Nr. 98 März - April - Mai 2020 - FRÜHLING - Kreisstadt Unna

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Nr. 98 März - April - Mai 2020 - FRÜHLING - Kreisstadt Unna
MAGAZIN FÜR UNNA

                               März – April – Mai 2020
                                               Nr.   98

              FRÜHLING
        AUSSERDEM IN DIESER AUSGABE:
   ERINNERUNGEN • SCHWIMMSPORT IN UNNA
  BAUM DES JAHRES • HISTORISCHES •LESERBRIEF
Nr. 98 März - April - Mai 2020 - FRÜHLING - Kreisstadt Unna
Herbst-Blatt                   Nr. 98 03.2020                                              Editorial 2

Inhalt                                                 Liebe Leserin, lieber Leser!

3      Also sprach der Esel:                           Sie werden sich wahrscheinlich wundern,
       „Manche Sprüche bauen mich auf.“                dass wir das umseitige Titelbild ausgesucht
 4     Frühling                                        haben, aber ansonsten kein begleitender Text
                                                       dazu im vorliegenden Heft veröffentlicht ist.
 5     Das Freibad im Bornekamp
                                                       Die Erklärung ist ganz einfach: Die Skulptur
 7     Ich kann‘s
                                                       des Lyra-spielenden Orpheus dient uns in
 8     Fit bis ins hohe Alter?
                                                       diesem Fall als Bote für die kommende wär-
 9     Hätten Sie es gewusst? Eierkartons              mere Jahreszeit. Orpheus hat durch sein Lyra-
10     Robinie                                         Spiel nicht allein ausdrücken wollen, dass er
12     Opa klärt auf:                                  seiner früh von ihm gegangenen Eurydike
       Heute: Wäschemangeln früher                     nachtrauere. Bekanntermaßen hat er sie ja
14     Guck mal da! Milchanlieferung                   sogar wieder zum Leben erweckt. Symbol-
       mit dem Pferdewagen in Unna                     trächtig kann seine Musik für alles Positive,
16     Dieter Beuke – Erinnerungen an
       einen Unnaer Nachtwächter
18     Ein unerwartetes Geschenk
20     Königsborner Erinnerungen
22     Die Kreuzfahrer-Kapelle am Möhnesee
24     Drachen aus dem Norden
26     Ein Leserbrief

Impressum
Herausgeberin:          Kreisstadt Unna
                        Hertinger Straße 12
                        59423 Unna                     was uns Freude bereiten soll, gedeutet wer-
                        Tel.: 02303/256903             den. Also auch für das Wiedererwachen der
Internet:               www.unna.de/herbstblatt/       Natur im Frühling und Sommer.
V.i.S.d.P:              Dr. Bärbel Beutner
Internet:               Marc Christopher Krug
                                                       Dazu passen der Artikel zur Saisoneröffnung
                                                       im Bornekampbad, der Aufruf, sich auch im
Redaktion:                                             Alter noch sportlich zu betätigen, sowie der
Andrea Irslinger, Bärbel Beutner, Benigna Blaß,
Brigitte Paschedag, Christian Modrok, Franz Wiemann,   Verweis auf den „Baum des Jahres 2020“,
Ingrid Faust, Klaus W. Busse, Klaus Thorwarth,         die Gewöhnliche Robinie: Nicht nur diese
Reinhild Giese, Ulrike Wehner                          Artikel sehen wir als geeignet an, unsere
Seniorenbeauftragter:      Robin Rengers               Stimmung im Frühjahr ins Positive umzulen-
Seniorenarbeit Fäßchen: Markus Niebios
Titelfoto:                 Franz Wiemann               ken. Im Frühling wird die Düsternis des
Gestaltung:                Andrea Irslinger            Winters vertrieben. Nicht umsonst zünden
Druck:                     WIRmachenDRUCK GmbH,        wir, uraltem heidnischen Brauch folgend,
                           Backnang
                                                       Osterfeuer an: Die „bösen Geister“ des Win-
                                                       ters sollen vertrieben werden.
                                                       Eine insgesamt positive(re) Stimmung er-
                                                       greift Sie hoffentlich beim Lesen dieses Hef-
                                                       tes. Wir haben uns viel Mühe gegeben, und
        Das nächste
                                                       wünschen Ihnen viel Vergnügen dabei.
          mit der Nr. 99 erscheint
               im Juni 2020!                           Im Namen der Redaktion
                                                       Franz Wiemann
Nr. 98 März - April - Mai 2020 - FRÜHLING - Kreisstadt Unna
3   Meinung                                           Nr. 98 03.2020     Herbst-Blatt
Also sprach der Esel:
„Manche Sprüche bauen mich auf.“
Es war an einem grauen Winternachmittag.        einen Fehler gemacht. Ich spitzte meine
Draußen war es ungemütlich, nass und            Ohren und wartete auf die Reaktion meines
windig. Da hatte mein Freund und Treiber        Freundes. Er richtete sich aus seiner leicht
drei Freunde nach Hause zum Skat eingela-       gebückten Haltung auf und sagte: „Nenne
den. Mir war es auch recht. Obwohl ich          nie einen Kollegen, der einen Fehler ge-
nicht so wetterfühlig bin wie meine             macht hat, einen Esel, denn Esel bedenken
menschlichen Freunde, muss man sich             klug, was sie tun. Es kommt den Menschen
nicht gerade dem Wind aussetzen. Die vier       nur so vor, wenn vom Esel etwas verlangt
Männer saßen um einen Tisch herum und           wird, was seinem Wesen nicht entspricht.“
feilschten mit Zahlen, die ich als Esel nicht   Papst Joh. Paul II. soll einmal voller Hoch-
verstand. Am Anfang schlürften sie Tee,         achtung gesagt haben: „Wo die Pferde ver-
aber später tranken sie Bier. Einer von         sagen, schaffen es die Esel“. Dann zitierte
ihnen meinte, dass zum Skatabend auch           mein Freund noch ein paar Sprichwörter
Bier gehört. Ich selbst habe mich mit einer     aus der Sammlung von Karl Simrock, wie
zusätzlichen Portion Möhren und Äpfeln          zum Beispiel:
zufriedengegeben.                               „Das Pferd der Hoffnung galoppiert, doch
Das Spiel verlief einigermaßen harmo-           der Esel der Erfahrung geht im Schritt.“
nisch, begleitet manchmal von dummen            „Esel sind Partner, mit denen man Pferde
Sprüchen. Die Karten klatschten auf das         stehlen kann.“
nackte Tischblatt. Diese Idylle unterbrach      „Der Esel und sein Treiber denken nicht
ein lauter Ausbruch eines Spielers: „Du         überein, (aber ergänzen sich)“ – sagte mein
bist ein Esel!“. Denn ein Mitspieler hatte      Freund mit einem Augenzwinkern dazu.
                                                        Selbst in Heinrich Heines Sprüch-
                                                        lein „Gott hat die Esel geschaffen,
                                                        damit sie dem Menschen als Ver-
                                                        gleich dienen können“, sollte man
                                                        nur die positiven Eigenschaften er-
                                                        kennen.
                                                        Mein Treiber ist ein echter Freund.
                                                        Bei seinen Sprüchen stellt er nie
                                                        den Esel in ein negatives Licht.
                                                        Deswegen lieben mich auch die
                                                        Unnaer Mitbürger und ich sie.

                                                       Herzlichst,
                                                       Ihr Balduin
                                                       Zeichnung: Klaus Pfauter
                                                       Foto: Franz Wiemann
Nr. 98 März - April - Mai 2020 - FRÜHLING - Kreisstadt Unna
Herbst-Blatt           Nr. 98 03.2020                                       Jahreszeiten   4

