Nr. 99 Juni - Juli - August 2020 - SOMMERZEIT - Kreisstadt Unna

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Nr. 99 Juni - Juli - August 2020 - SOMMERZEIT - Kreisstadt Unna
MAGAZIN FÜR UNNA

                              Juni – Juli – August 2020
                                               Nr.   99

             SOMMERZEIT
         AUSSERDEM IN DIESER AUSGABE:
 HEIMATERDE UND CORONA • ELSE LASKER-SCHÜLER
     RETTER DER STADT • DER KÖLNER DOM
Nr. 99 Juni - Juli - August 2020 - SOMMERZEIT - Kreisstadt Unna
Herbst-Blatt                      Nr. 99 06.2020                                          Editorial 2

Inhalt                                                 Liebe Leserin, lieber Leser!

3   Also sprach der Esel:                              Auch wir waren gezwungen, andere Wege
    „Befolgt die Anordnung der Behörden!“              zu gehen, damit dieses Heft erstellt werden
 4 Ein Morgen auf dem Bahnsteig                        kann. Statt der sonst üblichen Treffen in-
    oder: Wer ist Else Lasker-Schüler?                 nerhalb des Redaktionsteams haben wir
 6 Retter der Stadt                                    uns zum Austausch aller Ideen und Text-
 8 Der Kölner Dom                                      vorschläge per E-Mail entschieden. Und so
 9 Es ist wieder passiert                              haben Sie mit diesem Heft zum ersten Mal
10 Unna – ein merkwürdiger Name                        ein fast „elektronisches Papier“ vor sich
11 Erinnerungen                                        liegen. Ohne jetzt in das allgemeine Weh-
12 Geh aus, mein Herz und suche Freud                  klagen der Epidemie-Geschädigten einfal-
    Paul Gerhardt (1607–1676)                          len zu wollen, geht‘s hier gleich „in medias
14 Wohin mit all den Büchern?                          res“.
16 Kaum zu glauben                                     Bekannt dafür, immer wieder Berichtens-
17 Glück – in Ostfriesland gefunden                    wertes und Bemerkenswertes in einem eini-
18 Heimaterde und Corona                               germaßen ausgeklügelten Verhältnis zuei-
20 Die Turteltauben                                    nander zu Papier zu bringen, konnten wir
21 Hätten Sie es gewusst? Nelkenöl                     die gewohnten Kolumnen füllen. Ob nun
22 Opa klärt auf                                       Historisches zur Entstehung des Stadtna-
    Heute: Opa erklärt das Ergometer                   mens Unna, literarisch Wertvolles über die
24: Teppiche fördern die Bildung                       deutsche Dichterin Else Lasker-Schüler
    Ägypten                                            oder zum Schmunzeln bringende Einzeler-
                                                       lebnisse: Fühlen Sie sich ganz einfach von
                                                       uns unterhalten.
Impressum                                              Erneut ist uns also ein Mix aus Ernstem bis
Herausgeberin:           Kreisstadt Unna               Nicht-Ernstem gelungen. Dabei steuern wir
                         Hertinger Straße 12
                         59423 Unna
                                                       unaufhaltsam auf die Jubiläumsausgabe
                         Tel.: 02303/256903            vom Herbst-Blatt zu: Heft Nr. 100 soll ei-
Internet:                www.unna.de/herbstblatt/      nen würdigen Rahmen kriegen, der sich
V.i.S.d.P:               Dr. Bärbel Beutner            nicht nur an einem leicht erweiterten Um-
Internet:                Marc Christopher Krug
                                                       fang bemessen lässt. In dem Zusammen-
Redaktion:                                             hang würden wir uns, liebe(r) Leser/in,
Andrea Irslinger, Bärbel Beutner, Benigna Blaß,
Brigitte Paschedag, Christian Modrok, Franz Wiemann,   weiterhin über einen schriftlichen Beitrag
Ingrid Faust, Klaus W. Busse, Klaus Thorwarth,         Ihrerseits freuen. Der kann als Leserbrief,
Reinhild Giese, Ulrike Wehner                          als Kommentar oder auch als eine aus ganz
Seniorenarbeit Kreisstadt Unna:   Linda Brümmer        persönlicher Sicht verfasste kleine Ge-
Seniorenarbeit Fäßchen:           Markus Niebios       schichte geschrieben sein.
Titelfoto, Tagpfauenfalter:       Franz Wiemann
Gestaltung:                       Andrea Irslinger
                                                       Aber beeilen Sie sich bitte: Mit diesem
Druck:                            WIRmachenDRUCK       Heft liegt bereits die Nummer „99“ vor
                                  GmbH, Backnang       Ihnen.
                                                       Übrigens: Falls Sie doch noch einen Fehler
                                                       entdecken, schieben Sie es ganz einfach auf
       Das nächste                                     das Coronavirus!
        mit der Nr. 100 erscheint
           im September 2020!                          Im Namen der Redaktion
                                                       Franz Wiemann
Nr. 99 Juni - Juli - August 2020 - SOMMERZEIT - Kreisstadt Unna
3   Meinung                                           Nr. 99 06.2020      Herbst-Blatt
Also sprach der Esel:
„Befolgt die Anordnung der Behörden!“

Freunde, ich vermisse euch. Schon lange       und sagte, dass es nur die Menschen be-
geht mein Freund und Treiber nicht mehr       trifft. Aber zu meiner Beruhigung hat er
mit mir durch die Straßen unserer schönen     mir die Füße mit einem Desinfektionsmittel
Heimatstadt Unna. Die Nachrichten über        eingesprüht und im Eingang zu meinem
die Verbreitung des Corona-Virus hat unser    Stall eine mit dem Mittel getränkte Matte
Verhalten geändert. Jetzt erkennt man in      hingelegt. Dass er mit mir nicht mehr durch
meinem Freund den disziplinierten Men-        die Stadt gehen will, hat auch seinen
schen, der für das Wohl der Gesellschaft      Grund. Er meint, dass dadurch, dass ich
ohne zu Murren die Anordnung der Behör-       unterwegs von vielen Freunden gestreichelt
                                                                  werde, ich mit meinem
                                                                  Fell Krankheitserreger
                                                                  übertragen könnte. Auch
                                                                  striegelt er jetzt länger
                                                                  mein Fell, putzt meine
                                                                  Hufe und mein Riemen-
                                                                  zeug.
                                                                  Der     Gesichtsausdruck
                                                                  meines Freundes macht
                                                                  mir Sorgen. Der von Na-
                                                                  tur schon wortkarge
                                                                  Mensch redet noch we-
                                                                  niger. Ich hoffe, dass
                                                                  ihm die freiwillige Qua-
                                                                  rantäne nicht schlecht
                                                                  bekommen wird. Wenn
                                                                  wir uns nicht gerade un-
                                                                  terhalten oder Essen zu-
den befolgt. Wir bleiben zu Hause. Jeden      bereiten, setzt er sich an seinen Computer.
zweiten Tag schleicht er früh morgens in      Er sucht Neuigkeiten im Internet oder
den nahegelegen Supermarkt um etwas zu        pflegt E-Mail-Kontakt mit Freunden.
essen zu holen. Nach seiner Rückkehr          Trotz aller Widerwärtigkeiten für den Ein-
wäscht er sich länger als sonst die Hände     zelnen, können wir nur gemeinsam durch
und reinigt auch die Henkel der Einkaufsta-   striktes Befolgen der Anordnungen der Be-
sche und das Portemonnaie. Große Vorrats-     hörden die Pandemie bewältigen – sagt
einkäufe macht er nicht. Er vertraut den      mein Freund.
Behörden, die eine genügende Versorgung
von Lebensmitteln versprochen haben. Wir      Herzlichst,
möchten nicht anderen Menschen etwas          Ihr Balduin
wegnehmen und möglichst frische Ware
                                              Zeichnung: Klaus Pfauter,
einkaufen.                                    Foto: pixabay.de
Ich fragte meinen Freund, ob er mir nicht
auch die Hufe waschen wird. Er lächelte
Nr. 99 Juni - Juli - August 2020 - SOMMERZEIT - Kreisstadt Unna
Herbst-Blatt               Nr. 99 06.2020                                                      Kultur   4

                      Ein Morgen auf dem Bahnsteig
                        oder: Wer ist Else Lasker-Schüler?
                                 - von Brigitte Paschedag -

