Nr. 210 APROPOS - ZUGÄNGLICH - TEIL HABEN - Apropos | Strassenzeitung für Salzburg
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APROPOS Nr. 210 Den VerkäuferInnen bleiben EUR 1,50 3,E0ur0o Ihre äuferin Verk käufer: p - o s r Ap ro o pos-Ve DIE SALZBURGER STRASSENZEITUNG Ihr A pr e! Dank sagt ZUGÄNGLICH TEIL HABEN GESCHICHTEN ERLEBEN KRÄUTER SAMMELN MÄRZ 2021
6 2 [INHALT] [EDITORIAL] 3 Thema: ZUGÄNGLICH SCHREIBWERKSTATT Platz für Menschen und Themen, die sonst nur 4 Zwischen Tür und Angel am Rande wahrgenommen werden. Cartoon 14 Manfred Holzinger Journalismus, der 15 Chris Ritzer 5 Mein Weltbild das Land verändert 16 Andrea Hoschek „Ich möchte dieses Land Frage des Monats besser machen für uns alle.“ 17 Luise Slamanig Das ist das Ziel von Melisa 6 Journalismus neu definieren Titelinterview mit Melisa Erkurt 18 Hanna S. Erkurt, mit der diesmal Mo- nika Pink-Rank das Interview Kurt Mayer 10 Zeig mir die Welt, wie du sie siehst geführt hat. Ihr Buch 19 Evelyne Aigner Technik, die neue Türen öffnet „Generation Haram“ hat 2020 Georg Aigner Editorial für Aufregung gesorgt. Jetzt 11 Mein Salat wächst auf der Wiese ZUGÄNGLICH definiert sie Journalismus in Kingsley Okonweze Essbares sammeln mit Ricky Knoll Österreich mit dem inklusiven 20 Edi Binder Medienprojekt 12 Miteinander Laura Palzenberger „Die Chefredaktion“ neu. Wenn Erwachsene Hilfe brauchen 21 Monika Fiedler Liebe Leserinnen und Leser! 11 AKTUELL Vor verschlossenen Türen steht niemand gerne – außer man hat diese selbst abgesperrt. Lieber sieht Das Gute ist manchmal so nah. Vor allem im Frühling. Denn köstliches Wildgemüse findet sich 22 Autorin trifft Verkäufer 10 man sich einer offenen, willkommenheißenden oft direkt vor der Haustür – und hat den Vorteil, Sandra Bernhofer traf Ramona oder zumindest zugänglichen Durchgangspforte dass es durch die Bitterstoffe, die herkömmlichem Miu und Haika Stan gegenüber, durch die man gehen kann, um sicheres Salat und Gemüse weggezüchtet wurden, zu einem Mein Salat wächst 24 Kultur-Tipps Terrain oder Neuland zu betreten. echten Vitaminkraftpaket wird (S. 11). Technik, auf der Wiese Essbares Wildgemüse ist Was ist los im März die Türen öffnet Gut, dass es im Leben immer wieder Türöff- Unlängst hat uns Verkäufer Georg Aigner ins nicht nur voller gesunder 25 gehört & gelesen Die Straßenzeitung ner-*innen gibt. Eine solche ist die 29-jährige Me- Staunen gebracht – als er über den Regen sprach Bitterstoffe und Vitamine, Buch- und CD-Tipps zum „The Big Issue“ lisa Erkurt. Die ehemalige ORF-Journalistin hat und wie sehr er diesen schätze. Denn während sondern auch frei zugänglich Nachhören und Nachlesen hat mithilfe einer mit ihrem Buch „Generation Haram“ aufgezeigt, seiner Haft musste er jahrelang auf das Gefühl für alle. Salzburger Firma 26 Kolumne: Robert Buggler wie unser Bildungssystem Menschen mit Migrati- des Regens auf seiner Haut verzichten (S. 19). Er ihre Inhalte und die onshintergrund zu Verlierer*innen macht. Sie selbst hat uns damit in Erinnerung gerufen, wie wich- Leserin des Monats Geschichten ihrer 12 hatte Glück in Person ihrer Volksschullehrerin, tig es ist, scheinbare Selbstverständlichkeiten als Verkäufer*innen noch 27 Apropos-Rezept die sie ermutigte, ins Gymnasium zu gehen. Nun kostbare Geschenke zu erkennen und zu sehen. greifbarer gemacht. von Laura Palzenberger ist es Erkurt, die junge Menschen (mit und ohne Nicht immer sind uns solche Perspektivenwechsel Migrationsgeschichte) aktiv einlädt, Geschichten sofort zugänglich. Darum ist es schön, immer Miteinander Ab dem 18. Lebens- VERMISCHT zu schreiben – und zwar mit der „Chefredaktion“ wieder Türöffner*innen zu begegnen. (S. 6–9). jahr darf ein Mensch 28 Apropos-Kreuzworträtsel Herzlich, Ihre in Österreich alle 29 Redaktion intern Auch die Salzburger Firma Wikitude hilft dabei, Entscheidungen 30 Kolumne: Mein erstes Mal ein vielfältigeres Bild der Realität zu erzeugen. seines Lebens selbst- Klaudia Gründl de Keijzer Dank ihrer Software können Leser*innen der ständig treffen. Was britischen Straßenzeitung „The Big Issue“ nicht ist aber mit jenen, 31 Chefredaktion intern die dazu nicht in der nur Artikel lesen, sondern sich mittels einer App Lage sind? Vertrieb intern auch Videos von Verkäufer*innen auf ihrem Handy anschauen, die aus ihrem Leben erzählen (S. 10). Michaela Gründler Impressum 22 Chefredakteurin michaela.gruendler@apropos.or.at Grundlegende Richtung Preise & Auszeichnungen Apropos ist ein parteiunabhängiges, soziales Zeitungs- Im März 2009 erhielt Apropos den René-Marcic-Preis projekt und hilft seit 1997 Menschen in sozialen für herausragende journalistische Leistungen, 2011 Schwierigkeiten, sich selbst zu helfen. Die Straßenzei- den Salzburger Volkskulturpreis & 2012 die Sozialmarie Autorin trifft tung wird von professionellen Journalist*innen gemacht für das Buch „Denk ich an Heimat“ sowie 2013 den Verkäufer und von Männern und Frauen verkauft, die obdachlos, internationalen Straßenzeitungs-Award in der Kategorie 27 Diesmal hat Sandra wohnungslos und/oder langzeitarbeitslos sind. „Weltbester Verkäufer-Beitrag“ für das Buch „So viele In der Rubrik „Schreibwerkstatt“ haben sie die Mög- Wege“. 2014 gewann Apropos den Radiopreis der Stadt Bernhofer unser lichkeit, ihre Erfahrungen und Anliegen eigenständig Salzburg und die „Rose für Menschenrechte“. 2015 Verkäuferpaar Ramo- zu artikulieren. Apropos erscheint monatlich. Die erreichte das Apropos-Kundalini-Yoga das Finale des na Miu und Haika Verkäufer*innen kaufen die Zeitung im Vorfeld um internationalen Straßenzeitungs-Awards in der Kate- Stan zum Gespräch 1,50 Euro ein und verkaufen sie um 3 Euro. Apropos gorie „Beste Straßenzeitungsprojekte“. 2016 kam das Apropos-Rezept ist dem „Internationalen Netz der Straßenzeitungen“ Sondermagazin „Literatur & Ich“ unter die Top 5 des getroffen. Laura Palzenberger (INSP) angeschlossen. Die Charta, die 1995 in London INSP-Awards in der Kategorie „Bester Durchbruch“. verrät uns ihr Pizza- unterzeichnet wurde, legt fest, dass die Straßenzeitungen 2019 gewann Apropos-Chorleiterin Mirjam Bauer den alle Gewinne zur Unterstützung ihrer Verkäuferinnen und Hubert-von-Goisern-Preis – u.a. für den Apropos-Chor. Camino-Rezept. Verkäufer verwenden. APROPOS · Nr. 210 · März 2021 APROPOS · Nr. 210 · März 2021
4 [ZUGÄNGLICH] [ZUGÄNGLICH] 5 Gelegenheitsgespräche Foto: iStock Foto: iStock ZWISCHEN „ von Christine Gnahn TÜR UND ANGEL Hallo, wie geht’s dir eigentlich?“, „Und, was macht die Wohnungssuche?“, „Hast du schon gehört…“ Zahlreiche der Gespräche, die wir täglich mit unseren Mitmenschen führen, finden sprichwörtlich zwischen Tür und Angel statt. Nach der ursprünglichen Bedeutung von „zwischen Tür und Angel sein“ verheißt das zunächst nichts Gutes: Nach einem Wörterbuch aus dem Jahre 1793 ist damit gemeint, „sich zwischen zwei gleich unangenehmen Fällen zu befinden“. Auch heute noch kennt man die Bedeutung, dass etwas eher halbgar ist, nicht gebührend vollzogen wird. Doch genau das kann für ein Gespräch von Vorteil sein. Sich ordentlich zusammenzusetzen, um endlich einmal wieder in aller Feierlichkeit miteinander zu sprechen, ist etwas Schönes und Wichtiges – aber auch etwas, für das man sich Zeit nehmen muss. Ein Gut, von dem viele von uns zu wenig haben. Da lohnt sich das Gespräch zwischen Tür und Angel. Man hat ja eigentlich eh keine Zeit, aber jetzt, da man den anderen schon auf dem Flur, unterwegs beim Spazierengehen oder wo auch immer zufällig trifft, da kann man ja einmal ein paar Worte wechseln. Dass es dabei keineswegs bei oberflächlichem Geplänkel bleiben muss, darüber wissen routinierte Zwischen-Tür-und-Angel- Foto: iStock Sprecher Bescheid. Je nach Tiefe der Beziehung und bereits vorhandenem Kenntnisstand über die aktuellen Gegebenheiten des anderen bedarf es nur weniger Minuten, um zu den eigentlich wichtigen Gespräche zwischen Tür und Angel beginnen meist spontan und können trotzdem in die Tiefe gehen. Fragen und Erzählungen vorzurücken. Dann weiß man wieder Bescheid und hatte – trotz allen Zeitmangels – ein bisschen Zeit miteinander.