                                    Frühling

  Lebenskunst
  Christian Reuter (1665–1712)
  Ach, was sind wir dumme Leute,
  wir genießen nie das Heute.
  Unser ganzes Menschenleben
  ist ein Hasten, ist ein Streben,
  ist ein Bangen, ist ein Sorgen -
  heute denkt man schon an morgen,
  morgen an die spät‘re Zeit -
  und kein Mensch genießt das Heut‘.
  Auf des Lebens Stufenleiter
  eilt man weiter, immer weiter.
  Nutz den Frühling deines Lebens,
  leb im Sommer nicht vergebens,
  denn gar bald stehst du im Herbste      Frühlingserwachen
  bis der Winter naht, dann sterbste.     Klaus Thorwarth
  Und die Welt geht trotzdem heiter       Wenn hell die liebe Sonne scheint,
  immer weiter, immer weiter…             dann sagt man, dass sie gut es meint.
                                          Im hellen Strahl, da merkt man schon:
                                          vorbei die Zeit der Depression.
                                          Scheint dir die Sonne auf den Bauch,
                                          erwärmt sie deine Seele auch.
                                          Scheint sie aber auf die Stirn,
                                          dann erwärmt sie dir das Hirn.
                                          Scheint sie dir doch auf die Beine,
                                          sind sie brauner bald als meine..
                                          D-Vitamin ist ja sehr wichtig,
                                          entsteht durch Sonnenlicht, ganz richtig.
                                          In Summa:
                                          Je mehr die Sonne höher reicht,
                                          die ganze Stimmung steigt und steigt…
                                          Fotos: Andrea Irslinger
Nr. 98 März - April - Mai 2020 - FRÜHLING - Kreisstadt Unna
5   Saison                                            Nr. 98 03.2020   Herbst-Blatt
                        Das Freibad im Bornekamp
                                 - von Franz Wiemann -
Weit mehr als 130 Jahre alt, und immer noch     „Schöne Flöte“ nach Holzwickede. Mit dem
unverzichtbar: das Freibad im Bornekamp in      Ausklang der 70er Jahre entschloss sich die
Unna. Wenn uns, wie auch schon in den letz-     Stadtverwaltung auf einen Ratsbeschluss hin,
ten beiden Jahren, bald wieder die Heißluft     in Unna-Massen ebenfalls ein attraktives Bad
des Sommers zu schaffen macht, erinnert         zu bauen. Der Unterhalt des in die Jahre ge-
sich so mancher Altbürger/in gerne an dieses    kommenen Bades im Bornekamp lohnte
Bad. „Dort habe ich Schwimmen gelernt“,         scheinbar nicht mehr: Es wurde geschlossen.
hört man sie gerne erzählen. Man braucht nur    Das neue Bad in Massen wurde im Jahr 1978
zehn ältere Mitbürger zu befragen, und min-     eingeweiht.
destens sechs von ihnen bestätigen das.         Und dennoch: Nach fast drei Jahren Still-
Das ehemalige „Schwimm- und Bade-Bassin         stand – das Bad verfiel zusehends – regte
für den schulischen Schwimmsport“ wurde         sich unter einigen engagierten Bürgern Wi-
mit Wirkung vom 18. Juni 1889 von dem da-       derstand. Bei der zentralen Lage zum Naher-
mals verantwortlichen                                                holungsbereich Borne-
Schulvorstand der Kai-                                               kamp wäre es doch eine
ser-Wilhelm-Schule,                                                  Schande, so argumen-
Vorläufer der heutigen                                               tierten sie, das Freibad
Katharinenschule, „dem                                               vor sich hingammeln zu
Publikum zur Benut-                                                  lassen. Insbesonders für
zung freigestellt“. Zu-                                              ältere Mitbürger und
vor soll an gleicher                                                 Kinder wäre der zentra-
Stelle schon lange vor                                               le Standort von un-
dem Jahr 1845 ein                                                    schätzbarem      Vorteil.
„wildes     und    freies                                            Der Wunsch, das Bad
Schwimmen“ in einem                                                  zu retten, wurde inner-
privaten Teich der Ei-                                               halb weniger Tage von
gentümer Carl Friedrichs und Carl Schmitz       über 2000 Unnaer Bürger/innen in einer Un-
stattgefunden haben. Um das zu unterbinden,     terschriftenaktion bekräftigt. Die Initiatoren
ließen die Eigentümer damals verlauten:         gründeten einen Verein, wandten sich an die
„Zuwiderhandlungen werden wir gesetzlich        Stadt … und tatsächlich: Zahlreiche Vereine
verfolgen“.                                     und Verbände unterstützten dieses Begehren.
Seitdem hat diese „Badeanstalt“ wechselvol-     Das Bad wurde von dem neu gegründeten
le Zeiten erlebt.                               Verein namens Freibad Bornekamp e.V., da-
Als zwischen den beiden Weltkriegen noch        mals unter seinem Ersten Vorsitzenden Dr.
Bademeister, wie z. B. Herr Adrian, dem         Bernhard Krieger, in eigener Regie übernom-
Jungvolk die ersten Schwimmzüge beibrach-       men. Eine Überprüfung der technischen An-
ten, schien alles in bester Ordnung zu sein.    lage war erforderlich, und nach der Vorlage
Weit und breit gab es nur wenig konkurrie-      eines Finanzierungsplans stimmte die Stadt –
rende Einrichtungen, die Lage des Bades in      anfangs zwar immer noch skeptisch – im
der Mitte der Stadt war ein riesiger Vorteil.   Jahr 1982 zu. In enorm vielen unentgeltlich
Die Wege waren kurz. Erst als die Bausub-       abgeleisteten Arbeitsstunden wurde es auf
stanz Mitte der Sechziger und Siebziger Jah-    Vordermann gebracht und konnte schon am
re nicht mehr den Anforderungen genügte,        15. Mai 1982 wiedereröffnet werden.
ließ der Besucherandrang nach. Es gab in        Kurse für Nichtschwimmer wurden einge-
benachbarten Gemeinden neue, attraktivere       richtet. Viele junge Mädchen und Jungen
Bäder: man fuhr zum Beispiel gerne in die       nahmen dieses Angebot wahr. Die erfolgrei-
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Herbst-Blatt                       Nr. 98 03.2020                                              Saison 6

chen Teilnehmer/innen wurden unter dem
Kürzel “BB-chen“ bekannt. Zahlreiche Er-
                                                    Unser Freibad
wachsene – jetzt so zwischen 40 und 60 Jahre
alt – dürften sich noch gut daran erinnern.         von Karlheinz
Ende der 80er Jahre erwies sich leider das          Rosenkranz
alte Betonbecken als zu schwach, um noch            Im Bornekamp neben der Schule
modernen und hygienischen Anforderungen             liegt UNser Freibad, wunderschön.
zu genügen. Dem in finanzielle Not gerate-          Da kann man in der Sommerschwüle
nen Verein wurde erneut unter die Arme ge-          viele Badegäste seh’n.
griffen. Handwerker brachten die Technik
auf neuesten Stand und 1990 wurde es erneut         Wenn die Sonne vom Himmel lacht,
in Betrieb genommen. BB war ein Werbeträ-           das Bad aus allen Nähten platzt.
ger, ein Maskottchen.                               Der Vorstand ruft glücklich und froh:
Von Schlechtwetterperioden einmal abgese-           „Liebe Sonne, mach weiter so!“
hen, war das Bad im Sommerbetrieb eigent-
                                                    Aber auch an Regentagen
lich immer geöffnet. Zwar war im Jahr 2010
                                                    muss ich mich nicht lange fragen,
erneut eine dringende Reparatur erforderlich,
                                                    „Geh‘ ich heut‘ ins Bad hinein,
denn das nur wenige Jahre zuvor fertigge-
                                                    oder lasse ich es sein?“
stellte Becken verlor sein Wasser: Es gab ei-
ne undichte Stelle.                                 Wenn ich an den Kiosk denke
Noch rechtzeitig zur Saison 2006 wurden die         an die gut gekühlten Getränke,
Umkleide, Duschen und Nebenräume tech-              kommt es mir gleich in den Sinn:
nisch und optisch auf den modernsten Stand          „Natürlich geh‘ ich heute hin.“
gebracht. Diese Baumaßnahmen konnten
überwiegend während der Winterpause                 Frikadell‘n und Süßes warten
durchgeführt werden.                                auf Kundschaft in UNser’m (schönen)
Als vor inzwischen zehn Jahren das Freizeit-        Biergarten.
bad in Massen geschlossen wurde, war man            Und wer was Kräftiges essen will,
froh darüber, die altehrwürdige Badeanstalt         holt sich Leckeres vom Grill.
im Bornekamp gerettet zu haben. Nicht nur           Bratwurst, Pommes und Mayo dazu,
die Abkühlung im Wasser tut gut, auch das           da gibt auch der hungrigste Magen Ruh‘.
Angebot im Kiosk kann sich sehen lassen,            Drum, liebe Leut‘, macht euch bereit:
wie Sie im nachstehenden Gedicht von Karl-          Nutzt die schöne Sommerzeit.
heinz Rosenkranz, Mitglied des Vereins, le-         Packt die Badesachen ein,
sen können (s. in dem Beitrag unseres Redak-        und kommt in UNser Bad hinein.
tionsmitgliedes Ulrike Wehner auf der nächs-
ten Seite). Etwas ganz Tolles hat sich der          Karlheinz Rosenkranz, geb. 1940, hat nach eigenen
Vorstand in jüngerer Zeit einfallen lassen:         Angaben im Bornekamp Schwimmen gelernt. Das
                                                    war im Jahr 1947. Er ist heute noch als inzwischen
Das ganze Bad kann gegen eine Spende zur            fast 80-Jähriger gern gesehener Gast. Wenn auch
Verfügung gestellt werden, um beispielswei-         vornehmlich nur im Biergarten!!
se Vereinsfeste, Sommerféten, aber auch pri-
vate Feiern durchzuführen. Unterstützungs-
willige Bürger/innen können für 43 € die
ganze Saison lang ins Freibad kommen. Und
für 10 € zusätzlich haben Frühschwimmer
zwischen 6 und 9 Uhr freien Zugang zum
Bad. Ganz zu ihrem Vorteil, denn dann ist es
garantiert nicht zu voll.
Fotos: Hellweger Anzeiger, Archiv 1909,
Archiv Freibad Bornekamp e.V.
Nr. 98 März - April - Mai 2020 - FRÜHLING - Kreisstadt Unna
7 Saison                                                Nr. 98 03.2020        Herbst-Blatt
                                      Ich kann‘s
                                   von Ulrike Wehner