Ein verregneter kühler Morgen auf einem            reichen Liebesgedichten. Zu ihren Freunden
Bahnsteig in Hamm. Angesagt wird der ICE           gehörte auch Franz Marc. Zwischen beiden
„Else Lasker-Schüler“ nach Berlin. Ein jun-        entwickelte sich ein reger Briefwechsel, bei
ger Mann fragt: „Wer ist denn Else Lasker-         dem Else Lasker-Schüler sich das Pseudo-
Schüler? Den Namen habe ich ja noch nie            nym „Prinz Jussuf von Theben“ zulegte und
gehört.“ Die unfreiwillige Zeugin denkt:           Franz Marc der „Blaue Reiter“ war. 134 die-
„Das ist aber traurig. Das weiß man doch!          ser Briefe sind erhalten. Außer ihrer schrift
Deutsch-jüdische expressionistische Dichte-
rin aus Wuppertal, Gedichte und Balladen,
Novellen und das Schauspiel „Die Wupper.“
Das ist aber auch schon alles, was ihr ein-
fällt. Also mal schnell wieder runter vom ho-
hen Ross. Das Lexikon weiß auch nicht
mehr. Aber jetzt ist ihr Interesse geweckt und
sie beschließt, sich genauer zu informieren:
Elisabeth Lasker-Schüler ist das 6. Kind von
Jeanette Schüler, geb. Kissing und Aaron
Schüler, einem jüdischen Privatbankier. Bei-
de spielten später eine wichtige Rolle in ih-
ren Werken. Geboren wurde Else am
11. Februar 1869 in Elberfeld, heute Wup-
pertal. Da sie bereits mit vier Jahren lesen
und schreiben konnte, galt sie als Wunder-
kind. Sie besuchte zeitweise ein Gymnasium
und erhielt später Privatunterricht im Haus
ihrer Eltern. 1894 heiratete sie den Arzt Paul
Lasker und zog mit ihm nach Berlin. Die Zeit
in Berlin bezeichnete sie als ihre persönliche
„Vertreibung aus dem Paradies“. Am 24. Au-
gust 1899 wurde ihr Sohn Paul geboren.
Im gleichen Jahr trennt sie sich von ihrem
Ehemann und heiratet Georg Lewin. Schon
früh hatte sie begonnen, sich als Schriftstelle-
rin zu betätigen. Als ihr Hauptwerk gilt das
Schauspiel „Die Wupper“, das schlaglichtar-
tig die Geschichte zweier Familien beleuch-
tet. Seit dem Erscheinen ihres Gedichtbandes       Lasker-Schüler in ihrem orientalischen Kostüm
„Meine Wunder“ galt sie als führende deut-         als „Prinz Yussuf“ (1912)
sche Expressionistin. Auch ihre zweite Ehe
wurde geschieden, und sie hatte eine Zeit          stellerischen Tätigkeit zeichnete und malte
lang kein eigenes Einkommen. Ihre Freunde          sie auch. Der Tod ihres Sohnes Paul stürzte
Karl Kraus und Gottfried Benn halfen ihr.          sie in eine schwere Krise. Davon zeugt ihr
Ihre Beziehung zu Benn spiegelt sich in zahl-      Gedicht:
Nr. 99 Juni - Juli - August 2020 - SOMMERZEIT - Kreisstadt Unna
5   Kultur                                                 Nr. 99 06.2020      Herbst-Blatt
An mein Kind                                       nur schlecht zurecht. Der Konflikt zwischen
Immer wieder wirst du mir                          Juden und Arabern belastete sie immer mehr.
Im scheidenden Jahre sterben, mein Kind.           Da sie sich jetzt meistens als Prinz Jussuf
Wenn das Laub zerfließt                            verkleidete, setzte sie sich zunehmend dem
Und die Zweige schmaler werden.                    Spott der Intellektuellen in Jerusalem aus.
Mit den roten Rosen                                Ihre Vorlesungen und Vorträge wurden ver-
Hast du den Tod bitter gekostet…                   boten, da sie sie auf Deutsch hielt, was sie
                                                   mit den Worten: „Wo immer ich war, darf
1932 erhielt sie den „Heinrich-von-Kleist-         man kein Deutsch sprechen“ beklagte. Ihre
Preis. Nach der Machtergreifung Hitlers sah        letzte Veröffentlichung war „Mein blaues
sie sich gezwungen Deutschland zu verlas-          Klavier“, ein Band mit 32 Gedichten, den sie
sen. Sie ging nach Zürich, hatte dort aber         ihren Freunden aus Deutschland widmete,
Schreibverbot. In den Jahren 1934, 1937 und        die inzwischen über die ganze Welt verstreut
1939 reiste sie nach Palästina, in ihr soge-       lebten. Der Untertitel heißt denn auch
nanntes „Hebräerland“. Da ihr inzwischen           „Abschied von meinen Freunden.
die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt
worden war und der 2. Weltkrieg begonnen           Mein blaues Klavier
hatte, konnte sie nicht nach Zürich zurück.        Ich habe zu Hause ein blaues Klavier
Deshalb blieb sie in Palästina. Sie lebte in       Und kenne doch keine Note.
Jerusalem in einem Haus in Rechavia, einem         Es steht im Dunkel der Kellertür,
noch heute von vielen deutschstämmigen Ju-         Seitdem die Welt verrohte.
den bewohnten Stadtteil. Durch eine „Ehren-        Es spielten Sternenhände vier
rente“ war ihr Auskommen einigermaßen ge-          - Die Mondfrau sang im Boote -
sichert. Mit der Situation in Palästina kam sie    Nun tanzen die Ratten im Geklirr.
                                                   Zerbrochen ist die Klaviatur ...
                                                   Ich beweine die blaue Tote.
                                                   Ach liebe Engel öffnet mir
                                                   - Ich aß vom bitteren Brote -
                                                   Mir lebend schon die Himmelstür -
                                                   Auch wider dem Verbote.

                                                   Eines ihrer letzten Lebenszeichen war die
                                                   Bitte an die Alliierten, ihre Heimatstadt
                                                   Wuppertal nicht zu bombardieren. Else Las-
                                                   ker-Schüler starb am 22. Januar 1945 und
                                                   wurde auf dem Ölberg in Jerusalem begra-
                                                   ben. Sie hinterließ ein großes Lebenswerk
                                                   aus Dramen, Prosawerken, Skizzen und Er-
                                                   zählungen.
                                                   Die Stadt Jerusalem errichtete ihr ein Denk-
                                                   mal, das von dem Gedicht „Gebet“ inspiriert
                                                   war:
                                                   Ich suche allerlanden eine Stadt,
                                                   die einen Engel an der Pforte hat.
                                                   Ich trage seinen großen Flügel
                                                   Gebrochen schwer am Schulterblatt
                                                   Und in der Stirne seinen Stern als Siegel
Engel für Jerusalem, Else-Lasker-Schüler-Denkmal
bei Jerusalem (2007)                               Fotos: Gila Brand/wikipedia.de
Nr. 99 Juni - Juli - August 2020 - SOMMERZEIT - Kreisstadt Unna
Herbst-Blatt              Nr. 99 06.2020                                         Geschichte   6

                                Retter der Stadt
                               - von Klaus Thorwarth -

Mit meiner Frau besuchte ich vor Jahren         Gegen den Führerbefehl setzte er durch,
die schöne Stadt Gotha in Thüringen.            dass die historische Stadt vor umfangrei-
Mit Erschütterung denke ich an das Schick-      chen Zerstörungen bewahrt und so viele
sal eines Helden, des Retters dieser Stadt in   Bewohner gerettet wurden. Am 4. April
den letzten Kriegstagen, also vor 75 Jahren.    1945 übergab er den Alliierten die Stadt
Es handelt sich um den Stadtkommandan-          kampflos. Am gleichen Tag wurde er vom
ten, den Oberstleutnant Josef Ritter von        deutschen Militär verhaftet und am folgen-
Gadolla.                                        den Tag in Weimar standrechtlich erschos-
                                                sen. Seine letzten Worte waren: „Damit
                                                Gotha leben kann, muss ich sterben“.
                                                Bis in die 90er Jahre galt der hoch deko-
                                                rierte Soldat als Deserteur, wurde dann
                                                aber rehabilitiert und von der Stadt post-
                                                hum als Ehrenbürger ausgezeichnet.
                                                Es gibt zahlreiche Städte, die durch die hel-
                                                denhafte Aufopferung mutiger Menschen
                                                vor völliger Zertörung erhalten blieben. Ei-
                                                nige Beispiele: Düsseldorf, Greifswald,
                                                Rinteln, Bad Pyrmont, ja sogar Paris.

