Nr. 98 März - April - Mai 2020 - FRÜHLING - Kreisstadt Unna
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
MAGAZIN FÜR UNNA März – April – Mai 2020 Nr. 98 FRÜHLING AUSSERDEM IN DIESER AUSGABE: ERINNERUNGEN • SCHWIMMSPORT IN UNNA BAUM DES JAHRES • HISTORISCHES •LESERBRIEF
Herbst-Blatt Nr. 98 03.2020 Editorial 2 Inhalt Liebe Leserin, lieber Leser! 3 Also sprach der Esel: Sie werden sich wahrscheinlich wundern, „Manche Sprüche bauen mich auf.“ dass wir das umseitige Titelbild ausgesucht 4 Frühling haben, aber ansonsten kein begleitender Text dazu im vorliegenden Heft veröffentlicht ist. 5 Das Freibad im Bornekamp Die Erklärung ist ganz einfach: Die Skulptur 7 Ich kann‘s des Lyra-spielenden Orpheus dient uns in 8 Fit bis ins hohe Alter? diesem Fall als Bote für die kommende wär- 9 Hätten Sie es gewusst? Eierkartons mere Jahreszeit. Orpheus hat durch sein Lyra- 10 Robinie Spiel nicht allein ausdrücken wollen, dass er 12 Opa klärt auf: seiner früh von ihm gegangenen Eurydike Heute: Wäschemangeln früher nachtrauere. Bekanntermaßen hat er sie ja 14 Guck mal da! Milchanlieferung sogar wieder zum Leben erweckt. Symbol- mit dem Pferdewagen in Unna trächtig kann seine Musik für alles Positive, 16 Dieter Beuke – Erinnerungen an einen Unnaer Nachtwächter 18 Ein unerwartetes Geschenk 20 Königsborner Erinnerungen 22 Die Kreuzfahrer-Kapelle am Möhnesee 24 Drachen aus dem Norden 26 Ein Leserbrief Impressum Herausgeberin: Kreisstadt Unna Hertinger Straße 12 59423 Unna was uns Freude bereiten soll, gedeutet wer- Tel.: 02303/256903 den. Also auch für das Wiedererwachen der Internet: www.unna.de/herbstblatt/ Natur im Frühling und Sommer. V.i.S.d.P: Dr. Bärbel Beutner Internet: Marc Christopher Krug Dazu passen der Artikel zur Saisoneröffnung im Bornekampbad, der Aufruf, sich auch im Redaktion: Alter noch sportlich zu betätigen, sowie der Andrea Irslinger, Bärbel Beutner, Benigna Blaß, Brigitte Paschedag, Christian Modrok, Franz Wiemann, Verweis auf den „Baum des Jahres 2020“, Ingrid Faust, Klaus W. Busse, Klaus Thorwarth, die Gewöhnliche Robinie: Nicht nur diese Reinhild Giese, Ulrike Wehner Artikel sehen wir als geeignet an, unsere Seniorenbeauftragter: Robin Rengers Stimmung im Frühjahr ins Positive umzulen- Seniorenarbeit Fäßchen: Markus Niebios Titelfoto: Franz Wiemann ken. Im Frühling wird die Düsternis des Gestaltung: Andrea Irslinger Winters vertrieben. Nicht umsonst zünden Druck: WIRmachenDRUCK GmbH, wir, uraltem heidnischen Brauch folgend, Backnang Osterfeuer an: Die „bösen Geister“ des Win- ters sollen vertrieben werden. Eine insgesamt positive(re) Stimmung er- greift Sie hoffentlich beim Lesen dieses Hef- tes. Wir haben uns viel Mühe gegeben, und Das nächste wünschen Ihnen viel Vergnügen dabei. mit der Nr. 99 erscheint im Juni 2020! Im Namen der Redaktion Franz Wiemann
3 Meinung Nr. 98 03.2020 Herbst-Blatt Also sprach der Esel: „Manche Sprüche bauen mich auf.“ Es war an einem grauen Winternachmittag. einen Fehler gemacht. Ich spitzte meine Draußen war es ungemütlich, nass und Ohren und wartete auf die Reaktion meines windig. Da hatte mein Freund und Treiber Freundes. Er richtete sich aus seiner leicht drei Freunde nach Hause zum Skat eingela- gebückten Haltung auf und sagte: „Nenne den. Mir war es auch recht. Obwohl ich nie einen Kollegen, der einen Fehler ge- nicht so wetterfühlig bin wie meine macht hat, einen Esel, denn Esel bedenken menschlichen Freunde, muss man sich klug, was sie tun. Es kommt den Menschen nicht gerade dem Wind aussetzen. Die vier nur so vor, wenn vom Esel etwas verlangt Männer saßen um einen Tisch herum und wird, was seinem Wesen nicht entspricht.“ feilschten mit Zahlen, die ich als Esel nicht Papst Joh. Paul II. soll einmal voller Hoch- verstand. Am Anfang schlürften sie Tee, achtung gesagt haben: „Wo die Pferde ver- aber später tranken sie Bier. Einer von sagen, schaffen es die Esel“. Dann zitierte ihnen meinte, dass zum Skatabend auch mein Freund noch ein paar Sprichwörter Bier gehört. Ich selbst habe mich mit einer aus der Sammlung von Karl Simrock, wie zusätzlichen Portion Möhren und Äpfeln zum Beispiel: zufriedengegeben. „Das Pferd der Hoffnung galoppiert, doch Das Spiel verlief einigermaßen harmo- der Esel der Erfahrung geht im Schritt.“ nisch, begleitet manchmal von dummen „Esel sind Partner, mit denen man Pferde Sprüchen. Die Karten klatschten auf das stehlen kann.“ nackte Tischblatt. Diese Idylle unterbrach „Der Esel und sein Treiber denken nicht ein lauter Ausbruch eines Spielers: „Du überein, (aber ergänzen sich)“ – sagte mein bist ein Esel!“. Denn ein Mitspieler hatte Freund mit einem Augenzwinkern dazu. Selbst in Heinrich Heines Sprüch- lein „Gott hat die Esel geschaffen, damit sie dem Menschen als Ver- gleich dienen können“, sollte man nur die positiven Eigenschaften er- kennen. Mein Treiber ist ein echter Freund. Bei seinen Sprüchen stellt er nie den Esel in ein negatives Licht. Deswegen lieben mich auch die Unnaer Mitbürger und ich sie. Herzlichst, Ihr Balduin Zeichnung: Klaus Pfauter Foto: Franz Wiemann
Herbst-Blatt Nr. 98 03.2020 Jahreszeiten 4 Frühling Lebenskunst Christian Reuter (1665–1712) Ach, was sind wir dumme Leute, wir genießen nie das Heute. Unser ganzes Menschenleben ist ein Hasten, ist ein Streben, ist ein Bangen, ist ein Sorgen - heute denkt man schon an morgen, morgen an die spät‘re Zeit - und kein Mensch genießt das Heut‘. Auf des Lebens Stufenleiter eilt man weiter, immer weiter. Nutz den Frühling deines Lebens, leb im Sommer nicht vergebens, denn gar bald stehst du im Herbste Frühlingserwachen bis der Winter naht, dann sterbste. Klaus Thorwarth Und die Welt geht trotzdem heiter Wenn hell die liebe Sonne scheint, immer weiter, immer weiter… dann sagt man, dass sie gut es meint. Im hellen Strahl, da merkt man schon: vorbei die Zeit der Depression. Scheint dir die Sonne auf den Bauch, erwärmt sie deine Seele auch. Scheint sie aber auf die Stirn, dann erwärmt sie dir das Hirn. Scheint sie dir doch auf die Beine, sind sie brauner bald als meine.. D-Vitamin ist ja sehr wichtig, entsteht durch Sonnenlicht, ganz richtig. In Summa: Je mehr die Sonne höher reicht, die ganze Stimmung steigt und steigt… Fotos: Andrea Irslinger
