Nr. 99 Juni - Juli - August 2020 - SOMMERZEIT - Kreisstadt Unna
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MAGAZIN FÜR UNNA Juni – Juli – August 2020 Nr. 99 SOMMERZEIT AUSSERDEM IN DIESER AUSGABE: HEIMATERDE UND CORONA • ELSE LASKER-SCHÜLER RETTER DER STADT • DER KÖLNER DOM
Herbst-Blatt Nr. 99 06.2020 Editorial 2 Inhalt Liebe Leserin, lieber Leser! 3 Also sprach der Esel: Auch wir waren gezwungen, andere Wege „Befolgt die Anordnung der Behörden!“ zu gehen, damit dieses Heft erstellt werden 4 Ein Morgen auf dem Bahnsteig kann. Statt der sonst üblichen Treffen in- oder: Wer ist Else Lasker-Schüler? nerhalb des Redaktionsteams haben wir 6 Retter der Stadt uns zum Austausch aller Ideen und Text- 8 Der Kölner Dom vorschläge per E-Mail entschieden. Und so 9 Es ist wieder passiert haben Sie mit diesem Heft zum ersten Mal 10 Unna – ein merkwürdiger Name ein fast „elektronisches Papier“ vor sich 11 Erinnerungen liegen. Ohne jetzt in das allgemeine Weh- 12 Geh aus, mein Herz und suche Freud klagen der Epidemie-Geschädigten einfal- Paul Gerhardt (1607–1676) len zu wollen, geht‘s hier gleich „in medias 14 Wohin mit all den Büchern? res“. 16 Kaum zu glauben Bekannt dafür, immer wieder Berichtens- 17 Glück – in Ostfriesland gefunden wertes und Bemerkenswertes in einem eini- 18 Heimaterde und Corona germaßen ausgeklügelten Verhältnis zuei- 20 Die Turteltauben nander zu Papier zu bringen, konnten wir 21 Hätten Sie es gewusst? Nelkenöl die gewohnten Kolumnen füllen. Ob nun 22 Opa klärt auf Historisches zur Entstehung des Stadtna- Heute: Opa erklärt das Ergometer mens Unna, literarisch Wertvolles über die 24: Teppiche fördern die Bildung deutsche Dichterin Else Lasker-Schüler Ägypten oder zum Schmunzeln bringende Einzeler- lebnisse: Fühlen Sie sich ganz einfach von uns unterhalten. Impressum Erneut ist uns also ein Mix aus Ernstem bis Herausgeberin: Kreisstadt Unna Nicht-Ernstem gelungen. Dabei steuern wir Hertinger Straße 12 59423 Unna unaufhaltsam auf die Jubiläumsausgabe Tel.: 02303/256903 vom Herbst-Blatt zu: Heft Nr. 100 soll ei- Internet: www.unna.de/herbstblatt/ nen würdigen Rahmen kriegen, der sich V.i.S.d.P: Dr. Bärbel Beutner nicht nur an einem leicht erweiterten Um- Internet: Marc Christopher Krug fang bemessen lässt. In dem Zusammen- Redaktion: hang würden wir uns, liebe(r) Leser/in, Andrea Irslinger, Bärbel Beutner, Benigna Blaß, Brigitte Paschedag, Christian Modrok, Franz Wiemann, weiterhin über einen schriftlichen Beitrag Ingrid Faust, Klaus W. Busse, Klaus Thorwarth, Ihrerseits freuen. Der kann als Leserbrief, Reinhild Giese, Ulrike Wehner als Kommentar oder auch als eine aus ganz Seniorenarbeit Kreisstadt Unna: Linda Brümmer persönlicher Sicht verfasste kleine Ge- Seniorenarbeit Fäßchen: Markus Niebios schichte geschrieben sein. Titelfoto, Tagpfauenfalter: Franz Wiemann Gestaltung: Andrea Irslinger Aber beeilen Sie sich bitte: Mit diesem Druck: WIRmachenDRUCK Heft liegt bereits die Nummer „99“ vor GmbH, Backnang Ihnen. Übrigens: Falls Sie doch noch einen Fehler entdecken, schieben Sie es ganz einfach auf Das nächste das Coronavirus! mit der Nr. 100 erscheint im September 2020! Im Namen der Redaktion Franz Wiemann