Es war Sommer und es war warm. Im Bor-          Wir sind noch öfter in dem Sommer zum
nekamp gab es ein Freibad. Da meine Mut-        Schwimmen gegangen und ich habe fleißig
ter fortschrittlich dachte, meinte sie, meine   geübt. Eines Tages traute ich mich hinter
Schwester und ich müssten Schwimmen             die Kette ins große Becken. Ich blieb dicht
lernen. Sie selbst konnte es nicht. Sie         am Rand, eine Hand an der rundum laufen-
schickte uns los mit Badeanzug, -mütze und      den Eisenstange. Dann habe ich die Rich-
einem Handtuch. „Wer als erste von euch         tung gewechselt und fühlte so langsam die
schwimmen kann, bekommt eine Mark“,             Sicherheit, um auch die andere Hand loslas-
rief sie uns noch nach. Doch für uns kleinen    sen zu können. Ich schwamm! Langsam am
Mädchen von sechs und acht Jahren war           Rand entlang zog ich davon. Oben standen
das leichter gesagt als getan. Schwimmen?       zwei ältere Mädchen. Wir kannten uns vom
Wie geht das denn überhaupt?                    Kinderchor. Als ich unter ihnen vorbeikam,
Als wir in die Badeanstalt kamen, sahen wir     sagte die eine: „Guck mal, die Kleine
eine Reihe von Duschen neben einem fla-         schwimmt aber schön.“ Die Anerkennung
chen Becken, in dem ein paar Kinder             tat mir gut. Ich winkte leicht und schon
plantschten. Das gefiel meiner Schwester.       sackte ich ab, fing mich zum Glück aber
Auf der anderen Seite des Ganges lag ein        wieder.
großes Becken, dessen hinterer Teil von
einer Kette abgetrennt wurde. Das war
wohl das Nichtschwimmerbecken, denn es
war so übervoll mit Kindern, dass ich mich
nicht hinein traute. Ich hatte große Angst
davor, unter Wasser gedrückt zu werden.
So stellte ich mich an den Rand des tieferen
Beckenteils und bewunderte die Jungen, die
von den Sprungbrettern ins tiefe Wasser
sprangen. Schnell tauchten sie wieder auf,
kraulten zum Rand, stiegen aus dem Was-
ser und kletterten wieder zum Sprungbrett
hoch.
Ja, das würde mir auch Spaß machen. Zum         Schwimmen macht müde und hungrig, also
Glück sah ich auch einige Brustschwimmer.       ab nach Hause. Ich fand meine Schwester,
Nun schaute ich denen zu, um die Technik        sagte kurz, dass ich „es“ jetzt wohl kann
zu lernen. Konzentriert versuchte ich, im       und wollte mit ihr gehen. „Du musst es mir
Geist die Arm- und Beinbewegungen nach-         erst zeigen!“ Da hat sie aber gestaunt. Im
zuahmen und marschierte mutig zum fla-          Planschbecken lernt man nicht schwimmen,
chen Beckenteil, um die neuen Kenntnisse        musste sie sich neidvoll eingestehen. Sie
auszuprobieren. Ich wollte mich an der Ket-     zog mich nach Hause, rannte die Treppe
te festhalten, um dann mit den Beinen zu        hoch und rief noch im Flur: „Kiki kann
üben. Aber die vielen anderen Kinder lie-       schwimmen!“
ßen mir nicht genug Raum. So nahm ich           Ich bekam die Mark.
denn mein Schwesterchen an die Hand und
                                                Zeichnung: Andrea Irslinger
ging wieder nach Hause.
Nr. 98 März - April - Mai 2020 - FRÜHLING - Kreisstadt Unna
Herbst-Blatt             Nr. 98 03.2020                                                Sport 8

                           Fit bis ins hohe Alter?
                                - von Franz Wiemann -

Das hohe Alter mögen Sie längst erreicht       gekommen. Im Reha-Sport eingesetzt, hilft
haben. Aber fit sein? Geht denn da noch        er die Rückenmuskulatur zu stärken. Seien
etwas? Berechtigte Fragen.                     Sie nicht zu scheu, in einem Sportzentrum
Noch ist es nicht zu spät. Sport tut nämlich   oder Studio nachzufragen. Kurse für Rent-
jedem gut. Vor allem, wenn bald die Son-       ner werden zur Genüge angeboten. Ob das
ne wieder regelmäßiger scheint und es die      nun die Reha-Gruppe „Koronargefäß-
Menschen unweigerlich nach draußen             Erkrankungen“ oder die „Gruppe der Hüft-
zieht. Sich in der freien Natur zu be-         geschädigten“ ist, zahlreiche Institute ha-
wegen, die frische Luft genie-                   ben sich auch darauf spezialisiert.
ßen, das hat noch nieman-                          Tun Sie also etwas, um dem Körper
dem geschadet.                                       wieder die Kraft und Stärke zu geben,
Bei vielen wird die                                    die er benötigt, um beispielsweise
Bewegungsfreude aber                                    Stürzen vorzubeugen. Das Prinzip
durch mehr oder weniger                                   von Belastung und Entlastung
heftige Gelenkschmerzen                                       wird Ihnen schnell beige-
eingeschränkt. Es ist ein                                       bracht. An Geräten mangelt
Teufelskreis entstan-                                            es den Studios in der Regel
den: Bewegungsver-                                               nicht. Die Bein-Streckung,
meidung führt langfris-                                       hier im zweiten Bild am Gerät
tig zu noch mehr Schmer-                                   vorbildlich vorgemacht, dient
zen, Bewegungseinschrän-                                   dem Muskelaufbau. Ein zertifi-
kung zu einem Verlust an                                   zierter Trainer sollte Ihnen aller-
Lebensqualität. Aber den-                                  dings schon zur Seite stehen, ob
noch ist es nicht zu spät, dem                             nun im Gruppensport oder in
entgegenzuwirken. Der alte                                  der Einzelbetreuung.
Spruch „Wer rastet der rostet“                              Sie mögen jetzt laute Einwände
hat an Bedeutung nicht verloren.                            bringen, warum man sich selbst
Fangen Sie mit dem an, was Sie                             noch im hohen Alter mit dem
immer schon gerne gemacht ha-                              Sporteln anfreunden soll.
ben: Spazierengehen, Schwim-                               „Meine Enkelkinder würden
men, Radfahren, Tanzen. Die                              mich doch insgeheim nur ausla-
beiden mittleren Betätigungen                           chen“, werden Sie eventuell sagen.
sind nahezu ideal, da sich die                           Alles nur Ausreden. Unzählige
Gelenke frei bewegen können.                              empirische Studien belegen
Und wenn alles in Maßen be-                                 schon längst, dass jede körperli-
trieben wird, etwa 20 Minuten                                che Betätigung, Sport miteinge-
am Tag, ist da sicher auch noch                  schlossen, das Leben verlängern hilft.
Luft nach oben.                                Nichtstun lässt dagegen den Tod auf der
Es muss ja nicht gleich der Hula-Hoop-         Zeitachse nach vorne rücken.
Reifen wieder hervorgeholt werden, wie es      Es muss ja nicht immer gleich der Leis-
die Dame im Bild macht. Er ist im 70-sten      tungsgedanke dahinterstecken. „Tun Sie
Jahr seit seiner weltweiten Verbreitung in     etwas für Ihre Gesundheit und laufen Sie
manchen Fitnesszentren wieder zu Ehren         täglich!“ Dieser Empfehlung werden Sie
Nr. 98 März - April - Mai 2020 - FRÜHLING - Kreisstadt Unna
9 Tipps                                                Nr. 98 03.2020   Herbst-Blatt
                                                            die persönliche Fitness zu
                                                            tun, endet nicht automatisch
                                                            mit „gefühlt“ 68 Jahren.
                                                            Sport treiben, heißt aktiv am
                                                            sozialen Leben teilzunehmen
                                                            und soziale Kontakte zu pfle-
                                                            gen. Die längere Lebenser-
                                                            wartung ist nun mal ein Ge-
                                                            schenk und keine Selbstver-
                                                            ständlichkeit. Wissenschaft-
                                                            liche Untersuchungen bestä-
                                                            tigen das immer wieder.
                                                            Nutzen Sie die kommenden
                                                            Wochen und Monate. Rät
                                                            Ihnen denn ihr Hausarzt
                                                            nicht ständig zu mehr Bewe-
                                                            gung? Handeln, nicht nur
u. U. widersprechen wollen. Wege dazu,        Reden, lautet jetzt die Devise. Überwinden
um vermehrt auch im Alter Bewegungs-          Sie den „Inneren Schweinehund“.
sport treiben zu können, sind dagegen in
                                              Fotos: Franz Wiemann
zahlreichen Gesundheitsmagazinen nach-
zulesen. Der Kerngedanke lautet: Etwas für