5 Saison Nr. 98 03.2020 Herbst-Blatt Das Freibad im Bornekamp - von Franz Wiemann - Weit mehr als 130 Jahre alt, und immer noch „Schöne Flöte“ nach Holzwickede. Mit dem unverzichtbar: das Freibad im Bornekamp in Ausklang der 70er Jahre entschloss sich die Unna. Wenn uns, wie auch schon in den letz- Stadtverwaltung auf einen Ratsbeschluss hin, ten beiden Jahren, bald wieder die Heißluft in Unna-Massen ebenfalls ein attraktives Bad des Sommers zu schaffen macht, erinnert zu bauen. Der Unterhalt des in die Jahre ge- sich so mancher Altbürger/in gerne an dieses kommenen Bades im Bornekamp lohnte Bad. „Dort habe ich Schwimmen gelernt“, scheinbar nicht mehr: Es wurde geschlossen. hört man sie gerne erzählen. Man braucht nur Das neue Bad in Massen wurde im Jahr 1978 zehn ältere Mitbürger zu befragen, und min- eingeweiht. destens sechs von ihnen bestätigen das. Und dennoch: Nach fast drei Jahren Still- Das ehemalige „Schwimm- und Bade-Bassin stand – das Bad verfiel zusehends – regte für den schulischen Schwimmsport“ wurde sich unter einigen engagierten Bürgern Wi- mit Wirkung vom 18. Juni 1889 von dem da- derstand. Bei der zentralen Lage zum Naher- mals verantwortlichen holungsbereich Borne- Schulvorstand der Kai- kamp wäre es doch eine ser-Wilhelm-Schule, Schande, so argumen- Vorläufer der heutigen tierten sie, das Freibad Katharinenschule, „dem vor sich hingammeln zu Publikum zur Benut- lassen. Insbesonders für zung freigestellt“. Zu- ältere Mitbürger und vor soll an gleicher Kinder wäre der zentra- Stelle schon lange vor le Standort von un- dem Jahr 1845 ein schätzbarem Vorteil. „wildes und freies Der Wunsch, das Bad Schwimmen“ in einem zu retten, wurde inner- privaten Teich der Ei- halb weniger Tage von gentümer Carl Friedrichs und Carl Schmitz über 2000 Unnaer Bürger/innen in einer Un- stattgefunden haben. Um das zu unterbinden, terschriftenaktion bekräftigt. Die Initiatoren ließen die Eigentümer damals verlauten: gründeten einen Verein, wandten sich an die „Zuwiderhandlungen werden wir gesetzlich Stadt … und tatsächlich: Zahlreiche Vereine verfolgen“. und Verbände unterstützten dieses Begehren. Seitdem hat diese „Badeanstalt“ wechselvol- Das Bad wurde von dem neu gegründeten le Zeiten erlebt. Verein namens Freibad Bornekamp e.V., da- Als zwischen den beiden Weltkriegen noch mals unter seinem Ersten Vorsitzenden Dr. Bademeister, wie z. B. Herr Adrian, dem Bernhard Krieger, in eigener Regie übernom- Jungvolk die ersten Schwimmzüge beibrach- men. Eine Überprüfung der technischen An- ten, schien alles in bester Ordnung zu sein. lage war erforderlich, und nach der Vorlage Weit und breit gab es nur wenig konkurrie- eines Finanzierungsplans stimmte die Stadt – rende Einrichtungen, die Lage des Bades in anfangs zwar immer noch skeptisch – im der Mitte der Stadt war ein riesiger Vorteil. Jahr 1982 zu. In enorm vielen unentgeltlich Die Wege waren kurz. Erst als die Bausub- abgeleisteten Arbeitsstunden wurde es auf stanz Mitte der Sechziger und Siebziger Jah- Vordermann gebracht und konnte schon am re nicht mehr den Anforderungen genügte, 15. Mai 1982 wiedereröffnet werden. ließ der Besucherandrang nach. Es gab in Kurse für Nichtschwimmer wurden einge- benachbarten Gemeinden neue, attraktivere richtet. Viele junge Mädchen und Jungen Bäder: man fuhr zum Beispiel gerne in die nahmen dieses Angebot wahr. Die erfolgrei-
Herbst-Blatt Nr. 98 03.2020 Saison 6 chen Teilnehmer/innen wurden unter dem Kürzel “BB-chen“ bekannt. Zahlreiche Er- Unser Freibad wachsene – jetzt so zwischen 40 und 60 Jahre alt – dürften sich noch gut daran erinnern. von Karlheinz Ende der 80er Jahre erwies sich leider das Rosenkranz alte Betonbecken als zu schwach, um noch Im Bornekamp neben der Schule modernen und hygienischen Anforderungen liegt UNser Freibad, wunderschön. zu genügen. Dem in finanzielle Not gerate- Da kann man in der Sommerschwüle nen Verein wurde erneut unter die Arme ge- viele Badegäste seh’n. griffen. Handwerker brachten die Technik auf neuesten Stand und 1990 wurde es erneut Wenn die Sonne vom Himmel lacht, in Betrieb genommen. BB war ein Werbeträ- das Bad aus allen Nähten platzt. ger, ein Maskottchen. Der Vorstand ruft glücklich und froh: Von Schlechtwetterperioden einmal abgese- „Liebe Sonne, mach weiter so!“ hen, war das Bad im Sommerbetrieb eigent- Aber auch an Regentagen lich immer geöffnet. Zwar war im Jahr 2010 muss ich mich nicht lange fragen, erneut eine dringende Reparatur erforderlich, „Geh‘ ich heut‘ ins Bad hinein, denn das nur wenige Jahre zuvor fertigge- oder lasse ich es sein?“ stellte Becken verlor sein Wasser: Es gab ei- ne undichte Stelle. Wenn ich an den Kiosk denke Noch rechtzeitig zur Saison 2006 wurden die an die gut gekühlten Getränke, Umkleide, Duschen und Nebenräume tech- kommt es mir gleich in den Sinn: nisch und optisch auf den modernsten Stand „Natürlich geh‘ ich heute hin.“ gebracht. Diese Baumaßnahmen konnten überwiegend während der Winterpause Frikadell‘n und Süßes warten durchgeführt werden. auf Kundschaft in UNser’m (schönen) Als vor inzwischen zehn Jahren das Freizeit- Biergarten. bad in Massen geschlossen wurde, war man Und wer was Kräftiges essen will, froh darüber, die altehrwürdige Badeanstalt holt sich Leckeres vom Grill. im Bornekamp gerettet zu haben. Nicht nur Bratwurst, Pommes und Mayo dazu, die Abkühlung im Wasser tut gut, auch das da gibt auch der hungrigste Magen Ruh‘. Angebot im Kiosk kann sich sehen lassen, Drum, liebe Leut‘, macht euch bereit: wie Sie im nachstehenden Gedicht von Karl- Nutzt die schöne Sommerzeit. heinz Rosenkranz, Mitglied des Vereins, le- Packt die Badesachen ein, sen können (s. in dem Beitrag unseres Redak- und kommt in UNser Bad hinein. tionsmitgliedes Ulrike Wehner auf der nächs- ten Seite). Etwas ganz Tolles hat sich der Karlheinz Rosenkranz, geb. 1940, hat nach eigenen Vorstand in jüngerer Zeit einfallen lassen: Angaben im Bornekamp Schwimmen gelernt. Das war im Jahr 1947. Er ist heute noch als inzwischen Das ganze Bad kann gegen eine Spende zur fast 80-Jähriger gern gesehener Gast. Wenn auch Verfügung gestellt werden, um beispielswei- vornehmlich nur im Biergarten!! se Vereinsfeste, Sommerféten, aber auch pri- vate Feiern durchzuführen. Unterstützungs- willige Bürger/innen können für 43 € die ganze Saison lang ins Freibad kommen. Und für 10 € zusätzlich haben Frühschwimmer zwischen 6 und 9 Uhr freien Zugang zum Bad. Ganz zu ihrem Vorteil, denn dann ist es garantiert nicht zu voll. Fotos: Hellweger Anzeiger, Archiv 1909, Archiv Freibad Bornekamp e.V.