6 [ZUGÄNGLICH] 7 ©Vedran Pilipovic NAME Melisa Erkurt GENERATION HARAM BUCHTIPP STECKBRIEF IST sehr gern in ihrem Job Melisa Erkurt ÖFFNET neue Perspektiven Titelinterview FINDET, alle sollten empathischer Verlag: Zsolnay 2020 „ICH MÖCHTE DIESES sein 20 Euro FREUT SICH, wenn Menschen Vorur- teile abbauen Wir wollen die LAND BESSER MACHEN ÄRGERT SICH über unnötige Meetings, die ein Telefonat hätten sein können Themen behandeln, bei denen sich die FÜR UNS ALLE“ jungen Menschen Melisa Erkurt (29) sorgt seit vergangenem Jahr mit ihrem Buch „Generation Haram“ für Aufsehen. Sie schildert darin ihre Erfahrungen abgeholt fühlen." als Schülerin und Lehrerin mit Migrationsgeschichte und zeigt auf, wie unser Bildungssystem Menschen ihrer Biografie zu Verlierer*innen macht. Als ehemalige ORF-Journalistin hat sie nun ein neues, inklusives Medienprojekt gestartet, das alle jungen Menschen erreichen soll. Gemeinsam mit ihnen will sie Journalismus neu definieren. Titelinterview mit Melisa Erkurt von Monika Pink-Rank Frau Erkurt, was bedeutet zugänglich für Sie? aber, es ist die Aufgabe des Journalismus, alle zu erreichen und Melisa Erkurt: Zugänglich machen – das ist mein Motto oder zugänglich zu sein. Vor allem mit meinem neuen Projekt, der auch mein Ziel für alles, was ich tue. Ich habe gemerkt, wie „Chefredaktion“ auf Instagram, möchte ich den Zugang für alle wenig Bereiche in Österreich für Menschen mit meiner Biografie öffnen, jeder soll sich dafür anmelden und mitmachen kön- zugänglich sind. Ich möchte nicht, dass andere das erleben müs- nen. Wir sehen, dass Instagram ein Ort ist, wo sich alle jungen sen – das Gefühl, sie wären nicht gut genug oder nicht österrei- Menschen wohlfühlen, egal aus welcher Bevölkerungsschicht, chisch genug oder was auch immer nicht genug, um irgendwo welcher Klasse, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund. hineinzukommen. Was ist die „Chefredaktion“? Welche Bereiche sprechen Sie da konkret an? Melisa Erkurt: Die „Chefredaktion“ ist das erste Format des Melisa Erkurt: Alle gut bezahlten Jobs, die Universitäten, biber-Newcomer-Netzwerks für junge Menschen bis 24. Unsere die Fachhochschulen, die Gymnasien zum Teil auch. Da steht Stories werden nur auf Instagram veröffentlicht. Aktuell ist ge- natürlich kein Türsteher davor und sagt „Da kommt ihr nicht plant, dass wir jede Woche ein Wochenthema haben und täglich rein!“. Der Türsteher ist in diesem Fall die strukturelle oder etwas dazu machen – aber wir können auch davon abkommen, institutionelle Diskriminierung. Und die läuft so ab, dass die wenn wir merken, dass die Zielgruppe das überhaupt nicht Betroffenen sie gar nicht sehen und glauben, es liegt an ihnen, annimmt. Das Besondere daran ist, dass die jungen Menschen sie wären dumm und selbst schuld. Das ist ein Teufelskreis, weil ins Making-of eingebunden sind, dass wir sie mitnehmen in die es am Selbstbewusstsein kratzt und sie sich dann erst gar nicht Redaktion und in den Entstehungsprozess. trauen, diesen Ort zu betreten, den andere aus der Familie vor einem nicht betreten haben. Wer kann bei der „Chefredaktion“ mitmachen? Melisa Erkurt: Die „Chefredaktion“ ist kein Migrant*innen- Sie waren in Ihrer Familie die Erste, die solche Orte betreten hat. Gibt Projekt, das ist die „Chefredaktion“! Wir haben bewusst diesen es Menschen, die Ihnen da besondere Zugänge eröffnet haben? Namen gewählt und besetzen ihn neu. Wir füllen die Chef- Melisa Erkurt: Auf jeden Fall! Als wir nach Österreich ge- redaktion mit Chefredakteurinnen und Chefredakteuren, die flüchtet sind, bekam ich von Freiwilligen meine erste Puppe diesen Aufstieg in klassischen Medien nicht so schnell schaffen geschenkt – die haben mir wieder Zugang zu meiner Kindheit würden. Wir wollen die Gesellschaft abbilden. Es muss jetzt gegeben. Dann meine Volksschullehrerin, weil sie gemeint hat, nicht jede Person, die mitmacht, Migrationsgeschichte haben. ich soll ins Gymnasium. Beruflich war es Simon Kravagna vom Aber wir wollen die Themen behandeln, bei denen sich die jun- „biber“, ohne ihn wäre ich nicht im Journalismus gelandet. Jetzt gen Menschen abgeholt fühlen und sagen: Da hab ich auch Lust sind es die Jugendlichen, die mir den Zugang zu so vielen The- mitzumachen, da hab ich nicht das Gefühl, ich bin die Quoten- men geben und mir ermöglichen, diese auch anders zu sehen. migrantin. Auch das Bild, wie Journalismus sein soll, möchte ich mit den jungen Menschen gemeinsam neu definieren. Welche Zugänge können Sie wiederum mit Ihren Projekten anderen bieten? Wie kommt die „Chefredaktion“ zu den Leuten, die sie gern dabeiha- Melisa Erkurt: Wir wissen, dass gerade der Journalismus Junge ben möchte? und Menschen mit Migrationsbiografie nicht erreicht. Ich finde Melisa Erkurt: Indem man es ausspricht, dass man sie gern >> APROPOS · Nr. 210 · März 2021 APROPOS · Nr. 210 · März 2021
8 [ZUGÄNGLICH] [ZUGÄNGLICH] 9 Autorin: Foto: Privat STECKBRIEF dabeihaben will, und ein bisschen abwartet. Dass man ihnen projekt. Da trifft man auf so viele unterschiedliche Jugendliche Haben Sie das Gefühl, es tut sich etwas in der Debatte, in der Bil- NAME Monika Pink-Rank Zeit lässt, bis sie Wind davon kriegen und merken: Okay, die mit ähnlichen Problemen, und die scheitern alle immer irgend- dungswelt? IST die VielfaltsAgentin machen Themen, die auch in meiner Lebenswelt präsent sind, da wann. Wenn man einmal wirklich sieht, dass da reale Existenzen Melisa Erkurt: Wie immer tut sich bei einzelnen Akteur*innen ÖFFNET Augen und Ohren könnte ich mich einbringen. Dann erst besetzen wir das Team. draufgehen, dann ist das für mich Antrieb genug. etwas. Es gibt großartige Lehrpersonen, großartige Uni- FINDET immer wieder neue Sichtweisen Es sollen auch Leute dabei sein, die sonst nicht im Journalis- Professor*innen, großartige Direktor*innen, die jetzt sagen: „Die FREUT SICH, wenn Ideen sprudeln mus Fuß fassen, Leute mit Diskriminierungserfahrungen. Wir Oft braucht es ja nur eine Person, die an einen glaubt, um einen Weg Erkurt hat da Sachen erzählt, die hat recht, wir müssen was ÄRGERT SICH, wenn Energie verpufft hatten am ersten Tag schon eine Menge Bewerbungen, ohne den einzuschlagen. Glauben Sie, dass Sie durch Ihre Bücher und Projekte ändern, wir machen jetzt was.“ Oder solche, die zumindest halt Als selbstständige Beraterin, Trainerin und Kommuni- INFO Bewerbungsprozess überhaupt gestartet zu haben. Aber es waren so eine Person sein können, die andere darin bestärkt, ihren Weg zu einmal das Buch lesen. Aber bei denen, die wirklich die Bil- kations-Expertin in den Bereichen Diversity, Migration genauso viele „Annas“ wie Migrantinnen, die sich beworben ha- finden? dungspolitik bestimmen und die die Macht darüber haben, bei und Integration schreibt Monika Pink-Rank zu diesen ben. Das zeigt einfach, dass man nochmals anders suchen muss Melisa Erkurt: Das Gefühl habe ich nicht, aber es schreiben mir denen hat sich nichts geändert, und da habe ich auch nicht das Themen auf: www.vielfaltsagentin.at als bisher, wenn man Veränderung will. ganz viele Leute. Ich denke trotzdem jedes Mal: Ich doch nicht. Gefühl, dass sich etwas ändern wird. Ich finde das zwar extrem schmeichelhaft, aber es ist für mich Der Anspruch der „Chefredaktion“ ist also maximale Diversität? schwer zu greifen. Ich habe ja nur ein Buch geschrieben und war Würden Sie in die Politik gehen wollen, um dort etwas zu verändern? Fotos: Stadt Salzburg/Killer Melisa Erkurt: Absolut, denn den erhebt diese Zielgruppe echt nicht persönlich eine Mentorin, so wie Lehrer*innen manchmal Melisa Erkurt: Ich kenne die Politik sehr gut als Beobachterin stark! Das junge Publikum, egal jetzt ob Migrationshintergrund diese eine Person sind. Wenn meine ehemaligen Schüler*innen und das macht es nicht gerade attraktiv für jemanden, dem es oder nicht, egal ob sie heterosexuell sind oder nicht: Sie wollen das sagen, dann verstehe ich es