Gotha
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7   Geschichte                                          Nr. 99 06.2020   Herbst-Blatt

Natürlich fragte ich mich, was in Unna in       digungsaufruf nicht durch. Doch zu einem
den letzten Kriegsjahren geschehen war.         Abzug der Truppen konnten Bürgermeister
Wem haben wir zu verdanken, dass unser          Hohendahl und Landrat Dr. Grotjan den
Wahrzeichen, die Stadtkirche, nicht zer-        Kommandanten nicht bewegen.
stört wurde?                                    Amerikanischen Truppen kämpften sich
Auch zu dieser Frage fand ich unter den         immer näher an die Stadt heran, wobei eine
Vorträgen der Unnaer Geschichtswerkstatt        militärisch sehr unübersichtliche Lage ent-
umfangreiches Material.                         stand.
Die Situation der Stadt Unna, die in einem      Am 10. April setzte sich dann doch wegen
großen Kessel von den Allierten von Osten       der Übermacht der US-Truppen in aus-
und Norden angegriffen wurde, war sehr          sichtsloser Lage der Kommandant mit sei-
gefährlich. Schließlich gab es hier die SS-     nen Truppen nach Südwesten ab.
Kaserne an der Iserlohner Straße mit hun-       Die angeforderten Bombenflugzeuge zur
derten Soldaten. Es drohte der Führerbe-        vollen Zerstörung der Stadt wurden umge-
fehl, die Stadt als Festung bis aufs äußerste   leitet, weil Unna von den Amerikanern
zu verteidigen.                                 weitgehend eingenommen war und grell-
Im März zerstörten bereits Bomberge-            farbige Tücher auf den Dächern ausgelegt
schwader ganze Straßenzüge der Innen-           wurden.
stadt.                                          Am 11. April um 12.15 Uhr kapitulierte die
Auch die Stadtkirche erlitt in den letzten      Stadt. Um 14.30 Uhr meldeten die US-
Kriegstagen heftige Schäden.                    Truppen, die Stadt sei „feindfrei“.
Es gab wenig Hoffnung. Zwar führte der
                                                Fotos: Klaus Thorwarth
SS-Kommandant Schäfer die angeordnete
Sprengung der Kasernen sowie den Vertei-
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                                   Der Kölner Dom
                                     - von Klaus Busse -

Verlässt man den Kölner Hauptbahnhof ein-         Jugend weiter. Auch die wurde über dem
mal nicht durch den Seitenausgang, sondern        ständigen Gebaue wiederum alt und
durch die große Eingangshalle, dann steht man     schwach, so dass ihre Kinder auf dem Plan
plötzlich erstaunt vor einem Kleinod deutscher    traten: hämmernd wie die Väter, buddelnd
Gotik: dem Kölner Dom. Seine Entstehung           wie die Großväter und deren Vorfahren.
weist in das frühe Mittelalter zurück.            Schließlich kam dann im Jahr 1880 der gro-
Als im Jahr 1164 die Reliquien der Heiligen       ße Tag: Der Dom war fertig. Innen hohl und
Drei Könige nach Köln gebracht wurden, soll       von außen mit zwei großen Türmen verse-
der sagenhafte Erzbischof von Dassel den          hen, genauso, wie es sich damals der Bischof
Gedanken geäußert haben, dass es doch sinn-       auf dem Totenbett wohl gewünscht hatte.
voll wäre, in Köln einen neuen Dom in Ge-         Vor seiner endgültigen Inbetriebnahme im
stalt einer gotischen Kirche zu errichten.        Jahr 1888 heißt es, sei ein Steinmetz zweifelnd
                                                  durch das säulenumstandene, hoch aufragende
                                                  Mittelschiff gegangen. Er hätte ein um das an-
                                                  dere Mal vor sich hin gemurmelt: „Ob sich die
                                                  ganze Plackerei wohl auch gelohnt hat?“
                                                  Wer immer heute vor dem Kölner Dom
                                                  steht, wird aus ganzem Herzen in das zö-
                                                  gernde „Freilich!“ einstimmen. Und ähnlich
                                                  soll ein mitleidiger Kardinal schon seinerzeit
                                                  die Bedenken des wackeren Steinmetzes zu
                                                  verstreuen versucht haben. Aus religiöser
                                                  Pietät wird hier sein tatsächlicher Name
                                                  weggelassen. Hinterlassen wurde jedoch sein
                                                  Spruch: „Gott vergib mir meine Schuld, mei-
Kölner Dom 1880 vollendet                         ne Gläubiger weigern sich!“
                                                  Eine andere in Köln zirkulierende Weisheit
Keine 100 Jahre später war es dann soweit.        lautet: „Wenn der Dom fertig ist, geht die
An einem nebligen Novembertag des Jahres          Welt unter!?“ – Zum Glück gibt es, wie all-
1255 – die Grundsteinlegung war schon einige      seitig aufragende Gerüste beweisen, immer
Jahre vorher erfolgt – versammelte sich auf       noch etwas zu reparieren.
dem Domplatz eine Menge baulustiges Volk,         Quellen: Arge-Bote, Zeichnung: wikipedia.de,
um das Projekt endlich in Angriff zu nehmen.      Foto: Thomas Wolf/wikipedia.de
Was dann geschah, beschreibt ein Chronist fol-
gendermaßen: „Sie lärmten und schwärmten,
sie sägten und hegten, sie hieben und trieben
und siehe da: als sie das eine Woche lang getan
hatten, waren sie alle ganz schön müde.“
Dieser Geist verließ die Kölner Dombauer
auch während der nächsten Jahrhunderte
nicht. Das Gebuddel und Gehämmer ging
selbst nach einer Unterbrechung von nahezu
300 Jahren weiter: Der Stadt war nämlich
zwischenzeitlich das Geld ausgegangen.
Ganze Generationen starben wie die Fliegen
an Altersschwäche, doch sie gaben die Fa-
ckel der Begeisterung an die nachfolgende
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9   Erlebnis                                              Nr. 99 06.2020      Herbst-Blatt
                             Es ist wieder passiert
                                    von Ulrike Wehner

Ja, es passiert immer wieder: Mein Mann          tete: „Das erledigt meine Frau, meine Haare
bemerkt Passanten, oft Kinder, in einer Situ-    wachsen genau wie Ihre.“ „Ja, meinem
ation, die für andere belanglos und alltäglich   Mann schneide ich auch die Haare zwi-
erscheint. Er bringt so gern weinende Kin-       schendurch, aber an meine Frisur lasse ich
der mit traurigem oder brummigen Gesicht         ihn besser nicht ran.“ Dann schien mein
wieder zum Lachen. Die Eltern machen             Mann die Lösung gefunden zu haben, in
meistens begeistert mit: Fröhlich trennen        dem er ihr den Rat gab, sie könne doch zu
wir uns wieder. Wie schön ist dann auch ein      einem anderen Friseur gehen.
Wiedersehen.                                                     Daran hätte sie auch schon
Die letzte Geschichte dieser                                     gedacht, nur wenn sie 10
Art gewinnt eine ganz unge-                                      Mal bei diesem Friseur Kun-
wöhnliche Aktualität in die-                                     din war, bekäme sie einen
sen Tagen, in denen uns die                                      Haarschnitt kostenfrei.
Bewältigung der Corona-                                          Nun brachte ich mich ins
Krise heftig im Griff hat.                                       Spiel. „Können Sie nicht
Bei unseren Besorgungen in                                       morgen     wiederkommen?“
der Stadt fiel mir zunächst                                      Das hielt sie für das Beste
eine Frau vor einem Friseur-                                     und schloss sich uns an auf
laden nicht auf. Aber mein                                       unserem weiteren Weg. Ich
Mann sprach sie an, weil sie                                     setzte die Unterhaltung fort
ganz verwirrt vor der Ein-                                       mit der Bemerkung, dass ich
gangstür des Salons stand. Sie                                   das Angebot des Friseurs nur
erzählte denn auch bereitwil-                                    von Bäckerläden kenne. Da
lig, was sie so unmutig ma-                                      bekommt man ein Brot ge-
che: „Es ist Donnerstag und                                      schenkt für eine volle Stem-
ich will mir die Haare schneiden lassen, aber    pelkarte. Einen Stempel auf die Karte erhält
hier auf dem Zettel steht, dass der Betrieb      man für einen Einkauf ab 4,- €. Die meisten
heute geschlossen ist. Ich finde nirgends ei-    Brote kosten aber nicht 4,- €, das heißt, zu
ne Erklärung?“ Mein Mann studierte die In-       einem Brot muss man immer noch etwas
formation in der Klarsichthülle und meinte:      dazu kaufen, um den Betrag zu erreichen.
„Das sind wohl die neuen Öffnungszeiten“,        Unsere Begleiterin wandte ein: „Bei man-
und pflichtete ihr dann bei: „Ja, merkwür-       chen Bäckereien zählt aber nicht Kuchen
dig, ich weiß, dass die Friseure doch immer      dazu“ und klärte uns über weitere Unter-
montags ihren Laden geschlossen halten,          schiede in den entsprechenden Läden auf.
weil sie samstags länger geöffnet haben.         Und schon waren wir beim Thema, wie die
Aber, gute Frau, Ihre Frisur sitzt doch wun-     Verbraucher sich heutzutage manipulieren
derbar, warum wollen Sie eine neue?“             lassen.
„Oh, danke schön, der Friseur soll mir auch      Wir hätten unser Gespräch gern noch eine
nur die Haare im Nacken etwas kürzen, da         Weile fortgesetzt, aber es war so kalt und
wachsen sie immer viel schneller, jetzt hän-     wir hatten immer noch unsere Besorgungen
gen sie mir so lang auf dem Kragen“. Sie         zu machen, jetzt allerdings angeregt und gut
drehte sich um, dass wir ihr Problem erken-      gelaunt.
nen konnten. Mein Mann wies auf seinen
                                                 Foto: Gerhard Giebener/pixelio.de
Nacken und erklärte, indem er auf mich deu-
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Herbst-Blatt               Nr. 99 06.2020                                             Geschichte 10