7 Saison Nr. 98 03.2020 Herbst-Blatt Ich kann‘s von Ulrike Wehner Es war Sommer und es war warm. Im Bor- Wir sind noch öfter in dem Sommer zum nekamp gab es ein Freibad. Da meine Mut- Schwimmen gegangen und ich habe fleißig ter fortschrittlich dachte, meinte sie, meine geübt. Eines Tages traute ich mich hinter Schwester und ich müssten Schwimmen die Kette ins große Becken. Ich blieb dicht lernen. Sie selbst konnte es nicht. Sie am Rand, eine Hand an der rundum laufen- schickte uns los mit Badeanzug, -mütze und den Eisenstange. Dann habe ich die Rich- einem Handtuch. „Wer als erste von euch tung gewechselt und fühlte so langsam die schwimmen kann, bekommt eine Mark“, Sicherheit, um auch die andere Hand loslas- rief sie uns noch nach. Doch für uns kleinen sen zu können. Ich schwamm! Langsam am Mädchen von sechs und acht Jahren war Rand entlang zog ich davon. Oben standen das leichter gesagt als getan. Schwimmen? zwei ältere Mädchen. Wir kannten uns vom Wie geht das denn überhaupt? Kinderchor. Als ich unter ihnen vorbeikam, Als wir in die Badeanstalt kamen, sahen wir sagte die eine: „Guck mal, die Kleine eine Reihe von Duschen neben einem fla- schwimmt aber schön.“ Die Anerkennung chen Becken, in dem ein paar Kinder tat mir gut. Ich winkte leicht und schon plantschten. Das gefiel meiner Schwester. sackte ich ab, fing mich zum Glück aber Auf der anderen Seite des Ganges lag ein wieder. großes Becken, dessen hinterer Teil von einer Kette abgetrennt wurde. Das war wohl das Nichtschwimmerbecken, denn es war so übervoll mit Kindern, dass ich mich nicht hinein traute. Ich hatte große Angst davor, unter Wasser gedrückt zu werden. So stellte ich mich an den Rand des tieferen Beckenteils und bewunderte die Jungen, die von den Sprungbrettern ins tiefe Wasser sprangen. Schnell tauchten sie wieder auf, kraulten zum Rand, stiegen aus dem Was- ser und kletterten wieder zum Sprungbrett hoch. Ja, das würde mir auch Spaß machen. Zum Schwimmen macht müde und hungrig, also Glück sah ich auch einige Brustschwimmer. ab nach Hause. Ich fand meine Schwester, Nun schaute ich denen zu, um die Technik sagte kurz, dass ich „es“ jetzt wohl kann zu lernen. Konzentriert versuchte ich, im und wollte mit ihr gehen. „Du musst es mir Geist die Arm- und Beinbewegungen nach- erst zeigen!“ Da hat sie aber gestaunt. Im zuahmen und marschierte mutig zum fla- Planschbecken lernt man nicht schwimmen, chen Beckenteil, um die neuen Kenntnisse musste sie sich neidvoll eingestehen. Sie auszuprobieren. Ich wollte mich an der Ket- zog mich nach Hause, rannte die Treppe te festhalten, um dann mit den Beinen zu hoch und rief noch im Flur: „Kiki kann üben. Aber die vielen anderen Kinder lie- schwimmen!“ ßen mir nicht genug Raum. So nahm ich Ich bekam die Mark. denn mein Schwesterchen an die Hand und Zeichnung: Andrea Irslinger ging wieder nach Hause.
Herbst-Blatt Nr. 98 03.2020 Sport 8 Fit bis ins hohe Alter? - von Franz Wiemann - Das hohe Alter mögen Sie längst erreicht gekommen. Im Reha-Sport eingesetzt, hilft haben. Aber fit sein? Geht denn da noch er die Rückenmuskulatur zu stärken. Seien etwas? Berechtigte Fragen. Sie nicht zu scheu, in einem Sportzentrum Noch ist es nicht zu spät. Sport tut nämlich oder Studio nachzufragen. Kurse für Rent- jedem gut. Vor allem, wenn bald die Son- ner werden zur Genüge angeboten. Ob das ne wieder regelmäßiger scheint und es die nun die Reha-Gruppe „Koronargefäß- Menschen unweigerlich nach draußen Erkrankungen“ oder die „Gruppe der Hüft- zieht. Sich in der freien Natur zu be- geschädigten“ ist, zahlreiche Institute ha- wegen, die frische Luft genie- ben sich auch darauf spezialisiert. ßen, das hat noch nieman- Tun Sie also etwas, um dem Körper dem geschadet. wieder die Kraft und Stärke zu geben, Bei vielen wird die die er benötigt, um beispielsweise Bewegungsfreude aber Stürzen vorzubeugen. Das Prinzip durch mehr oder weniger von Belastung und Entlastung heftige Gelenkschmerzen wird Ihnen schnell beige- eingeschränkt. Es ist ein bracht. An Geräten mangelt Teufelskreis entstan- es den Studios in der Regel den: Bewegungsver- nicht. Die Bein-Streckung, meidung führt langfris- hier im zweiten Bild am Gerät tig zu noch mehr Schmer- vorbildlich vorgemacht, dient zen, Bewegungseinschrän- dem Muskelaufbau. Ein zertifi- kung zu einem Verlust an zierter Trainer sollte Ihnen aller- Lebensqualität. Aber den- dings schon zur Seite stehen, ob noch ist es nicht zu spät, dem nun im Gruppensport oder in entgegenzuwirken. Der alte der Einzelbetreuung. Spruch „Wer rastet der rostet“ Sie mögen jetzt laute Einwände hat an Bedeutung nicht verloren. bringen, warum man sich selbst Fangen Sie mit dem an, was Sie noch im hohen Alter mit dem immer schon gerne gemacht ha- Sporteln anfreunden soll. ben: Spazierengehen, Schwim- „Meine Enkelkinder würden men, Radfahren, Tanzen. Die mich doch insgeheim nur ausla- beiden mittleren Betätigungen chen“, werden Sie eventuell sagen. sind nahezu ideal, da sich die Alles nur Ausreden. Unzählige Gelenke frei bewegen können. empirische Studien belegen Und wenn alles in Maßen be- schon längst, dass jede körperli- trieben wird, etwa 20 Minuten che Betätigung, Sport miteinge- am Tag, ist da sicher auch noch schlossen, das Leben verlängern hilft. Luft nach oben. Nichtstun lässt dagegen den Tod auf der Es muss ja nicht gleich der Hula-Hoop- Zeitachse nach vorne rücken. Reifen wieder hervorgeholt werden, wie es Es muss ja nicht immer gleich der Leis- die Dame im Bild macht. Er ist im 70-sten tungsgedanke dahinterstecken. „Tun Sie Jahr seit seiner weltweiten Verbreitung in etwas für Ihre Gesundheit und laufen Sie manchen Fitnesszentren wieder zu Ehren täglich!“ Dieser Empfehlung werden Sie
9 Tipps Nr. 98 03.2020 Herbst-Blatt die persönliche Fitness zu tun, endet nicht automatisch mit „gefühlt“ 68 Jahren. Sport treiben, heißt aktiv am sozialen Leben teilzunehmen und soziale Kontakte zu pfle- gen. Die längere Lebenser- wartung ist nun mal ein Ge- schenk und keine Selbstver- ständlichkeit. Wissenschaft- liche Untersuchungen bestä- tigen das immer wieder. Nutzen Sie die kommenden Wochen und Monate. Rät Ihnen denn ihr Hausarzt nicht ständig zu mehr Bewe- gung? Handeln, nicht nur u. U. widersprechen wollen. Wege dazu, Reden, lautet jetzt die Devise. Überwinden um vermehrt auch im Alter Bewegungs- Sie den „Inneren Schweinehund“. sport treiben zu können, sind dagegen in Fotos: Franz Wiemann zahlreichen Gesundheitsmagazinen nach- zulesen. Der Kerngedanke lautet: Etwas für Hätten Sie es gewusst? Eierkartons - von Benigna Blaß - Die Osterzeit naht, man kauft nun wieder vermehrt Eier. Soll man die Eierkartons aus Pappe wirklich wegwerfen? Nein! Für die Aufzucht von Sämlingen füllt man die Mulden mit Erde und legt die Samen hinein. Sind die Keimlinge da, so schneidet man die Waben auseinander und kann diese sofort in die Erde bringen. Oder man füllt die Waben mit kleinen Holzspänen und Papier, gibt noch etwas Wachs von alten Kerzen dazu. Damit kann die Holzkohle im Grill gut ange- zündet werden. Viel Vergnügen! Foto: Benigna Blaß