schon eher, aber nur durch das um das Wohl der Kinder und Jugendlichen geht und nicht um eine Repräsentation von allen. Und das wollen alle, auch die, die Buchlesen … Es ist einfach unglaublich, was Worte bewirken Karriere. nicht betroffen sind, nicht nur die Quasi-Minderheiten. können! Die Zeit war schon vor ein paar Jahren reif für ein solches Also wird es eher weitere Bücher geben? Projekt und im internationalen Vergleich sind wir ziemlich spät Woran liegt das, glauben Sie? Melisa Erkurt: Ich hätte schon nach diesem Buch ein ganzes dran in Österreich. Aber die Tatsache, dass die „Chefredaktion“ Melisa Erkurt: Ich bin ja, egal ob es in meinem Buch oder in Buch füllen können mit all den Zuschriften der Menschen und am ersten Tag schon 8.000 Follower hatte, Interviews ist, total offen. Ich weiß, dass da damit, was alles passiert ist. Aber da ich jetzt das neue Projekt zeigt, dass anscheinend doch der Bedarf da ist. Der Anspruch Menschen mit einer ähnlichen Biografie lesen oder zuschauen. Die warten nur darauf, dass gestartet habe, kann ich es zeitlich nicht vereinbaren. Ich könnte schon ein Buch schreiben und mein Verlag hätte das auch gern. Was bedeutet das für den Journalismus? der 'Chefredaktion' irgendwer das sagt, was sie auch empfinden, was aber nie ausgesprochen wird. Wenn das dann Aber jetzt konzentriere ich mich auf die „Chefredaktion“. Sie ist unser erstes Format, weitere Formate sind in Planung, aber Unlängst gab es eine von der Stadt Salzburg organisierte Online- Melisa Erkurt: Journalismus, der die Ge- sellschaft nicht abbildet, wird nicht mehr ist maximale jemand zum Beispiel in einem ZIB 2-Interview vor 800.000 Menschen sagt, dann fühlen sie sich dafür brauchen wir noch zusätzliche Finanzierung. Ich freue mich unheimlich darauf, mit den jungen Leuten gemeinsam die Lesung mit Melisa Erkurt. Davor gab es einen virtuellen Raum für Journalist*innen-Fragen. Hier Alexandra Schmidt und Ulrike lange funktionieren. Klassische Medien, bestärkt und denken: Endlich spricht es einmal weiteren Sachen zu entwickeln! Das konnte ich in meiner Arbeit Steffelbauer vom Team Vielfalt der Stadt Salzburg. die sagen: „Wir nehmen nur die Besten Diversität." wer aus, endlich fühle ich mich gesehen. im Journalismus bis jetzt nicht überall, da kann man nicht so viel und dann haben wir den besten Journalis- verändern wie hier. mus“, das geht nicht mehr. Wer definiert Heißt das, Sie sind ein zugänglicher Mensch? denn, was das Beste ist? Chefredakteure nehmen ja Leute, die Melisa Erkurt: Beruflich auf jeden Fall. In der Schule war ich Was ist Ihre große Vision — wo soll es hingehen? ihnen ähneln, und fördern, was sie selbst gut finden. Das zieht immer eine extrem zugängliche Lehrerin und habe gemerkt, Melisa Erkurt: Dass niemand nach mir solche Bücher schrei- halt bei der jungen Zielgruppe nicht, auch bei meiner schon dass sich die Schüler*innen mir ganz anders anvertraut haben. ben, solche Interviews geben und solche Redaktionen gründen nicht mehr. Und viele Medien glauben, Diversität sei noch ein Wenn ich möchte, dass sich meine Schüler*innen öffnen, dann muss, weil das dann schon so normal ist. Dass wir akzeptiert Nischenthema. muss ich mich ebenso öffnen. Ich habe dann auch keine Scham. haben, dass in Österreich Menschen diskriminiert werden und Aber die werden spätestens in zwei Jahren böse erwachen und Ich glaube, es macht einen zugänglich, wenn man sich verletz- dass wir was ändern müssen. ganz dringend Leute suchen und dann meine Leute abwerben. bar zeigt. Und da tun viele junge Kolleg*innen das Gegenteil, Dass diese Geschichten niemand nochmals erzählen und die Das ist meine Prophezeiung. Und das sehen, glaube ich, jetzt weil sie extra seriös und extra streng wirken wollen, vor allem Wunden immer wieder aufreißen muss. Ich möchte dieses Land langsam auch die, die Geld haben und investieren können, als an den Mittelschulen. Denn sie hören ja immer: „Die Wiener besser machen für uns alle – das ist meine Vision. > APROPOS · Nr. 210 · März 2021 APROPOS · Nr. 210 · März 2021
10 [ZUGÄNGLICH] [ZUGÄNGLICH] 11 Technik, die neue Türen öffnet NAME Aleksandra Nagele frei zugänglich Foto: Siegrid Cain STECKBRIEF NAME Ricky Knoll Foto: Privat STECKBRIEF IST Vermittlerin zwischen ZEIG MIR MEIN SALAT IST neugierig auf Menschen und der digitalen und der ech- ihre Geschichten ten Welt ARBEITET als freie Journalistin LEBT und erzählt von den MAG alles, was uns die Natur bietet DIE WELT, WÄCHST AUF vielen menschlichen Grau- FREUT SICH auf den kommenden bereichen dazwischen Frühling MAG es, wenn Technolo- ÄRGERT SICH über Menschen, die gien für Menschen neue immer mehr wollen und trotzdem WIE DU SIE SIEHST DER WIESE Chancen und Wege öffnen nicht zufrieden sind von Aleksandra Nagele Und nicht nur der. Auch besonders köstliches Wildgemüse finde ich im Grünen, Ann ist über 50, als sie ihren Job verliert. Erst nach Diese Gedanken brachten bei „The Big Issue“ ein sozusagen direkt vor meiner Haustür. Wer einmal begonnen hat, sich mit den acht Wochen greift ihr das britische Sozialsystem Projekt ins Rollen. Über eine Technologie namens Schätzen, die uns Mutter Natur auftischt, zu beschäftigen, entdeckt Wundervolles. unter die Arme. In diesen acht Wochen gerät alles Augmented Reality, kurz auch AR genannt, sollte aus den Fugen: Für Miete und Strom verschuldet sie die gedruckte Zeitung mit digitalen Inhalten von Ricky Knoll D sich. Sie verliert fast ihre Wohnung. Wer drohende angereichert werden. Das heißt konkret, wer eine Obdachlosigkeit nicht erlebt hat, kann die Situation AR-Ausgabe von „The Big Issue“ vor sich hat und er Frühling ist meine liebste Jahreszeit. Eine Pflanze mit hohem Vitamin-C-Gehalt im ein wohlschmeckendes Gemüse, kurz in Butter schwer nachempfinden. Eine Zusammenarbeit der eine bestimmte App am Smartphone, hält einfach Die Tage werden länger, die Sonne März ist das Scharbockskraut. Der Name leitet gedünstet, ein wenig salzen, fertig. Auch diese Salzburger Firma Wikitude mit Konica Minolta und die Kamera auf ein Bild in der Zeitung. Das Foto strahlt und überall grünt und sprießt sich wahrscheinlich von „Skorbut“ her, weil Knospen lassen sich gut wie Kapern einlegen. der britischen Straßenzeitung „The Big Issue“ ermög- von Ann wird erkannt. Ein Video öffnet sich, in es. Wobei, wenn der Winter milde ist, gibt es oft man früher dieser Vitaminmangelkrankheit mit licht genau das: Leser der Straßenzeitung können sich dem sie ihre Geschichte selbst erzählt. Auf diese schon ab Mitte Februar die ersten Wildkräuter dem Kraut vorbeugte. Gut erkennbar an seinen Auch der Spitzwegerich ist bereits zu finden. in Anns Geschichte hineinfühlen. Dazu brauchen sie Art macht Ann ganz vielen Menschen zugänglich, zu finden. Ansonsten ist es im Stadtgebiet meist glänzenden rundlichen Blättern. Wenn die Seine schmalen, länglichen Blätter eignen sich nur ein Smartphone, eine App – und ein offenes Herz. was es heißt, beinahe auf der Straße zu sein. spätestens im März so weit. gelben sternförmigen Blüten kommen, sollte es bestens als Zutat für Salate, gehackt in Kräu- I nicht mehr verwendet werden. Auch die ersten teraufstrichen oder in Frühlingskräutersuppen. n der schweren Zeit, als alles außer Kontrolle Die Technik hinter der App kommt von der Salz- Vor allem an kleinen Bächen ist rasch der Schnee Gänseblümchen wachsen bereits heran. Sie sind Das Labkraut, das sogar unter der Schneedecke geriet, da brachte ein guter Freund etwas burger Softwarefirma Wikitude. Die AR-Software weg. Dort wächst die Brunnenkresse am Rand, vollgepackt mit Vitaminen und Abwehrstoffen. weiterwächst, finde ich ebenfalls bereits. Dieser Essen vorbei, erzählt Ann. Er verdiente sein aus der Schrannengasse wird zum Beispiel von oft direkt im Wasser. Dieses leicht scharf-bittere wahre Kraftspender kommt in den Salat oder Geld mit dem Verkauf der Straßenzeitung „The Unternehmen wie Porsche, Nissan und Disney