Nr. 97 Dezember 2019 - Januar - Februar 2020 - WINTERLICHES - Kreisstadt Unna
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MAGAZIN FÜR UNNA Dezember 2019 – Januar – Februar 2020 Nr. 97 WINTERLICHES AUSSERDEM IN DIESER AUSGABE: ERINNERUNGEN • LEGENDE • TRADITION WEIHNACHTSGESCHICHTEN
Herbst-Blatt Nr. 97 12.2019 Editorial 2 Inhalt Liebe Leserin, lieber Leser! 3 Also sprach der Esel: sicherlich ist es Ihnen selbst schon aufgefal- „Erhebe nie deine Stimme!“ len. Es dauert nicht mehr lange und die 4 Christrosen 100-ste Herbst-Blatt-Ausgabe geht in Druck. 6 Das Adventssingen Ist es da nicht an der Zeit, Sie als interes- 7 Ein gestörter Weihnachtsabend sierte Leser auch einmal zu Wort kommen 8 Spieglein, Spieglein ... zu lassen? Wer war Schneewittchen? Welche Erfahrungen haben Sie in den letz- 10 Ein Besuch im Sterbehaus der Maria ten Jahren mit der Seniorenzeitschrift ge- 12 Trauer, Schmerz und Fröhlichkeit macht? Hat Sie ein Heft in einer besonderen 14 Ein Göttertrank – Kakao Lebenssituation erreicht? War die Zustel- lung vielleicht unter kuriosen Umständen 16 Zur Nachahmung empfohlen erfolgt? Hat ein Bericht Erinnerungen 18 Gedankensplitter – Schöne neue Welt? wachgerufen oder eine Antwort auf eine 19 Hätten Sie es gewusst? Schneeränder Frage gegeben, mit der Sie sich schon lange 20 Lebensläufe auseinander gesetzt haben? Das Leben hat 22 Der Puppenwagen so viele Facetten. Vielleicht gibt es aber 23 Eine alte Geschichte aus der auch eine Anekdote, die Sie schon immer Weihnachtszeit einmal mitteilen wollten. Jetzt sollen Sie die 24 Was, bitte, ist ein Bärenticket? Gelegenheit dazu bekommen. Eine Reise in die Fremde 25 Unvergessliches Weihnachtsgeschenk Impressum Herausgeberin: Kreisstadt Unna Hertinger Straße 12 59423 Unna Tel.: 02303/256903 Internet: www.unna.de/herbstblatt/ V.i.S.d.P: Dr. Bärbel Beutner Internet: Marc Christopher Krug Redaktion: Sie können uns Ihre Geschichte auch gerne Andrea Irslinger, Bärbel Beutner, Benigna Blaß, erzählen oder an unsere Redaktion schrei- Brigitte Paschedag, Christian Modrok, Franz Wiemann, Ingrid Faust, Klaus W. Busse, Klaus Thorwarth, ben. Das Team trifft sich jeden Mittwoch Reinhild Giese, Ulrike Wehner um 9.30 Uhr im Seniorentreff, dem Seniorenbeauftragter: Robin Rengers „Fässchen“, Hertingerstr. 12, Unna, in der Seniorenarbeit Fäßchen: Markus Niebios Titelfoto: Klaus Thorwarth zweiten Etage links. Gestaltung: Andrea Irslinger Haben wir Ihnen Mut gemacht, einen Beitrag Druck: WIRmachenDRUCK GmbH, zur 100-sten Herbst-Blatt-Ausgabe zu geben? Backnang Wir freuen uns auf Ihre Rückmeldungen und sehen in Ihrem Engagement die Moti- vation, auch die nächsten 100 Herbst-Blätter für Sie zu schreiben. Das nächste mit der Nr. 98 erscheint Im Namen der Redaktion im März 2020! Anne Nühm Zeichnung: Andrea Irslinger
3 Meinung Nr. 97 12.2019 Herbst-Blatt Also sprach der Esel: „Erhebe nie deine Stimme!“ Als wir im September wieder einmal bei gazin gelesen, dass ein Ratsherr, wahr- schönem Wetter mit meinem Freund und scheinlich unzufrieden mit dem Verlauf der Treiber durch Unna schlenderten, trafen Diskussion, mit Gebrüll den Saal verlassen wir einen alten Bekannten. Er lud uns in hatte. Mit hochgezogenen Augenbrauen einen Biergarten ein, denn er wollte in Ru- fragte mein Freund: „Ein Ratsherr?“ Der he mit meinem Freund etwas plaudern. Ich Bekannte bestätigte: „Ja, ein Ratsherr.“ Es war froh, dass er diesen Ort wählte, denn da störte ich niemanden, wenn ich hinter ihren Stühlen stand und zuhören konnte. Nach ein paar Freundlichkeits- floskeln resümierten beide das Thema Stadtfest. Bei- de stellten fest, dass sie am selben Tag und zur gleichen Zeit in der Stadt waren und sich nicht ge- troffen hatten. Aber beide waren sich auch einig, dass man in dem an die- sen Tagen herrschenden Gedränge sogar seine Be- gleiter verlieren kann. Deswegen hat mich mein Freund auch nicht mitge- hen lassen, und er selber war schnell wie- folgte ein Moment der Stille. Dann zitierte der zu Hause. Beide waren sich auch einig, mein Freund einen Satz eines jungen Ver- dass in allen Teilen der festlich ge- wandten, eines Jurastudenten: „Erhobene schmückten Stadt eine entspannte Stim- Stimme zeugt nicht von Recht.“ Der Be- mung herrschte, und dass man selten so kannte quittierte: „So etwas ist eines Rats- viele fröhliche Gesichter sah. Ich durfte herrn nicht würdig.“ beim „Nachglühen“ am Montagabend noch die Lichterflut bestaunen. Herzlichst, Dann aber schnitt unser Bekannter ein an- Ihr Balduin deres Thema an. Er fragte meinen Freund, Zeichnung: Klaus Pfauter ob er auch von dem Eklat auf einer Ratssit- Foto: Christian Modrok zung gelesen hätte. Als mein Freund ver- neinte, fuhr er fort. Er hatte in einem Ma-
Herbst-Blatt Nr. 97 12.2019 Natur 4 Christrosen - von Benigna Blaß - Die Adventszeit ist da, und in vielen Gärt- immergrüne Pflanze, die 10–30 cm Höhe nereien und Blumengeschäften findet man erreichen kann. An einem geschützten Weihnachtssterne und Christrosen. Letzte- Platz kann sie bis zu 25 Jahre alt werden. re, eine besondere Schönheit, wird in Scha- Sie besitzt eine schwarze Wurzel und len zur hübschen Advents- und Weihnachts schwarze Rhizome, horizontal wachsende -dekoration gepflanzt. Auch kleine Sträuß- Sprossenachsen. Diese lassen im Sommer chen für die Vase finden großen Anklang. kleine Niederblätter wachsen, um Nahrung Die Christrose (Helleborus niger) gehört in Form von Stärke zu speichern, die sie zur Familie der Hahnenfußgewächse und der Pflanze im Winter wiedergeben kön- wird in manchen Gegenden auch Schnee- nen. Die Rhizome breiten sich weit aus und können neue Pflanzen erzeugen. Die Pflanze und besonders die Wurzeln und Rhizome sind sehr giftig, wurden aber früher in der Pflanzenheilkunde viel ver- wendet: als Herzmittel, gegen lang andau- ernde Melancholie, Wahnsinn, Epilepsie und Gicht. Sie sind harntreibend und sogar ein Bestandteil des Niespulvers. Im 16. und 17. Jahrhundert las man schon in Kräuter- büchern, dass sie giftig ist und dass eine Überdosierung zum Tode führen kann. „Drei Tropfen machen rot, 10 Tropfen machen tot.“ Doch gegen Vergiftung sollte Ziegenmilch helfen. rose, Weihnachtsrose, in den Alpenländern Wendewurz, da sie in der Wintersonnen- wende, in der Zeit der längsten Nächte blüht, und in Österreich sogar Feuerwurzel genannt. In früheren Zeiten wuchs sie nur in höheren Lagen im Gebirge, doch im 16. Jahrhundert versuchte man, sie in mitteleuropäischen Gärten heimisch zu machen. Erst im 19. Jahrhundert entstanden Zucht- arten mit großen 5–10 cm weißen Blüten, die um die Weihnachtzeit erblühen. Die Samen, die einen Ölkörper besitzen, sind erst im Frühsommer reif und sind beliebt bei Ameisen und Schnecken, die sie gleich- zeitig verbreiten. Die Christrose ist eine
5 Natur Nr. 97 12.2019 Herbst-Blatt Im 17. Jahrhundert wurden in England Tei- In einigen Weihnachtsliedern wird diese le der Schneerose in der Tierheilkunde ge- Blume besungen: gen Husten und Vergiftung verwendet. Oh schöne Blume, die wir finden, Man stach dem betreffenden Tier ein Loch da alle sonst der Frost geraubt. ins Ohr, steckte ein Stück von der Wurzel Den Sieg des Lichtes zu verkünden, hinein: diese musste 24 Stunden drin blei- Erhebst du überm Schnee das Haupt ... ben. Beim Schwein wurde gegen die Von Johannes Trojan (1837–1915) Schweinepest eine Blüte ins Ohr gelegt. In der Antike soll der griechische Arzt und Eduard Mörike ging einst über einen Fried- Seher Melampus die Töchter des Königs, hof, sah die Christrose und schrieb: die an Wahnsinn litten, geheilt haben. Schön bist du Kind des Mondes, Noch heute wird es in der Volksmedizin als nicht der Sonne! Brech- und Abführmittel gegeben. Dir wäre tödlich anderer Blume Wonne, Die Christrose ist so beliebt, dass viele Dich nährt, den keuschen Leib Schriftsteller und Dichter sich mit ihr be- voll Reif und Duft, fasst haben. Himmlischer Kälte balsamsüße Luft. Ludwig Ganghofer erwähnt sie in seinem Roman „Der Klosterjäger“ als Symbol ewi- Fotos: Benigna Blaß; Zeichnung: Helga Wirriger gen Lebens und Heilmittel. Selma Lagerlöf schrieb eine Legende von der Christrose; sie handelt von der Gnade für eine Räubermutter dank der Blume im Weihnachtsgarten.