Herbst-Blatt Nr. 98 03.2020 Natur 10 Robinie - von Benigna Blaß - Die Robinie (Robinia pseudoacacia) ist nigs aus dieser Gegend kommt. Auch in zum Baum des Jahres 2020 gewählt wor- Ungarn sind 20 % der Waldflächen mit Ro- den. Er wird auch falsche Akazie, binien bepflanzt. Der Baum kann sich gut Scheinakazie oder Silberregen genannt. schützen. Die gefiederten Laubblätter, die Die Robinie ist in Nordamerika beheimatet. aus eiförmigen Einzelblättchen bestehen, Vor 300 Jahren brachte man sie nach Euro- besitzen kleine Gelenke, die sie bei starker pa. 1670 wurden im Berliner Lustgarten Hitze senkrecht nach unten klappen kön- mehrere angepflanzt. Sie blühen leider erst nen. nach sechs Jahren. Dann sind sie mit ihren Das Holz ist sehr hart, aber trotzdem elas- duftenden, weißen, hängenden und 1,5–2,2 tisch, es kann sich verformen, bricht und cm langen Traubenblüten, die im Mai/Juni splittert nicht und trocknet im Vergleich zu blühen, ein wunderbarer Farbtupfer. In anderen Holzarten schnell in nur einem manchen Jahren kommen Blüten und die Jahr. Nach dem Trocknen erscheint das haarigen Blätter zur gleichen Zeit. Sie kön- Holz hell- bis goldbraun, manchmal kann nen viel Stickstoff aufnehmen und sind es auch schokoladenfarbig werden. Durch richtige Energiepflanzen. Sind die Blüten seine Härte ist es schwer entzündbar, ex- bestäubt, so bilden sich 10 cm lange Schoten, in denen sich die Samen befinden. Diese bleiben bis zum nächste Jahr hängen. Die Bäume können bis zu 25 m hoch werden und ein Alter von 100- 200 Jahre erreichen. Nicht nur Setz- linge werden gepflanzt, sondern die Bäume haben lange Wurzelausläu- fer, aus denen neue Bäumchen wachsen, besonders wenn ein Baum gefällt worden ist. Die borkige, graubraune, tief gefurchte Rinde bildet 20-25 % des Stammes und enthält viele Mineralstoffe. Man schält die Bäume an Ort und Stelle, um dem Boden die Mineralstoffe zurück zu geben. In Brandenburg wurden auf rund 8100 ha Robinienbäume gepflanzt, da sie sehr genügsam und wider- standsfähig sind, sandigen Boden lieben, Trockenheit gut vertragen können und schnell wachsen. Die Blüten blühen nur wenige Tage, ha- ben aber einen sehr hohen Zucker- gehalt, so dass 60 % des Akazienho- Kindertagesstätte Dürersraße
11 Natur Nr. 98 03.2020 Herbst-Blatt trem resistent und kann ohne Imprägnie- wird es gerne zum Bau von Xylophonen rung verarbeitet werden: für Sport-und genutzt. Spielgeräte, Werkzeugstiele, Weinberg- Soll ein gerader langer Stamm wachsen, pfähle, Holzdübel, Uferbefestigungen und den man zum Beispiel für ein Segelboot Dachkonstruktionen. braucht, so muss man schon im zweiten Das Holz hat noch etwas Besonderes, eine Jahr die unteren Äste entfernen. hervorragende Klangeigenschaft. Deshalb Da die Bäume streusalzresistent sind, wer- den sie neuerdings an Straßenrändern ange- pflanzt. Rinde und Früchte sind besonders für Tiere sehr giftig. Darum sollten sie nicht in der Nähe von Weiden stehen. Robinien werden immer mehr gepflanzt und gehegt, um dem Raubbau des Holzes aus tropischen Ländern und aus den Urwäl- dern entgegen zu wirken. Fotos: Benigna Blaß; Hans Braxmeier, pixabay.de; Deedster, pixabay.de Hier noch ein kleines Gedicht: Lied der Robinie Von Inge Offermann Robinie im Licht bin ich, erfüllt mit grünem Leben. Ich schwinge im Winde, atme Sonne und lausche in Mondnächten den Gesprächen Liebender unter meinen Zweigen. Traurige Menschen lehnen sich an mich. Für sie duften meine Sommerblüten süß. Gerne wachse ich an Seen, wo im Herbst meine Blätter golden aufs Wasser tropfen, auf Uferwegen ihr Teppich raschelt und ein gelber Regen das graue Gesicht der Stadt erhellt.
Herbst-Blatt Nr. 98 03.2020 Nostalgie 12 Opa klärt auf Heute: Wäschemangeln früher - von Christian Modrok - An einem verregneten Spätherbstnachmit- Großvaters ausführliche Beschreibung. tag kam Olaf nach der Schule direkt zu den „Siehst du, auf diesem massiven Gestell Großeltern. Bei der Oma gab es gleich ein liegt ein großer Kasten auf zwei Rundhöl- belegtes Butterbrot nach seinem Ge- zern. Der Kasten ist mit schweren Steinen schmack. Dann schaute er sich in Großva- gefüllt. Durch einen Mechanismus, ange- ters Wohnzimmer um. Das war so seine trieben durch die Kurbel, wird der Kasten Art, nach etwas Interessantem zu suchen. hin und zurück bewegt. Die Bewegung al- Dieses Mal fiel sein Blick auf ein dickes lein war aber nicht Zweck und Sinn der Sa- Fotoalbum. Höflich fragte er, ob er sich das che. Hausfrauen gingen nach dem Trock- ansehen dürfe. Opa erlaubte es natürlich. nen der Wäsche zur Mangel. Dort haben Beim Opa darf er alles, oder besser gesagt, sie die Wäsche Stück für Stück auf die fast alles. Rundhölzer aufgewickelt, sie nannten es Olaf setzte sich an den Tisch und fing an zu aufbäumen. Der Kasten wurde mit Hilfe blättern. Schon nach der zweiten Seite frag- der Kurbel zu einem Ende gefahren, und te er nach Personen, die er nicht kannte. das leere Rundholz gegen das mit aufgewi- Ein paar Seiten weiter lachte er plötzlich. ckelter Wäsche ausgetauscht. Dann wurde Da sah er den Großvater mit einem komi- der Kasten an das andere Ende gefahren schen Hut mit großer Krempe. Großvater und die Rundhölzer auch ausgetauscht. erklärte, dass es auf den Kanarischen Inseln Nach einigen Hin-und Herbewegungen war. Da scheint die Sonne stärker. Da ist es wurde die Wäsche von den Rundhölzern eben angebracht, das Gesicht und die Oh- abgewickelt, und die Hausfrauen freuten ren vor den Sonnenstrahlen zu schützen. sich über die glatten Bettbezüge oder Bett- Beim Blick auf eine der nächsten Seiten laken.“ „Wozu wurde das überhaupt ge- lachte er wieder. Da war der Opa in Knie- macht?“ fragte wieder Olaf. „Tja, siehst du, bundhosen und kariertem Hemd vor dem bei den heutigen Gewebearten und den mo- Hintergrund felsiger Berge zu sehen. Opa dernen Waschmaschinen mit Trockner, wie erklärte wieder, dass es für ihn sehr be- es deine Mama hat, erübrigt sich das Man- quem war, in Kniebundhosen zu wandern. geln. Dann genügt nur noch das Bügeln. Viele Wanderer haben auch diese Erfah- Früher aber wurde die Wäsche durch das rung gemacht. Mangeln im weiteren Umgang mit ihr an- Auf einer der nächsten Seiten erblickte er genehmer“. „Und wo hast du dieses Foto auf einem Foto den Großvater neben einem gemacht?“ fragte Olaf. „Durch einen Zufall seltsamen Gerät mit einer Kurbel in der fand ich diese Mangel im Museum ‚Haus Hand. „Opa, was ist das? Ist das ein Sport- Schlesien‘ in Königswinter“, erklärte der gerät?“ „Nein, mein Junge, das ist eine alte Herr, und erzählte weiter: „Meine Mangel,“ antwortete der alte Herr. „Was ist Großmutter, das heißt deine Ururgroßmut- eine Mangel?“, folgte die nächste Frage. ter, hatte auch so eine Mangel. Mein Groß- „Das ist ein Gerät zum Glätten der Wäsche vater, dein Ururgroßvater, war Maurer. Er nach dem Trocknen.“ Um dem Kleinen hatte für dieses Gerät extra ein kleines weitere Fragen vorwegzunehmen, folgte Häuschen hinter seinem Mehrfamilienhaus