                          Hätten Sie es gewusst?
                               Eierkartons
                                - von Benigna Blaß -

   Die Osterzeit naht, man kauft nun wieder
   vermehrt Eier. Soll man die Eierkartons
   aus Pappe wirklich wegwerfen? Nein!
   Für die Aufzucht von Sämlingen füllt
   man die Mulden mit Erde und legt die
   Samen hinein. Sind die Keimlinge da, so
   schneidet man die Waben auseinander und
   kann diese sofort in die Erde bringen.
   Oder man füllt die Waben mit kleinen
   Holzspänen und Papier, gibt noch etwas
   Wachs von alten Kerzen dazu. Damit
   kann die Holzkohle im Grill gut ange-
   zündet werden. Viel Vergnügen!             Foto: Benigna Blaß
Nr. 98 März - April - Mai 2020 - FRÜHLING - Kreisstadt Unna
Herbst-Blatt            Nr. 98 03.2020                                            Natur 10

                                         Robinie
                                 - von Benigna Blaß -
Die Robinie (Robinia pseudoacacia) ist       nigs aus dieser Gegend kommt. Auch in
zum Baum des Jahres 2020 gewählt wor-        Ungarn sind 20 % der Waldflächen mit Ro-
den. Er wird auch falsche Akazie,            binien bepflanzt. Der Baum kann sich gut
Scheinakazie oder Silberregen genannt.       schützen. Die gefiederten Laubblätter, die
Die Robinie ist in Nordamerika beheimatet.   aus eiförmigen Einzelblättchen bestehen,
Vor 300 Jahren brachte man sie nach Euro-    besitzen kleine Gelenke, die sie bei starker
pa. 1670 wurden im Berliner Lustgarten       Hitze senkrecht nach unten klappen kön-
mehrere angepflanzt. Sie blühen leider erst  nen.
nach sechs Jahren. Dann sind sie mit ihren   Das Holz ist sehr hart, aber trotzdem elas-
duftenden, weißen, hängenden und 1,5–2,2     tisch, es kann sich verformen, bricht und
cm langen Traubenblüten, die im Mai/Juni     splittert nicht und trocknet im Vergleich zu
blühen, ein wunderbarer Farbtupfer. In       anderen Holzarten schnell in nur einem
manchen Jahren kommen Blüten und die         Jahr. Nach dem Trocknen erscheint das
haarigen Blätter zur gleichen Zeit. Sie kön- Holz hell- bis goldbraun, manchmal kann
nen viel Stickstoff aufnehmen und sind       es auch schokoladenfarbig werden. Durch
richtige Energiepflanzen. Sind die Blüten    seine Härte ist es schwer entzündbar, ex-
bestäubt, so bilden sich 10 cm lange
Schoten, in denen sich die Samen
befinden. Diese bleiben bis zum
nächste Jahr hängen.
Die Bäume können bis zu 25 m
hoch werden und ein Alter von 100-
200 Jahre erreichen. Nicht nur Setz-
linge werden gepflanzt, sondern die
Bäume haben lange Wurzelausläu-
fer, aus denen neue Bäumchen
wachsen, besonders wenn ein Baum
gefällt worden ist. Die borkige,
graubraune, tief gefurchte Rinde
bildet 20-25 % des Stammes und
enthält viele Mineralstoffe. Man
schält die Bäume an Ort und Stelle,
um dem Boden die Mineralstoffe
zurück zu geben.
In Brandenburg wurden auf rund
8100 ha Robinienbäume gepflanzt,
da sie sehr genügsam und wider-
standsfähig sind, sandigen Boden
lieben, Trockenheit gut vertragen
können und schnell wachsen. Die
Blüten blühen nur wenige Tage, ha-
ben aber einen sehr hohen Zucker-
gehalt, so dass 60 % des Akazienho- Kindertagesstätte Dürersraße
11 Natur                                            Nr. 98 03.2020      Herbst-Blatt
trem resistent und kann ohne Imprägnie-    wird es gerne zum Bau von Xylophonen
rung verarbeitet werden: für Sport-und     genutzt.
Spielgeräte, Werkzeugstiele, Weinberg-     Soll ein gerader langer Stamm wachsen,
pfähle, Holzdübel, Uferbefestigungen und   den man zum Beispiel für ein Segelboot
Dachkonstruktionen.                        braucht, so muss man schon im zweiten
Das Holz hat noch etwas Besonderes, eine   Jahr die unteren Äste entfernen.
hervorragende Klangeigenschaft. Deshalb    Da die Bäume streusalzresistent sind, wer-
                                           den sie neuerdings an Straßenrändern ange-
                                           pflanzt. Rinde und Früchte sind besonders
                                           für Tiere sehr giftig. Darum sollten sie
                                           nicht in der Nähe von Weiden stehen.
                                           Robinien werden immer mehr gepflanzt
                                           und gehegt, um dem Raubbau des Holzes
                                           aus tropischen Ländern und aus den Urwäl-
                                           dern entgegen zu wirken.
                                           Fotos: Benigna Blaß; Hans Braxmeier, pixabay.de;
                                           Deedster, pixabay.de

    Hier noch ein kleines Gedicht:

    Lied der Robinie
    Von Inge Offermann
    Robinie im Licht bin ich,
    erfüllt mit grünem Leben.
    Ich schwinge im Winde,
    atme Sonne und lausche
    in Mondnächten den
    Gesprächen Liebender
    unter meinen Zweigen.
    Traurige Menschen
    lehnen sich an mich.
    Für sie duften meine
    Sommerblüten süß.
    Gerne wachse ich
    an Seen, wo im Herbst
    meine Blätter golden
    aufs Wasser tropfen,
    auf Uferwegen ihr
    Teppich raschelt
    und ein gelber Regen
    das graue Gesicht
    der Stadt erhellt.
Herbst-Blatt             Nr. 98 03.2020                                         Nostalgie 12

                                Opa klärt auf
                        Heute: Wäschemangeln früher
                                   - von Christian Modrok -