Gewächs macht besonders im Erdäpfelsalat gute in Aufstriche. Big Issue“. Für sich selbst konnte sich Ann das nicht richtig vorstellen. Zu schüchtern und zu genutzt. Martin Herdina, der Geschäftsführer, beobachtet seit einiger Zeit, dass Technologien Figur, aber auch als Zutat in jedem Blattsalat. Verkocht in einer Suppe verliert es ihre Schärfe, Seit Mitte, Ende Wildkräuter und Wildgemüse strotzen vor Vita- ängstlich sei sie. Und überhaupt, so sagte sie sich: Wenn du schon ganz unten bist, warum dann auch nicht mehr ausschließlich dem wirtschaftlichen Erfolg dienen sollen. Immer öfter wird der un- dafür kommt sie frisch gehackt als Dekoration darauf. Viel zarter ist das Haarige Schaumkraut, Februar lassen sich minen und gesunden Inhaltsstoffen. Es sind vor allem die Bitterstoffe, die dem herkömmlichen noch jemand, der auf dich herabschaut? Aber sie begann dann doch. In Exeter, ihrer kleinen ternehmerische Zweck mit einem nachhaltigen, gesellschaftlichen Auftrag kombiniert. „Tech for Augmented-Reality-App selber probieren: das jetzt überall an Wegesrändern, aperen und noch unbewachsenen Erdflächen wächst. Es die ersten Wild- Salat bzw. Gemüse weggezüchtet wurden, die den Stoffwechsel ankurbeln, das Immunsystem TIPP Stadt am Fluss im Südwesten Englands, ganz in der Nähe der gotischen Kathedrale, verkaufte Ann Good“, also Technologie, die Gutes bewirkt, hat sich mittlerweile als eigener Begriff etabliert. Dazu 1. App „GenARate“ von Konica Minolta herunterladen 2. App öffnen ist ebenfalls eine Wildkresseart und schmeckt hervorragend im Salat. kräuter finden." stärken und für Wohlbefinden sorgen. Es gibt nur ganz wenige giftige Pflanzen, die sollte man zählen etwa Sensoren, die die Luftverschmutzung 3. Kamera des Smartphones auf das kennen. Bei der überwiegenden Mehrheit kann messen, genauso wie Apps, die verhindern, dass Titelbild der „The Big Issue“ halten Überall dort, wo es feucht ist, sprießt bereits der Die Blüten und Blättchen man aber getrost zugreifen.
12 [MITEINANDER] [MITEINANDER] 13 Wenn der Alltag aufgrund von psychischen Erkrankun- gen oder geistigen Einschränkungen nicht bewältigbar ist, können Erwachsenenvertreter*innen weiterhelfen. WENN Das Erwachsenenschutzgesetz INFO Das Erwachsenenschutzgesetz unterscheidet vier verschiedene Formen der Erwachsenenver- ERWACHSENE tretung. So wählt jemand bei einer Vorsorgevoll- macht Menschen aus dem Familien- und Be- kanntenkreis aus, die sich um unterschiedliche Angelegenheiten kümmern sollen, sollte er oder sie plötzlich nicht mehr selbst dazu in der Lage HILFE sein. Bei der gewählten Erwachsenenvertretung lässt sich auch im Nachhinein noch jemand frei bestimmen, der diese Position übernimmt und in vielfältiger Weise vertritt. BRAUCHEN Die gesetzliche Erwachsenenvertretung wie- derum tritt an die Stelle der früheren Sachwal- terschaft, bestimmte Bereiche gehen mit ihr aus der Verantwortung des zu Vertretenden an gewählte Vertretende über. Während sich der Betroffene bei den ersten drei Varianten selbst dafür entscheidet, einen Teil seiner Entschei- Ab dem 18. Lebensjahr darf ein Mensch in dungskraft als Erwachsener abzugeben, kann Österreich alle Entscheidungen seines das bei der gerichtlichen Erwachsenenvertre- Lebens selbstständig treffen. Was ist jedoch tung auch gegen seinen Willen entschieden werden. Diese kann, wie der Name es schon mit jenen, die dazu nicht in der Lage sind? verrät, nur durch ein Gericht erwirkt wer- den und muss, ebenso wie die gesetzliche Erwachsenenvertretung, alle drei Jahre erneut überprüft werden. Für die gerichtliche Erwachsenenvertretung wenden sich Menschen direkt an das Be- zirksgericht. Dieses meldet das der Erwach- Foto: iStock senenvertretung, der daraufhin entscheidet, ob die Befürchtungen haltbar sind. Um das beurteilen zu können, setzt sich der Verein aus Kompetenzträger*innen unterschiedlicher Disziplinen zusammen, darunter aus den von Christine Gnahn Bereichen Recht, Psychologie, Psychiatrie und F Sozialarbeit. Erst wenn die Erwachsenenvertre- tung feststellt, dass die Sorgen gerechtfertigt ast jeder erinnert sich wohl an seinen mit unterschiedlichsten Erkrankungen und Während sich manche freiwillig für eine Er- für neue Schuhe, eine Konsole, ein Compu- folgen. Um den Spagat zu bewältigen, sei für sind, kommt es zu einem Gerichtsprozess und 18. Geburtstag: Es ist der Tag, der die Einschränkungen. Besonders an ihren ersten wachsenenvertretung entscheiden, kommt es terspiel. Geld, das dem Klienten zwar gehört, Erwachsenenvertreter*innen vor allem eins schließlich zu einer gerichtlichen Entscheidung. große Freiheit des Lebens einläutet. Klienten kann sie sich gut erinnern, einen bei anderen erst per Gerichtsbeschluss dazu. jedoch Neureiter für ihn verwaltet. Dann muss wichtig: mit den Betroffenen zu sprechen. Plötzlich liegen alle Entscheidungen in der Mann mit einer bipolaren Erkrankung. „Der Auf Letzteres reagieren Betroffene sehr un- die Erwachsenenvertreterin abwägen. „Für mich Einmal im Monat ist das Gespräch Pflicht. eigenen Hand. Während die einen davon pro- Umgang mit ihm war für mich immer wieder terschiedlich, berichtet Neureiter. „Die einen ist wichtig, dass ich nicht mein eigenes Weltbild „Es ist sehr wichtig, zu fragen: Was wünschen fitieren und ihr Leben nach ihren Wünschen schwierig, weil sein Zustand sehr wechselhaft merken nach anfänglichem Unwillen, dass wir über meinen Klienten stülpe. Wenn er es liebt, Sie sich? Wie möchten Sie das gerne machen?“ gestalten, gibt es Menschen, die an dieser war. Mal war er so depressiv, dass er tagelang in ihrem Sinne agieren und sie von unserer Hilfe Computer zu spielen, dann ist ein Spiel eine für Dass die Erwachsenenvertretung heute große Aufgabe scheitern. Denn für viele Menschen nicht aus dem Bett gekommen ist, dann profitieren. Die anderen sträuben sich ein Leben ihn wichtige Anschaffung. Deswegen versuche Rücksicht auf den Willen der zu Vertreten- mit psychischen Erkrankungen oder geistigen wieder war er aggressiv, ist mit Schaum vor lang dagegen.“ Einen Zugang zu den Betroffe- ich immer, den Wünschen der Klienten so weit den nimmt und Diskussionen damit an der Einschränkungen sind die Hürden des Alltags dem Mund vor unserem Gebäude gestanden nen zu finden und ihr Vertrauen zu gewinnen wie möglich entgegenzukommen.“ Manchmal Tagesordnung stehen, hat die Angelegenheit mit Rechnungen und Terminen schlichtweg und hat randaliert“, erzählt Neureiter. Für sei eine manchmal schwierige, jedoch oft auch jedoch muss Neureiter auch ablehnen. Denn zwar nicht einfacher gemacht. „Früher konnte unüberwindbar. Für sie sind die sogenannten den damals 60-Jährigen sei es ein Ding der erfüllende und schöne Aufgabe. „Einer meiner ihre Verantwortung ist es, dass sich der Klient man, ohne Mitspracherecht des Betroffenen, Erwachsenenvertreter*innen da: Menschen, die Unmöglichkeit gewesen, sich sein Leben Klienten ist beispielsweise ein junger Mann, der nicht verschuldet. bestimmte Angelegenheiten zweifelsohne ihnen bei den unterschiedlichsten Angelegen- selbstständig einzurichten. Um ihn zu unter- unter paranoider Schizophrenie leidet. Er lebt schneller lösen.“ Dass sich das Erwachsenen- heiten zur Seite stehen – von der Miete über stützen, organisierte Neureiter über die Jahre zurückgezogen und pflegt nur wenige soziale „Es ist ein Spagat, den es da zu bewältigen gilt“, schutzgesetz so stark nach den Bedürfnissen INFO die Arbeitsstelle bis zum Arzttermin. eine ganze Reihe an Diensten: darunter immer Kontakte.“ Nach und nach habe er Vertrauen beschreibt Norbert Krammer vom Erwach- der Klienten richtet, begrüßt Krammer jedoch Erwachsenenvertretung wieder Entrümpelungen für die Wohnung, ein zu Neureiter aufgebaut und Verständnis dafür senenschutzverein VertretungsNetz Salzburg, ausdrücklich. „Es ist ein Instrument der Men- Sie vertritt Menschen mit einer psychischen Er- Wie schwierig es sein kann, Menschen in diesen Antrag auf Pflegegeld, Hauskrankenpflege und entwickelt, dass er Unterstützung benötigt. „Für „auf der einen Seite stehen die Wünsche des schenrechte. Insofern müssen die Rechte eines krankung oder intellektuellen Beeinträchtigung vielfältigen Angelegenheiten zu unterstützen, eine Stelle in der Laube, einem Tageszentrum ihn bin ich eine wichtige Bezugsperson gewor- Betroffenen, der seine eigenen Vorstellungen jeden Einzelnen so weit wie nur irgend möglich und unterstützt sie dabei, ihre Angelegenheiten zu regeln. Berät und schult Betroffene und davon weiß Birgit Neureiter von der Erwach- für Menschen mit psychischen Erkrankungen. den, er ruft mich oft an und erzählt mir aus davon hat, wie er sein Leben führen möchte.“ erhalten bleiben. Und dafür lohnen sich alle Angehörige. senenvertretung Salzburg zu berichten. Seit seinem Leben.“ Häufig gehen die Anrufe auch Auf der anderen Seite hingegen gefährden Anstrengungen.“ > sich Betroffene mitunter selbst, lässt man sie uneingeschränkt den eigenen Eingebungen APROPOS · Nr. 210 · März 2021 APROPOS · Nr. 210 · März 2021