13 Nostalgie Nr. 98 03.2020 Herbst-Blatt gebaut. Die ersten Kunden waren die zehn che Kundin in den Umgang mit der neuen Mieter aus seinem Haus. Als sich das her- Antriebsart einweisen zu dürfen.“ umgesprochen hatte, kamen Leute aus der Olaf hörte aufmerksam zu. Ganz toll fand ganzen Gegend zum ‚Rollen‘, wie man es er, dass der Großvater seine Großeltern, auch nannte. Als Schuljunge habe ich das heißt Olafs Ururgroßeltern, erwähnte. manchmal den Hausfrauen geholfen, denn Dabei nahmen diese in Olafs Vorstellung das Drehen der Kurbel war anstrengend. ganz reale Personen an. An diesem Beispiel Dafür bekam ich oft einen Groschen (10 merkte der alte Herr auch an, dass der tech- Pfennig) extra. Um den Hausfrauen die Ar- nische Fortschritt nicht von alleine gekom- beit zu erleichtern, hat mein Großvater ei- men ist. Menschen, wie auch seine Vorfah- nen Elektromotor mit Riemenantrieb über ren, haben ihn mitgestaltet. das Schwungrad installieren lassen. Foto: Christian Modrok, Zeichnung: Klaus Pfauter Dadurch fiel mein zusätzliches Taschen- geld weg. Aber ich war stolz darauf, man-
Herbst-Blatt Nr. 98 03.2020 Erinnerung 14 Guck mal da! Milchanlieferung mit dem Pferdewagen in Unna - von Bernhard Altmann - Die Molkerei, eine Genossenschaftseinrich- auch da die benötigte Milch lose abgemes- tung der Milchbauern in der Region um Un- sen. na, stand bis in die Sechziger Jahre etwa Um einen möglichst schnellen und rei- dort, wo sich heute das Pestalozzi- bungslosen Service zu bieten, hatten die zu- Gymnasium befindet, nur dichter an der und ausliefernden Zweispänner der Molke- Morgenstraße. Es war ein imposanter, roter rei feste Fahrtrouten, die natürlich auch der Backsteinbau – langgestreckt mit einem hö- Bevölkerung bekannt waren. Auch ich heren, turmähnlichen Teil an der Westseite. kannte ein kleines Stück Fahrweg eines sol- Aus der Entfernung gesehen machte die An- chen Gespannes, auf dem ich ihm schon lage den Eindruck eines Eisenbahnzuges häufig begegnet war. Das war der Strecken- aus Bauklötzen, wie ich ihn als Kind oft ge- teil von der Molkerei die Morgenstraße hin- baut hatte. Seine Fahrtrichtung wies gen ab Richtung Stadt und dann rechtwinklig Stadt, als wollte sie zum Ausdruck bringen, dass sie den Bürgern diene. Noch lange nach dem Krieg geschah das Einsam- meln und Anliefern der Milch mit Hilfe von Pfer- dewagen. Morgens in aller Frühe, nach dem Melken, setzten die Bauern ihre ge- füllten, metallenenen Milch- kannen an die in der Nähe vorbeiführende Landstraße, wo sie kurz danach von dem langen Pritschenwa- gen, einem Zweispänner, abgeholt wurden. Der Kut- Milchmann im Münsterland scher musste schon ein kräftiger Mann sein, um die schweren Kan- nach Süden in den Ostring hinein. Das nen auf den Wagen zu wuchten und leere leichte Gefälle nutzte der Kutscher meistens wieder an den Straßenrand zu stellen. Nach dazu, die Pferde etwas flotter im Trab lau- der Verarbeitung im Molkereibetrieb brach- fen zu lassen – einerseits, um die Tiere et- ten ebenfalls Pferdewagen die Milchkannen was aufzulockern, andererseits vielleicht, zu den örtlichen Milchhändlern. Die in der um ein wenig Zeit gutzumachen. Innenstadt lebenden Menschen holten mit Eines Tages fragte mich mein Vater, ob ich Hilfe von emaillierten Handkannen oder ihn begleiten wolle. Er müsse vom Bahnhof solchen aus Aluminium ihren Bedarf direkt etwas abholen. Nur zu gerne war ich bereit, in dem kleinen Ladengeschäft ab. Zu der konnte ich doch wieder auf eine seiner inte- Bevölkerung der Außenbezirke fuhr der ressanten Geschichten hoffen. Als wir uns „Milchmann“ mit seinem Einspänner und der großen Kreuzung Morgenstraße/Ostring der Handglocke. Wie im Geschäft wurde näherten, hörten wir schon von weitem das
15 Erinnerung Nr. 98 03.2020 Herbst-Blatt Hufgetrappel der Pferde und das Rattern des Wagen schwankte und ächzte gewaltig. Milchwagens auf dem Kopfsteinpflaster der Aber er hielt stand. Nicht eine Kanne fiel Morgenstraße: Heute war er wieder flott un- herunter. Das Gefährt kam zum Stehen. Da terwegs! Hinter der Ecke standen drei junge brach eine Schimpfkanonade los, wie sie Männer am Bordstein, die sich ange- regt unterhielten. Da tauchten bereits die Köpfe der Pferde auf. Jetzt musste er abbremsen! Doch im selben Augen- blick zeigte einer der Männer ganz plötzlich mit ausgestrecktem Arm un- ter den Milchwagen und schrie aus Leibeskräften: „Guck mal da!!! – Was der da hat! – Guck mal!!!“ Der Kutscher, genau so überrascht wie mein Vater und ich, beugte sich von Das ehemalige Gasthaus Voss seinem Kutschbock instinktiv nach links außen, um unter sein Gefährt zu der Volksmund sonst nur von Bierkutschern schauen. Dieser Augenblick genügte: Er kennt. „Verdammte Saubande! Wenn ich versäumte es, rechtzeitig zu bremsen, drifte- euch Halunken erwische, bring ich euch te nach rechts außen ab, brauste zu weit … um!“ Die gefährlich drohende Peitsche un- Aus Leibeskräften riss er die Zügel an sich, terstrich die Ernsthaftigkeit seiner Worte. dass sich die Pferde aufbäumten, und zog Mit schallendem Gelächter liefen die Män- sie nach links. Jetzt musste es krachen, denn ner durch die Hellwegstraße davon, um sich der Bogen war zu eng, die Fahrt zu flott, die in Sicherheit zu bringen. Ecke des Voßschen Hauses zu nah! – Um Oft habe ich mir hinterher überlegt: Ob die Millimeter schoss die weit vorn herausra- Morgenstraße, wenn die Sache schiefgegan- gende Deichsel mit den beiden Pferden an gen wäre, heute wohl Milchstraße heißen der Hauswand vorbei. Der vollbeladene würde? Zeichnung: Bernhard Altmann, Fotos: Privatarchiv
Herbst-Blatt Nr. 98 03.2020 Gedanken 16 Dieter Beuke Erinnerungen an einen Unnaer Nachtwächter von Klaus Thorwarth, einem Klassenkameraden Man sagt, dass sich die Menschen aufteilen Das war nicht mehr Dieter Beuke, man in Konsumenten und Produzenten. Dieter glaubte, den echten Nachtwächter zu erleben Beuke gehörte zur zweiten Gruppe. Er Dann ging es zur nächsten Station. „So war machte viel aus seinem Ruhestand. das, Ihr Leute. Folgt mir nun, ruhig und ge- Schon länger gehörte er zu den Gästeführern sittet!“ um Wolfgang Patzkowsky. Und dann kamen die Erinnerungen beim Es war ein Zufall, wie er in die Spuren des Gang entlang dem Rest der 1700 m langen Unnaer Nachtwächters F. W. Werbinsky Unnaer Stadtmauer. kam. Die komplette Unnaer Stadtgeschichte wur- Ohne festes Ziel startete er einmal mit sei- de in markanter Weise präsentiert: So erfuhr nem Auto in den Urlaub. Kurz vor der Auto- man etwas von der mittelalterlichen Ge- bahn beschloss er mit seiner Frau Brigit- te, diesmal in den Süden zu fahren. So kam er nach Rothenburg ob der Tauber und erlebte die Führung des Nachtwächters. Diese Begegnung in- spirierte ihn, Gleiches für seine Hei- matstadt Unna auszuarbeiten. Lange und sorgfältig plante er seine Rundgänge. Funk und Fernsehen be- richteten, machten ihn und Unna be- kannt. 13 Jahre hat er Tausende von Gästen durch die Dunkelheit geführt. Es war ein Erlebnis! Sein Weg, die Formulierungen, seine veränderte Sprache, alles war einmalig – bis es aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ging. Nach längerer Krankheit verstarb er am 29. Dezem- ber 2019. Eine große Trauergemeinde nahm dankbar von ihm Abschied. Es gibt eine schöne Erinnerung an ihn, verfasst in einem lesenswerten Büch- lein (90 Seiten, mit Farbfotos). Der Text ist ausführlicher als der bei sei- nen Rundgängen vorgetragene. Hier zur Erinnerung einige Kostpro- ben: An ausgesuchten Orten, meist unter dem Lichte einer Laterne, legte er ei- nen Halt ein. Auswendig, sicher und wie selbstver- ständlich fielen seine Worte.