An einem verregneten Spätherbstnachmit-        Großvaters ausführliche Beschreibung.
tag kam Olaf nach der Schule direkt zu den     „Siehst du, auf diesem massiven Gestell
Großeltern. Bei der Oma gab es gleich ein      liegt ein großer Kasten auf zwei Rundhöl-
belegtes Butterbrot nach seinem Ge-            zern. Der Kasten ist mit schweren Steinen
schmack. Dann schaute er sich in Großva-       gefüllt. Durch einen Mechanismus, ange-
ters Wohnzimmer um. Das war so seine           trieben durch die Kurbel, wird der Kasten
Art, nach etwas Interessantem zu suchen.       hin und zurück bewegt. Die Bewegung al-
Dieses Mal fiel sein Blick auf ein dickes      lein war aber nicht Zweck und Sinn der Sa-
Fotoalbum. Höflich fragte er, ob er sich das   che. Hausfrauen gingen nach dem Trock-
ansehen dürfe. Opa erlaubte es natürlich.      nen der Wäsche zur Mangel. Dort haben
Beim Opa darf er alles, oder besser gesagt,    sie die Wäsche Stück für Stück auf die
fast alles.                                    Rundhölzer aufgewickelt, sie nannten es
Olaf setzte sich an den Tisch und fing an zu   aufbäumen. Der Kasten wurde mit Hilfe
blättern. Schon nach der zweiten Seite frag-   der Kurbel zu einem Ende gefahren, und
te er nach Personen, die er nicht kannte.      das leere Rundholz gegen das mit aufgewi-
Ein paar Seiten weiter lachte er plötzlich.    ckelter Wäsche ausgetauscht. Dann wurde
Da sah er den Großvater mit einem komi-        der Kasten an das andere Ende gefahren
schen Hut mit großer Krempe. Großvater         und die Rundhölzer auch ausgetauscht.
erklärte, dass es auf den Kanarischen Inseln   Nach einigen Hin-und Herbewegungen
war. Da scheint die Sonne stärker. Da ist es   wurde die Wäsche von den Rundhölzern
eben angebracht, das Gesicht und die Oh-       abgewickelt, und die Hausfrauen freuten
ren vor den Sonnenstrahlen zu schützen.        sich über die glatten Bettbezüge oder Bett-
Beim Blick auf eine der nächsten Seiten        laken.“ „Wozu wurde das überhaupt ge-
lachte er wieder. Da war der Opa in Knie-      macht?“ fragte wieder Olaf. „Tja, siehst du,
bundhosen und kariertem Hemd vor dem           bei den heutigen Gewebearten und den mo-
Hintergrund felsiger Berge zu sehen. Opa       dernen Waschmaschinen mit Trockner, wie
erklärte wieder, dass es für ihn sehr be-      es deine Mama hat, erübrigt sich das Man-
quem war, in Kniebundhosen zu wandern.         geln. Dann genügt nur noch das Bügeln.
Viele Wanderer haben auch diese Erfah-         Früher aber wurde die Wäsche durch das
rung gemacht.                                  Mangeln im weiteren Umgang mit ihr an-
Auf einer der nächsten Seiten erblickte er     genehmer“. „Und wo hast du dieses Foto
auf einem Foto den Großvater neben einem       gemacht?“ fragte Olaf. „Durch einen Zufall
seltsamen Gerät mit einer Kurbel in der        fand ich diese Mangel im Museum ‚Haus
Hand. „Opa, was ist das? Ist das ein Sport-    Schlesien‘ in Königswinter“, erklärte der
gerät?“ „Nein, mein Junge, das ist eine        alte Herr, und erzählte weiter: „Meine
Mangel,“ antwortete der alte Herr. „Was ist    Großmutter, das heißt deine Ururgroßmut-
eine Mangel?“, folgte die nächste Frage.       ter, hatte auch so eine Mangel. Mein Groß-
„Das ist ein Gerät zum Glätten der Wäsche      vater, dein Ururgroßvater, war Maurer. Er
nach dem Trocknen.“ Um dem Kleinen             hatte für dieses Gerät extra ein kleines
weitere Fragen vorwegzunehmen, folgte          Häuschen hinter seinem Mehrfamilienhaus
13 Nostalgie                                           Nr. 98 03.2020     Herbst-Blatt
gebaut. Die ersten Kunden waren die zehn      che Kundin in den Umgang mit der neuen
Mieter aus seinem Haus. Als sich das her-     Antriebsart einweisen zu dürfen.“
umgesprochen hatte, kamen Leute aus der       Olaf hörte aufmerksam zu. Ganz toll fand
ganzen Gegend zum ‚Rollen‘, wie man es        er, dass der Großvater seine Großeltern,
auch nannte. Als Schuljunge habe ich          das heißt Olafs Ururgroßeltern, erwähnte.
manchmal den Hausfrauen geholfen, denn        Dabei nahmen diese in Olafs Vorstellung
das Drehen der Kurbel war anstrengend.        ganz reale Personen an. An diesem Beispiel
Dafür bekam ich oft einen Groschen (10        merkte der alte Herr auch an, dass der tech-
Pfennig) extra. Um den Hausfrauen die Ar-     nische Fortschritt nicht von alleine gekom-
beit zu erleichtern, hat mein Großvater ei-   men ist. Menschen, wie auch seine Vorfah-
nen Elektromotor mit Riemenantrieb über       ren, haben ihn mitgestaltet.
das Schwungrad installieren lassen.
                                              Foto: Christian Modrok, Zeichnung: Klaus Pfauter
Dadurch fiel mein zusätzliches Taschen-
geld weg. Aber ich war stolz darauf, man-
Herbst-Blatt              Nr. 98 03.2020                                          Erinnerung 14

                                     Guck mal da!
              Milchanlieferung mit dem Pferdewagen in Unna
                                - von Bernhard Altmann -

Die Molkerei, eine Genossenschaftseinrich-        auch da die benötigte Milch lose abgemes-
tung der Milchbauern in der Region um Un-         sen.
na, stand bis in die Sechziger Jahre etwa         Um einen möglichst schnellen und rei-
dort, wo sich heute das Pestalozzi-               bungslosen Service zu bieten, hatten die zu-
Gymnasium befindet, nur dichter an der            und ausliefernden Zweispänner der Molke-
Morgenstraße. Es war ein imposanter, roter        rei feste Fahrtrouten, die natürlich auch der
Backsteinbau – langgestreckt mit einem hö-        Bevölkerung bekannt waren. Auch ich
heren, turmähnlichen Teil an der Westseite.       kannte ein kleines Stück Fahrweg eines sol-
Aus der Entfernung gesehen machte die An-         chen Gespannes, auf dem ich ihm schon
lage den Eindruck eines Eisenbahnzuges            häufig begegnet war. Das war der Strecken-
aus Bauklötzen, wie ich ihn als Kind oft ge-      teil von der Molkerei die Morgenstraße hin-
baut hatte. Seine Fahrtrichtung wies gen          ab Richtung Stadt und dann rechtwinklig
Stadt, als wollte sie zum
Ausdruck bringen, dass sie
den Bürgern diene.
Noch lange nach dem
Krieg geschah das Einsam-
meln und Anliefern der
Milch mit Hilfe von Pfer-
dewagen. Morgens in aller
Frühe, nach dem Melken,
setzten die Bauern ihre ge-
füllten, metallenenen Milch-
kannen an die in der Nähe
vorbeiführende Landstraße,
wo sie kurz danach von
dem langen Pritschenwa-
gen, einem Zweispänner,
abgeholt wurden. Der Kut-      Milchmann im Münsterland
scher musste schon ein
kräftiger Mann sein, um die schweren Kan-         nach Süden in den Ostring hinein. Das
nen auf den Wagen zu wuchten und leere            leichte Gefälle nutzte der Kutscher meistens
wieder an den Straßenrand zu stellen. Nach        dazu, die Pferde etwas flotter im Trab lau-
der Verarbeitung im Molkereibetrieb brach-        fen zu lassen – einerseits, um die Tiere et-
ten ebenfalls Pferdewagen die Milchkannen         was aufzulockern, andererseits vielleicht,
zu den örtlichen Milchhändlern. Die in der        um ein wenig Zeit gutzumachen.
Innenstadt lebenden Menschen holten mit           Eines Tages fragte mich mein Vater, ob ich
Hilfe von emaillierten Handkannen oder            ihn begleiten wolle. Er müsse vom Bahnhof
solchen aus Aluminium ihren Bedarf direkt         etwas abholen. Nur zu gerne war ich bereit,
in dem kleinen Ladengeschäft ab. Zu der           konnte ich doch wieder auf eine seiner inte-
Bevölkerung der Außenbezirke fuhr der             ressanten Geschichten hoffen. Als wir uns
„Milchmann“ mit seinem Einspänner und             der großen Kreuzung Morgenstraße/Ostring
der Handglocke. Wie im Geschäft wurde             näherten, hörten wir schon von weitem das
15 Erinnerung                                          Nr. 98 03.2020   Herbst-Blatt
Hufgetrappel der Pferde und das Rattern des       Wagen schwankte und ächzte gewaltig.
Milchwagens auf dem Kopfsteinpflaster der         Aber er hielt stand. Nicht eine Kanne fiel
Morgenstraße: Heute war er wieder flott un-       herunter. Das Gefährt kam zum Stehen. Da
terwegs! Hinter der Ecke standen drei junge       brach eine Schimpfkanonade los, wie sie
Männer am Bordstein, die sich ange-
regt unterhielten. Da tauchten bereits
die Köpfe der Pferde auf. Jetzt musste
er abbremsen! Doch im selben Augen-
blick zeigte einer der Männer ganz
plötzlich mit ausgestrecktem Arm un-
ter den Milchwagen und schrie aus
Leibeskräften: „Guck mal da!!! – Was
der da hat! – Guck mal!!!“
Der Kutscher, genau so überrascht wie
mein Vater und ich, beugte sich von
                                            Das ehemalige Gasthaus Voss
seinem Kutschbock instinktiv nach
links außen, um unter sein Gefährt zu             der Volksmund sonst nur von Bierkutschern
schauen. Dieser Augenblick genügte: Er            kennt. „Verdammte Saubande! Wenn ich
versäumte es, rechtzeitig zu bremsen, drifte-     euch Halunken erwische, bring ich euch
te nach rechts außen ab, brauste zu weit …        um!“ Die gefährlich drohende Peitsche un-
Aus Leibeskräften riss er die Zügel an sich,      terstrich die Ernsthaftigkeit seiner Worte.
dass sich die Pferde aufbäumten, und zog          Mit schallendem Gelächter liefen die Män-
sie nach links. Jetzt musste es krachen, denn     ner durch die Hellwegstraße davon, um sich
der Bogen war zu eng, die Fahrt zu flott, die     in Sicherheit zu bringen.
Ecke des Voßschen Hauses zu nah! – Um             Oft habe ich mir hinterher überlegt: Ob die
Millimeter schoss die weit vorn herausra-         Morgenstraße, wenn die Sache schiefgegan-
gende Deichsel mit den beiden Pferden an          gen wäre, heute wohl Milchstraße heißen
der Hauswand vorbei. Der vollbeladene             würde?