[SCHREIBWERKSTATT] 14 [SCHREIBWERKSTATT] 15 von Chris Ritzer Die Rubrik Schreibwerkstatt spie- gelt die Erfahrungen, Gedanken und Zugänglich Anliegen unserer Verkäufer*innen Kommt bekannterweise von zugehen – wenn mir Vieles bleibt ungesagt und es ist oft besser und anderer Menschen in sozialen jemand zugeht … mag er mich in der Regel. so, wobei es gibt natürlich wieder die zwei Grenzsituationen wider. Die Unzugänglichen gibt’s natürlich auch – Formen von Schweigen … das Tödliche und auch gut so…, weil wenn einem alle zugehen das Erlösende – denn die, die schwiegen, Sie bietet Platz für Menschen und würden, nicht auszudenken, was da passieren waren einverstanden, hieß es im Römischen Themen, die sonst nur am Rande würde … ja, jetzt ist schon wieder was pas- Senat – und das waren ganz oft schreckliche wahrgenommen werden. siert … lieber Wolf! Todesurteile. Das Ganze hat natürlich viel mit Ausstrah- lung zu tun … die kann sich unter Umständen Jetzt schweigen mir auch ein bisschen zu sehr schnell ändern. Wo z.B. Franz Becken- viele Menschen bei diesem ganzen Covidwahn. bauer die halbe Welt zugegangen ist … waren Ich verstehe natürlich, dass die Leute es im Nu nur noch ganz wenige, als die Sache Angst haben. Wenn die Angst nach Kräften mit der Fußball-WM ruchbar wurde. Also so geschürt wird, dann sollte man nicht länger Manfred Holzinger war früher lange Apropos-Verkäufer. ganz einfach ist das nicht mit dem Zugehen. schweigen…. das ist dann ganz, ganz schlimm. Viel ist passiert in den vergangenen Jahren. Heute schreibt er, wie es ihm so ergangen ist. Und da gibt’s dann noch die Zugehfrau. Ich Dort unten im Reich der Ratten wird nicht habe eine ganz, ganz Wunderbare und will geschwiegen. Diese Viecher sind hochintel- Mit Herz und Hirn und Hand sie hiermit mal in aller Form ehren – noch nie hab ich jemand so effizient, sauber und gründlich arbeiten sehen wie meine Lily – im ligent und kommunizieren pausenlos, und zwar dermaßen perfekt, dass sogar jedes neue Gift, das ausgestreut wird, nur von gewis- Im Psalmenton heißt es: Meine Schuld steht mir vor Als Therapie vervollkommnete ich dort meine hand- Haushalt jedenfalls. sen, ganz alten Tieren vorgekostet wird. Augen und damit, mit der Sünde, soll ich mich outen, werkliche Ausbildung. Lernte in einer Tischlerei Und nun zu den Unzugänglichen, Verschlos- Wenn sie es überleben, dürfen die anderen ich lege eine Beichte ab vor einer anonymen Leser- das Drechseln, wurde im Projekt „Vogelhäuschen” ein senen – auch das hat einiges für sich. Es auch! Im Übrigen bin ich der Meinung, schar und werde dadurch greifbar für mir fremde für alle zukünftigen Vogelhäuschen autorisierter gibt Dinge, die sollte man besser für sich sprach Bruno der Große, dass Ratten neben Menschen, die jetzt mein Geheimnis kennen. Produzent. Im Aufenthaltsraum wurde Schach gespielt behalten, nicht unbedingt bis ins Grab, aber Schimpansen und Schweinen unsere nächsten und ich konnte den Wiener „Falter” studieren. Daneben doch weitgehend und da fallen mir Berichte Verwandten im Tierreich sind. Von den Also hier frei heraus: Zwei Mal zwei Jahre saß ich in entstand auch noch Holzkunst und im Turnsaal wurde über Soldaten ein, die kein Wort über den Affen haben wir nicht nur den Gang, sondern österreichischen Gefängnissen für ein Delikt, das mir der Muskelkraft geopfert, im Ruderboot und mit den Krieg verloren haben. Nichts, nada, niente auch die Hände, die tolle mechanische in Deutschland lediglich eine Alkoholtherapie ein- Gewichten, die Bälle wurden schnell und zielsicher bis kurz vorm Tod – ein gewisser Franz A Dinge zuwege bringen und auch die zum Teil gebracht hätte. Der juridische Titel meiner „Sünde”: über den Tisch gejagt. Meine Freundschaften im Ge- z.B. … unfassbar Grauenhaftes durchlebt, grausame Hierarchie … die gibt’s in dieser erwerbsmäßiger Diebstahl. Was ich in einschlägigen fängnis beschränkten sich auf wenige Insassen. Das überlebt – darüber kann man einfach nicht Form sonst nirgendwo. Von den Schweinen Geschäften entwendete, brauchte ich für meine Sucht, Schachspiel zelebrierte ich mit einem Perser, Rashid. mehr reden, es würde so grauenhaft viel den Stoffwechsel … man kann einem Menschen die mich immer stärker in ihren erbarmungslosen Griff Ich habe viel mit meinen Händen gearbeitet und aus der hervorbrechen, dass es in keinster Weise ein Schweineherz einsetzen, sie sind genau gebracht hatte. „Musik” der Handgriffe strömte mir die proletarische zu verkraften wäre, also hat sich die Seele wie wir Allesfresser und im Übrigen in Kraft zu. Mit Herz, Hand und Hirn habe ich Gebrauchs- diesen Mechanismus zugelegt zu schweigen. freier Natur auch hochintelligent. Gegen Mit der Häufung der Delikte winkte die erste Verur- dinge hergestellt, die dem Menschen dienlich sind. Meine Art, Liebe zu zeigen, das ist ganz die Verhausschweinung … die in der modernen teilung. Mit blauem Brief wurde ich zur Strafabseg- „Mit-Schöpfer”, im Verein mit der Maschine. einfach Schweigen und Hören, weil Worte nur Zivilisation natürlich gang und gäbe ist, nung und zum gestrengen Urteilsspruch geladen. zerstören. war ich immer schon strikt! Die geladenen Rechtsprecher verkündeten sanktua- Nach der Devise „Grabe, wo du stehst!”, starten wir Wir können so viel lernen von den Tieren und risch (der Pflichtverteidiger hatte sich kaum zu hier im Klinikum St. Veit ein Kunstprojekt auf dieser der gesamten Natur. Sie ist der Lehrmeister meinen Gunsten zu Wort gemeldet), dass ich für eine Psychotherapiestation, (und noch einmal habe ich mich Nummer eins. Mal schweigt sie und dann kurze Zeit von der Gesellschaft weggesperrt werden geoutet als „Patient”) es wird sich nennen: Kunst & bricht sie mit wildem Donnerkrachen über uns sollte. Charisma, 3 Mal Bild & Persönlichkeit. herein. Ein Teil der Natur sein, das ist das, was ich den richtigen Adel nenne. Einer, der Dann, glücklich entlassen, in einem Rückfallsszena- Und zu meiner Person, konkret heute: nichts mit Dünkel und Herkunft zu tun hat, rio gefangen, trat „die Sünde” wieder erbarmungslos Ich habe mein Leben durch den Alkohol zerstört. Ich mit Bildung sehr wohl. Denn wer über die vor meine Augen. Ein gewisser Prozentsatz der leide unter den Folgen meiner Alkoholkrankheit, vor rechte Herzensbildung verfügt, weiß sehr strafbaren Handlungen erhöhte nun das Strafmaß allem im Gedächtnis habe ich gravierende Schäden gut, wann er schweigen und wann er reden und ich saß somit nun für eine längere Strafzeit in davongetragen. Ich bin hier in St. Veit stationär, soll und vor allem welcher Platz ihm auf Wien-Favoriten. etwa dreieinhalb Jahre, um „mein Schiff in der Werft dieser Welt zusteht. Solche Menschen brau- ausbessern” zu lassen. Damit ich, teilweise gesundet, chen wir ganz viele, sie sind eine Wohltat wieder ins Meer des Lebens hinausfahren kann.
