zur
Erdbeben in Chile. Die Stadt wurde total         Freude des Großvaters … Apothekerin!
zerstört und 8000 Menschen fanden ihren          Soweit der Lebenslauf des Großvaters.
Tod.                                             Ich gestehe, dass ich kürzlich einen ersten
Seine Ersparnisse waren dahin. Er ent-           Versuch meines eigenen Lebenslaufs wieder
schloss sich zur Heimreise. Daraus wurde         gefunden habe, den ich mit 17 Jahren für die
eine kleine Weltreise mit vielen spannenden      Schule schreiben musste.
Erlebnissen, von denen er in faszinierender      Zu meiner Überraschung las ich darin, mei-
Weise zu erzählen wusste. Mit dem Schiff         ne Hobbys wären gewesen: Sport, Wandern
fuhr er von Hafenstadt zu Hafenstadt. Er be-     und Fotografieren.
dauerte nur, literarisch nicht begabt zu sein.   Schon damals regte ich an, Wichtiges aus
Und ein Herbst-Blatt gab es ja noch nicht.       unserem Lebenslauf aufzuschreiben.
Nach 3 ½ Jahren war er wieder in Deutsch-        Hierzu passt, was der Mediziner Dr. Eckard
land. Er heiratete und gründete mehrere          von Hirschhausen schreibt:
Drogerien in Lübeck. Nach dem Tod seiner         „Stellen Sie sich vor, was auf einer Trauer-
Frau kam er nach Unna. Er hatte ein Zim-         feier Gutes über Sie gesagt werden soll.
mer im Nicolai-Haus. Durch den Zweiten           Welche Eigenschaften sind Ihnen wichtig,
Weltkrieg bedingt wurde er stellvertretender     welche Werte, welche Botschaften sollen
Leiter der Löwenapotheke seines Schwie-          über Ihr Leben hinaus in Erinnerung blei-
gersohnes Hans Thorwarth.                        ben?“
Eine große Umstellung: Nach 30 Jahren            Und er mahnt mit einem irischen Sprich-
ging er wieder seinem erlernten Beruf nach.      wort:
Auch in Unna vergaß er das Wandern nicht.        „Lebe so, dass die Leute an deinem Grab
Im SGV begegnete ihm die 20 Jahre jüngere        nicht zu sehr lügen müssen.“
Gertrud Altena aus Kamen. Mit 60 Jahren
heiratete er zum zweiten Mal.
Herbst-Blatt               Nr. 97 12.2019                                         Erinnerungen 22

                                Der Puppenwagen
                                   - von Ulrike Wehner -
Ein Sprichwort lautet „Wer suchet, der findet“.   überstand tapfer die Tortur und erwartete
Ich hatte etwas Wichtiges gesucht und fand es     meine Belohnung. Jedoch machte niemand
nach langem Stöbern und Kramen. Bei mei-          in der Praxis Anstalten, nach Bonbontüten zu
ner erfolgreichen Sucherei entdeckte ich aber     greifen, um sie mir zu überreichen. Die
noch etwas, das ich lange nicht in meinen         Schwäche durch die Nachwirkung der Nar-
Händen gehalten hatte. Es ließ mein Herz so-      kose nahm mir den Mut, danach zu fragen.