                    Unna – ein merkwürdiger Name
                                 - von Klaus Thorwarth -

Wer kennt die Frage nicht: Stadt in Westfa-        die „Onomastik“. Die ältesten Namen (vor
len mit vier Buchstaben?                           über 2000 Jahren) sind die der Flüsse (Mosel
Gesucht ist natürlich Unna. Und das merkt          – mosella), später die der Städte (Köln –
man sich für das nächste Kreuzworträtsel.          Colonia agrippina). Zuletzt entstanden unsere
Kaum eine Stadtführung vergeht, in der nicht       Familiennamen vor etwa 700 Jahren.
gefragt wird nach Herkunft und Bedeutung           Die frühesten Überlieferungen des Namens
des Namens „Unna“.                                 Unna finden sich in einer Arbeit von Dr. Mi-
Sogar bei einem Besuch in St. Wendel/ Saar-        chael Flöer in dem „Historischen Porträt der
land wurde ich darauf angesprochen..               Stadt Unna“, Band 1, Seite 41.
Die dortigen Heimatfreunde berichteten, dass       Sie gehen zurück bis auf das Jahr 1000 und
in ihrer Gegend der Begriff „unnern“ be-           haben verschieden Schreibweisen.
kannt sei. Das bedeutet etwa „Lasst                          Man findet hier, dass der sprachlich
uns hier niederlassen“.                                           alte, wohl schon in germanischer
Aber selbst bei Google findet                                         Zeit entstandene und schwer
man nichts zu dem Bericht                                                zu durchschauende Name
aus dem Saarland.                                                         auf    einen    Gewässer-
Die frühesten Niederlas-                                                   Namen zurück zu führen
sungen unserer Vorfahren                                                   ist. Auch das „a“ am En-
brauchten Weide, Wald,                                                     de von Unna deutet auf
Wild, Wege und das le-                                                     fließendes Wasser.
bensnotwendige Wasser.                                                     Weniger ernst zu nehmen
Für den Bedarf an Wegen                                                   sind die Erklärungen in
lag Unna ideal: Neben der                                                der „Westfälischen Ge-
bedeutenden West-Ost-Route,                                            schichte“ des Johann Die-
dem Jahrhunderte alten Hellweg,         Zweites Siegel der         derich   von Steinen (1755). Sie
gab es auch eine Nord-Süd- Stadt Unna 1390                     wurden wie üblich von nachfolgen-
Verbindung. Über den Wasser-                                den Historikern immer wieder über-
Reichtum der Hellweg-Stadt wurde immer             nommen.
wieder spekuliert.                                 Es heißt da:
Viele Täler vom Haarstrang, Richtung Nor-          Die Bürger der schon früher entstandenen
den ausgerichtet, sind noch heute wasserreich      Stadt Kamen sollen bei Gründung der Stadt
und verursachen gelegentlich gefährliche           Unna gerufen haben: „Uns tho nah“. Ähnli-
Überschwemmungen. Es heißt, früher gab es          ches kennen wir von Altena und Altona.
auch hier viel mehr Wasser, wie z. B. in           Von Steinen zitiert auch die erbauliche Inter-
Mühlhausen, Massen oder Soest. Betrachtet          pretation von Merian „Ab unitate animo-
man den heutigen Zustand des Kortelbachs,          rum“. Übersetzt „Von der besonderen Einig-
ist ein stärkerer Wasserlauf vor Jahrhunder-       keit der Bürger untereinander“. Herrlich!
ten schwer vorstellbar. Immerhin aber soll es      Was letztlich bleibt, ist, dass der Name vor
in diesem eiszeitlichen Tal nahe der Stadt         sehr langer Zeit entstand und etwas mit dem
eine Wasser-Mühle gegeben haben. Auch das          Wasser zu tun hat, dem Quell des Lebens.
Bornekamp-Bad, das als ältestes Bad in             So gesehen war es eine gute Entscheidung,
Westfalen gilt, wird wohl als Naturbad von         den ersten Band der neuen Unnaer Stadtge-
diesem Wasserfluss gespeist worden sein.           schichte mit einem blauen Band zu schmü-
Die Erforschung von Namen ist recht kom-           cken, der Farbe des Wassers.
pliziert. Da hilft die spezielle Wissenschaft,     Foto: Klaus Thorwarth
11 Geschichte                                             Nr. 99 06.2020      Herbst-Blatt
                                    Erinnerungen
                                  - von Franz Wiemann -

Es muss nicht immer alles aus der Ge-             schauung eh ganz unterschiedlich bewertet.
schichtswerkstatt kommen, was wir hier zu         Man wundert sich vielleicht über die inzwi-
Papier bringen. Gleichwohl ist der zu be-         schen immer zahlreicher werdenden Stolper-
schreibende Vorfall ein Resultat der (Welt-)      steine, die in Unnas Bürgersteige vor der
Geschichte. Allein das Ende des 2. Weltkrie-      nachweislich „letzten Wohnstätte“ der Er-
ges, in diesem Jahr 75 Jahre her, hat genü-       mordeten eingelassen worden und hauptsäch-
gend Ereignisse, Geschichten und mitunter         lich jüdischen Opfern des Holocaust gewid-
sehr traurige Episoden wieder in unser Be-        met sind. Allein das ist schon mehr als ein
wußtsein gebracht. Darum muss es sich nicht       Stehenbleiben wert, um sich noch einmal die
immer bei all dem, was unter das Stichwort        Menschenverachtung des untergehenden
Geschichte fällt, gleich um „Erhabenes“           Systems des Natio-
bzw. „Welt-Bewegendes“ gehandelt haben.           nalsozialismus in
Mitunter geht die Episode, ein klitzekleiner      Erinnerung zu ru-
Reflex also auf die Geschichte, einem viel        fen.
näher als die weltbewegenden Ereignisse.          Mehr und mehr Re-
Eine traurige Episode hat sich, lt. Pressebe-     cherchen werden
richt im HA (Ausgabe von Mitte April              jetzt bekannt, mehr-
2020), sozusagen „Minuten vor Kriegsende          heitlich auch von
am 10. April 1945“ in Holland zugetragen.         vielen Jugendlichen
Der Unnaer Bürger Ernst Gräwe sei im nie-         (!) durchgeführt, um
derländischen Deventer ermordet worden,           auch andere als nur
standrechtlich erschossen. Er wurde zum           jüdische“      Opfer
„tragischen Helden“, indem er sich gewei-         aufzuspüren. Der
gert habe, niederländische Widerstands-           Verfasser      selber Ernst Gräwe
kämpfer zu erschießen.                            weiß erst seit fünf Jahren von einem Vorfall
Nun gab es sicherlich zig solcher tragischen      in seiner eigenen Verwandtschaft – mütterli-
Ereignisse, das Morden und heimtückische          cherseits – zu berichten, wo es um eine Hin-
Erschießen von Personen, die sich auch nur        richtung im November 1944 ging. Besagter
aus geringstem Anlass in dem Netzwerk von         Onkel hatte sich partout geweigert „für Hit-
Denunziation und Aktionen der Gestapo ver-        ler in den Krieg zu ziehen“, so seine bewe-
fangen haben, inbegriffen. Aber warum             genden Worte. Ihm wurde in seiner Heimat-
weist – zumindest bisher – kein Gedenkstein,      stadt ein Stolperstein gewidmet.
keine an seinem Unnaer Wohnhaus ange-             Wir und Sie, liebe Leser, liebe Leserin inbegrif-
brachte Hinweistafel darauf hin? Dieser Fra-      fen, haben mehrheitlich den Krieg nicht selbst
ge ging ein junger Praktikant nach, der bei       bzw. nicht unmittelbar miterlebt. Die Corona-
seiner Arbeit im Unnaer Stadtarchiv rein zu-      Krise wurde zwar so bewertet, als befänden wir
fällig auf diesen Vorfall stieß. So konnte das    uns „im Krieg mit einer Pandemie“. Das Aus-
Schicksal des Ernst Gräwe in Erinnerung           maß ihrer Auswirkungen, mitsamt allen Ein-
gebracht werden. Eine für den 15. April d. J.     schränkungen und Unannehmlichkeiten, mag
angesetzte Gedenkveranstaltung, die im            dies zwar im Ansatz bestätigen, aber all die
„Grünen Salon“ an der Wasserstraße stattfin-      Greueltaten, das menschengemachte Elend,
den sollte, musste digital stattfinden – wie so   welches die Nationalsozialisten über unser
vieles in den letzten Wochen und Monaten.         Land gebracht haben, dürfen sich nicht wieder-
Hier soll nicht eine Diskussion um den Hel-       holen. Um Zustimmung für diese Überzeugung
den-Begriff angezettelt werden. Was ein           muss man wohl nicht lange bitten.
„Wirklicher Held“ ist, wird je nach Weltan-       Foto (Quelle): Hellweger Anzeiger (08.05.2020)
Herbst-Blatt           Nr. 99 06.2020                                          Literatur 12