3 Meinung Nr. 99 06.2020 Herbst-Blatt Also sprach der Esel: „Befolgt die Anordnung der Behörden!“ Freunde, ich vermisse euch. Schon lange und sagte, dass es nur die Menschen be- geht mein Freund und Treiber nicht mehr trifft. Aber zu meiner Beruhigung hat er mit mir durch die Straßen unserer schönen mir die Füße mit einem Desinfektionsmittel Heimatstadt Unna. Die Nachrichten über eingesprüht und im Eingang zu meinem die Verbreitung des Corona-Virus hat unser Stall eine mit dem Mittel getränkte Matte Verhalten geändert. Jetzt erkennt man in hingelegt. Dass er mit mir nicht mehr durch meinem Freund den disziplinierten Men- die Stadt gehen will, hat auch seinen schen, der für das Wohl der Gesellschaft Grund. Er meint, dass dadurch, dass ich ohne zu Murren die Anordnung der Behör- unterwegs von vielen Freunden gestreichelt werde, ich mit meinem Fell Krankheitserreger übertragen könnte. Auch striegelt er jetzt länger mein Fell, putzt meine Hufe und mein Riemen- zeug. Der Gesichtsausdruck meines Freundes macht mir Sorgen. Der von Na- tur schon wortkarge Mensch redet noch we- niger. Ich hoffe, dass ihm die freiwillige Qua- rantäne nicht schlecht bekommen wird. Wenn wir uns nicht gerade un- terhalten oder Essen zu- den befolgt. Wir bleiben zu Hause. Jeden bereiten, setzt er sich an seinen Computer. zweiten Tag schleicht er früh morgens in Er sucht Neuigkeiten im Internet oder den nahegelegen Supermarkt um etwas zu pflegt E-Mail-Kontakt mit Freunden. essen zu holen. Nach seiner Rückkehr Trotz aller Widerwärtigkeiten für den Ein- wäscht er sich länger als sonst die Hände zelnen, können wir nur gemeinsam durch und reinigt auch die Henkel der Einkaufsta- striktes Befolgen der Anordnungen der Be- sche und das Portemonnaie. Große Vorrats- hörden die Pandemie bewältigen – sagt einkäufe macht er nicht. Er vertraut den mein Freund. Behörden, die eine genügende Versorgung von Lebensmitteln versprochen haben. Wir Herzlichst, möchten nicht anderen Menschen etwas Ihr Balduin wegnehmen und möglichst frische Ware Zeichnung: Klaus Pfauter, einkaufen. Foto: pixabay.de Ich fragte meinen Freund, ob er mir nicht auch die Hufe waschen wird. Er lächelte
Herbst-Blatt Nr. 99 06.2020 Kultur 4 Ein Morgen auf dem Bahnsteig oder: Wer ist Else Lasker-Schüler? - von Brigitte Paschedag - Ein verregneter kühler Morgen auf einem reichen Liebesgedichten. Zu ihren Freunden Bahnsteig in Hamm. Angesagt wird der ICE gehörte auch Franz Marc. Zwischen beiden „Else Lasker-Schüler“ nach Berlin. Ein jun- entwickelte sich ein reger Briefwechsel, bei ger Mann fragt: „Wer ist denn Else Lasker- dem Else Lasker-Schüler sich das Pseudo- Schüler? Den Namen habe ich ja noch nie nym „Prinz Jussuf von Theben“ zulegte und gehört.“ Die unfreiwillige Zeugin denkt: Franz Marc der „Blaue Reiter“ war. 134 die- „Das ist aber traurig. Das weiß man doch! ser Briefe sind erhalten. Außer ihrer schrift Deutsch-jüdische expressionistische Dichte- rin aus Wuppertal, Gedichte und Balladen, Novellen und das Schauspiel „Die Wupper.“ Das ist aber auch schon alles, was ihr ein- fällt. Also mal schnell wieder runter vom ho- hen Ross. Das Lexikon weiß auch nicht mehr. Aber jetzt ist ihr Interesse geweckt und sie beschließt, sich genauer zu informieren: Elisabeth Lasker-Schüler ist das 6. Kind von Jeanette Schüler, geb. Kissing und Aaron Schüler, einem jüdischen Privatbankier. Bei- de spielten später eine wichtige Rolle in ih- ren Werken. Geboren wurde Else am 11. Februar 1869 in Elberfeld, heute Wup- pertal. Da sie bereits mit vier Jahren lesen und schreiben konnte, galt sie als Wunder- kind. Sie besuchte zeitweise ein Gymnasium und erhielt später Privatunterricht im Haus ihrer Eltern. 