fort höher schlagen, und ich erinnerte mich       Meine Mutter traute sich auch nicht, aber auf
voll Wehmut an seine bittersüße Geschichte.       dem Nachhauseweg tröstete sie mich mit
Ich war etwa acht Jahre alt, als ein HNO-Arzt     dem Versprechen, ich dürfe mir etwas wün-
feststellte, dass meine Polypen in der Nase       schen. Sie nahm natürlich an, ich würde et-
entfernt werden müssten. Ich wusste von Be-       was Süßes haben wollen. „Nein, Mama“,
schreibungen mehrerer Mitschülerinnen, die        sagte ich, „ich möchte den roten Puppenwa-
diese Operation durchgestanden hatten, dass       gen von Eckert haben“. Verwundert meinte
                                                           meine Mutter: „An ein so großes Ge-
                                                           schenk habe ich nicht gedacht!“
                                                           „Nein, Mama, er ist nicht groß, er ist
                                                           winzig klein. Schau ihn dir doch erst
                                                           einmal an. Er steht gleich vorn an
                                                           der Schaufensterscheibe.“
                                                           Noch wackelig auf den Beinen
                                                           schaffte ich zielstrebig den Weg zum
                                                           Spielwarenladen. Ja, der kleine rote
                                                           Puppenwagen stand immer noch
                                                           ganz vorn, direkt hinter der großen
                                                           Scheibe des Schaufensters. Doch
                                                           meine Mutter sah ihn nicht. Sie
                                                           schaute nach oben, wo an unsichtba-
                                                           ren Fäden große Puppenwagen auf-
                                                           gehängt waren. Sie schüttelte den
                                                           Kopf. „Kind“, sagte sie, „ich weiß
der Eingriff sehr unangenehm wäre. Alle er-       nicht, was du meinst“. Ich deutete mit dem
zählten aber von der großen Tüte Bonbons,         Finger auf den unteren Rahmen des Schau-
die sie anschließend zum Trost vom „Onkel         fensters. Da standen mehrere Wägelchen in
Doktor“ bekommen hatten.                          verschiedenen Farben säuberlich aufgereiht.
Süßigkeiten gab es selten zu der Zeit, wenige     Ein Schildchen mit dem Preis lag daneben:
Jahre nach dem Krieg. Dafür war kein Geld         1.- DM, für mein Erspartes viel zu viel. Mei-
da. Manchmal kamen Verwandte zu Besuch            ne Mutter meinte, mein Wunsch sei sehr be-
und brachten uns Kindern etwas Schokolade         scheiden. Sie hatte keine Vorstellung davon,
mit. Die habe ich gehütet, sie manchmal her-      wieviel mir der Besitz bedeuten würde. Wir
vorgeholt und die Vorfreude auf das süße Er-      gingen ins Geschäft und ich bekam das er-
lebnis immer wieder ausgekostet. Erst nach        sehnte Stück. Die Vorliebe für kleine Dinge
Tagen habe ich sie mit Bedacht gegessen.          habe ich bis heute behalten, und der kleine
Der verabredete Termin für die Operation          rote Puppenwagen hat mir viel mehr Freude
war gekommen und meine Mutter begleitete          gemacht als eine ganze Tüte Bonbons.
mich. Brav fügte ich mich in mein Schicksal,      Foto: Franz Wiemann
23 Weihnachten                                            Nr. 97 12.2019       Herbst-Blatt
                            Eine alte Geschichte
                           aus der Weihnachtszeit
                                 - von Klaus Thorwarth -
Der Nikolaus kam dieses Jahr nicht. Der          der Mann. Und nachher sagte er, dieses Jahr
Mann hatte seinen beiden Kindern erklärt, es     würde es nichts zu Weihnachten geben. Und
gäbe überhaupt keinen Nikolaus. Die beiden       – darum ginge es ja sowieso nicht, dieser
Mädchen waren vier und fünf Jahre alt.           Rummel ...
Aber vielleicht spielte auch eine Rolle dabei,   Dann knurrte er noch irgendwas vor sich hin.
dass die Mutter nicht zu Hause war. Sie lag      Die Kinder verstanden es nicht.
im Krankenhaus. Ein Betriebsunfall.              Am Heiligen Abend ging er mit den Mäd-
Jetzt hatte der Mann für alles zu sorgen, und    chen in den Kindergottesdienst. Der Pfarrer
es drehte sich manchmal in seinem Kopf.          sagte, es ginge nicht um die Geschenke, son-
Weihnachtsgeschenke sollte er besorgen. Am       dern um etwas ganz anderes.