             Geh aus, mein Herz und suche Freud
                        Paul Gerhardt (1607–1676)
                                von Bärbel Beutner

„Geh aus, mein Herz, und suche Freud        Die Jugend von Paul Gerhardt überschatte-
In dieser schönen Sommerzeit...“            te der Dreißigjährige Krieg, der in der Lite-
Es ist sicherlich eines der bekanntesten    ratur oft als „Urkatastrophe der deutschen
Lieder des Barock-Dichters Paul Gerhardt    Geschichte“ bezeichnet wird.
(1607–1676). Im Gesangbuch
hat es seit seiner Entstehung
1653 einen festen Platz, und
durch die Aufnahme in die
Sammlung „Des Knaben
Wunderhorn“, von Clemens
Brentano und Achim von Ar-
nim 1806–08 herausgegeben,
fand es Eingang in die Rom-
antik und wurde endgültig
zum Volkslied.
Die ersten sieben der insge-
samt fünfzehn Strophen be-
schreiben opulent die Schön-
heiten des Sommers: grünes
Laub, bunte Blumen, Vogel-
gesang,      Wachstum       und
Fruchtbarkeit. Da muss das
lyrische Ich in der 8. Strophe
ebenfalls singen und „des
großen Gottes großes Tun“
loben, und das aus ganzem
Herzen,                                     Paul Gerhardt studierte Theologie in Wit-
„... ich singe mit, wenn alles singt,       tenberg und ging 1642 nach Berlin, wo er
und lasse, was dem Höchsten klingt,         1651 ordiniert wurde. Als er 1651 die Ge-
aus meinem Herzen rinnen.“                  meinde in Mittenwalde als Pfarrer über-
Die reichen Gaben des Sommers machen        nahm, fand er eine vom Krieg verwüstete
die Erde zu einem lieblichen Ort. Doch im   Stadt mit gerade mal 250 Einwohnern vor,
selben Atemzug ist von „dieser armen Er-    die einst wohlhabend durch den Salzhandel
den“ die Rede. Nur diese drei Wörter ste-   geworden war und mit tausend Einwohnern
hen der Pracht und der Freude gegenüber.    eine solide Größe hatte. Krieg und Pest hat-
„Narzissen und die Tulipan                  te Paul Gerhardt auch in Wittenberg und
die ziehen sich viel schöner an             Berlin kennengelernt.
als Salomonis Seide.“                       Sein persönlicher Lebenslauf war von Ju-
Wie kann diese Erde mit den schönen Tie-    gend auf von Schicksalsschlägen geprägt.
ren, die „edle Honigspeise“, starken Wein   1619 starb sein Vater, 1621 verlor der
und kräftigen Weizen hervorbringt, arm      Vierzehnjährige seine Mutter. 1637 starb
sein?                                       ein Bruder an der Pest. Seine Ehe mit Anna
13 Literatur                                          Nr. 99 06.2020      Herbst-Blatt
Maria Berthold, die er 1655 heiratete, dau-
erte nur dreizehn Jahre und stand geradezu
im Zeichen des Todes. Das Ehepaar bekam
fünf Kinder. Vier überstanden das erste Le-
bensjahr nicht. Nur der Sohn Paul Fried-
rich, geb. 1662, überlebte die Eltern und
starb 1716. Paul Gerhardt wurde 1668 Wit-
wer.
Und doch hinterließ der Schwergeprüfte,
der auch berufliche Schwierigkeiten erle-
ben musste, eine Fülle von Gedichten vol-
ler Trost, Hoffnung und Gotteslob. Selbst
komponiert hat Paul Gerhardt nicht. Er traf
in Berlin die Kantoren Johann Crüger und
Johann Georg Ebeling, die seine Texte ver-
tonten und verbreiteten. Er war schon zu
Lebzeiten ein weithin bekannter Lieder-
dichter.
In dem Lob- und Dankeslied „Geh aus,
mein Herz“ ruft die schöne Sommerzeit
einen „Vorgeschmack“ auf die Herrlichkeit
des Himmels hervor. „Welch hohe Lust,
welch heller Schein/wird wohl in Christi      Licht findet der Mensch erst im Jenseits, in
Garten sein!“, heißt es in der 10. Strophe.   der Ewigkeit. In Paul Gerhardts Sommerhit
In der Barock-Dichtung geht es ständig um     aber ist die Erde bereits ein Abbild des
„das irdische Jammertal“, in dem alles ver-   Himmels – sozusagen im Kleinformat.
gänglich und nichtig ist. Beständigkeit und   Zwar wünscht sich das lyrische Ich auch in
                                              den Himmel hinein („O wär ich da!
                                              O stünd ich schon, / ach süßer Gott, vor
                                              deinem Thron...“), aber noch möchte es auf
                                              der Erde reifen und „ein guter Baum“ wer-
                                              den. Das Herz, das sich an den Herrlichkei-
                                              ten des Sommers erfreuen soll, „soll sich
                                              fort und fort ... zu deinem Lobe neigen“,
                                              sagt die 12. Strophe.
                                              Ein fröhliches Lied, das über Jahrhunderte
                                              hin die Menschen erfreut und getröstet hat
                                              und weiterhin erfreuen wird – auch über
                                              Corona hinaus!
                                              Gemälde von Wassili Jeremejew, Quelle: Sonntagsblatt 1/2007
                                              Fotos: Andrea Irslinger
Herbst-Blatt              Nr. 99 06.2020                                            Literatur 14

                        Wohin mit all den Büchern?
                                   - von Franz Wiemann -