[SCHREIBWERKSTATT] 16 [SCHREIBWERKSTATT] 17 Verkäuferin und Schreibwerkstatt-Autorin Andrea Hoschek Verkäuferin und Schreibwerkstatt-Autorin Luise Slamanig Der Zugang zu anderen Ausgeschlossen ohne Internet Wie bekommt man normalerweise Zugang zu Ein lieber Bekannter hat Ludwig dann zu des- anderen Menschen? Durch Heirat, Zeltfeste, sen Schwester nach Bayern zurückgebracht, die Dult, Karneval oder eine Buschenschank? wo er nach kurzer Zeit an einer Leberzir- Und in den Siedlungen? Besuche: Als ich rhose gestorben ist. Die Massensauferei hat hier eingezogen bin, war es eine erfreu- ihn also dahingerafft. Ich habe den Andreas Nicht jeder hat heute einen Internetzugang oder liche Abwechslung, bei den Nachbarn kurz auch einmal zu mir eingeladen und gesagt, kennt sich gut damit aus. Nun will man etwas kau- ANDREA HOSCHEK LUISE SLAMANIG zu plaudern und etwas zu hören, das mich dass er da wohnen kann, wenn er sich an die macht sich Sorgen fen. Man erfährt, dass man die Bestellung aus- webt gerne interessierte: über Landwirtschaft oder die Regeln hält: kein Fernsehen, kein Alkohol schließlich über das Internet machen kann. Damit Forstwirtschaftsausbildung. Oder gemeinsa- und keine fremden Leute bei mir. Ich brauch- ist einem die Ware nicht zugänglich, egal ob man mes Musizieren, tolle Konzerte und die Musik te es ruhig zu Hause, weil ich doch den gan- das Geld dafür hat oder nicht. Nicht alle geben aus den Fenstern. Bei uns in der Siedlung zen Tag herumzog und meine Katzen verpfleg- es gern zu, wenn sie entweder kein Internet haben hat ja jeder eine andere Musikrichtung, aber te. Er hat abgelehnt. Andreas zog von einer oder auf Hilfe bei der Nutzung angewiesen sind. meistens im Frühling hören alle dieselben Wohnung in die nächste. Dann schließlich ins Mir bereitet diese versteckte Unzugänglichkeit CDs oder gar denselben Tenor – wegen der Albert-Magnus-Haus. „Da bleibe ich nicht große Sorge. Ein weiteres Beispiel ist die Anmel- Lautstärke, meine ich. Den Caruso zum Bei- lange“, meinte er. Danach hat ihn dann eine dung übers Internet für die Covid-Schutzimpfung. spiel, der ist mir unvergesslich. Singen ist Bekannte aufgenommen. Zu ihr hat er Zugang Hier geht es um die Gesundheit, auch das ist eine so gesund und ein Ausdruck für die Seele. gefunden, weil beide Alkohol konsumieren. Sorge von mir, wenn Menschen dazu keinen Zugang Ich wünsche mir gar nicht so Riesenfeste für Sie ist ein freundlicher Typ und putzte haben.
[SCHREIBWERKSTATT] 18 [SCHREIBWERKSTATT] 19 Schreibwerkstatt-Autorin Hanna S. Verkäuferin und Schreibwerkstatt-Autorin Evelyne Aigner Offene Türen Geschäftsfreund- So mancher Salzburger spürt die schlech- ten Zeiten. Egal ob Arbeitsverlust oder Notschlafstelle Torwirt Ist eine Einrichtung zur Kurzzeit-Unter- schaften damit einhergehende Mietrückstände. bringung wohnungsloser bzw. obdachloser Im Juni 1999 fing ich an, die Salz- Ich war als Kind auch schon so. Die Angst vor Armut greift um sich. Kein Menschen, die sich in einer akuten Notlage burger Straßenzeitung zu verkaufen, Ich fing zum Beispiel in Hallein Grund zu verzweifeln, denn: Gut, dass oder Lebenskrise befinden. Die Zuweisung von Anfang an lief es gut. Ich ging einmal bei einem Kaufhaus mit einer unser Sozialsystem für jeden, der in Not erfolgt über die Sozialberatung. auf Menschen zu und durch meine Verkäuferin ein Gespräch an. Da war HANNA S. vertraut auf EVELYNE AIGNER freut gerät, zugänglich ist. Auch in Zeiten wie Art hatte ich mir meine Stamm- ich fünf Jahre alt und zum Schluss das Sozialsystem sich im März aufs Moped- diesen. Ich habe etwas recherchiert und TAO & Mode Circel fahren Kundschaften erarbeitet. Wenn ich sagte sie zu mir: „Jetzt kenne ich eine Liste zusammengeschrieben, welche Der TAO & Mode Circel hat drei Second- einmal nicht auftauche, fragen deinen Lebenslauf”. Genau diese Art dem einen oder anderen helfen kann, Hilfe Hand-Geschäfte in Salzburg mit günstiger die Kundschaften gleich nach, und von mir lieben meine Kundschaften. zu suchen. Die meisten der folgenden Kleidung. machen sich Sorgen, was los ist mit Es sind auch schon alle gute Freunde Einrichtungen kenne ich persönlich. Er macht Entrümpelungen und Transporte mir, das finde ich total nett. Da geworden, die immer für mich da und er sammelt gebrauchte Kleidung und merkt man, dass man beliebt ist. sind, und wir haben immer gute Anlaufstellen in der Soziale Arbeit gGmbH Textilien. Für mich wäre es sehr schlimm, wenn Gespräche, das möchte ich auch Breitenfelderstraße 49: ich das alles nicht mehr hätte. Ich nicht missen. Ich freue mich jeden Schmankerl würde verzweifeln, eine Welt würde Monat, wenn ich alle treffen kann. Fachstelle für Wohnungssicherung Im Schmankerl in der Glockengasse 10 kann zusammenbrechen. Das sind für mich wichtige Dinge im Die Fachstelle für Wohnungssicherung ist man gut und günstig essen. Während die Leben.
[SCHREIBWERKSTATT] 20 [SCHREIBWERKSTATT] 21 Verkäufer und Schreibwerkstatt-Autor Edi Binder Verkäuferin und Schreibwerkstatt-Autorin Monika Fiedler Blumenlieferant Es gilt die Natur Für mich haben sich schon viele Türen geöff- net, besonders als ich Blumenlieferant war. das Bezirksgericht am Rudolfsplatz geliefert. Die Dame, die dort die Blumen bekam, war sehr zu schützen Ich half längere Zeit einer Blumenladenbe- nett. Das Schöne an dieser Tätigkeit war, dass Tierschutz, Tierpflege, der richtige Umgang insgesamt 3 Milliarden Tiere durch das Feuer sitzerin. Immer wenn sie Lieferaufträge für die Menschen sich gefreut haben, wenn ich mit Tieren und ein Zuhause für Tiere, das ist umgekommen sind. Und die Waldbrände haben Blumen hatte, rief sie mich an. Ich holte die gekommen bin. Bis auf eine Person. Er war ein mir wichtig. Darum bin ich auch zugänglich 18 Millionen ha Land vernichtet, das ist Blumen also ab und lieferte sie entweder zu Pächter von einem Café und war jedes Mal nur für Spendenanfragen, wenn es um Tierschutz eine Fläche so groß wie halb Deutschland. EDI BINDER ist ein MONIKA FIEDLER Fuß, mit dem Bus oder dem Taxi aus. Hauptsäch- unfreundlich. Aber mit allen anderen Kunden und Tiernachbarschaftshilfe geht. Ich spende Es ist eine große Katastrophe, der IFAW- zugänglicher Typ ist Klimaschutz ganz lich habe ich an private Personen geliefert. bin ich immer gut ausgekommen. Und sie kennen wichtig für Greenpeace, Vier Pfoten und das Tierheim. Rettungsdienst für Tiere pflegt verletzte Wie zum Beispiel dem Ehepaar, das draußen beim mich heute noch.