Sonntagnachmittag ging er los, die                       Der Mann fühlte etwas wie Stolz und
Kinder hinter sich her ziehend, dräng-                   dachte bei sich: „Jawohl, und bei uns
te er durch die Menschenmassen.                          gibt es das jetzt auch nicht mehr.“
„FROHES FEST“ leuchtete es in                            Sie kamen nach Hause. Da war keine
Grün, „FROHES FEST“ in Rot, jetzt                        Bescherung. Einen Tannenbaum hat-
in Gelb und Blau. Die Straßen waren                      ten sie auch nicht. Und das Weih-
voll von Menschen. Immer wieder                          nachtsgebäck fehlte, das die Mutter
quollen sie vom Bürgersteig auf die                      sonst immer so schön zubereitete.
Straße hinab. Es war nicht ganz unge-                    Auf einmal fingen die Kinder an zu
fährlich.                                        weinen. Sie weinten anders als sonst, erst
Ein Meer von Lichtern. In riesigen Lettern       noch still, dann so fürchterlich unaufhaltsam.
kletterte Leuchtschrift die Häuser auf und ab.   Der Mann fragte, aber sie antworteten nicht,
„Schönes Fest“, – „Schenken macht Freude“,       sondern schüttelten nur ihre blonden Köpf-
– „Schenk Deinen Lieben etwas Liebes“.           chen.
Der Mann aber wollte zum Kaufhaus. Die           Er versuchte sie zu beruhigen. Aber es ging
beiden Kinder ließ er vor dem Schaufenster       nicht. Er verstand es nicht. Dann brachte er
stehen. „Dass Ihr mir nicht weggeht!“- Nein,     sie zu Bett. Als sie ruhig waren, verließ er
sie gingen nicht weg. Sie schoben sich nur       das Haus, um die Mutter zu besuchen, das
langsam an den Fenstern entlang, bis ihr         war an diesem späten Abend noch erlaubt.
Fenster kam – das mit den Puppen.                Ist es noch nötig, dass ich Euch den Schluss
Erstickende Wärme schlug dem Mann entge-         der Geschichte erzähle? Ich glaube nicht. Ihr
gen, als er sich über die Luftschleusen hin-     werdet Euch schon denken, dass der Mann
einzwängte. Er blieb stehen. „Stille Nacht,      sehr lange mit der Mutter sprach, bevor er
heilige Nacht“ kam es aus den Lautspre-          langsam nach Hause ging.
chern. Plötzlich verfärbte sich der Mann. Es     Aber nicht um zu schlafen, sondern, dass er
war, als ob ihm übel würde. Erstarrt, reglos     die ganze Nacht beschäftigt war...
ging sein Blick in das Treiben. Eine Weile,      Und ... dass es am nächsten Morgen eine
dann drehte er sich um. Sehr langsam ging er     Bescherung gab. Zwar fehlte der Weih-
zu den Kindern.                                  nachtsbaum, aber es gab einen großen Teller
Sie wollten ihm gerade die Puppen zeigen,        Gebäck und schöne Geschenke.
ihre Puppen, die sie sich ausgesucht hatten.     Denn die hatte die Mutter schon frühzeitig
Als sie in sein Gesicht sahen, sagten sie        besorgt.
nichts mehr. „Wir gehen nach Hause“, sagte       Zeichnung: Andrea Irslinger
Herbst-Blatt                Nr. 97 12.2019                                                Glosse 24

                      Was, bitte, ist ein Bärenticket?