Ergeht es Ihnen mitunter auch so? Wohin mit     schlungen haben. Ja, ganze Jugendbuchse-
all den Gegenständen, den Büchern etc., die     rien haben uns fasziniert. Nur um ein Bei-
sich im Laufe des Lebens angesammelt ha-        spiel zu geben: Enid Blyton und die von ihr
ben! Und man weiß, oder zumindest ahnt          in Englisch verfassten Jugendbücher erreich-
man es schon: Die nachwachsende Generati-       ten uns in der Serie „Hanni und Nanni –
on hat für vieles keine Verwendung. Wir ha-     Mehr als beste Freunde“. Die Unterschei-
ben darüber im Herbst-Blatt früher schon        dung in literarisch wertvoll bis hin zum Be-
mal geschrieben.                                griff Trivialliteratur interessierte uns dabei
Es war Mitte Februar d. J. – ich war mit dem    gar nicht. Vielfach stammten die Verfasser
Fahrrad kaum 60 Meter von der Haustür ent-      aus ganz einfachen Verhältnissen und waren
fernt – als ich vier Bücher mitten auf der      zum Teil auch schon vor dem 2. Weltkrieg
Straße liegen sah. Über eins war schon ein      schriftstellerisch aktiv.
Wagen hinweggerollt. Wenn es um Literari-       Wie verhält sich das denn im Fall der oben
sches geht, bin ich immer wachsam. Und sie-     genannten, von mir aufgefundenen Buchtitel
he da, nach näherer Betrachtung sah ich, dass   und Autoren?, dachte ich mir. So googelte
es sich wohl um typische Jugendbuchliteratur    ich halt mal.
aus den 50er und 60er Jahren handeln muss-      Zwei Titel von M. Haller waren darunter:
te. Für mich nicht unbedingt der Klassiker      „Hilde und der Fünferbund“ (1953) und
oder ein für besondere Wertschätzung geeig-     „Gretel schießt den Vogel ab“ (1955). Hinter
neter Lesestoff, dachte ich zunächst. Aber      dem Namen des Autors M. Haller verbirgt
ehe ich – die Bücher sahen äußerlich alle ein   sich der echte Name: Margarete Deinet, so
wenig ramponiert aus – so etwas unbeachtet      konnte ich unter Wikipedia nachlesen. Die
liegen lasse bzw. in den Altpapiercontainer     ursprünglich als Buchhändlerin in Hamburg
werfe, waren sie auch schon in meinem           lebende Frau verlor infolge eines Bombenan-
Hausflur gelandet.                              griffs 1943 fast ihren gesamten Besitz, im-
Wer kennt sie nicht, diese Autoren der Nach-    merhin drei Buchhandlungen. Sich auch mal
kriegszeit? Sicherlich haben Sie noch so        als Schriftstellerin zu versuchen, das war al-
manche gute Erinnerung an den einen oder        lerdings schon weit vor dem Kriege gesche-
anderen Buchtitel, den Sie förmlich ver-        hen: Sie hätte sich im Jahr 1931 ermuntert
15 Literatur                                            Nr. 99 06.2020   Herbst-Blatt
gefühlt, eine Geschichte an den Franz           der. Fernsehen gab es ja nicht. Sicherlich
Schneider Verlag (München) zu schicken.         dürften Ihnen, liebe Leser/in, die Kinder und
Daraus erwuchs eine zweite Karriere, in de-     Jugendbücher aus dem Arena-Verlag in bes-
ren Verlauf – mit einer Gesamtauflage von       ter Erinnerung geblieben sein. Der Verlag
etwa sieben Millionen Büchern – etliche un-     veröffentlicht übrigens auch heute noch vor-
terhaltsame Titel entstanden sind: Alles ver-   wiegend im Bereich der Kinder- und Jugend-
schiedene Jungmädchenromane, versteht           literatur und verbreitet weiterhin faszinieren-
sich. Ein weiterer Band, der auf der Straße     de Gegenwartsgeschichten. Noch gut kann
lag, war das wohl ebenfalls                                       ich mich an die recht an-
„nur“ für Mädchen interes-                                        schaulich bebilderten Titel
sante Buch „Versteck am                                           wie Till Eulenspiegel oder
Fluß“, von Eva Thiede-                                            Tom Sawyers erinnern, die
mann. Der antiquarische                                           in uns eine Faszination für
Anbieter        booklooker                                        eine andere Welt auslösten.
(www.booklooker.de) reiht                                         Na ja, aber wer will diese
es in die Reihe der Schnei-                                       „alten Schinken“ denn heu-
der-Bücher für Mädchen                                            te noch lesen? Sammler al-
ein und bewertet das Buch                                         ter Bücher geben nicht nur
schlichtweg als „aufregen-                                        für das Antiquariat den ei-
de Geschichte“. Für eine                                          nen oder anderen Euro aus.
ganze Reihe dieser oben                                           Das konnte ich einem Ebay-
näher beschriebenen Bü-                                           Eintrag entnehmen. Es gibt
cher fertigte übrigens die                                        das Bücherantiquariat, in-
Illustratorin Gerda Radtke                                        nerhalb der Stadt beispiels-
skizzierte Zeichnungen an,                                        weise bei der Buchhand-
die zur Belebung der Lite-                                        lung Hornung. Oder suchen
ratur für die jungen Leser                                        Sie mal nach einem der im-
diente.                                                           mer zahlreicher werden Bü-
„Das Glück der Erde le-                                           cherschränke (s. Foto), in
send erleben“, so lautet ein                                      die man Bücher kostenlos
von Danielle Cerovina im                                          hineinstellen kann, aber
Jahre 2019 erschienenes                                           auch mitnehmen darf.
Buch, in dem sie sich aus                                         Ich war zuletzt nicht er-
psychologisch-analytischer                                        staunt, die ganz zu Anfang
Sicht mit dem Wert sol-                                           erwähnten Büchertitel auch
cher Buchtitel näher befasst. Darunter insbe-   „auf eBay“ wieder zu finden: zwischen
sondere die immer wieder beliebten Mäd-         99 Cent und 1,70 € bezahlt man für solch ein
chen-Pferdebuchserien, angefangen von der       Buch noch. Na dann, nichts wie ran! Eine
Serie “Britta“ bis hin zu der wohl auflagen-    weitere gute Adresse, um sich schlau zu ma-
stärksten Serie „Ponyhof“ von Pippa Young.      chen, ist auch die website www.ZV A B.com:
Und die Jungen? Was haben die denn so ge-       Dort werden Sie alle Bücher sogar für etwas
lesen, außer den Karl May-Geschichten?,         Geld los. Doch wer diese beiden Wege
fragte ich mich. Mir ist persönlich noch ein    scheut, bringt seine Bücher gleich ins Sozial-
Buch, das mir meine Großmutter zur Erst-        kaufhaus Unna, das der Lindenbrauerei ge-
kommunion im Jahr 1955 geschenkt hatte, in      genüber gelegen ist.
guter Erinnerung geblieben: Heinz Helfgen,      Und Sie haben sich selbst ein ruhiges Gewis-
„Ich radle um die Welt“ (zweibändig). Wie       sen verschafft, indem Sie jemand anderem
habe ich die beiden Bände verschlungen (!),     damit eine Freude machen.
wohl gleich vier- oder fünf Mal hintereinan-    Fotos: Franz Wiemann
Herbst-Blatt              Nr. 99 06.2020                                          Erlebnis 16

                                Kaum zu glauben
                                    - von Anne Nühm -
Wer kennt nicht den Spruch „Das Geld            glaube ich nicht!“ Auf dem Pflastersteinen
liegt auf der Straße. Man braucht es nur        lag … wieder eine Münze. Wieder war es
aufzuheben“? Anne hat die Erfahrung ge-         ein Cent. Wie kann das sein? Ist vielleicht
macht, dass es wirklich so ist. Der Geburts-    ein Freund oder Bekannter vorweg gegan-
tag ihrer Enkelin stand bevor. Sie wollte       gen, der Anne überraschen wollte und wie
sich auf die Suche nach einem Geschenk          im Märchen „Hänsel und Gretel“ nicht mit
machen. Das große Regengebiet war               Steinen, sondern mit Geldstücken den Weg
durchgezogen, der Einsatz eines Regen-          weisen wollte? Das konnte nicht sein. Denn
schirms überflüssig und der Blick auf den       Anne hatte niemanden über ihr Vorhaben,
Gehweg frei. Kurz, nachdem sie ihre             in die Stadt zu gehen, informiert.
Wohnstraße verlassen hatte,
fiel ihr ein Ein-Cent-Stück
auf. „Ein Glücksbringer“ war
ihr erster Impuls. Sie hob die
Kupfermünze auf und steckte
sie in ihr Portemonnaie. Ihr
Weg in die Innenstadt machte
eine langgezogene Kurve.
Kurz nachdem sie diese hinter
sich gelassen hatte, glaubte
sie ihren Augen nicht zu trau-
en. Diesmal lag eine Fünf-
Cent-Münze am Wegrand.
Mit einem Lächeln hob Anne
auch diese auf und legte sie
ebenfalls in die Geldbörse.
Nun erreichte sie die Haupt-
verkehrsstraße, die direkt in die Stadt führ-   Sie betrat das erste Geschäft und machte
te. Sie nahm den Verkehr wahr und dachte        sich auf die Suche nach dem Geburtstags-
schon nicht mehr an ihren Fund. Aber dann       geschenk für ihre Enkelin.
geschah es! Alle guten Dinge sind drei.         Die Fundserie hatte damit ihr Ende gefun-
Diesmal war es wieder ein Cent, der vor         den. Denn Anne hat auf dem Heimweg
Anne auf dem Bürgersteig lag. Wenn ich          kein Geld mehr gefunden. Die insgesamt
davon erzähle, wird mir keiner glauben,         acht Cent, die sie an diesem Morgen gefun-
schoss es ihr durch den Kopf. Trotz der         den hat, haben sie nicht reich gemacht, aber
Skepsis konnte sie ihr Lächeln nicht zu-        in ihrem Glauben bestärkt, dass zwischen
rückhalten.                                     Himmel und Erde Dinge passieren, die
Eine andere Fußgängerin kam ihr entgegen        nicht zu erklären sind, aber trotzdem ge-
und beantwortete ihr strahlendes Gesicht        schehen.
mit einem Morgengruß.
                                                Foto: Andrea Irslinger
Nun war die Fußgängerzone erreicht und
die Suche nach dem Geburtstagsschenk
konnte beginnen. Aber dann … Nein, das
17 Poesie                                          Nr. 99 06.2020      Herbst-Blatt

                   Glück – in Ostfriesland gefunden
            Der Text zu dem Gedicht „Glück“ fand sich in Ditzum/Ostfriesland
                         im Aushang einer ehemaligen Gaststätte
                 und kann sicherlich in diesen Zeiten aufhellend wirken.