Herbst-Blatt Nr. 97 12.2019 Advent 6 Das Adventssingen - von Anne Nühm - Sehr lange hatte Tick-Tack-Oma den Tick- Anne kam auf die Idee, dass die Eltern und Tack-Opa gepflegt. Er war ganz ruhig ein- Kinder den Standort wechseln und die geschlafen und zu Grabe getragen worden. nächsten Strophen auf dem Flur singen Die Kinder waren der Meinung, dass es könnten. Alle waren einverstanden. Sie nun für ihre Mutter und Großmutter an der setzten das Adventsingen auf dem Etagen- Zeit wäre, wieder einmal an sich zu den- flur fort. Immer mehr der bis dahin ver- ken, um neue Kraft zu schöpfen. Aber die schlossenen Türen öffneten sich. Die Grup- Tick-Tack-Oma sah sich nicht mehr in der pe fühlte sich bestätigt und beflügelt, den Lage, ihren kleinen Haushalt allein weiter- Gesang nicht abbrechen zu lassen. Beson- zuführen, wollte niemandem zur Last fallen ders reizvoll war es, dass die Akustik des und war davon überzeugt, in einem Alten- Flurs dazu beitrug, dass sich die Stimmen heim am besten aufgehoben zu sein. Und wie die eines Chors und nicht wie die einer so wurde das Seniorenheim in Dortmund- vierköpfigen, ganz normalen Familie an- Lütgendortmund ihr neues Zuhause. Bei hörten. einem der Besuche wollten Anne, ihr Mann Ihr Einsatz hat wieder einmal gezeigt, dass und die Söhne ihr eine besondere Freude die Freude, die wir geben, ins eigene Herz machen und hatten eine Gitarre und Lieder- zurückkehrt. Wie heißt es doch so schön: bücher mitgebracht. Sie wollten die ange- Wo man singt, da lass dich nieder. Böse brochene Adventszeit nutzen, um die Texte Menschen haben keine Lieder. der Weihnachtslieder, die sie schließlich Foto: Franz Wiemann ein ganzes Jahr nicht mehr ge- sungen hatten, wieder aufzufri- schen. Nachdem alle Neuigkeiten ausgetauscht waren, griff der Ehemann zum Musikinstrument und stimmte das erste Lied an. Schnell hatten sich die Stimmen eingesungen, wodurch sich die Lautstärke entsprechend erhöhte. Als die ersten zwei Lieder ver- klungen waren, nahm die Familie ein zaghaftes Klopfen an der Zimmertür wahr. Auf das „Herein“ betrat eine ältere Dame den Raum. Zunächst rechneten alle mit einer Beschwerde über ruhestörenden Lärm. Umso er- staunter waren sie, als die Frau danach fragte, ob sie die Tür ganz öffnen dürfte. Der Gesang würde durch die Wände hörbar sein und hätte die anderen Heim- bewohner neugierig gemacht.
7 Weihnachten Nr. 97 12.2019 Herbst-Blatt Ein gestörter Weihnachtsabend - von Christian Modrok - Wie jedes Jahr versammelte sich die Fami- Großvater blieb nur eine leichte Rötung an lie bei den Großeltern zum feierlichen seinem Arm. Weihnachtsessen. Großmutter verstand es, Der Schock war verflogen, Oma reichte mit ihren vielfältigen Gerichten für jeden ihm ein frisches Hemd und der feierliche Geschmack etwas Besonderes vorzusetzen. Abend war gerettet. Trotzdem blieb dieses Großvater war immer stolz auf seinen Ereignis nicht ohne Konsequenzen. Am Christbaum. Es musste unbedingt ein ech- Morgen nach dem zweiten Feiertag schlich ter sein, wenn möglich eine Nordmanntanne. Früher reichte der Baum auch vom Fuß- boden bis zur Decke. Jetzt begnügt er sich mit einem kleineren, aufgestellt auf einem Beistelltisch. Er fand nie gute Worte für die künstlichen Weih- nachtsbäume. Auch durfte kein Plastik- schmuck an den Baum, nur Glaskugeln, even- tuell Omas selbstgeba- ckene Lebkuchen, da- zu Lametta und echte Kerzen. Es kam der Heilige Abend. Die Familie versammelte sich fei- erlich gekleidet zum Abendessen. Großva- ter hatte eine schwarze Hose, Weste, Fliege und ein weißes Hemd Großvater aus dem Haus und ging gerade- angezogen. Er, als der Senior, hatte sich wegs in den Baumarkt. Dort bekam er vorbehalten, die ersten Kerzen selbst anzu- noch eine, schon aus der Ausstellung abge- zünden. Als er bemerkte, dass er eine weni- räumte Lichterkette. Diese wurde noch ger zugängliche Kerze ausgelassen hatte, nachträglich installiert, denn zu Silvester wollte er ihr noch das Feuer reichen. In die- sollte der Baum noch einmal im vollen sem Moment fing der Hemdsärmel von ei- Glanz erstrahlen. Spaß hatten auch die En- ner schon brennenden Kerze Feuer. Ein kel. Sie durften die Lichterkette ein- und Laut des Entsetzens kam aus aller Munde. ausschalten, so wie sie wollten. Es zeigte sich aber, dass außer dem kaput- Foto: Christian Modrok ten Hemd nicht viel passiert war. Dem
Herbst-Blatt Nr. 97 12.2019 Kultur 8 Spieglein, Spieglein ... Wer war Schneewittchen? - von Brigitte Paschedag - Das waren in meiner Kindheit die schöns- Die sieben Zwerge ten Zeiten des Tages, wenn meine Mutter Im Spessart wurde früher sehr viel Bergbau sich mit einem großen Buch zu mir auf die betrieben. Dafür brauchte man wegen der „Chaiselongue“ setzte und mir ein Märchen niedrigen Stollen Kinder oder Kleinwüch- vorlas. Einerseits konnte man sich so schön sige, die zum Schutz vor Steinschlag Kapu- gruseln, sich aber andererseits auch darüber zenmäntel trugen. freuen, dass immer alles gut ausging. Eins der Märchen hat mich immer beglei- Die sieben Berge tet: „Sneewittchen“, wie es bei den Brüdern Um von Lohr aus zu den Bergwerken zu Grimm heißt oder „Schneewittchen“, wie gelangen, musste man sieben Berge über- man heute meistens sagt: Als Märchen, als queren. Zeichentrickfilm von Walt Disney und als (Den Schneewittchenweg kann man heute Theaterstück in Santa Ana, Kalifornien. begehen). Man geht heute davon aus, dass viele Mär- chen durchaus einen realen Hintergrund Wer aber war das historische Vorbild für haben. Die Stadt Lohr am Main bean- Schneewittchen? Möglicherweise Maria sprucht für sich, die Schneewittchenstadt Sophia von Erthal, deren Grabstein kürz- zu sein. Was erst nur eine Stammtischidee lich wieder auftauchte. Sie wuchs im war, die Dr. Karl-Heinz Bartels aufbrachte, Schloss in Lohr auf. Über ihr späteres Le- nämlich dass Schneewittchen aus Lohr ben in einem