[PORTRÄT-SERIE] 22 [PORTRÄT-SERIE] 23 NAME Ramona Miu und Stan Haika NAME Sandra Bernhofer STECKBRIEFE SIND Straßenzeitungsverkäufer IST Journalistin und Fotografin ARBEITEN für ein besseres Leben für ihre ARBEITET, um hinter Fassaden vier Kinder zu blicken LEBEN in Rumänien und Salzburg, und LEBT mit einem festen Dach dann oft einmal in ihrem Auto über dem Kopf in Salzburg STEHEN mit dem Apropos vor dem Billa- STEHT sich oft selbst im Weg Markt in der Maxglaner Hauptstraße Autorin Sandra Bernhofer trifft die Verkäufer Ramona Miu und Stan Haika DER LANGE WEG IN Theater und Kunst gemeinsam an guten Bildern. ältere Tochter muss um die zwei Jahre gewesen sein. Andreas Hauch arbeitet seit über 25 Jahren als EIN BESSERES LEBEN Eineinhalb Monate sind sie hier, einen Monat dort, Fotograf mit Kunden aus Wirtschaft, Politik, immer wieder nehmen sie die zwölf Stunden Fahrt Im Mittelpunkt steht immer der Mensch. auf sich. Gerade im Sommer, wenn die vier Kinder nicht zur Schule müssen. Der Zeitungsverkauf hat es ihnen erlaubt, ein Häuschen in ihrem Heimatort von Sandra Bernhofer zu bauen. Am Handy zeigen sie es mir. Sie sind E stolz darauf, nicht jeder aus ihren Verhältnissen Mail: fotohauch@gmx.at s ist Dezember, eine Woche bringt das zuwege. Gleichzeitig merke ich, dass vor Weihnachten, als wir uns sich etwas Entschuldigendes in ihren Blick ge- treffen, mitten im wer weiß schlichen hat, denn sie wissen, dass das Haus für wievielten Lockdown. Das Stra- österreichische Verhältnisse erschreckend ärmlich ßenzeitungsverkäuferpaar Ramona wirkt: Es ist einfach, unverputzt, besteht aus nicht Miu und Stan Haika aus dem Süden viel mehr als Küche und Bad. Geheizt wird mit Rumäniens und ich. Und Doris, die Holz, der Strom kommt vom Nachbarn, denn uns sprachlich zusammenbringt. eine eigene Leitung zu legen wäre viel zu teuer. FOTOS Wir haben uns in der Apropos- Doch das Haus ist sauber, die Innenwände sind Redaktion zusammengefunden, an in einem charmanten Türkis gestrichen. Auf dem einem ovalen Tisch, der groß genug rohen Küchenboden sitzen eng umschlungen zwei ist, um Abstand zu halten. Masken Mädchen mit strahlenden Augen. tragen wir dennoch. Da wird Ramona traurig, denn die Mädchen Sandra Bernhofer schreibt immer wieder als Gleich zu Beginn lässt uns Stan musste sie wie auch ihre beiden Buben alleine Autorin für Apropos. wissen, dass es sein könnte, dass in Rumänien zurücklassen – immerhin müssen er im Verlauf des Gesprächs müde die drei Älteren zur Schule. Denisa ist zwölf, die werde. Vor zwei Jahren hatte er eine Kleinste noch keine drei Jahre alt. Stan betont, Schulbildung beschränkt sich auf fünf bzw. vier Wohnung kein Job. „Es ist schwierig“, seufzt sie. Hirnblutung. 21 Tabletten am Tag wie wichtig die Schule ist, damit wenigstens seine Jahre. Selbst das Lesen und Schreiben falle ihm So schnell, wie ein Schatten über ihr Gesicht zieht, halten ihn nun auf dem Damm. Die Kinder einen Beruf erlernen. Damit sie es einmal schwer, sagt Stan. verflüchtigt er sich wieder. Gerade wenn Ramona Medikamente machen ihm zu schaf- besser haben. Das Paar erzählt viel. Man merkt: Diese beiden über die Kinder spricht, leuchten ihre Augen. Die fen, schwemmen ihn auf, natürlich Die Perspektiven in Rumänien sind trist. 680 sind froh, dass da jemand ist, der sie verstehen kann. Liebe zur Familie und auch ihr Glaube sind das kosten sie auch. Seine Konstitution Euro betrug das durchschnittliche Monatsnetto- Doris kommt gar nicht nach mit dem Übersetzen. Letzte, was bleibt, wenn Hunger und Kälte sich ist nicht die beste. Das Leben als einkommen 2020, die Lebenskosten liegen je nach Immer wieder kehrt die Sprache auf die Kinder an die Fersen der Straßenzeitungsverkäufer heften. Straßenzeitungsverkäufer geht an Region nicht wesentlich unter jenen in Österreich. zurück. Mit sechs Packungen Polenta, einem Sack Nach fast zwei Stunden in der Wärme der die Substanz. Jetzt im Winter kriecht Aus keinem anderen EU-Land sind seit 1990 so Kartoffeln und etwas Sauerkraut mussten die bei- Apropos-Redaktion geht es für Ramona und die Kälte in alle Knochen. Abhalten viele Menschen weggegangen, um woanders zu den sie zurücklassen. Einfaches Essen, das die Kin- Stan wieder hinaus in den frostigen Dezember. Ramona Miu und Haika Stan sind seit vielen Jahren lässt sich Stan davon nicht. „Mehr ein Paar. Ramona erzählt, sie schmerzt es jedes Mal leben und zu arbeiten. Bis zu einem Viertel der der drei Wochen durchbringen soll, bis die Eltern Vielleicht haben sie heute doch noch Glück. Die anziehen“, lautet seine Devise. Er ist sehr, wenn sie ihre Kinder in Rumänien zurücklassen insgesamt 19,6 Millionen Rumänen soll es sein, wieder da sind. Wenn sie am Abend telefonieren drei Wochen in Salzburg sollen nicht vergebens froh, dass er wieder in Salzburg sein muss, um zu arbeiten. schätzt die Weltbank. Lieber für einen Hungerlohn und die Kleinste fragt, was sie heute gegessen gewesen sein, wenn sie am 24. Dezember die kann, um das Apropos zu verkaufen. nach Deutschland oder Österreich als ein Leben in habe, bekommt Ramona ein schlechtes Gewissen. Heimreise zu ihren Kindern antreten.* > sind aber Teil einer verlorenen Generation. Ihre unmöglich. Und: ohne Job keine Wohnung, ohne Salzburg. APROPOS · Nr. 210 · März 2021 APROPOS · Nr. 210 · März 2021
24 [AKTUELL] [AKTUELL] 25 Das Kino Salzburg BÜCHER AUS DEM REGAL Freund zu warten, er erzählt Rotkehlchen von Aber jetzt wollte ich die Welt so zeigen, wie sie EIN BISSCHEN BLEIBEN WIR von Christina Repolust ihm, dazwischen schläft er und wartet nach dem ist, denn es gab so viele Momente voller Güte und NOCH Erwachen im Sommer, im Herbst und auch im Menschlichkeit. So viele, dass ich sie abbilden Ausgehend von einem aktuellen Winter weiter. Im Winter schläft er ganz, ganz tief. konnte. Dieser großen Solidarität wollte ich mit Der Film „Ein bisschen bleiben wir noch“ basiert Roman suche ich im Bücherregal Und dann ist es da, das Geräusch: Goliath kommt! meinem Buch ein Denkmal setzen.“ Bär wartete auf Monika Helfers Roman „Oskar und Lilli“. – meinem häuslichen und dem in Ich verrate nicht, wer Goliath ist, ich verrate aber, in aller Zuversicht auf Goliath, er ließ sich durch Der österreichisch-iranische Regisseur Arash öffentlichen Bibliotheken – nach dass hier die Langsamkeit neu zu entdecken und keinen Zweifler vom Warten abbringen. Bücher, so T. Riahi erzählt darin die Geschichte zweier Büchern, die einen thematischen zu schätzen ist. Ich verrate auch, dass Erwachsene Franz Kafka, seien die Axt für das gefrorene Meer tschetschenischer Flüchtlingskinder in Wien, Dialog mit ersterem haben. Ob da- wie Kinder begeistert sein werden, und ich verrate in uns: Warten und Hoffen, Vertrauen und Staunen, die gemeinsam mit ihrer Mutter abgeschoben bei die Romane mich finden oder auch noch, quasi als Draufgabe, dass fortan Sie alle das lernen wir mit diesen beiden Bilderbüchern, werden sollen. Als die Mutter versucht, sich das das Geräusch, das Goliath macht, immer wieder oder besser gesagt,üben es einfach noch einmal. ich die Romane finde, sei einfach Susanna Andreini Leben zu nehmen, werden die Kinder vonein- gern am Papier nachahmen werden. Das Buch von Und noch einmal und dann vielleicht auch ein einmal dahingestellt. SIE.MALT. ander getrennt untergebracht. Die Geschwister LeUyen Pham „Drinnen und Draußen“ braucht weiteres Mal: Goliath kommt, ganz sicher! fassen heimlich den Plan, ihre Mutter zu finden auch geduldige Buchliebhaberinnen und -liebhaber, BLATT FÜR BLATT DAS LEBEN Drinnen Draußen. LeUyen Pham. Thienemann Bei „SIE.MALT.