17 Gedanken Nr. 98 03.2020 Herbst-Blatt richtsbarkeit und dem Henker. Vom Gülde- Sie wurden mit einem ansehnlichen Batzen nen Trog und dem Nicolai-Viertel, von den Geld von ihren Familien in die Klöster ein- unterschiedlichen Einwohnern, den Eseln gekauft, um dort ihr weiteres Leben zu ver- und dem Salz aus Königsborn, von der Hy- bringen.“ giene in der Stadt und der langen Frischwas- Am Ende des Rundganges, so erinnerte sich serleitung vom Bornekamp bis zum Markt- der Nachtwächter, haben sich viele Teilneh- platz. Gespickt waren die Erzählungen mit Re- densarten aus frühe- rer Zeit, sehr zur Freude der Zuhörer. Und dann kamen die Dönekes. Hier ein Beispiel: „In alter Zeit trafen sich zwei Unnaer Saufkumpane. Sagt der eine: „Iek häw hier 95 Pennige, för 90 Pennige wär ek nun Baier kuopen und for 5 Pennige Broat.“ Seggt sein Kumpel: mer mit Applaus für die Führung bedankt. „Mensch, Hannes, versündige dir nicht. Unna sei wirklich eine schöne Stadt, in die Wat willste denn mit das viele Broat ?“ man bestimmt gerne wiederkommen werde. Am Fässchen berichtete er: Einmal sagte sogar der Sprecher einer Grup- „Dieses schöne Fachwerkhaus wurde 1769 pe von 60 Lehrern aus ganz Deutschland: erbaut. Es ist ein besonderes Haus, ein „Wir haben schon viele Stadtführungen mit- Ackerbürgerhaus, wie man unschwer an gemacht. Aber diese heute, das war die beste.“ dem großen ehemaligen Deelentor erkennen Darauf war Dieter Beuke dann doch ein kann. In einem Ackerbürgerhaus lebten bisschen stolz…. Mensch und Tier unter einem Dach. Leider gibt es das erwähnte Büchlein mit Da gab es keine zusätzlichen Scheunen, da dem ausführlichen Text nicht mehr. gab es keine Ställe. Links aus dem Fenster Ein Nachdruck, hört man, kommt nur bei guckte der Bauer, rechts die Kuh.“ besonderem Interesse infrage. In den Ackerbürgerhäusern kam es zu aller- feinsten Duftkompositionen, wenn sich die Stallgerüche mit den Essensdünsten misch- Die Nachtwächter-Tradition aber ist in Unna ten. Draußen vor den Häusern war es auch nicht erloschen. nicht besser, denn vor jedem Ackerbürger- Es gibt inzwischen einen neuen Nachtwäch- haus gab es eine Jauche- und eine Mistgrube.“ ter. Er heißt Jürgen Wienpahl. Weiter führt Im Klosterviertel berichtete er: er regelmäßig Einheimische und Gäste „Eine große Anzahl der Nonnen stammte durch das historische Zentrum der Stadt. aus adligen Familien. Es waren die Nicht- Fotos: Klaus Thorwarth verheirateten, die gnädigen Fräuleins, die nicht an den Mann zu bringen waren.
Herbst-Blatt Nr. 98 03.2020 Stadtgeschichte 18 Ein unerwartetes Geschenk - von Ulrike Wehner - Ganz unvermutet passieren oft die schöns- wohner immer zu spüren war. Der Ent- ten Geschichten, die alle Beteiligten glück- schluss erscheint mir jedoch sehr vernünf- lich machen. tig, und es ist tröstlich, dass sie sich die Meine Tante ruft mich an und erklärt mir in letzten Lebensjahre noch ein bisschen be- knappen Worten, dass sie und der Onkel ihr quemer gestalten können. Haus aufgeben und in 14 Tagen eine schö- Auf meine Frage, wie ich helfen kann, sagt ne Seniorenwohnung in der Nähe ihrer meine Tante: „Möchtest du die Scheibe ha- Tochter in Franken beziehen werden. Ich ben? Wir können sie nicht mitnehmen.“ bin völlig verwirrt und bedaure, dass wir Meine anfängliche Traurigkeit wandelt sich uns dann nicht mehr so leicht sehen wer- schlagartig in Freude und Wehmut. DIE den. Sie sagt, es sei mühsam geworden, SCHEIBE schmückte einst die Ladentür sich im Haus zu bewegen und sich zu ver- von Bäckermeister Hövel, ihrem Großvater sorgen. Das kann ich verstehen und denke und meinem Urgroßvater. Er war 1899 ei- auch, wie schwer ihnen diese Entscheidung ner der Gründer der Bäckerinnung in Unna, gefallen sein muss, denn sie haben ihr Do- von 1899 bis 1910 der erste Obermeister mizil vor vielen Jahren mit so viel Hingabe und ab 1922 der erste Ehrenobermeister. und Herzblut errichtet, jeden Raum durch- Meine Oma, älteste der Töchter des Bä- dacht geplant, möbliert und zweckmäßig ckermeisters, erzählte oft davon, welche ausgebaut, sodass der gute Geist der Be- Verpflichtungen der Stand mit sich brachte, denn als die beste Bäckerei am Ort durfte diese frühmorgens die Hotels in Königs- born mit frischen Brötchen versorgen. Die Lieferung mussten die Kinder des Bäcker- meisters vor der Schule ausführen und na- türlich wurden beste Schulnoten von ihnen verlangt.