Bamberger Kloster ist nicht stammen müsste, ist heute Thema wissen- viel bekannt. Sie soll aber besonders schön schaftlicher Untersuchungen. Und es gibt und wohltätig gewesen sein. gute Gründe für die These. Nach dem Tod seiner ersten Frau 1741 hei- ratete ihr Vater Philipp Christoph von Ert- Die Familie hal, ein Kur-Mainzischer Oberamtmann, Offensichtlich war Schneewittchens Vater 1743 in zweiter Ehe Claudia Elisabeth von zum zweiten Mal verheiratet, und die Stief- Venningen, geb. von Reichenstein. Sie mutter wollte die Kinder aus seiner ersten wurde somit zur Stiefmutter der sieben Ehe loswerden. Kinder aus seiner ersten Ehe. Sie nutzte ih- re Stellung zum Vorteil ihrer eigenen Kin- Der Spiegel und der gläserne Sarg der und galt als herrschsüchtig, gewissen- In Lohr stellte man früher Gläser und Spie- los und grausam gegenüber ihren Stiefkin- gel her. Außerdem gab es am Nordrand des dern. Im Spessartmuseum wird ein „spre- Spessart einige Glashütten. chender Spiegel“ ausgestellt. Er stammt Der Spessart war in früheren Zeiten gefähr- aus dem Jahr 1720, ein besonders prunk- lich. Räuberbanden trieben dort ihr Unwe- volles Exemplar. Der Rahmen des Medail- sen, wie es Wilhelm Hauff in seinem Mär- lons ist mit rotem Lack und Silber- und chen „Das Wirtshaus im Spessart“ be- Goldfolie verziert. Er trägt die Inschrift schreibt. „Amour Propre“ (Eigenliebe). Wahrschein- lich war er ein Geschenk ihres Mannes, dem eine Glasmanufaktur in Lohr unter- stand. Die Inschrift dürfte für die
9 Kultur Nr. 97 12.2019 Herbst-Blatt Beschenkte ein Ärgernis gewesen sein. Trotzdem bleiben viele Fragen offen, wie Wer lässt sich schon gern Eigenliebe vor- z. B.: Wer war der Prinz? Wo fand die werfen? Sogenannte Sprechende Spiegel Hochzeit statt? Gab es das Zwergenhaus in gab es häufiger. Sie „sprachen“ durch ihre Bieber? Inschrift. Weiß man vom Leben der Maria Sophia Schneewittchen muss gewusst haben, dass von Erthal wenig, so ist ihr Tod gut doku- sie auf Kur-Mainzischem Gebiet nicht si- mentiert. Sie starb 1796, kurze Zeit bevor cher war. (Im Märchen schlagen zwei Ver- die Brüder Grimm das Märchen von suche, sie zu töten, fehl. Erst beim dritten Schneewittchen veröffentlichten. Ihr Grab- Mal scheint der Mord gelungen zu sein. stein wurde kürzlich wiedergefunden. Er Aber sie erwacht wieder). Schneewittchen wurde gereinigt und restauriert und steht verließ deshalb die Heimat und wanderte heute im Diözesanmuseum von Bamberg, bis in die Gegend von Hanau. Hier, hinter eine unscheinbare graue Marmorplatte, nur den sieben Bergen, traf sie wohl in Bieber mit ein paar Sternchen verziert. Ihr Testa- auf die „Zwerge“. Der ca. 35 km lange ment befindet sich im Stadtarchiv von Fluchtweg ist heute bekannt als Schnee- Bamberg, ebenso ihr Totenzettel. wittchenwanderweg. Er kann in drei Tagen Es klingt durchaus überzeugend, dass begangen werden. Maria Sophia von Erthal als Vorbild für Für die Mordversuche gibt es gute Mög- Schneewittchen diente. Oder ist alles doch lichkeiten: Der Apfel, der Schneewittchen nur ein Märchen? töten sollte, kam von den Streuobstwiesen, Zeichnung: wikipedia.de die es heute noch rund um Lohr gibt, und das Gift wahrscheinlich von der Tollkir- sche, die im Spessart häufig vorkommt.
Herbst-Blatt Nr. 97 12.2019 Legende 10 Ein Besuch im Sterbehaus der Maria - von Erhard Kayser - Fast jeder Türkei-Tourist besucht Ephesus fens Izimir noch nicht da. Die Andenken- am Ägäischen Meer. Hier waren auch buden haben geschlossen. Man hört Hun- schon bedeutendere Leute zu Besuch: Ale- derte von Singvögeln in der lauen Sommer- xander der Große, der römische Kaiser luft. Das „Haus der Maria“ (türkisch: Hadrian und der Apostel Paulus. Wieder Meryam Ana) weist eine (wunderwir- andere haben hier gewohnt: Krösus, der kende) Quelle auf. Daneben eine alte Tauf- Evangelist Johannes, Aquila und Priscilla. beckenanlage. Im Haus selbst nur fünf klei- Man kann das in der Bi- ne Räume. Einer heißt bel oder in Geschichts- „Die Schlafstelle der Ma- büchern nachlesen! ria“. Im Hauptraum steht Aber nun das Erstaunli- ein einfacher Steinaltar che: Auch Maria, die mit einer dunklen Mari- Mutter Jesu, soll hier ge- enfigur. wohnt haben und hier Das Gebäude war vor verstorben sein. Dafür tausend Jahren in die gibt es tatsächlich An- Form einer kleinen An- haltspunkte, die man dachtskapelle umgebaut ernst nehmen kann. Des- worden. Heute wirkt es wegen waren auch kirch- wie neu errichtet. In der liche Würdenträger zu Tat wurde es gründlich Besuch. Papst Paul Vl. renoviert. Das war Ende kam im Jahr 1967 und der 60er Jahre. Früher Papst Johannes Paul II war die Anlage nur eine 1979. Sie machten dem verkommene Ruine. heiligen Ort ihre Reve- Wenn die alten Überliefe- renz, obwohl auch in Je- rungen stimmen, wonach rusalem eine Stelle ge- Maria als alte Frau hier zeigt wird, wo Maria be- gelebt hätte, müsste sich graben sein soll. Das ist unter den Resten dieser das schlichte Mariengrab Ruine auch noch etwas in einer Krypta am Öl- aus uralter Zeit finden. So berg. war es denn auch. Archä- Schlicht, aber ehrwürdig ologen stießen auf ist auch die Verehrungs- Grundmauern eines ural- stelle bei Ephesus. Pilger früherer Zeiten ten römischen Hauses aus dem ersten Jahr- hatten einen extrem anstrengenden Auf- hundert, in dem Maria wohl gelebt hat. stieg auf den Nachtigallenberg. Er ragt Es wird noch wundersamer! Dazu muss hoch über den Ruinen von Ephesus. Auch man in Gedanken in den westfälischen Ort heute fährt der Touristenbus auf gewunde- Dülmen gehen. Es ist Mitte des 18. Jahr- ner Waldstraße sieben Kilometer gemäch- hunderts, dort lebt die Nonne Katharina lich in die Höhe. Kommt man früh am Emmerich. Sie sieht in Visionen das Mari- Morgen, so sind die Hunderte von Interes- enhaus in der fernen Türkei, obwohl da- senten von den Kreuzfahrtschiffen des Ha- mals noch niemand davon wusste.