                                                                        Zeichnung: Bernhard Altmann,
                                                                        Fotos: Privatarchiv
Herbst-Blatt             Nr. 98 03.2020                                         Gedanken 16

                                     Dieter Beuke
                Erinnerungen an einen Unnaer Nachtwächter
                  von Klaus Thorwarth, einem Klassenkameraden
Man sagt, dass sich die Menschen aufteilen     Das war nicht mehr Dieter Beuke, man
in Konsumenten und Produzenten. Dieter         glaubte, den echten Nachtwächter zu erleben
Beuke gehörte zur zweiten Gruppe. Er           Dann ging es zur nächsten Station. „So war
machte viel aus seinem Ruhestand.              das, Ihr Leute. Folgt mir nun, ruhig und ge-
Schon länger gehörte er zu den Gästeführern    sittet!“
um Wolfgang Patzkowsky.                        Und dann kamen die Erinnerungen beim
Es war ein Zufall, wie er in die Spuren des    Gang entlang dem Rest der 1700 m langen
Unnaer Nachtwächters F. W. Werbinsky           Unnaer Stadtmauer.
kam.                                           Die komplette Unnaer Stadtgeschichte wur-
Ohne festes Ziel startete er einmal mit sei-   de in markanter Weise präsentiert: So erfuhr
nem Auto in den Urlaub. Kurz vor der Auto-     man etwas von der mittelalterlichen Ge-
bahn beschloss er mit seiner Frau Brigit-
te, diesmal in den Süden zu fahren.
So kam er nach Rothenburg ob der
Tauber und erlebte die Führung des
Nachtwächters. Diese Begegnung in-
spirierte ihn, Gleiches für seine Hei-
matstadt Unna auszuarbeiten.
Lange und sorgfältig plante er seine
Rundgänge. Funk und Fernsehen be-
richteten, machten ihn und Unna be-
kannt. 13 Jahre hat er Tausende von
Gästen durch die Dunkelheit geführt.
Es war ein Erlebnis!
Sein Weg, die Formulierungen, seine
veränderte Sprache, alles war einmalig
– bis es aus gesundheitlichen Gründen
nicht mehr ging. Nach längerer
Krankheit verstarb er am 29. Dezem-
ber 2019. Eine große Trauergemeinde
nahm dankbar von ihm Abschied.
Es gibt eine schöne Erinnerung an ihn,
verfasst in einem lesenswerten Büch-
lein (90 Seiten, mit Farbfotos). Der
Text ist ausführlicher als der bei sei-
nen Rundgängen vorgetragene.
Hier zur Erinnerung einige Kostpro-
ben:
An ausgesuchten Orten, meist unter
dem Lichte einer Laterne, legte er ei-
nen Halt ein.
Auswendig, sicher und wie selbstver-
ständlich fielen seine Worte.
17 Gedanken                                             Nr. 98 03.2020   Herbst-Blatt
richtsbarkeit und dem Henker. Vom Gülde-        Sie wurden mit einem ansehnlichen Batzen
nen Trog und dem Nicolai-Viertel, von den       Geld von ihren Familien in die Klöster ein-
unterschiedlichen Einwohnern, den Eseln         gekauft, um dort ihr weiteres Leben zu ver-
und dem Salz aus Königsborn, von der Hy-        bringen.“
giene in der Stadt und der langen Frischwas-    Am Ende des Rundganges, so erinnerte sich
serleitung vom Bornekamp bis zum Markt-         der Nachtwächter, haben sich viele Teilneh-
platz.
Gespickt waren die
Erzählungen mit Re-
densarten aus frühe-
rer Zeit, sehr zur
Freude der Zuhörer.
Und dann kamen die
Dönekes. Hier ein
Beispiel:
„In alter Zeit trafen
sich zwei Unnaer
Saufkumpane. Sagt
der eine: „Iek häw
hier 95 Pennige, för
90 Pennige wär ek
nun Baier kuopen
und for 5 Pennige
Broat.“
Seggt sein Kumpel:                              mer mit Applaus für die Führung bedankt.
 „Mensch, Hannes, versündige dir nicht.         Unna sei wirklich eine schöne Stadt, in die
Wat willste denn mit das viele Broat ?“         man bestimmt gerne wiederkommen werde.
Am Fässchen berichtete er:                      Einmal sagte sogar der Sprecher einer Grup-
 „Dieses schöne Fachwerkhaus wurde 1769         pe von 60 Lehrern aus ganz Deutschland:
erbaut. Es ist ein besonderes Haus, ein         „Wir haben schon viele Stadtführungen mit-
Ackerbürgerhaus, wie man unschwer an            gemacht. Aber diese heute, das war die beste.“
dem großen ehemaligen Deelentor erkennen        Darauf war Dieter Beuke dann doch ein
kann. In einem Ackerbürgerhaus lebten           bisschen stolz….
Mensch und Tier unter einem Dach.               Leider gibt es das erwähnte Büchlein mit
Da gab es keine zusätzlichen Scheunen, da       dem ausführlichen Text nicht mehr.
gab es keine Ställe. Links aus dem Fenster      Ein Nachdruck, hört man, kommt nur bei
guckte der Bauer, rechts die Kuh.“              besonderem Interesse infrage.
In den Ackerbürgerhäusern kam es zu aller-
feinsten Duftkompositionen, wenn sich die
Stallgerüche mit den Essensdünsten misch-       Die Nachtwächter-Tradition aber ist in Unna
ten. Draußen vor den Häusern war es auch        nicht erloschen.
nicht besser, denn vor jedem Ackerbürger-       Es gibt inzwischen einen neuen Nachtwäch-
haus gab es eine Jauche- und eine Mistgrube.“   ter. Er heißt Jürgen Wienpahl. Weiter führt
Im Klosterviertel berichtete er:                er regelmäßig Einheimische und Gäste
„Eine große Anzahl der Nonnen stammte           durch das historische Zentrum der Stadt.
aus adligen Familien. Es waren die Nicht-
                                                Fotos: Klaus Thorwarth
verheirateten, die gnädigen Fräuleins, die
nicht an den Mann zu bringen waren.
Herbst-Blatt             Nr. 98 03.2020                                     Stadtgeschichte 18