“ gibt die Momentaufnahmen des künst- und gemeinsam zu fliehen. Kinder sind da meist geduldiger. Es erzählt mit Künstlerin Susanna Andreini lerischen Alltags. Näher Inter- Zu sehen auf der DAS-KINO-Streamingplatt- DER ANDEREN VERSTEHEN großflächigen Illustrationen und sehr wenig Text Verlag 2021, 15 Euro Warten auf Goliath. Antje Damm. Moritz Verlag nicht nur Einblicke in ihre Wer- essierte sind, nach terminlicher form VOD CLUB: Wenn die studierte Architektin Antje Damm ein davon, wie Corona unser aller Leben veränderte. 2016, 13,40 Euro ke, sie möchte auch Interessier- Vereinbarung, auch zur Bildme- daskino.vodclub.online Thema aufgreift, dann folgen ihren wunderschönen, „Überall auf der ganzen Welt. Alle gingen nach ten eine Wahrnehmungsschule ditationen ins Atelier eingeladen. feinsinnigen Texten auch gleich aussagekräftige drinnen, schlossen ihre Türen und warteten.“ Kla- KULTURTIPPS des Schauens bieten. Dafür wählt Teilnehmerzahl beschränkt. Illustrationen: Sie entwirft Bühnenbilder, zeichnet, rerweise zeigen die Illustrationen,jene Menschen, sie diesmal Instagram als Präsen- susanna-andreini.at/sie-malt. malt, schneidet aus, setzt den Bären auf die Park- die rausgehen und das Alltagsleben am Laufen tationsraum. Teilnehmer*innen instagram.com/susanna_an- bank und schon sind wir drinnen in der Geschichte halten mussten: Einsatzkräfte, Verkäuferinnen, erwarten dort Videos von ihren dreini_artist von Treue und Freundschaft. Jedes ihrer Bücher Ärztinnen und Pflegerinnen und Pfleger. „Drinnen Bildern, Hintergrundgeschich- von Verena Siller-Ramsl ist das Ticket in eine private Theatervorführung: backten und kochten wir ... wir fühlten uns alle ten, sowie poetische Texte und Hotline: 0699 / 17071914 Hier sitzt also Bär und wartet. Ja, Forrest Gump, ein bisschen anders als sonst.“ Dieses Bilderbuch www.kunsthunger-sbg.at der könnte Bärs großer Bruder sein, denn beide weckt Erinnerungen an das Jahr 2020, erzählt kom- Charaktere zeichnen sich durch Vertrauen und primiert vom Rückzug und vom Weitermachen Kunstraum St. Virgil Unschuld aus. Die Tiere staunen, dass Bär so drinnen und draußen. Es beschönigt die Situation Foto: Herman Seidl, Fotohof Salzburg INGE DICK ruhig sitzt und ausharrt, bis sein Freund Goliath nicht, es bestärkt uns alle darin, behutsam mitei- auftaucht. Im Frühling setzt sich Bär auf die rote nander umzugehen: „Bislang habe ich die Welt Im Kunstraum St. Virgil sind noch Vor Ausstellungsbesuch bitte direkt Parkbank und beginnt, auf seinen allerbesten immer so gezeichnet, wie ich sie mir erträumte. bis Mitte Juni 2021 Zeichnungen und vor Ort anrufen. Die Eingangstür Fotografien der Künstlerin Inge Dick wird dann geöffnet. Besuchszeiten GEHÖRT & GELESEN zu sehen. In ihren Fotografien geht sie sind von Mo.–Fr. von 9–12 und von der Farbe des Lichts zu verschiedenen 12.30–14 Uhr. Tageszeiten nach. Die entstehenden www.virgil.at/freiraeume/kunst- Farbabfolgen bilden so die Vergäng- raum/ lichkeit der Zeit ab und ermöglichen Türöffner: 0662 / 65901503 eine immer neue Sicht auf die Welt. gelesen von Ursula Schliesselberger gelesen von Ulrike Matzer GRUNDTHEMEN DER MENSCHEN BROT, GERECHTIGKEIT, WÜRDE Museum der Moderne Salzburg In diesem Buch begleitet der Leser den Zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling fragen sich KUNSTSPAZIERGANG Erzähler durch zahlreiche kleine Ereignisse viele, ob die Revolution nicht gescheitert sei. In Ägyp- Rauriser Literaturtage und Begebenheiten des täglichen Lebens: der ten wurde bald alles noch schlimmer, der Militärstaat Das Museum der Moderne Salzburg auf dem LITERATUR-JUBILÄUM IN RAURIS Besuch im Seniorenheim oder die Katze als zählt heute zu den repressivsten der Welt. Jeder nur Mönchsberg liegt eingebettet im Wald, umgeben von Mitbewohnerin. Das Buch bietet auch Raum irgendwie Verdächtige landet sofort im Gefängnis. Die Bäumen, Bienen und Kunst. Bei der Outdoorführung Von 7. bis 11. April 2021 finden die Litera- für die dunklen Seiten des Lebens wie etwa extrem verarmte Bevölkerung kämpft großteils ums „Kunstspaziergang“ können Interessierte mit einer turtage in Rauris zum 50. Mal statt. Seit den Stationen des Krankseins und Aufenthalt in nackte Überleben. Auch in Tunesien ist die Bilanz ge- Kunstvermittlerin die spannende Architektur des Anfängen haben dort über 450 Autor*innen der psychiatrischen Klinik mit unerwartetem mischt. Zwar wirkt das Land wie eine Enklave in der Museums sowie die spielerischen Skulpturen im Au- gelesen. Im Rahmen eines großen Fests der Li- Happy End, das alles sehr geist- und wortreich zu Papier gebracht autoritär regierten arabischen Welt. Doch die Wirtschaft liegt darnieder, Co- ßenraum erkunden. Ob mit Regenschirm, Schnee- teratur sind neben den aktuellen Preisträgern – wird. Neben Erörterungen über Salzburg und Besuche in Wien und rona gibt dem Tourismus den Rest. Budgethilfen für die maroden Staaten in- schuhen oder Sonnenbrille: Die Führung findet bei Benjamin Quaderer und Martin Mader – auch Meran kommen auch existentielle Nöte und Auseinandersetzungen teressieren den Westen jedoch nicht. Vielmehr pflegt die EU aus Gründen der jeder Wetterlage statt. viele ehemalige Preisträger*innen eingeladen. über die Bibel zu Wort. Ganz zuletzt die Einsicht, dass jedes Leiden Sicherheit enge Beziehungen zu den Despoten und liefert Waffen zur Abwehr Nächster Termin ist am 21. März 2021 um 14.00 Besucher müssen sich aufgrund der vorge- nur ein Übergang zu neuen Horizonten und zu neuem Glück ist, die von Flüchtlingen und Terroristen. Neben diesen unseligen Verquickungen wird Uhr. Anmeldung erbeten, Kostenpunkt 3 Euro. schriebenen Vorsichtsmaßnahmen anmelden. der Erzähler mit einer Frau an der nächtlichen Bushaltestelle teilt. Ein aber auch die wichtige Rolle der Frauen geschildert (besonders im Sudan), und www.museumdermoderne.at/de/ausstellungen- Sollte eine Veranstaltung mit Publikum nicht Buch, das verspricht, was es ist: philosophisch-literarische Reflexionen die der sozialen Medien. Widerstand und Aktivismus sind weiterhin stark, und veranstaltungen/detail/kunstspaziergang/ möglich sein, gibt es die Literaturtage aus- zu den Grundthemen des Menschen, wie Liebe und andere Abgründe das stimmt am Ende dann doch optimistisch. schließlich via Livestream zu sehen. des Seins, und das alles sehr bewegend. Die Erben der Revolution. Was bleibt vom Arabischen Frühling? www.rauriser-literaturtage.at Auf der Spur. Texte & Reflexionen. Bernd Rosenkranz. tredition 2020. Jörg Armbruster. Hoffmann und Campe 2021. 25,70 Euro Kontakt: 0680 / 2042600 7,99 Euro APROPOS · Nr. 210 · März 2021 APROPOS · Nr. 210 · März 2021
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