11 Legende Nr. 97 12.2019 Herbst-Blatt Ihre Angaben schreibt der Dichter Clemens Welt stand in Ephesus! Außerdem: Johan- von Brentano auf – und erst jetzt beginnt nes beweist in seinen Schriften eine gründ- man, sich für die Sache zu interessieren. liche Kenntnis der Lebensweise in den Die Ruine wird 1891 in dichtem Unterholz Städten Kleinasiens! entdeckt. Der Ort hoch oben in der unberührten Natur Man las auch im Neuen Testament nach der türkischen Berge hat eine ergreifend- und fand die Kreuzesworte Jesu, Johannes anrührende Atmosphäre. Er bezeugt auf 19, 26-27: „Da nun Jesus seine Mutter sah seine Weise, dass wir Maria als eine le- und den Jünger dabeistehen, den er lieb benskluge und menschliche Frau lieben hatte, spricht er zu seiner Mutter: ‚Weib, können, die in tiefem Vertrauen auf Gottes siehe, das ist dein Sohn!‘ Danach spricht er Zuwendung reagierte. Das ist sicher viel zu dem Jünger: ‚Siehe, das ist deine Mut- wichtiger als die Lokalisierung ihres Gra- ter!‘ Und von der Stunde an nahm sie der bes! Jünger zu sich!“ Auch muslimische Frauen beten hier. Denn Jetzt wurde deutlich: Wenn Maria bei Jo- Maria, die Mutter ihres Propheten Isa hannes blieb, der in die heutige Türkei (Jesus), genießt im Koran ein sehr hohes flüchtete, dann könnte er hier mit ihr ge- Ansehen! wohnt haben! Das hat große Wahrschein- Fotos: Erhard Kayser lichkeit, denn die erste Marienkirche der
Herbst-Blatt Nr. 97 12.2019 Tradition 12 Trauer, Schmerz und Fröhlichkeit - von Bärbel Beutner - „Im traurigen Monat November war´s / Ehemannes, die Pflege der Schwiegermutter, Die Tage wurden trüber / Der Wind riß von der eigenen Mutter, die sehr alt geworden den Bäumen das Laub / Da reist´ ich nach war. Wo war das eigene Glück? Auch den Deutschland hinüber.“ Nachbarn und Freunden hatte sie geholfen, ehrenamtlich hatte sie sich engagiert, in der So dichtete Heinrich Heine (1797–1856) über Kirchengemeinde, in der Nachbarschaft – hat den November, den Trauermonat, den Toten- man es ihr genügend vergolten? Immer, monat. Damit beginnt sein Gedicht wenn ein Mensch endgültig geht, bleiben die „Deutschland, ein Wintermärchen“, das seine Trauernden mit dem Gefühl zurück, etwas Reise von Paris nach Hamburg beschreibt, in versäumt zu haben, etwas nicht gesagt, getan dem die berühmten Verse über Unna stehen. zu haben, was hätte gesagt, getan werden Köln – Hagen „Dicht hinter Hagen ward es müssen – das ist ein Teil des Abschieds- Nacht ...“, und in Unna im Gasthaus „tat ich schmerzes … mich erwärmen“ – es erfüllt die Unnaer mit Zum „Leichenschmaus“ wurde in ein be- berechtigtem Stolz, in der Weltliteratur er- stimmtes Lokal geladen. Das Wort wähnt zu werden. „Leichenschmaus“ ist heute nicht mehr ge- Im traurigen Monat November nahm ich denn bräuchlich. Man sagt, sehr neutral, auch an einer Beerdigung teil, nicht in Unna, „Kaffeetrinken“. Früher war das anders, erst sondern nebenan in Schwerte. Die Verstorbe- recht auf dem Lande. Die Trauergäste, die ne, eine liebe Bekannte, hatte ein gesegnetes mitunter von weither anreisten, mussten ver- Alter erreicht. Es war ein trüber Morgen, als köstigt werden. In Theodor Storms Novelle sich die Trauergäste zur Totenmesse einfan- „Der Schimmelreiter“ werden die Gäste nach den. Nach der Totenmesse ging es zur Trau- der Beisetzung des Deichgrafen in dessen erfeier und Beisetzung zum Katholischen Haus gebeten. Die Tochter ist die Gastgebe- Friedhof. rin, die nicht mit zur Beerdigung geht. Auch Die Friedhofskapelle war bis auf den letzten in Thomas Manns Roman „Buddenbrooks“ Platz gefüllt. Der Priester lobte das große gehen die Frauen nicht mit zur Beisetzung. Herz der Verstorbenen, ihre Hilfsbereitschaft, Wie der Leichenschmaus verlaufen wird, ihre Güte, ihre vielen positiven Eigenschaf- kann man daran ablesen, dass vor jedem Ge- ten. Man sagt, wenn ein guter Mensch zu deck eine Weinflasche steht … Grabe getragen wird, scheint die Sonne. Und Heute ist das alles wesentlich bescheidener. tatsächlich: Als der Trauerzug nach draußen Aber der Bruder der Verstorbenen hatte ein trat, brach die Sonne durch, der trübe Himmel Lokal in Schwerte ausgesucht, das genau ge- öffnete sich, und die herbstliche Welt wurde genüber dem Hause lag, in dem die Familie bunt. Trotzdem flossen viele Tränen. Es war damals nach dem tragischen Tod des Vaters für alle ein schwerer Gang. Sie hatte allen an Silvester 1944 wohnte und in dem die tap- Gutes getan, hatte selbst ein schweres Leben fere Mutter einen Lebensmittelladen betrieb. gehabt, eine Jugend, die vom Krieg und vom Sie musste ihre Kinder durchbringen, nach- Verlust des Vaters geprägt war. Sie hatte dem der Ernährer ausgefallen war. früh, viel zu früh Verantwortung übernehmen So saß man nun an diesem spätherbstlichen müssen, für die jüngeren Brüder, für die ver- Tag in einem Schwerter Traditionslokal, das witwete Mutter, für die schwer aufgebaute von einem ausländischen Pächter betrieben Existenz der Familie. Sie hatte alle schweren wird, und schaute auf die Fenster des alten Aufgaben übernommen: die Pflege des vom „Tante Emma Ladens“, hinter denen heute Krieg gezeichneten und früh verstorbenen eine Versicherung und ein Sanitätshaus Räu-
13 Tradition Nr. 97 12.2019 Herbst-Blatt me haben. Dann kamen die Erinnerungen an Die Trauergesellschaft lachte herzlich. Und die alten Zeiten. Der Bruder der Verstorbe- dann kam die Geschichte von Herrn Boje am nen war der Jüngste. Während die Verstorbe- Heiligen Abend. Der Laden war schon zu, es ne damals als Vierzehnjährige mit der Mutter war später Nachmittag, die Glocken läuteten den Laden betreiben musste, kamen ihm im schon zu den ersten Weihnachtsgottesdiens- Laufe der Jahre bestimmte Aufgaben zu. Er ten. Weihnachtlicher Friede lag über der musste den Kunden Waren nach Hause brin- Stadt. Festliche Stimmung breitete sich aus. gen, auch mal Botengänge machen, woan- Da schellte es. Der Bruder der Verstorbenen, ders etwas besorgen, usw. Manchmal gab es inzwischen fünfzehn Jahre alt, öffnete. Drau- Trinkgeld, mal konnte er auch „den Rest be- ßen stand Herr Boje. Er wirkte nervös. „Frag halten“, wenn er etwas besorgte. Ein Herr mal deine Mutter, ob sie eine Flasche Stons- war darin besonders großzügig. Er beauftrag- dorfer hat!“ Der Junge gehorchte und kehrte te ihn, im Laden der Mutter Pfefferminzbon- mit der Auskunft zurück, Stonsdorfer habe bons zu kaufen – und gab ihm zwei Mark mit die Mutter nicht, wohl aber Steinhäger. Das würde nichts nützen, sagte Herr Boje sichtlich beunruhigt, es müsste Stonsdorfer sein. Schließlich kam die Mutter selbst und erforschte die Lage. Herr Boje gestand ihr, dass er in großen Schwierigkeiten war. Seine Frau wollte ihm eine Fla- sche Stonsdorfer zu Weihnach- ten schenken und hatte die Fla- sche irgendwo gut aufbewahrt. Aber er hatte die Flasche trotz- dem gefunden und ausgetrunken. Nun rückte die Bescherung im- mer näher, und eine neue Fla- sche Stonsdorfer musste her, be- vor die üble Geschichte aufflog. Die Mutter behielt einen kühlen Kopf und riet dem Verzweifel- ten, in der nächsten Kneipe zu fragen. Die hatte zwar an Heilig- abend auch geschlossen, aber es gelang Herrn Boje, „hinten her- dem Vermerk, den Rest könne er behalten. um“ an eine Flasche Stonsdorfer zu kommen. Zwei Mark – ein Vermögen in der damaligen Er war gerettet. Zeit. Der Junge führte den Auftrag aus, die Das Gelächter wurde während dieser Erzäh- Pfefferminzbonbons aber kosteten nur um lung immer lauter. Heiterkeit herrschte, wie die fünfzig Pfennig. Um die spendable Art oft am Ende eines „Beerdigungskaffees“. des Kunden nicht aufs Spiel zu setzen, Noch manche lustige Anekdote wurde er- schärfte der findige Knabe seiner Mutter ein, zählt. Ja, die Erinnerung ... Man ging fröh- dem Kunden, falls er noch einmal Pfeffer- lich auseinander. Ein guter Mensch lässt sei- minzbonbons kaufen sollte, diese mit min- ne Lieben wohl nicht in trauriger Stimmung destens eins fünfzig zu berechnen, damit er zurück. nicht merkte, welche beachtliche Summe er Foto: Feline Rupprecht/pixelio.de verschenkt hatte ...