                      Ein unerwartetes Geschenk
                                 - von Ulrike Wehner -

Ganz unvermutet passieren oft die schöns-      wohner immer zu spüren war. Der Ent-
ten Geschichten, die alle Beteiligten glück-   schluss erscheint mir jedoch sehr vernünf-
lich machen.                                   tig, und es ist tröstlich, dass sie sich die
Meine Tante ruft mich an und erklärt mir in    letzten Lebensjahre noch ein bisschen be-
knappen Worten, dass sie und der Onkel ihr     quemer gestalten können.
Haus aufgeben und in 14 Tagen eine schö-       Auf meine Frage, wie ich helfen kann, sagt
ne Seniorenwohnung in der Nähe ihrer           meine Tante: „Möchtest du die Scheibe ha-
Tochter in Franken beziehen werden. Ich        ben? Wir können sie nicht mitnehmen.“
bin völlig verwirrt und bedaure, dass wir      Meine anfängliche Traurigkeit wandelt sich
uns dann nicht mehr so leicht sehen wer-       schlagartig in Freude und Wehmut. DIE
den. Sie sagt, es sei mühsam geworden,         SCHEIBE schmückte einst die Ladentür
sich im Haus zu bewegen und sich zu ver-       von Bäckermeister Hövel, ihrem Großvater
sorgen. Das kann ich verstehen und denke       und meinem Urgroßvater. Er war 1899 ei-
auch, wie schwer ihnen diese Entscheidung      ner der Gründer der Bäckerinnung in Unna,
gefallen sein muss, denn sie haben ihr Do-     von 1899 bis 1910 der erste Obermeister
mizil vor vielen Jahren mit so viel Hingabe    und ab 1922 der erste Ehrenobermeister.
und Herzblut errichtet, jeden Raum durch-      Meine Oma, älteste der Töchter des Bä-
dacht geplant, möbliert und zweckmäßig         ckermeisters, erzählte oft davon, welche
ausgebaut, sodass der gute Geist der Be-       Verpflichtungen der Stand mit sich brachte,
                                               denn als die beste Bäckerei am Ort durfte
                                               diese frühmorgens die Hotels in Königs-
                                               born mit frischen Brötchen versorgen. Die
                                               Lieferung mussten die Kinder des Bäcker-
                                               meisters vor der Schule ausführen und na-
                                               türlich wurden beste Schulnoten von ihnen
                                               verlangt.
19 Stadtgeschichte                                       Nr. 98 03.2020   Herbst-Blatt
Im Jahr 1983 bekam meine Tante die
„Scheibe“ zur Silberhochzeit von ih-
ren Sohn, meinem Vetter, geschenkt.
Unter großem Staunen der vielen
Festgäste trug er sie in den Saal, und
Tante Lena, die jüngere Schwester
meiner Oma, erklärte stolz: „Das ist
ja die alte Glasscheibe, die 1907 in
die neue Tür eingebaut wurde. Da
war ich 10 Jahre alt“.
Ich kann mir vorstellen, dass in der
Zeit eine Modernisierung des Ver-
kaufsraumes vorgenommen wurde.
Undeutlich weiß ich aus Erzählungen,
dass die Eingangstür auf einer
Hausseite gelegen hat. Da das Haus
aber auf der nordöstlichen Seite der
Einmündung von Flügel- in die Gür-
telstraße lag, war eine Verlegung des
Eingangs auf die Hausecke sinnvoll.             ßes Stück Wand für ihre Maße von 107 cm
So prangte dann die Inschrift „Carl Hövel       mal 74 cm und wirkt wie ein letztes Relikt
Conditorei“ umrankt von reichen Blätter-        aus dem Stadtviertel, wo zwischen Flügel-
werk im Jugendstil auf der Türscheibe und       straße und Massener Straße die Firma Deh-
war von zwei Seiten gut sichtbar.               ne gelegen hat. Um Platz zu schaffen für
Ich bin als Kind oft durch diese Tür gegan-     eine Seniorenresidenz, wurde die Besitzung
gen, habe mir aber nicht vorgestellt, dass es   Dehne und das angrenzende Haus Nr. 20,
einmal Veränderungen geben könnte. Doch         dessen Giebel ein schöngestaltetes Tympa-
in den 70-iger Jahren wurde die Bäckerei        non schmückte, abgerissen. Viele Leute
aufgegeben und diente später verschiedenen      hatten sich damals eingesetzt, das Haus mit
Firmen als Verkaufsraum. Die Eingangstür        dem bedeutenden Tympanon zu erhalten.
war immer noch dieselbe mit der unbescha-       Man einigte sich darauf, das Tympanon vor
deten schönen Scheibe. Wenn ich damals          dem Abriss auszubauen und in die Front
daran vorbei ging, hatte ich immer das Ge-      des neuen Hauses zu integrieren. Es wurde
fühl, etwas verloren zu haben. Hier hatte       eingelagert, aber beim Einbau ist es zerbro-
sich mal Leben in ALT-UNNA zugetragen.          chen. Auch das alte Bäckerhaus ver-
Auf den Gedanken, die Scheibe aus der Tür       schwand unter der Abrissbirne.
zu nehmen, wäre ich, anders als mein Vet-       Heute freue ich mich über die großartige
ter, nie gekommen.                              Idee meines Vetters. Er hat ein Stückchen
Mitzuerleben, dass so viele alte Häuser,        vom alten Unna gerettet. Meinem Onkel und
ganze Stadtviertel abgerissen wurden,           meiner Tante wünsche ich eine glückliche
machte mich traurig. Zuhause sprach meine       Zeit in ihrem neuen Heim und danke ihnen
Oma viel von der alten Zeit, aber die           für das Geschenk und das Vertrauen, die
„Zeugen“ und viele schöne Objekte ver-          Scheibe, ebenso wie sie selbst es getan haben,
schwanden nach und nach. Selbst mein al-        in Ehren zu halten und dadurch die Erinne-
ter Schulweg ist nicht mehr da.                 rung an unsere Vorfahren zu erhalten.
Nun hängt die alte stabile Glasscheibe in
                                                Fotos: Privatarchiv
meinem Wohnzimmer. Sie benötigt ein gro-
Herbst-Blatt              Nr. 98 03.2020                                       Erinnerungen 20

                       Königsborner Erinnerungen
                                  - von Bärbel Beutner -
Ein Zeitungsblatt vom 14. Juni 2019 fällt       Schnörkeln zur Verzierung, der Erker im
mir in die Hände. Wieder wird ein altes         Mittelzimmer bot Platz für zwei Sessel, im
Haus aus Königsborn verschwinden, wieder        Nebenzimmer ein Kamin aus Gips mit ei-
wird ein Stück Königsborner Geschichte zu       nem schmiedeeisernen Gitter, die Flügeltü-
Ende gehen.                                     ren, die hohen Fenster mit verschnörkelten
Es ist das traditionsreiche „Deutsche Haus“     Griffen – hier wohnten einst vornehme Leu-
an der Friedrich-Ebert-Straße, das schon        te oder vornehme Gäste nahmen hier Quar-
Gäste aufnahm, als das Publikum von „Bad        tier. Anders konnte es gar nicht sein.
Königsborn“ auf der damaligen „Kaiser-          Die Glanzzeit des Bades lag schon andert-
straße“ flanierte (erst nach dem 2. Weltkrieg   halb Jahrzehnte zurück, aber sie wirkte noch
wurde daraus die Friedrich-Ebert-Straße).       nach. Das Kurhaus war noch ein Nobelho-
Das Sol- und Thermalbad Königsborn hatte        tel. Zwanzig Mark kostete eine Übernach-
einst seine große Zeit, mit Kurhaus, Kur-       tung, damals ein horrender Preis. Einmal
park, Badehaus und Gradierwerk. Und das         traf sich die Filmwelt dort. Der kleine Oli-
„Deutsche Haus“, wohl zu Beginn des 19.         ver Grimm brachte seinen Pudel mit. Der
Jahrhunderts erbaut, blieb eine gute Adres-     „Hellweger Anzeiger“ berichtete.
se, auch als der Badebetrieb in Königsborn      Die älteren Leute wussten noch viel von den
am 15. Oktober 1941 endete. Mit der Nach-       früheren Zeiten zu erzählen, von Kurkon-
barschaft zum Badehaus konnte es, wie           zerten, Bällen im Kurhaus, von Logiergäs-
noch in einer Annonce von 1907, nicht           ten und Theateraufführungen. Theater ge-
mehr punkten, denn das Badehaus ver-            spielt wurde auch noch nach dem Krieg.
schwand Ende der fünfziger Jahre. Das           1947 führte die Bühne Plettenberg Eichen-
Kurhotel mit dem Theatersaal brannte ab,        dorffs Stück „Die Freier“ auf, 1949 kam
aber das „Deutsche Haus“ blieb als Gast-        Hermann Schomberg, der gebürtige Unnaer,
stätte und Kneipe bis 2017, über 50 Jahre       als „Faust“ in seine Vaterstadt. Die Wiener
betrieben von dem Ehepaar Fischmann.            Sängerknaben traten 1954 im Kurhaus auf:
Hermann Fischmann ist es zu verdanken,          Einer logierte bei uns. Operetten wurden
dass er das Fachwerk des Gebäudes freileg-      gespielt, und wir gingen schon zum Gymna-
te und der Stadt Unna damit 1988 ein kul-       sium, als ein Elternabend mit einer Auffüh-
turhistorisches Bauwerk präsentieren konn-      rung von Gerhart Hauptmanns „Biberpelz“
te.                                             kollidierte. Sogar „Das Tagebuch der Anne
Repräsentative Gebäude gibt es in Königs-       Frank“ wurde einmal gegeben. Wir durften,
born immer noch. Sie säumen die Friedrich-      zwölfjährig, nicht hin. Das kam gar nicht in
Ebert-Straße, die Gründerzeit-Villen der        Frage. Die Geschichte der Juden in Unna,
Jahrhundertwende, erbaut um 1900, geräu-        nach und nach schuldbewusst aufgehellt,
mig, massiv, verschnörkelt – und in einem       lag noch im Dunkeln. Alles braucht seine
dieser Prachtgebäude wohnten wir von 1954       Zeit.
bis 1957 zur Miete in der ersten Etage.         Anfang der sechziger Jahre kam der Abstieg
„Hochherrschaftlich“, betonte die Vermiete-     des Kurhauses. Es wurde zu einem Etablis-
rin, eine herzensgute Frau, und für mich als    sement, Gerüchte über Striptease-Nummern
Neunjährige konnte es gar nicht prächtiger      kursierten unter empörten Hausfrauen. Das
sein. Über drei Meter hoch waren die Räu-       weiße Gebäude verfiel und brannte schließ-
me, drei große Zimmer zur Straße hin hat-       lich ab. Melancholisch wurden die alten
ten Stuckdecken mit Rosen, Blättern und         Bäume, morbide der ganze Ort, der einst
21 Erinnerungen                                          Nr. 98 03.2020   Herbst-Blatt
heitere und gepflegte Kurpark mit dem           dinnen konfirmiert wurden... Das heutige
Tempelchen, dem Monopteros auf dem              Amtsgericht, in dem damals die Klöckner-
kleinen Hügelchen. Unvergesslich die Spa-       Werke waren …
ziergänge im Herbst und im Altweibersom-        Beständig ist nur die Veränderung – das
mer, die ich mit Prinz unternahm. Der Prinz     könnte ein tiefsinniges Zitat von irgendwem
gehörte unseren Vermietern, ein Schäfer-        sein. Wo sich einst die elegante Badegesell-
hund – wahrscheinlich doch die größte Lie-      schaft erging, beim Kurkonzert im Park o-
be meines Lebens …                              der beim Tanz im exklusiven Kurhaus, ste-
Willy Timm, der Stadtarchivar, hat uns alles    hen heute Wohnanlagen für Senioren. Auch
Wissenswerte über Königsborn hinterlas-         das „Deutsche Haus“ ist schon seniorenge-
sen. „250 Jahre Königsborn 1734–1984“,          rechten Wohnungen gewichen.
heißt das Quellenwerk.
Danach finden sich erste
Anfänge im 14. Jahrhun-
dert. Damals war nur von
„Brockhausen“ die Rede,
von einem Gut Haus
Brockhausen, aber auch
von den „Brockhauser
Salzwerken“. Der preußi-
sche Staat zeigte Interesse
an dem Unternehmen,
auch an dem Sol- und
Thermalbad. 1818 begann
der Badebetrieb. „Luisen-
bad“ hieß die erste Bade-
anlage. Die beliebte preu-
ßische Königin wurde ge-
ehrt. 1827 kam das russische Dampfbad da-       Doch ein kurzer Blick soll noch auf das
zu. 1833 besuchte sogar der preußische          „Lebenszentrum“ gegenüber dem Fried-
Kronprinz Friedrich Wilhelm das Luisen-         richsborn geworfen werden. Nicht nur gut
bad. In der Mitte des 19. Jahrhunderts gin-     zahlenden Badegästen, sondern auch sozial-
gen Salzwerk und Solbad merklich zurück,        schwachen Kindern kam das Bad Königs-
der Staat verlor das Interesse. Durch Fried-    born zugute. 1880 wurde die „Barmer Feri-
rich Grillo aber nahm das Bad 1875 seinen       enkolonie“ gegründet: 80 bedürftigen Kin-
Aufschwung, der ihm seine Bedeutung bis         dern wurde eine freie Kur ermöglicht. Aus
1941 sicherte.                                  dieser Barmer Bürgerinitiative entstand das
Der Friedrichsborn gehörte zu unserer Kin-      Kinderheim „Barmer Ferienkolonie“, die
derwelt, das Gradierwerk Friedrichsbau          spätere „Kinderheilstätte Königsborn“. Als
aber gab es nicht mehr. Auch das 1882 er-       1941 die Kinderkuren aufhörten, wurde das
richtete Badehaus verschwand. Mit viel Er-      Haus 1943 in eine Heilstätte für an Tuber-
innerung verbunden ist das Kurcafé, das zu      kulose erkrankte Kinder umgewandelt. Im-
unserer Zeit „Café Koch“ hieß. Meine            mer wieder erweitert und vergrößert, war es
Freundin bekam dort einmal von ihrer Tante      später die „Kinderklinik Königsborn“ und
ein Viertelpfund Sahne spendiert, das sie       ist heute das „Lebenszentrum Königsborn“.
ganz alleine aufessen durfte... Die Christus-
                                                Foto: Privatarchiv
kirche, 1905 eingeweiht, wo meine Freun-
Herbst-Blatt             Nr. 98 03.2020                                  Kulturgeschichte 22