19 Stadtgeschichte Nr. 98 03.2020 Herbst-Blatt Im Jahr 1983 bekam meine Tante die „Scheibe“ zur Silberhochzeit von ih- ren Sohn, meinem Vetter, geschenkt. Unter großem Staunen der vielen Festgäste trug er sie in den Saal, und Tante Lena, die jüngere Schwester meiner Oma, erklärte stolz: „Das ist ja die alte Glasscheibe, die 1907 in die neue Tür eingebaut wurde. Da war ich 10 Jahre alt“. Ich kann mir vorstellen, dass in der Zeit eine Modernisierung des Ver- kaufsraumes vorgenommen wurde. Undeutlich weiß ich aus Erzählungen, dass die Eingangstür auf einer Hausseite gelegen hat. Da das Haus aber auf der nordöstlichen Seite der Einmündung von Flügel- in die Gür- telstraße lag, war eine Verlegung des Eingangs auf die Hausecke sinnvoll. ßes Stück Wand für ihre Maße von 107 cm So prangte dann die Inschrift „Carl Hövel mal 74 cm und wirkt wie ein letztes Relikt Conditorei“ umrankt von reichen Blätter- aus dem Stadtviertel, wo zwischen Flügel- werk im Jugendstil auf der Türscheibe und straße und Massener Straße die Firma Deh- war von zwei Seiten gut sichtbar. ne gelegen hat. Um Platz zu schaffen für Ich bin als Kind oft durch diese Tür gegan- eine Seniorenresidenz, wurde die Besitzung gen, habe mir aber nicht vorgestellt, dass es Dehne und das angrenzende Haus Nr. 20, einmal Veränderungen geben könnte. Doch dessen Giebel ein schöngestaltetes Tympa- in den 70-iger Jahren wurde die Bäckerei non schmückte, abgerissen. Viele Leute aufgegeben und diente später verschiedenen hatten sich damals eingesetzt, das Haus mit Firmen als Verkaufsraum. Die Eingangstür dem bedeutenden Tympanon zu erhalten. war immer noch dieselbe mit der unbescha- Man einigte sich darauf, das Tympanon vor deten schönen Scheibe. Wenn ich damals dem Abriss auszubauen und in die Front daran vorbei ging, hatte ich immer das Ge- des neuen Hauses zu integrieren. Es wurde fühl, etwas verloren zu haben. Hier hatte eingelagert, aber beim Einbau ist es zerbro- sich mal Leben in ALT-UNNA zugetragen. chen. Auch das alte Bäckerhaus ver- Auf den Gedanken, die Scheibe aus der Tür schwand unter der Abrissbirne. zu nehmen, wäre ich, anders als mein Vet- Heute freue ich mich über die großartige ter, nie gekommen. Idee meines Vetters. Er hat ein Stückchen Mitzuerleben, dass so viele alte Häuser, vom alten Unna gerettet. Meinem Onkel und ganze Stadtviertel abgerissen wurden, meiner Tante wünsche ich eine glückliche machte mich traurig. Zuhause sprach meine Zeit in ihrem neuen Heim und danke ihnen Oma viel von der alten Zeit, aber die für das Geschenk und das Vertrauen, die „Zeugen“ und viele schöne Objekte ver- Scheibe, ebenso wie sie selbst es getan haben, schwanden nach und nach. Selbst mein al- in Ehren zu halten und dadurch die Erinne- ter Schulweg ist nicht mehr da. rung an unsere Vorfahren zu erhalten. Nun hängt die alte stabile Glasscheibe in Fotos: Privatarchiv meinem Wohnzimmer. Sie benötigt ein gro-
Herbst-Blatt Nr. 98 03.2020 Erinnerungen 20 Königsborner Erinnerungen - von Bärbel Beutner - Ein Zeitungsblatt vom 14. Juni 2019 fällt Schnörkeln zur Verzierung, der Erker im mir in die Hände. Wieder wird ein altes Mittelzimmer bot Platz für zwei Sessel, im Haus aus Königsborn verschwinden, wieder Nebenzimmer ein Kamin aus Gips mit ei- wird ein Stück Königsborner Geschichte zu nem schmiedeeisernen Gitter, die Flügeltü- Ende gehen. ren, die hohen Fenster mit verschnörkelten Es ist das traditionsreiche „Deutsche Haus“ Griffen – hier wohnten einst vornehme Leu- an der Friedrich-Ebert-Straße, das schon te oder vornehme Gäste nahmen hier Quar- Gäste aufnahm, als das Publikum von „Bad tier. Anders konnte es gar nicht sein. Königsborn“ auf der damaligen „Kaiser- Die Glanzzeit des Bades lag schon andert- straße“ flanierte (erst nach dem 2. Weltkrieg halb Jahrzehnte zurück, aber sie wirkte noch wurde daraus die Friedrich-Ebert-Straße). nach. Das Kurhaus war noch ein Nobelho- Das Sol- und Thermalbad Königsborn hatte tel. Zwanzig Mark kostete eine Übernach- einst seine große Zeit, mit Kurhaus, Kur- tung, damals ein horrender Preis. Einmal park, Badehaus und Gradierwerk. Und das traf sich die Filmwelt dort. Der kleine Oli- „Deutsche Haus“, wohl zu Beginn des 19. ver Grimm brachte seinen Pudel mit. Der Jahrhunderts erbaut, blieb eine gute Adres- „Hellweger Anzeiger“ berichtete. se, auch als der Badebetrieb in Königsborn Die älteren Leute wussten noch viel von den am 15. Oktober 1941 endete. Mit der Nach- früheren Zeiten zu erzählen, von Kurkon- barschaft zum Badehaus konnte es, wie zerten, Bällen im Kurhaus, von Logiergäs- noch in einer Annonce von 1907, nicht ten und Theateraufführungen. Theater ge- mehr punkten, denn das Badehaus ver- spielt wurde auch noch nach dem Krieg. schwand Ende der fünfziger Jahre. Das 1947 führte die Bühne Plettenberg Eichen- Kurhotel mit dem Theatersaal brannte ab, dorffs Stück „Die Freier“ auf, 1949 kam aber das „Deutsche Haus“ blieb als Gast- Hermann Schomberg, der gebürtige Unnaer, stätte und Kneipe bis 2017, über 50 Jahre als „Faust“ in seine Vaterstadt. Die Wiener betrieben von dem Ehepaar Fischmann. Sängerknaben traten 1954 im Kurhaus auf: Hermann Fischmann ist es zu verdanken, Einer logierte bei uns. Operetten wurden dass er das Fachwerk des Gebäudes freileg- gespielt, und wir gingen schon zum Gymna- te und der Stadt Unna damit 1988 ein kul- sium, als ein Elternabend mit einer Auffüh- turhistorisches Bauwerk präsentieren konn- rung von Gerhart Hauptmanns „Biberpelz“ te. kollidierte. Sogar „Das Tagebuch der Anne Repräsentative Gebäude gibt es in Königs- Frank“ wurde einmal gegeben. Wir durften, born immer noch. Sie säumen die Friedrich- zwölfjährig, nicht hin. Das kam gar nicht in Ebert-Straße, die Gründerzeit-Villen der Frage. Die Geschichte der Juden in Unna, Jahrhundertwende, erbaut um 1900, geräu- nach und nach schuldbewusst aufgehellt, mig, massiv, verschnörkelt – und in einem lag noch im Dunkeln. Alles braucht seine dieser Prachtgebäude wohnten wir von 1954 Zeit. bis 1957 zur Miete in der ersten Etage. Anfang der sechziger Jahre kam der Abstieg „Hochherrschaftlich“, betonte die Vermiete- des Kurhauses. Es wurde zu einem Etablis- rin, eine herzensgute Frau, und für mich als sement, Gerüchte über Striptease-Nummern Neunjährige konnte es gar nicht prächtiger kursierten unter empörten Hausfrauen. Das sein. Über drei Meter hoch waren die Räu- weiße Gebäude verfiel und brannte schließ- me, drei große Zimmer zur Straße hin hat- lich ab. Melancholisch wurden die alten ten Stuckdecken mit Rosen, Blättern und Bäume, morbide der ganze Ort, der einst