Herbst-Blatt Nr. 97 12.2019 Lebensart 14 Ein Göttertrank Kakao - von Klaus Busse - Wie kaum in einer anderen Jahreszeit gehö- In der fraglichen Region waren sie jedoch ren sie zur adventlichen Tradition: die im- erheblich mehr: Man benutzte sie als Zah- mer dargebotenen Heißgetränke wie Glüh- lungsmittel, gab sie den Toten mit auf die wein oder Schokolade auf den Weihnachts- Reise ins Jenseits. Mit Wasser verflüssigt, märkten. mit Chilipfeffer und Honig angereichert, Schokolade! – Das Wort allein zergeht auf tranken die Reichen das kalt, lauwarm oder der Zunge. Das klingt so nach vollem Ge- heiß servierte Gemisch bei ihren Festen. nuss für Gaumen und Seele. Schokolade galt schon immer als wertvoll: Man weiß, dass Getränke aus Kakao einst zu Ritualen gereicht wurden. Dazu passt, was Alexander von Humboldt schon ahnte: „Kein zweites Mal hat die Natur eine solche Fülle der wertvollsten Nährstoffe auf einem so klei- nen Raum zusammengedrängt wie gerade bei der Kakaobohne.“ Als Medizin sowie stärkende Verpflegung waren die dunkelbraun gefärbten und an- schließend getrockneten Samen der Kakao- pflanze bereits den Ureinwohnern Mittel- amerikas bekannt. Mit unserer Vorstellung einer verführerisch süßen Gaumenfreude hatten die Kakaoge- tränke von einst nichts zu tun. Forscher konnten nun mit Hilfe von Erbgut- analysen feststellen, dass Kakaopflanzen schon vor rund 5000 Jahren angebaut wur- den – 1500 Jahre früher, als man bisher an- genommen hatte. Auch ihr Ursprung ist ein anderer. Demnach liegen die Ursprünge von Kakao nicht in Mittelamerika, sondern in Ecuador, was übrigens auch die Heimat des Jaguars im Amazonasgebiet ist, so nachzule- sen im Fachblatt „Nature Ecology&Evolu- tion“. Von dort gelangte die wertvolle Boh- ne dann in Richtung Norden – und schließ- lich in die ganze Welt. Spuren an Keramik-Tongefäßen, die in Ecu- ador gefunden worden sind, belegen, dass die Pflanzenart „Theobroma cacao“ dort mindestens seit etwa 3300 v. Chr. kultiviert
15 Lebensart Nr. 97 12.2019 Herbst-Blatt wurde. Vermutlich stammt diese Pflanzenart von dort und wurde später über Mittelameri- ka bis Tenochtitlan, das heutige Mexiko- Stadt, verbreitet. Als „Theobroma cacao“, als „Speise der Götter“, klassifizierte der Vater der moder- nen Botanik, Carl von Linne, daher treffend den Kakaobaum. Das war im 18. Jahrhundert. Der Kakao konnte in Europa bereits auf eine über 200- jährige Geschichte zurückblicken. Sicher ist man sich erst seit 1544. Damals kamen Dominikaner an den Hof Prinz Phi- lipps von Spanien. Erst aus dem Jahre 1585 stammt dann die älteste überlieferte Auf- zeichnung von einer Ladung Kakaobohnen, die per Schiff von Veracruz nach Sevilla ge- langt war. Bis das Getränk in Europa seinen Siegeszug kolade zum Konsumartikel für breite Mas- antreten konnte, musste vor allem die Re- sen wurde, dauerte es weiterhin gut zwei- zeptur verändert werden. Erst mit der An- hundert Jahre. wendung von Rohrzucker begann es sich Im 21. Jahrhundert wird sie heute wegen von den vielfältig eingesetzten Heilmitteln ihres Zuckergehalts verteufelt. Sei‘s drum: zum Luxusgut zu wandeln. Noch heute dis- Es ist nie zu spät, solch ein köstliches Natur- kutieren Portugiesen, Spanier und Franzosen produkt, wie die Schokolade, zu genießen. darüber, wer die Einheimischen auf den Ge- Fotos: links: wikipedia.de, rechts: pixabay.de, wikipedia.de schmack gebracht hat. Bis Kakao und Scho-
Herbst-Blatt Nr. 97 12.2019 Lebenserfahrung 16 Zur Nachahmung empfohlen von Ulrike Wehner Voranstellen möchte ich ein Gedicht von Für ihre Erkenntnis – ich freue mich, dass Mascha Kaléko: ich mich freue – hat Mascha Kaléko in ihrem Gedicht viele Auslöser angeführt, die wir Sozusagen grundlos vergnügt alle kennen und dasselbe empfinden, wenn Ich freu mich, dass am Himmel Wolken ziehen und dass es regnet, hagelt, friert und schneit. Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit, wenn Heckenrosen und Holunder blühen. Dass Amseln flöten und dass Immen summen, dass Mücken stechen und dass Brummer brummen. Dass rote Luftballons ins Blaue steigen. Dass Spatzen schwatzen. Und dass Fische schweigen. Ich freu mich, dass der Mond am Himmel steht und dass die Sonne täglich neu aufgeht. Dass Herbst dem Sommer folgt und Lenz dem Winter, gefällt mir wohl. Da steckt ein Sinn dahinter, wenn auch die Neunmalklugen ihn nicht sehn. Man kann nicht alles mit dem Kopf verstehn! Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn. Ich freue mich vor allem, dass ich bin. In mir ist alles aufgeräumt und heiter: Die Diele blitzt. Das Feuer ist geschürt. An solchem Tag erklettert man die Leiter, die von der Erde in den Himmel führt. Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben, weil er sich selber liebt – den Nächsten lieben. Ich freue mich, dass ich mich an das Schöne wir ihnen begegnen. Jeder könnte ihre Liste und an das Wunder fortsetzen, denn jeder hat eigene Vorstellun- niemals ganz gewöhne. gen, die zu erleben ihn glücklich machen. Dass alles so Ich verstehe das Gedicht als Aufforderung an erstaunlich mich – freu dich! –, und an uns alle – freut bleibt, und neu! euch! Zwei Wörter nur, die klar vermitteln: Ich freu mich, Nimm diese Botschaft an, du darfst alles, dass ich … was dir nicht zusagt, hinter dir lassen. Dass ich Schaue nach vorn und vornehmlich auf das mich freu. Schöne, dann wirst du dich freuen. Freude bedeutet Lachen. Lachen ist die beste Medi- zin, sie lindert so manches Zipperlein. Alles, was an Ärgerlichem aus vergangener Zeit
17 Lebenserfahrung Nr. 97 12.2019 Herbst-Blatt nicht überwunden ist, muss man im Alter Erich Kästner zusammen. Unter deren Ein- nicht mehr ausgleichen. Man darf es verges- fluss schrieb sie Gedichte für Kabarett und sen, sich davon entlasten, befreien. interpretierte so die Umwelt der kleinen Leu- Mascha Kaléko beschreibt eine außerge- te in Berlin. Zu ihren Lebzeiten veröffent- wöhnliche Sache: Sozusagen grundlos ver- lichte sie verschiedene Werke. Nach ihren gnügt. Es gibt die Erkenntnis, sich grundlos Tod im Jahre 1975 wurden noch viele weite- geärgert zu haben. Um ein ärgerliches Ge- re Arbeiten herausgegeben. sicht mit Stirnrunzeln und runterhängenden Wie auch bei Kästner oder Ringelnatz be- Mundwinkeln zu machen, muss man drei- wundere ich ihre skurrilen Einfälle und die zehn Gesichtsmuskeln bewegen, zum Lachen Fähigkeit, die Sichtweise auf Dinge neu und nur zwei. Wozu sich also anstrengen? verblüffend anders zu lenken. Es macht Es ist genauso leicht, fröhlich und unbe- Spaß, sich mit ihrer Literatur zu beschäfti- schwert zu sein, als sich immer nur zu grä- gen. men. PS: Freue dich, ´s Christkind kommt bald Positiv zu denken ist oft der Schlüssel, um so (aus dem Lied „Leise rieselt der Schnee“) manches Problem mit kleinem Aufwand aus- Fotos: Ulrike Wehner zuräumen. Der Aufzug im Haus, in dem ich wohne, ist defekt und fällt für mehrere Tage aus. Wie schön, dass es eine Treppe gibt. Treppenlaufen ist doch eine gute Trimm- Dich-Übung. Ich sollte das öfter machen. Oder siegt wieder der inne- re Schweinehund, wenn der Aufzug repariert ist? Das Schöne, Lustige, Fröh- liche, Gute, Erfreuliche, Angenehme darf nicht we- niger Bedeutung haben als das Traurige, das Enttäu- schende. Es ist bestimmt nicht schwer, sich selbst in gute Laune zu bringen. Man muss nur die trüben Gedanken verscheuchen und an die Dinge denken, die immer schon Freude bereitet haben. Mascha Kaléko wurde 1907 als Kind jüdischer Eltern in Galicien geboren. Die Familie ging 1918 nach Berlin. Mitte der zwanziger Jahre kam sie mit Joachim Ringelnatz, Else Lasker-Schüler und