     Glück

     Glück ist gar nicht mal so selten,
     Glück wird überall beschert.
     Vieles kann als Glück uns gelten,
     was das Leben uns so lehrt.

     Glück ist jeder neue Morgen,
     Glück ist bunte Blumenpracht,
     Glück sind Tage ohne Sorgen,
     Glück ist, wenn man fröhlich lacht.

     Glück ist Regen, wenn es heiß ist,
     Glück ist Sonne nach dem Guss,
     Glück ist, wenn ein Kind ein Eis isst,
     Glück ist auch ein lieber Gruß.

                                                Glück ist Wärme, wenn es kalt ist,
                                                Glück ist weißer Meeresstrand,
                                                Glück ist Ruhe, die im Wald ist,
                                                Glück ist eines Freundes Hand.

                                                Glück ist eine stille Stunde,
                                                Glück ist auch ein gutes Buch,
                                                Glück ist Spaß in froher Runde,
                                                Glück ist freundlicher Besuch.

                                                Glück ist niemals ortsgebunden,
                                                Glück kennt keine Jahreszeit,
                                                Glück hat immer den gefunden,
                                                der sich seines Lebens freut.
                                                Verfasser unbekannt
                                                Fotos: Klaus Thorwarth, Andrea Irslinger
Herbst-Blatt              Nr. 99 06.2020                                               Heimat 18

                          Heimaterde und Corona
                                 - von Bärbel Beutner -

„Was auch immer werde,                          auf: Corona-Virus. Plötzlich kamen Mails
Steh zur Heimaterde!                            von russischen Freunden, es gebe Kontrol-
Treue gibt dir Kraft!“                          len an den Grenzen, das Virus breite sich
Wie oft haben wir dieses Lied aus Ostpreu-      aus, man solle eigentlich keine Reisen wa-
ßen auf unseren Tagungen gesungen! Ob es        gen. Ich telefonierte mit dem Busunterneh-
immer noch Menschen gibt, denen die Hei-        men, mit seinen Büros, schließlich mit dem
materde so viel bedeutet?                       Auswärtigen Amt. Werden die Busse fah-
Mitte Februar 2020 ging ein Telefonanruf        ren? Ist irgendetwas über die Situation an
ein. Ob dort die Kreisgemeinschaft Land-        den Grenzen bekannt? Nirgendwo gab es
kreis Königsberg sei, fragte der Anrufer.       eine verbindliche Auskunft. Die deutschen
Sein Anliegen: seine Mutter werde am 24.        Nachrichten wurden immer bedrohlicher ...
März 80 Jahre alt. Sie sei in Fischhausen       Nachfragen bei einer Freundin, die russi-
geboren und er, der Sohn, wolle ihr zum Ge-     sches Fernsehen hat ... Es kostete reichlich
burtstag eine Rose schenken, die in Heimat-     Nerven. Schließlich doch die planmäßige
erde eingepflanzt ist. Nur – er wisse nicht,    Abfahrt von Hannover und die Ankunft in
wie er die Heimaterde bekommen könne.           der Heimat am Sonntag, den 8. März.
Ob jemand nach Ostpreußen fahre, der viel-      An der Grenze bei Heiligenbeil ging es
leicht Erde mitbringen könne. Ich konnte        friedlich zu. Auf der polnischen Seite pas-
ihm mitteilen, dass ich in der letzten Febru-   sierte gar nichts, man sah auch keine Atem-
arwoche hinfahren wollte. Allerdings würde      schutzmasken. Auf der russischen Seite
ich es nicht bis nach Fischhausen schaffen,     stieg eine uniformierte Mitarbeiterin mit
aber aus Heiligenwalde könnte ich Erde mit-     Mundschutz in den Bus, bevor es zur Pass-
bringen.                                        kontrolle ging, und richtete ein Gerät zum
Daraufhin schilderte eine tränenerstickte       Fiebermessen, das an eine Pistole erinnerte,
Stimme die Bemühungen, die für dieses Ge-       an die Stirn der Fahrgäste. Es dauerte vielleicht
burtstagsgeschenk bereits unternommen           zehn Minuten, dann hieß es, alles sei gut.
worden waren: Anfragen bei Reisebüros und       Im russischen Fernsehen wurden die War-
bei Speditionsfirmen, bei verschiedenen In-     nungen vor der Seuche immer nachdrückli-
stanzen der Landsmannschaft – und nun sei       cher. Busse „aus Germania“ wurden nicht
das Ziel greifbar nahe – diese Überraschung     mehr ohne weiteres ins Gebiet gelassen, in
für die Mutter – eine Rose in ostpreußischer    ganz Russland durften keine deutschen
Erde …                                          Flugzeuge mehr landen, Israel hatte schon
Aber das Schicksal war gegen uns, gegen         vorher die Einreise für Deutsche verweigert.
mich und gegen den Sohn der Jubilarin. Als      Ich musste nun aber die „Mission Heimater-
ich am 22. Februar wie geplant mit dem Li-      de“ in Angriff nehmen. Es war nicht leicht,
nienbus von Hannover nach Königsberg            meiner Freundin und Gastgeberin das Anlie-
fahren wollte, gab es eine unheilvolle Kette    gen zu erklären; mein bescheidenes Rus-
von Verspätungen bei der Bahn, und in Han-      sisch führte zu einigen – erheiternden –
nover war der Bus weg. Neue Planungen,          Missverständnissen. Außerdem meinte es
neue Organisation, neue Absprachen mit          das Wetter nicht gut für das ganze Vorha-
dem Sohn. Der neue Reisetermin wurde auf        ben. Es regnete zeitweise in Strömen, auf
den 7. März gelegt, dann müsste die Überra-     den Feldern und Wegen gab es große Was-
schung bis zum 24. März noch klappen.           serlachen – eine Tüte Matsche wurde für
Nun zogen neue Wolken am Reisehimmel            mich zur Schreckensvorstellung.
19 Heimat                                             Nr. 99 06.2020   Herbst-Blatt

Die Heimaterde in einer Glasschale

Doch in einer Regenpause füllte meine         Atemschutzmasken, und die Pässe wurden
Freundin einen einfachen Blumentopf mit       mit Handschuhen angefasst. Die Passagiere
unserer Heiligenwalder Erde, und der sandi-   wurden nicht auf Fieber kontrolliert. Das
ge Boden war keineswegs matschig, sondern     geschah auf der polnischen Seite zweimal
locker und weich. Es fand sich eine Kaffee-   auf unheimliche Weise. Eine von oben bis
dose aus Blech, die gut zu transportieren     unten in einen knisternden Schutzanzug ein-
war. Die bange Frage, was wohl bei einer      gehüllte Gestalt, ohne Gesicht, nur mit einer
Kontrolle an der Grenze geschehen werde,      großen Maske, richtete das Fiebermessgerät
schaltete meine Freundin energisch aus.       auf die Stirn der Reisenden. Das Gepäck
„Dann sagst du eben, das wäre für eine alte   wurde nicht kontrolliert. Die heilige Heimat-
Frau, die einmal hier gelebt hat. Sie will    erde, in einer harmlosen Kaffeedose in die
noch einmal ihre Heimaterde berühren. Die     EU überführt, sollte wohl ihre Mission er-
russischen Menschen haben denselben           füllen dürfen: ein besonderes Geschenk wer-
Wunsch!“                                      den, Menschen glücklich machen, alte
Die Stunden bis zu meiner Abfahrt am          Schmerzen lindern …
12. März aber sollten sich noch aufregend     Als der große Geburtstag am 24. März da
gestalten. Plötzlich war die Rede davon,      war, hatte sich die ganze Welt verändert.
dass eventuell die Grenzen dichtgemacht       Ausgangssperre, Kontaktsperre weltweit,
würden wegen Corona – kollektive Angst        alle Geschäfte und Lokale geschlossen, alle
bei den russischen Freunden, ob ich noch      Veranstaltungen abgesagt. Es fand auch kei-
sicher in den Westen käme – und dann noch     ne Geburtstagsfeier statt, aber ein besonde-
das Risiko mit dem Transport der ostpreußi-   rer Geburtstag wurde es mit Sicherheit. Eine
schen Erde …                                  Rose wurde auch nicht gepflanzt. Die Hei-
An der Grenze sah es anders aus als bei der   materde blieb unberührt.
Hinfahrt wenige Tage vorher. Auf der russi-
                                              Foto: Bernd Glatzer
schen Seite trugen die Beamten draußen
Herbst-Blatt              Nr. 99 06.2020                                           Natur 20