21 Erinnerungen Nr. 98 03.2020 Herbst-Blatt heitere und gepflegte Kurpark mit dem dinnen konfirmiert wurden... Das heutige Tempelchen, dem Monopteros auf dem Amtsgericht, in dem damals die Klöckner- kleinen Hügelchen. Unvergesslich die Spa- Werke waren … ziergänge im Herbst und im Altweibersom- Beständig ist nur die Veränderung – das mer, die ich mit Prinz unternahm. Der Prinz könnte ein tiefsinniges Zitat von irgendwem gehörte unseren Vermietern, ein Schäfer- sein. Wo sich einst die elegante Badegesell- hund – wahrscheinlich doch die größte Lie- schaft erging, beim Kurkonzert im Park o- be meines Lebens … der beim Tanz im exklusiven Kurhaus, ste- Willy Timm, der Stadtarchivar, hat uns alles hen heute Wohnanlagen für Senioren. Auch Wissenswerte über Königsborn hinterlas- das „Deutsche Haus“ ist schon seniorenge- sen. „250 Jahre Königsborn 1734–1984“, rechten Wohnungen gewichen. heißt das Quellenwerk. Danach finden sich erste Anfänge im 14. Jahrhun- dert. Damals war nur von „Brockhausen“ die Rede, von einem Gut Haus Brockhausen, aber auch von den „Brockhauser Salzwerken“. Der preußi- sche Staat zeigte Interesse an dem Unternehmen, auch an dem Sol- und Thermalbad. 1818 begann der Badebetrieb. „Luisen- bad“ hieß die erste Bade- anlage. Die beliebte preu- ßische Königin wurde ge- ehrt. 1827 kam das russische Dampfbad da- Doch ein kurzer Blick soll noch auf das zu. 1833 besuchte sogar der preußische „Lebenszentrum“ gegenüber dem Fried- Kronprinz Friedrich Wilhelm das Luisen- richsborn geworfen werden. Nicht nur gut bad. In der Mitte des 19. Jahrhunderts gin- zahlenden Badegästen, sondern auch sozial- gen Salzwerk und Solbad merklich zurück, schwachen Kindern kam das Bad Königs- der Staat verlor das Interesse. Durch Fried- born zugute. 1880 wurde die „Barmer Feri- rich Grillo aber nahm das Bad 1875 seinen enkolonie“ gegründet: 80 bedürftigen Kin- Aufschwung, der ihm seine Bedeutung bis dern wurde eine freie Kur ermöglicht. Aus 1941 sicherte. dieser Barmer Bürgerinitiative entstand das Der Friedrichsborn gehörte zu unserer Kin- Kinderheim „Barmer Ferienkolonie“, die derwelt, das Gradierwerk Friedrichsbau spätere „Kinderheilstätte Königsborn“. Als aber gab es nicht mehr. Auch das 1882 er- 1941 die Kinderkuren aufhörten, wurde das richtete Badehaus verschwand. Mit viel Er- Haus 1943 in eine Heilstätte für an Tuber- innerung verbunden ist das Kurcafé, das zu kulose erkrankte Kinder umgewandelt. Im- unserer Zeit „Café Koch“ hieß. Meine mer wieder erweitert und vergrößert, war es Freundin bekam dort einmal von ihrer Tante später die „Kinderklinik Königsborn“ und ein Viertelpfund Sahne spendiert, das sie ist heute das „Lebenszentrum Königsborn“. ganz alleine aufessen durfte... Die Christus- Foto: Privatarchiv kirche, 1905 eingeweiht, wo meine Freun-
Herbst-Blatt Nr. 98 03.2020 Kulturgeschichte 22 Die Kreuzfahrer-Kapelle am Möhnesee - von Erhard Kayser - Wir schreiben das Jahr 1217 nach Christi na. Die Idee eines Nachbaus machte Schu- Geburt. Der Arnsberger Graf Gottfried II. le: Überall entstanden Kirchen und Kapel- ist mit seinen Begleitern zu einem Kreuz- len, in deren Inneren die Säulenfülle des zug aufgebrochen. Sein Ziel: Die Grabes- Vorbilds bestach und die Außengestalt die kirche Jesu in Jerusalem. Ihn treibt aber Rundform des Vorbilds aufnahm. So ent- nicht das Fernweh oder gar die Erobe- standen solche Grabeskirchen in ganz Eu- rungslust. Er hat andere Beweggründe für ropa. Man findet sie auf den schottischen das zeitraubende Unternehmen. Auf ihm Orkney-Inseln und im südlichen Apulien. lastete nämlich eine sehr schwere Schuld. Von Portugal bis nach Polen sind sie ver- Er musste sie abbüßen. Zu seiner Zeit war breitet. das beste Mittel dazu eine Pilgerfahrt nach Zu ihnen gehört auch die Kapelle am Möh- Jerusalem. nesee. Weil Graf Gottfried II. im Jahre Hier stand die berühmte Grabeskirche. He- 1227 glücklich heimkehrte, errichtete er lena, die Mutter des Kaisers Konstantin, hatte sie um das Jahr 320 errichten lassen. Das war genau an der Stelle, an der sie Reste des Kreuzes Jesu und die Stelle von Golga- tha sowie des Felsen- grab gefunden hatten. Seither war die Gra- beskirche d a s Pilger- ziel für alle Christen. Die Pilger kamen aus Jerusalem zurück; sie hatten Baupläne und Zeichnungen des Bau- werks bei sich. Mit de- ren Hilfe war es dann möglich, Duplikate des Bauwerks in der Hei- mat zu errichten. Nun konnte man diese Nachbildungen in der Nähe besuchen. Das galt ebenfalls als sehr verdienstvoll. Vor al- lem ersparte es die ge- fahrvolle und strapazi- öse Reise nach Palästi-
23 Kulturgeschichte Nr. 98 03.2020 Herbst-Blatt zum Dank gegen Gott die „Drüggelter Ka- pelle“, die den Namen des Hügels trägt, auf dem sie steht. Es ist anzunehmen, dass der Graf sich der Hilfe von Wanderarbeitern aus der Lom- bardei bediente. Sie galten als Fachleute für die Errichtung sakraler Gebäude in der Zeit der Romanik. – Sehr viel mehr ist über die Frühzeit der Kapelle nicht bekannt. Aus dem Volksmund ist ihre Bezeichnung als „Heiden-Tempel“ bekannt. Diesen Namen erhielt das architektonische Juwel aus fol- gendem Grund: Es gibt hier gegenüber an- deren romanischen Kapellen eine Beson- derheit. Hier haben die Grünsandstein- Säulen auf ihren Kapitellen heidnische Symbole. Man würde Kreuze oder Fische erwarten. Hier aber sind es Fratzen, Wid- derköpfe und ähnliches. Der Grund dafür mag der sein, dass man den Menschen die Furcht vor dem fremdartigen Stein- Bauwerk dadurch nehmen wollte, dass man die ihnen bekannten Objekte in die Kapelle aufnahm. Noch etwas sollte Erwähnung finden: In den meisten Kapellen dieser Art steht im sollte den Leichnam Christi symbolisieren. Mittelpunkt der Säulenringe ein offener Dann, am Ostersonntag, war die Puppe ver- Sarkophag. In dieser Kapelle ist er ver- schwunden. Der Priester erklärte: „Jesus ist schwunden. Er diente gottesdienstlichen nicht mehr hier. Er ist auferstanden von Zwecken: In das Behältnis wurde zu Grün- den Toten!“ Damit zeigte er nach oben, wo donnerstag eine Puppe aus Stroh gelegt; sie die Kapelle offen war und man den Him- mel sehen konnte. Das Dach gab es damals noch nicht! – Wegen dieser einfachen, aber einleuchtenden Predigt nannte man die Ka- pelle auch „Grabeskapelle“, „Auferste- hungskapelle“ oder „Himmelfahrtskapel- le“. Wer mehr erfahren will, sollte die Kapelle besuchen, am besten unter fachkundiger Führung. Von Soest her fährt man nach Delecke am Möhnesee. Kurz vor dem Ort führt linkerhand eine Baumallee nach Drüggelte. Das fast 1000 Jahre alte Gebäu- de ist erreicht! Fotos: Asio Otus/wikipedia.de, Erhard Kayser, Zeichnung: Andrea Irslinger
Sie können auch lesen