Herbst-Blatt Nr. 97 12.2019 Gedanken 18 Gedankensplitter Schöne neue Welt? - von Franz Wiemann - Haben Sie, liebe Leser und Leserin, heute „Schöne neue Welt“, der Roman von Aldous schon gegoogelt? Also Ihr Smartphone be- Huxley scheint hier Pate gestanden zu haben. nutzt, um vielleicht die digitale Fassung Ihrer Die Lenkung und Manipulierung ganzer Tageszeitung zu lesen? Gehören auch Sie zu Menschengruppen hat George Orwell in sei- den Vielnutzern, sind also vernetzt mit nem Roman „1984“ schon vor über 70 Jah- Freunden, Verwandten und Bekannten, und ren vorhergezeichnet. zusätzlich auch noch mit diversen techni- Es liegen jetzt neue Erkenntnisse vor, wo- schen Geräten des Alltags? Seit über 20 Jah- nach zu viel Kontaktaufnahme über die sozi- ren gibt es dieses nützliche Gerät jetzt schon, alen Medien zu einer Art Sucht führen könn- und sein Gebrauchswert scheint ins Uner- te. Schon länger wird das in der Formel messliche zu steigen. „fomo“ ausgedrückt: „fear of missing out“. Nun steht der Begriff Smartphone, wortwört- Damit drücke sich ganz salopp die Angst lich genommen, für „schlaues Telefon“, und aus, die jemanden befällt, wenn er meint, das sollten Sie ernstnehmen. Wie viele prak- nicht über alles rechtzeitig und genauestens tische Möglichkeiten eröffnen sich doch da- informiert zu sein. Manche Nutzer zeigen gar mit, wenn man mehr erreichen will als „nur Anzeichen von Panik, wenn sie nicht immer noch zu telefonieren“. Zum Renner gewor- auf dem neuesten Stand sind. Beobachten Sie den sind Volkshochschulkurse, die den Älte- mal Ihre Mitmenschen daraufhin genauer. ren von uns den Zugang zu diesem Gerät Bis zu 40 mal in einer Stunde – speziell unter verschaffen helfen. Wir wollen ja nicht abge- Schülern/innen wurde das beobachtet – wirft hängt erscheinen. Dass wir aber leicht Fußstapfen in der Medi- enwelt hinterlassen, wenn wir auch nur twit- tern oder per WhatsApp uns untereinander austauschen, wissen Sie bestimmt. Ganz böse Zungen behaupten, die US-Dienstleister NSA (National Security Agency) und andere Geheimdienste würden mithören. „Na und? – Unsinn!“ werden Sie jetzt sicherlich sagen. Außerdem: „Ich habe nichts zu verbergen. Denn was ich mitzuteilen habe, kann (fast) jeder wissen!“ Die Schläue der Anbieter bzw. der Betriebs- systeme geht aber viel weiter: Wir werden sozusagen ausgeforscht, um nicht zu sagen „ausspioniert“. Welchen Wagentyp Sie fah- ren, was Sie literarisch interessiert und wel- che Kaufgewohnheiten Sie haben, wissen diese Experten schon längst von Ihnen: Jeder Einkauf über den Onlinehandel, Nachfragen bei Google und per E-Mail abgesetzte Mel- dungen werden weltweit registriert. Der Da- tenstrom, der allein von Europa in die USA fließt, ist nahezu zehnmal höher als umgekehrt.
19 Gedanken Nr. 97 12.2019 Herbst-Blatt man einen Blick aufs Handy bzw. aufs Anstrengung, sich zu erinnern, oder besser Smartphone. Die Rechtfertigung, man habe noch, etwas gar zu wissen, bleibt dabei ganz ja nur die Uhrzeit ablesen wollen, erscheint außen vor. Sie müssen ja nicht diesen Weg da als pure Ausrede. Allein an diesem simp- gehen, um an eine Information zu gelangen. len Beispiel merkt man aber schon, wie sehr Es bleibt selbstverständlich jedem selbst sich unsere Gewohnheiten geändert haben. überlassen, wie sehr er sich vom Einsatz des Es geht um mehr. Es geht um unser gestiege- Smartphones abhängig macht. nes Bedürfnis nach Mitteilsamkeit, die halt Die Tendenz geht jedoch eindeutig dahin. auch mit gesteigerter Neugier verbunden ist. Ob man es nun als Navigationsgerät nutzt, Etwas nicht zu wissen, was Kollegen, Part- als Kalender oder als Nachschlagewerk: ner, Freund und/oder Freundinnen längst „Mein Handy sagt mir, was ich am Tag so zu schon wissen – das geht ja gar nicht. erledigen habe“. Eine To-do-Liste der neuen Längst sei das Handy, so der Ulmer Profes- Art entsteht, die täglich abgearbeitet werden sor für molekulare Psychologie Christian will. Gleichzeitig greift eine neue Tendenz Montag, zu „… einer Art Schweizer Ta- der Vergesslichkeit um sich. Ohne Smart- schenmesser geworden“, wie er es in einem phone geht für einige User gar nichts mehr Interview formuliert hat. Er spricht sogar ab: Sie sind in hohem Maße verunsichert. vom „ausgelagerten Gehirn“. Es erscheint Seien Sie am Heiligen Abend also nicht doch mehr als angenehm, wenn wir unser überrascht, wenn neben dem Glöckchen am Gehirn nicht so oft anzustrengen brauchen. Tannenbaum noch etwas anderes erklingt: Es Der so genannte „User“ könne sich derweil könnte ja auch der Klingelton des neuen ja anderen Dingen zuwenden. Handys sein, das (noch) frisch verpackt im Um ein Beispiel zu geben: Statt umständlich Geschenkpapier für Sie unterm Weihnachts- in einem Lexikon nachblättern zu müssen, baum liegt. geht das viel schneller, wenn wir das per Foto: Tim Reckmann/pixelio.de Smartphone erledigen. Das Gehirn, also die Hätten Sie es gewusst? Schneeränder - von Benigna Blaß - Es ist wieder Winter. Man muss durch Schnee und Eis gehen. Die Schuhe und Stiefel werden nass und bekommen hässli- che weiße Ränder. Aber wie beseitigt man diese? Ein altes Hausmittel kann ihnen helfen. Sind die Schuhe und Stiefel sehr nass, bit- te reinigen und mit geknülltem Zeitungs- papier ausstopfen. Eine große Zwiebel oder eine Kartoffel halbieren und die Schneeränder damit einreiben. Ist alles trocken, so kann man danach das Schuh- werk wie gewohnt putzen, besonders mit guter Schuhcreme. Foto: Benigna Blaß
Herbst-Blatt Nr. 97 12.2019 Biografie 20 Lebensläufe - von Klaus Thorwarth - Keine Angst: Ich werde Ihnen hier keinen Es handelt sich um meinen Großvater. Sein persönlichen Lebenslauf bringen. Name ist Franz Rudolf Priem, geboren in Aber etwas gibt mir zu denken: Ist es nicht Pommern im Jahr 1876. Mit 72 Jahren setzte eigenartig, dass wir ständig über andere er sich hin und schrieb ausführlich über sein Menschen sprechen, dass wir alle möglichen Leben und seine Familie (zwölf DIN-A4- Texte schreiben, z. B. für das Herbst-Blatt. Seiten). Doch um uns selbst Hier eine stark verkürzte herrscht ein großes Tabu. Zusammenfassung: Haben wir zu viele Hem- Seine Jugendzeit war sehr mungen, über unser eige- bewegt. Immerhin bestand nes Leben zu schreiben? er die Prüfung zum Kennen Sie, liebe Leser, „Einjährigen“ im Jahr die folgende Geschichte? 1893. Die Familie be- Ein Mann, der zu schnell stimmte ihn, ohne sein Zu- gefahren ist, wird von tun, für die Apothekerlauf- einem Polizisten angehal- bahn. Wie die Handwerks- ten. burschen wanderten da- „Wie heißen Sie?“ mals die Auszubildenden Antwort: „Konrad Ade- von Ort zu Ort, so auch nauer.“ von Apotheke zu Apothe- „Machen Sie keine Witze. ke. Der Großvater berichte- Wie ist Ihr Name?“ – te, dass er den neuen Apo- „Lothar Matthäus“. thekenbesitzern immer er- „Noch einmal, zum letz- klärt habe, nur drei Monate ten Mal, sonst passiert bleiben zu wollen. Es was: Ihr Name?“ drängte ihn, mehr vom Beruf zu lernen und Darauf der Fahrer: „Johann Wolfgang von von seinem Heimatland zu erfahren. So kam Goethe.“ er in Deutschland weit herum. Dann folgte Der Polizist: „Na bitte, es geht also doch!“ 1898 ein kurzes Studium an der Universität Auch Sie denken gewiss: Was für eine in Berlin. Das Staatsexamen bestand er mit blöde Geschichte, und ungerecht, dass ein „gut“. Für eine Promotion hätte er etwa 13 Polizist dabei so schlecht wegkommt. Semester arbeiten müssen, das war ihm zu Dabei kennen viele Menschen den Lebens- lange. Die freiwillige Militärzeit beendete er lauf von Goethe, als ob es ein naher Ver- als Unterapotheker mit dem Zeugnis wandter wäre. Fragt man aber einen Er- „ausgezeichnet gut“. wachsenen, so bringt der meist nicht einmal Doch er wollte mehr von der weiten Welt die Geburtsnamen seiner Großmütter hinter- sehen. Mit Erfolg bewarb er sich um eine einander. Noch weniger die Lebensdaten, Apotheker-Stelle in Valparaiso in Chile, die nun wirklich nichts über die Menschen 10.000 km von der Heimat entfernt, ohne aussagen, oder den Ort der Geburt. Und in Kenntnis der spanischen Sprache zu haben. der Regel nichts aus der Lebensgeschichte. Die Apotheke, die er bald leiten sollte, stat- Doch Ausnahmen bestätigen die Regel. tete Übersee-Schiffe mit Arzneimitteln aus. Von einer solchen Ausnahme möchte ich Die Zeit im Ausland bezeichnete er als die hier erzählen. schönste in seinem ganzen Leben.