             Die Kreuzfahrer-Kapelle am Möhnesee
                                 - von Erhard Kayser -

Wir schreiben das Jahr 1217 nach Christi      na. Die Idee eines Nachbaus machte Schu-
Geburt. Der Arnsberger Graf Gottfried II.     le: Überall entstanden Kirchen und Kapel-
ist mit seinen Begleitern zu einem Kreuz-     len, in deren Inneren die Säulenfülle des
zug aufgebrochen. Sein Ziel: Die Grabes-      Vorbilds bestach und die Außengestalt die
kirche Jesu in Jerusalem. Ihn treibt aber     Rundform des Vorbilds aufnahm. So ent-
nicht das Fernweh oder gar die Erobe-         standen solche Grabeskirchen in ganz Eu-
rungslust. Er hat andere Beweggründe für      ropa. Man findet sie auf den schottischen
das zeitraubende Unternehmen. Auf ihm         Orkney-Inseln und im südlichen Apulien.
lastete nämlich eine sehr schwere Schuld.     Von Portugal bis nach Polen sind sie ver-
Er musste sie abbüßen. Zu seiner Zeit war     breitet.
das beste Mittel dazu eine Pilgerfahrt nach   Zu ihnen gehört auch die Kapelle am Möh-
Jerusalem.                                    nesee. Weil Graf Gottfried II. im Jahre
Hier stand die berühmte Grabeskirche. He-     1227 glücklich heimkehrte, errichtete er
lena, die Mutter des
Kaisers       Konstantin,
hatte sie um das Jahr
320 errichten lassen.
Das war genau an der
Stelle, an der sie Reste
des Kreuzes Jesu und
die Stelle von Golga-
tha sowie des Felsen-
grab gefunden hatten.
Seither war die Gra-
beskirche d a s Pilger-
ziel für alle Christen.
Die Pilger kamen aus
Jerusalem zurück; sie
hatten Baupläne und
Zeichnungen des Bau-
werks bei sich. Mit de-
ren Hilfe war es dann
möglich, Duplikate des
Bauwerks in der Hei-
mat zu errichten. Nun
konnte man diese
Nachbildungen in der
Nähe besuchen. Das
galt ebenfalls als sehr
verdienstvoll. Vor al-
lem ersparte es die ge-
fahrvolle und strapazi-
öse Reise nach Palästi-
23 Kulturgeschichte                                     Nr. 98 03.2020       Herbst-Blatt
zum Dank gegen Gott die „Drüggelter Ka-
pelle“, die den Namen des Hügels trägt, auf
dem sie steht.
Es ist anzunehmen, dass der Graf sich der
Hilfe von Wanderarbeitern aus der Lom-
bardei bediente. Sie galten als Fachleute für
die Errichtung sakraler Gebäude in der Zeit
der Romanik. – Sehr viel mehr ist über die
Frühzeit der Kapelle nicht bekannt. Aus
dem Volksmund ist ihre Bezeichnung als
„Heiden-Tempel“ bekannt. Diesen Namen
erhielt das architektonische Juwel aus fol-
gendem Grund: Es gibt hier gegenüber an-
deren romanischen Kapellen eine Beson-
derheit. Hier haben die Grünsandstein-
Säulen auf ihren Kapitellen heidnische
Symbole. Man würde Kreuze oder Fische
erwarten. Hier aber sind es Fratzen, Wid-
derköpfe und ähnliches. Der Grund dafür
mag der sein, dass man den Menschen die
Furcht vor dem fremdartigen Stein-
Bauwerk dadurch nehmen wollte, dass man
die ihnen bekannten Objekte in die Kapelle
aufnahm.
Noch etwas sollte Erwähnung finden: In
den meisten Kapellen dieser Art steht im        sollte den Leichnam Christi symbolisieren.
Mittelpunkt der Säulenringe ein offener         Dann, am Ostersonntag, war die Puppe ver-
Sarkophag. In dieser Kapelle ist er ver-        schwunden. Der Priester erklärte: „Jesus ist
schwunden. Er diente gottesdienstlichen         nicht mehr hier. Er ist auferstanden von
Zwecken: In das Behältnis wurde zu Grün-        den Toten!“ Damit zeigte er nach oben, wo
donnerstag eine Puppe aus Stroh gelegt; sie     die Kapelle offen war und man den Him-
                                                mel sehen konnte. Das Dach gab es damals
                                                noch nicht! – Wegen dieser einfachen, aber
                                                einleuchtenden Predigt nannte man die Ka-
                                                pelle auch „Grabeskapelle“, „Auferste-
                                                hungskapelle“ oder „Himmelfahrtskapel-
                                                le“.
                                                Wer mehr erfahren will, sollte die Kapelle
                                                besuchen, am besten unter fachkundiger
                                                Führung. Von Soest her fährt man nach
                                                Delecke am Möhnesee. Kurz vor dem Ort
                                                führt linkerhand eine Baumallee nach
                                                Drüggelte. Das fast 1000 Jahre alte Gebäu-
                                                de ist erreicht!
                                                Fotos: Asio Otus/wikipedia.de, Erhard Kayser,
                                                Zeichnung: Andrea Irslinger
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