                                 Die Turteltauben
                                   - von Benigna Blaß -
                  Die Turteltaube, Vogel des   denen Samen gefüttert, wie Klee, Vogelwi-
                Jahres 2020, sieht ganz an-    cke und Wolfsmilch. Auch Samen von Bäu-
            ders aus als unsere Tauben auf     men verschmähen sie nicht. Sind die Küken
      dem Marktplatz in Unna.                  flügge, so fressen sie auch Sonnenblumen-
Die Turteltauben bekamen ihren Namen           kerne, Raps- und Weizensamen. Sie fliegen
nach ihren Gesängen: dem zarten turrr-turrr-   mit den Eltern in den Süden und werden
turrr Gurren. Sie haben wie alle Tauben eine   erst im nächsten Jahr geschlechtsreif.
rundliche Gestalt mit einem kleinen Kopf,      Weltweit gibt es 300 Taubenarten aus 42
sind nur 25–28 cm groß, also viel kleiner      Gattungen, die meisten leben in den Tropen.
und schlanker und haben ein farbenfrohes       In Deutschland gibt es nur fünf heimische
Gefieder, einen gestuften dunklen Schwanz      Arten.
mit weißen Enden, die Flügel sind spitz zu-    Viele Tauben sind ausdauernde Flieger und
laufend, rostbraun mit schwarzen Federmit-     haben etwas Besonderes, sie finden immer
ten, die Halsseiten haben jeweils einen        wieder nach Hause. Tauben spielten seit eh
schwarz-weiß gestreiften Fleck, Brust und      und je eine große Rolle: Sie brachten einen
Kehle sind zart rosa, die Augen sind von ei-   Ölzweig zur Arche Noah, wurden als Bo-
nem rötlichem Lidring umrandet. Männchen       tentauben an Wachtürmen gehalten und als
und Weibchen kann man kaum unterschei-         Liebes- und Friedensboten verehrt. Auch
den.                                           die alten Griechen und Römer haben schon
Die Turteltauben sind die einzigen
Tauben, die ins Winterquartier nach
Süden ziehen, sie sind richtige Leis-
tungsfliegerinnen.
Ende April kommen sie aus ihren afri-
kanischen Überwinterungsplätzen in
ihre angestammten Brutgebiete, den
Auenwäldern, Waldsäumen und Lich-
tungen zurück. Es ist merkwürdig,
dass sie im Herbst nachts fliegen und
im Frühling tagsüber zurückkommen.
Fast tausend Vögel haben sich vorher
am Senegaldelta gesammelt und sich
Reserven angefressen, um den langen
Flug zu überstehen. Haben sich die
Paare nach einer interessanten Flug-
schau gefunden, schnäbeln sie lange
und bleiben dieses Jahr treu zusam-
men. Sie suchen ein dichtes Gebüsch
und bauen ein flaches Nest, in das das
Weibchen bis Juli zwei Mal je zwei
Eier legt.
Sind die Kleinen nach 13–16 Tagen
geschlüpft, so werden sie 18–23 Tage
von beiden Elternteilen mit verschie-
21 Natur                                                             Nr. 99 06.2020   Herbst-Blatt
Tauben gezüchtet. In der Schweizer Armee
gab es sogar eine Brieftaubeneinheit.                           Ohrwurm und Taube
Von Picasso gibt es etwa 100 Zeichnungen                        Joachim Ringelnatz
von Tauben, im April 1949 die erste bei
dem Weltfriedenskongress in Paris. Er                           Der Ohrwurm mochte die Taube nicht leiden.
zeichnete jedes Jahr für den Kongress eine                      Sie haßte den Ohrwurm ebenso.
neue Taube. Erst 1952 bekam sie einen                           Da trafen sich eines Tages die beiden
Zweig in den Schnabel, und wurde als Frie-                      in einer Straßenbahn irgendwo.
denstaube bezeichnet, es ist wohl das be-
kannteste Bild.                                                 Sie schüttelten sich erfreut die Hände
Im Ruhrgebiet, bei vielen Bergmannsfami-                        und lächelten liebenswürdig dabei
lien, waren Brieftaubenzüchter zu finden.                       und sagten einander ganze Bände
Diese Tauben wurden auch das Pferd des                          von übertriebener Schmeichelei.
kleinen Mannes genannt. Leider wird auch                        Doch beide wünschten sie sich im stillen,
dieses Hobby immer weniger ausgeübt.                            der andre möge zum Teufel gehen,
Viele Dichter haben Gedichte über diese                         und da es geschah nach ihrem Willen,
Vögel geschrieben: Goethe: „Adler und                           so gab es beim Teufel ein Wiedersehn.
Taube“, Ringelnatz: „Ohrwurm und Tau-
be“, Salis-Seewis (1762) „Noahs Taube“.
Zeichnung: Andrea Irslinger, Foto: Jonathan Cannon/pixabay.de

                                      Hätten Sie es gewusst?
                                             Nelkenöl
                                               - von Benigna Blaß -

     Wussten Sie, dass Mücken und Wes-
     pen den Geruch des Nelkenöls nicht
     mögen? Im Sommer sitzt man gerne
     im Freien, doch die Mücken auch.
     Reiben Sie Fußenkel, Kniekehlen und
     Handgelenke mit etwas Nelkenöl (in
     der Apotheke erhältlich) ein, und keine
     Mücke wird Sie belästigen.
     Spicken Sie eine Zitronen- oder Apfel-
     sinenscheibe mit Nelken, legen diese
     auf einen Teller und dann auf Ihren
     Gartentisch. Keine Wespe kommt.
     Foto: Benigna Blaß
Herbst-Blatt               Nr. 99 06.2020                                            Technik 22

                                 Opa klärt auf
                       Heute: Opa erklärt das Ergometer
                                      - von Christian Modrok -

An einem regnerischen Tag, noch vor der          chung der physikalischen Belastbarkeit der
Corona-Pandemie, kam Olaf mit seinem             Patienten an, dann aber in Kombination mit
Schulfreund Tim in den Mittagsstunden zu         einem EKG-Gerät. „Opa, darf ich auch mal
seinen Großeltern und fragte, ob Tim hier        treten?“ Das war doch mehr als selbstver-
bleiben könne, bis seine Eltern von der Ar-      ständlich, dass Opa es erlaubt. Er hat nur den
beit kämen. Großmutter gestattete es sofort,     Sattel etwas tiefer eingestellt, damit die et-
denn sie kannte ja schon den Tim. Beide be-      was kürzeren Beine noch die Pedale errei-
kamen auch sofort ein Butterbrot und eine        chen. Dann ging es los. Als Olaf zu treten
Tasse Tee.                                       begann, rief er mit Begeisterung aus: „Das
Der Großvater schaute freundlich drein und       ist ja wie beim richtigen Fahrrad.“
fragte nur so quasi nebenbei, wie es in der      Ohne den Opa zu fragen, sagte er zu Tim:
Schule ging und ob es Probleme gab. Olaf         „Und jetzt probiere du mal.“ Etwas zöger-
antwortete natürlich: „Gut, alles gut“. Der      lich, mit fragenden Augen, setzte sich Tim
Großvater fragte die Buben, ob sie nicht jetzt   aufs Rad. Als der Großvater freundlich nick-
schon einen Teil ihrer Hausaufgaben machen       te, verlor er die Scheu und fing an zu treten.
möchten. Beide nickten zwar mit ihren Köp-       Auch in Tims Augen sah man eine
fen, Tim wohl aus Höflichkeit, aber Olaf oh-     Begeisterung.
ne Begeisterung. Der alte Herr kennt ja seine    Jetzt erst sah Olaf, dass das Ergo-
Angewohnheiten und hat ihn durchschaut.          meter nicht nur ein Gestell mit
Während der Aufgaben wanderten Olafs Au-         Pedalen ist, sondern noch ein
gen in der Wohnung umher auf der Suche           Display hat. „Opa, erkläre uns
nach einem interessanten Objekt.                 bitte, was auf dem Display zu
Der alte Herr aber ließ nicht locker. Immer      sehen ist.“ „Also, jetzt setze dich
wieder ermahnte er Olaf zur Aufmerksam-
keit, versprach aber, sofort nach den Mathe-
aufgaben seine Neugier zu stillen. Der
Großvater schaute den Buben diskret über
die Schultern zu, sagte aber nichts. Er
stellte nur fest, dass die Aufgabenstellun-
gen früher etwas anders aussahen.
Die Hausaufgaben waren fertig. Olaf
rutschte vom Stuhl runter, ging gerade-
aus zum Ergometer und fragte den
Großvater, ob er noch auf diesem ko-
mischen Fahrrad fährt. Der alte Herr
erklärte, dass, wenn es draußen länge-
re Zeit kein Wetter zum Radfahren
gibt, er sich eben auf dieses Gerät
setzt, um die Beine und damit auch
den Blutkreislauf zu bewegen. Und es
sei für jedes Alter gut. Man findet es
auch in den sogenannten Mucki-Buden.
Ärzte wenden diese Geräte zur Untersu-
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