21 Biografie Nr. 97 12.2019 Herbst-Blatt Dann kam die Katastrophe: Am 16. August Es stellte sich sogar noch Nachwuchs ein. 1906 überlebte er nur knapp das desaströse Die gemeinsame Tochter Ulrike wurde zur Erdbeben in Chile. Die Stadt wurde total Freude des Großvaters … Apothekerin! zerstört und 8000 Menschen fanden ihren Soweit der Lebenslauf des Großvaters. Tod. Ich gestehe, dass ich kürzlich einen ersten Seine Ersparnisse waren dahin. Er ent- Versuch meines eigenen Lebenslaufs wieder schloss sich zur Heimreise. Daraus wurde gefunden habe, den ich mit 17 Jahren für die eine kleine Weltreise mit vielen spannenden Schule schreiben musste. Erlebnissen, von denen er in faszinierender Zu meiner Überraschung las ich darin, mei- Weise zu erzählen wusste. Mit dem Schiff ne Hobbys wären gewesen: Sport, Wandern fuhr er von Hafenstadt zu Hafenstadt. Er be- und Fotografieren. dauerte nur, literarisch nicht begabt zu sein. Schon damals regte ich an, Wichtiges aus Und ein Herbst-Blatt gab es ja noch nicht. unserem Lebenslauf aufzuschreiben. Nach 3 ½ Jahren war er wieder in Deutsch- Hierzu passt, was der Mediziner Dr. Eckard land. Er heiratete und gründete mehrere von Hirschhausen schreibt: Drogerien in Lübeck. Nach dem Tod seiner „Stellen Sie sich vor, was auf einer Trauer- Frau kam er nach Unna. Er hatte ein Zim- feier Gutes über Sie gesagt werden soll. mer im Nicolai-Haus. Durch den Zweiten Welche Eigenschaften sind Ihnen wichtig, Weltkrieg bedingt wurde er stellvertretender welche Werte, welche Botschaften sollen Leiter der Löwenapotheke seines Schwie- über Ihr Leben hinaus in Erinnerung blei- gersohnes Hans Thorwarth. ben?“ Eine große Umstellung: Nach 30 Jahren Und er mahnt mit einem irischen Sprich- ging er wieder seinem erlernten Beruf nach. wort: Auch in Unna vergaß er das Wandern nicht. „Lebe so, dass die Leute an deinem Grab Im SGV begegnete ihm die 20 Jahre jüngere nicht zu sehr lügen müssen.“ Gertrud Altena aus Kamen. Mit 60 Jahren heiratete er zum zweiten Mal.
Herbst-Blatt Nr. 97 12.2019 Erinnerungen 22 Der Puppenwagen - von Ulrike Wehner - Ein Sprichwort lautet „Wer suchet, der findet“. überstand tapfer die Tortur und erwartete Ich hatte etwas Wichtiges gesucht und fand es meine Belohnung. Jedoch machte niemand nach langem Stöbern und Kramen. Bei mei- in der Praxis Anstalten, nach Bonbontüten zu ner erfolgreichen Sucherei entdeckte ich aber greifen, um sie mir zu überreichen. Die noch etwas, das ich lange nicht in meinen Schwäche durch die Nachwirkung der Nar- Händen gehalten hatte. Es ließ mein Herz so- kose nahm mir den Mut, danach zu fragen. fort höher schlagen, und ich erinnerte mich Meine Mutter traute sich auch nicht, aber auf voll Wehmut an seine bittersüße Geschichte. dem Nachhauseweg tröstete sie mich mit Ich war etwa acht Jahre alt, als ein HNO-Arzt dem Versprechen, ich dürfe mir etwas wün- feststellte, dass meine Polypen in der Nase schen. Sie nahm natürlich an, ich würde et- entfernt werden müssten. Ich wusste von Be- was Süßes haben wollen. „Nein, Mama“, schreibungen mehrerer Mitschülerinnen, die sagte ich, „ich möchte den roten Puppenwa- diese Operation durchgestanden hatten, dass gen von Eckert haben“. Verwundert meinte meine Mutter: „An ein so großes Ge- schenk habe ich nicht gedacht!“ „Nein, Mama, er ist nicht groß, er ist winzig klein. Schau ihn dir doch erst einmal an. Er steht gleich vorn an der Schaufensterscheibe.“ Noch wackelig auf den Beinen schaffte ich zielstrebig den Weg zum Spielwarenladen. Ja, der kleine rote Puppenwagen stand immer noch ganz vorn, direkt hinter der großen Scheibe des Schaufensters. Doch meine Mutter sah ihn nicht. Sie schaute nach oben, wo an unsichtba- ren Fäden große Puppenwagen auf- gehängt waren. Sie schüttelte den Kopf. „Kind“, sagte sie, „ich weiß der Eingriff sehr unangenehm wäre. Alle er- nicht, was du meinst“. Ich deutete mit dem zählten aber von der großen Tüte Bonbons, Finger auf den unteren Rahmen des Schau- die sie anschließend zum Trost vom „Onkel fensters. Da standen mehrere Wägelchen in Doktor“ bekommen hatten. verschiedenen Farben säuberlich aufgereiht. Süßigkeiten gab es selten zu der Zeit, wenige Ein Schildchen mit dem Preis lag daneben: Jahre nach dem Krieg. Dafür war kein Geld 1.- DM, für mein Erspartes viel zu viel. Mei- da. Manchmal kamen Verwandte zu Besuch ne Mutter meinte, mein Wunsch sei sehr be- und brachten uns Kindern etwas Schokolade scheiden. Sie hatte keine Vorstellung davon, mit. Die habe ich gehütet, sie manchmal her- wieviel mir der Besitz bedeuten würde. Wir vorgeholt und die Vorfreude auf das süße Er- gingen ins Geschäft und ich bekam das er- lebnis immer wieder ausgekostet. Erst nach sehnte Stück. Die Vorliebe für kleine Dinge Tagen habe ich sie mit Bedacht gegessen. habe ich bis heute behalten, und der kleine Der verabredete Termin für die Operation rote Puppenwagen hat mir viel mehr Freude war gekommen und meine Mutter begleitete gemacht als eine ganze Tüte Bonbons. mich. Brav fügte ich mich in mein Schicksal, Foto: Franz Wiemann
23 Weihnachten Nr. 97 12.2019 Herbst-Blatt Eine alte Geschichte aus der Weihnachtszeit - von Klaus Thorwarth - Der Nikolaus kam dieses Jahr nicht. Der der Mann. Und nachher sagte er, dieses Jahr Mann hatte seinen beiden Kindern erklärt, es würde es nichts zu Weihnachten geben. Und gäbe überhaupt keinen Nikolaus. Die beiden – darum ginge es ja sowieso nicht, dieser Mädchen waren vier und fünf Jahre alt. Rummel ... Aber vielleicht spielte auch eine Rolle dabei, Dann knurrte er noch irgendwas vor sich hin. dass die Mutter nicht zu Hause war. Sie lag Die Kinder verstanden es nicht. im Krankenhaus. Ein Betriebsunfall. Am Heiligen Abend ging er mit den Mäd- Jetzt hatte der Mann für alles zu sorgen, und chen in den Kindergottesdienst. Der Pfarrer es drehte sich manchmal in seinem Kopf. sagte, es ginge nicht um die Geschenke, son- Weihnachtsgeschenke sollte er besorgen. Am dern um etwas ganz anderes. Sonntagnachmittag ging er los, die Der Mann fühlte etwas wie Stolz und Kinder hinter sich her ziehend, dräng- dachte bei sich: „Jawohl, und bei uns te er durch die Menschenmassen. gibt es das jetzt auch nicht mehr.