                              Eine Reise in die Fremde
                                   - von Bärbel Beutner -
Wir sind globalisiert. Mit einem Tastenklick       ich in Köln ein Nahverkehrs-Ticket lösen
schicken wir eine Nachricht in die ganze           müsse. „Kann ich da denn nicht mit meinem
Welt. Eine Antwort kommt dann von einem            Bärenticket fahren?“, fragte ich. Und da kam
Android Smartphone einer Person, die weit          die Gegenfrage: „Was – bitte – ist ein Bären-
weg, wenn nicht gar im Ausland ist. Wir            ticket?“
twittern und posten und skypen. Grenzen gibt       Ich war sprachlos. Unser Bärenticket – „für
es nicht mehr …                                    Aktive über 60“, steht da drauf – das Netzti-
Das gilt nicht nur für das Nachrichtensystem.      cket für den Rhein-Ruhr-Verbund, ohne das
Auch andere Bereiche sind längst globali-          ich keine Beine hätte oder schon längst Bettle-
siert. Meine Nachbarin wird von einer polni-       rin geworden wäre. „Kennen Sie das wirklich
schen Pflegekraft betreut, meine Fußpflege         nicht?“, fragte ich die Beamtin. Nein, sie kann-
wird von einer türkischen Mitarbeiterin koor-      te es wirklich nicht. Wir lachten beide herz-
diniert, meine Frauenärztin ist eine Ungarin,      haft. Schwäbisch sprach sie nicht …
meine ostpreußische Tracht wird von einer          Dafür ein Herr am Taxistand umso mehr, der
portugiesischen Schneiderin repariert – um         sehr in Zorn geraten war. Seit zwanzig Minu-
ehrlich zu sein: sie muss an den Seitennähten      ten warte er hier auf ein Taxi. „Das erschte is
„ausgelassen“ werden, denn sie ist zu eng          einfach loschgefahre!“, empörte er sich. Ich
geworden ... Aber das gehört nicht hierher ...     verstand immer nur Versatzstücke. Das zwei-
Und doch: Auch in einer globalisierten Welt        te fuhr in eine andere Richtung. „Ich soll auf
kann man in die Fremde geraten. Ich reiste         das nächschte warte, hat der Fahrer gesagt!
kürzlich ins Schwabenland. In Karlsruhe ver-       Sowas soll es doch nich gäbe dürfe!“ Er wür-
passte ich den im Fahrplan angegebenen An-         de „sich beschwäre“. Er telefonierte. Ich ver-
schluss-Zug nach Pforzheim, meinem Ziel-           stand nichts mehr. Am anderen Ende musste
ort. Ein Blick auf den Fahrplan zeigte, dass       wohl auch ein echter Schwabe sein. Aber
der nächste Zug Richtung Stuttgart über            nach fünf Minuten kam ein Taxi. Der Fahrer
Pforzheim in zwanzig Minuten ging. Als ich         nahm uns beide mit.
auf dem Bahnsteig 11 ankam, stand dort ein         Die üble Laune des Schimpfenden hielt je-
Zug, und angezeigt war auch „Stuttgart über        doch an. Schließlich erzählte ich, dass ich
Pforzheim“. Trotzdem fragte ich einen jungen       manchmal auf der Schwäbischen Alb bin,
Mann, der meine – eigentlich dumme – Frage         kiloweise Maultaschen esse und dass uns die
freundlich beantwortete. „Ja, das isch der Zug!“   Herbergswirtin dort den leckeren Wurstsalat
In Pforzheim angekommen, suchte ich das            macht. Die Schimpfkanonade verebbte. Es
Reisezentrum auf. Es hatte sich nämlich            wurde gelächelt. „Jaja, unser Wurschtsalat!
kurzfristig ein Problem ergeben. Auf der           Das isch das Bäschte!“
Rückfahrt musste ich, anders als geplant, von      Die Fahrt von Köln nach Düsseldorf sollte
Köln nach Düsseldorf fahren, hatte aber als        sich auf der Rückreise noch schwierig gestal-
Fahrkarte ein Sparpreis-Ticket, mit dem man        ten. Mehrere Kontrolleure fragte ich wegen
bestimmte Züge nehmen muss. Der freundli-          der Gültigkeit meiner Fahrkarte. Keiner
chen Beamtin schilderte ich meine Lage, vor        wusste so recht... Einem vertraute ich mein
allem die Frage, ob und wie ich nach Düssel-       Erlebnis mit der Beamtin in Pforzheim an, die
dorf käme (denn ich musste um 14.00 Uhr            das Bärenticket nicht kannte. Er lächelte fein.
dort sein) und wieviel ich dazu zahlen müss-       „Das kann man in Süddeutschland doch nicht
te. Sie suchte lange und sorgfältig im Com-        kennen, so eine westfälische Spezialität!“
puter und konnte mir schließlich sagen, dass       Zeichnung: Andrea Irslinger
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