“ „FROHES FEST“ leuchtete es in Sie kamen nach Hause. Da war keine Grün, „FROHES FEST“ in Rot, jetzt Bescherung. Einen Tannenbaum hat- in Gelb und Blau. Die Straßen waren ten sie auch nicht. Und das Weih- voll von Menschen. Immer wieder nachtsgebäck fehlte, das die Mutter quollen sie vom Bürgersteig auf die sonst immer so schön zubereitete. Straße hinab. Es war nicht ganz unge- Auf einmal fingen die Kinder an zu fährlich. weinen. Sie weinten anders als sonst, erst Ein Meer von Lichtern. In riesigen Lettern noch still, dann so fürchterlich unaufhaltsam. kletterte Leuchtschrift die Häuser auf und ab. Der Mann fragte, aber sie antworteten nicht, „Schönes Fest“, – „Schenken macht Freude“, sondern schüttelten nur ihre blonden Köpf- – „Schenk Deinen Lieben etwas Liebes“. chen. Der Mann aber wollte zum Kaufhaus. Die Er versuchte sie zu beruhigen. Aber es ging beiden Kinder ließ er vor dem Schaufenster nicht. Er verstand es nicht. Dann brachte er stehen. „Dass Ihr mir nicht weggeht!“- Nein, sie zu Bett. Als sie ruhig waren, verließ er sie gingen nicht weg. Sie schoben sich nur das Haus, um die Mutter zu besuchen, das langsam an den Fenstern entlang, bis ihr war an diesem späten Abend noch erlaubt. Fenster kam – das mit den Puppen. Ist es noch nötig, dass ich Euch den Schluss Erstickende Wärme schlug dem Mann entge- der Geschichte erzähle? Ich glaube nicht. Ihr gen, als er sich über die Luftschleusen hin- werdet Euch schon denken, dass der Mann einzwängte. Er blieb stehen. „Stille Nacht, sehr lange mit der Mutter sprach, bevor er heilige Nacht“ kam es aus den Lautspre- langsam nach Hause ging. chern. Plötzlich verfärbte sich der Mann. Es Aber nicht um zu schlafen, sondern, dass er war, als ob ihm übel würde. Erstarrt, reglos die ganze Nacht beschäftigt war... ging sein Blick in das Treiben. Eine Weile, Und ... dass es am nächsten Morgen eine dann drehte er sich um. Sehr langsam ging er Bescherung gab. Zwar fehlte der Weih- zu den Kindern. nachtsbaum, aber es gab einen großen Teller Sie wollten ihm gerade die Puppen zeigen, Gebäck und schöne Geschenke. ihre Puppen, die sie sich ausgesucht hatten. Denn die hatte die Mutter schon frühzeitig Als sie in sein Gesicht sahen, sagten sie besorgt. nichts mehr. „Wir gehen nach Hause“, sagte Zeichnung: Andrea Irslinger
Herbst-Blatt Nr. 97 12.2019 Glosse 24 Was, bitte, ist ein Bärenticket? Eine Reise in die Fremde - von Bärbel Beutner - Wir sind globalisiert. Mit einem Tastenklick ich in Köln ein Nahverkehrs-Ticket lösen schicken wir eine Nachricht in die ganze müsse. „Kann ich da denn nicht mit meinem Welt. Eine Antwort kommt dann von einem Bärenticket fahren?“, fragte ich. Und da kam Android Smartphone einer Person, die weit die Gegenfrage: „Was – bitte – ist ein Bären- weg, wenn nicht gar im Ausland ist. Wir ticket?“ twittern und posten und skypen. Grenzen gibt Ich war sprachlos. Unser Bärenticket – „für es nicht mehr … Aktive über 60“, steht da drauf – das Netzti- Das gilt nicht nur für das Nachrichtensystem. cket für den Rhein-Ruhr-Verbund, ohne das Auch andere Bereiche sind längst globali- ich keine Beine hätte oder schon längst Bettle- siert. Meine Nachbarin wird von einer polni- rin geworden wäre. „Kennen Sie das wirklich schen Pflegekraft betreut, meine Fußpflege nicht?“, fragte ich die Beamtin. Nein, sie kann- wird von einer türkischen Mitarbeiterin koor- te es wirklich nicht. Wir lachten beide herz- diniert, meine Frauenärztin ist eine Ungarin, haft. Schwäbisch sprach sie nicht … meine ostpreußische Tracht wird von einer Dafür ein Herr am Taxistand umso mehr, der portugiesischen Schneiderin repariert – um sehr in Zorn geraten war. Seit zwanzig Minu- ehrlich zu sein: sie muss an den Seitennähten ten warte er hier auf ein Taxi. „Das erschte is „ausgelassen“ werden, denn sie ist zu eng einfach loschgefahre!“, empörte er sich. Ich geworden ... Aber das gehört nicht hierher ... verstand immer nur Versatzstücke. Das zwei- Und doch: Auch in einer globalisierten Welt te fuhr in eine andere Richtung. „Ich soll auf kann man in die Fremde geraten. Ich reiste das nächschte warte, hat der Fahrer gesagt! kürzlich ins Schwabenland. In Karlsruhe ver- Sowas soll es doch nich gäbe dürfe!“ Er wür- passte ich den im Fahrplan angegebenen An- de „sich beschwäre“. Er telefonierte. Ich ver- schluss-Zug nach Pforzheim, meinem Ziel- stand nichts mehr. Am anderen Ende musste ort. Ein Blick auf den Fahrplan zeigte, dass wohl auch ein echter Schwabe sein. Aber der nächste Zug Richtung Stuttgart über nach fünf Minuten kam ein Taxi. Der Fahrer Pforzheim in zwanzig Minuten ging. Als ich nahm uns beide mit. auf dem Bahnsteig 11 ankam, stand dort ein Die üble Laune des Schimpfenden hielt je- Zug, und angezeigt war auch „Stuttgart über doch an. Schließlich erzählte ich, dass ich Pforzheim“. Trotzdem fragte ich einen jungen manchmal auf der Schwäbischen Alb bin, Mann, der meine – eigentlich dumme – Frage kiloweise Maultaschen esse und dass uns die freundlich beantwortete. „Ja, das isch der Zug!“ Herbergswirtin dort den leckeren Wurstsalat In Pforzheim angekommen, suchte ich das macht. Die Schimpfkanonade verebbte. Es Reisezentrum auf. Es hatte sich nämlich wurde gelächelt. „Jaja, unser Wurschtsalat! kurzfristig ein Problem ergeben. Auf der Das isch das Bäschte!“ Rückfahrt musste ich, anders als geplant, von Die Fahrt von Köln nach Düsseldorf sollte Köln nach Düsseldorf fahren, hatte aber als sich auf der Rückreise noch schwierig gestal- Fahrkarte ein Sparpreis-Ticket, mit dem man ten. Mehrere Kontrolleure fragte ich wegen bestimmte Züge nehmen muss. Der freundli- der Gültigkeit meiner Fahrkarte. Keiner chen Beamtin schilderte ich meine Lage, vor wusste so recht... Einem vertraute ich mein allem die Frage, ob und wie ich nach Düssel- Erlebnis mit der Beamtin in Pforzheim an, die dorf käme (denn ich musste um 14.00 Uhr das Bärenticket nicht kannte. Er lächelte fein. dort sein) und wieviel ich dazu zahlen müss- „Das kann man in Süddeutschland doch nicht te. Sie suchte lange und sorgfältig im Com- kennen, so eine westfälische Spezialität!“ puter und konnte mir schließlich sagen, dass Zeichnung: Andrea Irslinger
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