1894 heiratete sie den Arzt Paul Lasker und zog mit ihm nach Berlin. Die Zeit in Berlin bezeichnete sie als ihre persönliche „Vertreibung aus dem Paradies“. Am 24. Au- gust 1899 wurde ihr Sohn Paul geboren. Im gleichen Jahr trennt sie sich von ihrem Ehemann und heiratet Georg Lewin. Schon früh hatte sie begonnen, sich als Schriftstelle- rin zu betätigen. Als ihr Hauptwerk gilt das Schauspiel „Die Wupper“, das schlaglichtar- tig die Geschichte zweier Familien beleuch- tet. Seit dem Erscheinen ihres Gedichtbandes Lasker-Schüler in ihrem orientalischen Kostüm „Meine Wunder“ galt sie als führende deut- als „Prinz Yussuf“ (1912) sche Expressionistin. Auch ihre zweite Ehe wurde geschieden, und sie hatte eine Zeit stellerischen Tätigkeit zeichnete und malte lang kein eigenes Einkommen. Ihre Freunde sie auch. Der Tod ihres Sohnes Paul stürzte Karl Kraus und Gottfried Benn halfen ihr. sie in eine schwere Krise. Davon zeugt ihr Ihre Beziehung zu Benn spiegelt sich in zahl- Gedicht:
5 Kultur Nr. 99 06.2020 Herbst-Blatt An mein Kind nur schlecht zurecht. Der Konflikt zwischen Immer wieder wirst du mir Juden und Arabern belastete sie immer mehr. Im scheidenden Jahre sterben, mein Kind. Da sie sich jetzt meistens als Prinz Jussuf Wenn das Laub zerfließt verkleidete, setzte sie sich zunehmend dem Und die Zweige schmaler werden. Spott der Intellektuellen in Jerusalem aus. Mit den roten Rosen Ihre Vorlesungen und Vorträge wurden ver- Hast du den Tod bitter gekostet… boten, da sie sie auf Deutsch hielt, was sie mit den Worten: „Wo immer ich war, darf 1932 erhielt sie den „Heinrich-von-Kleist- man kein Deutsch sprechen“ beklagte. Ihre Preis. Nach der Machtergreifung Hitlers sah letzte Veröffentlichung war „Mein blaues sie sich gezwungen Deutschland zu verlas- Klavier“, ein Band mit 32 Gedichten, den sie sen. Sie ging nach Zürich, hatte dort aber ihren Freunden aus Deutschland widmete, Schreibverbot. In den Jahren 1934, 1937 und die inzwischen über die ganze Welt verstreut 1939 reiste sie nach Palästina, in ihr soge- lebten. Der Untertitel heißt denn auch nanntes „Hebräerland“. Da ihr inzwischen „Abschied von meinen Freunden. die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt worden war und der 2. Weltkrieg begonnen Mein blaues Klavier hatte, konnte sie nicht nach Zürich zurück. Ich habe zu Hause ein blaues Klavier Deshalb blieb sie in Palästina. Sie lebte in Und kenne doch keine Note. Jerusalem in einem Haus in Rechavia, einem Es steht im Dunkel der Kellertür, noch heute von vielen deutschstämmigen Ju- Seitdem die Welt verrohte. den bewohnten Stadtteil. Durch eine „Ehren- Es spielten Sternenhände vier rente“ war ihr Auskommen einigermaßen ge- - Die Mondfrau sang im Boote - sichert. Mit der Situation in Palästina kam sie Nun tanzen die Ratten im Geklirr. Zerbrochen ist die Klaviatur ... Ich beweine die blaue Tote. Ach liebe Engel öffnet mir - Ich aß vom bitteren Brote - Mir lebend schon die Himmelstür - Auch wider dem Verbote. Eines ihrer letzten Lebenszeichen war die Bitte an die Alliierten, ihre Heimatstadt Wuppertal nicht zu bombardieren. Else Las- ker-Schüler starb am 22. Januar 1945 und wurde auf dem Ölberg in Jerusalem begra- ben. Sie hinterließ ein großes Lebenswerk aus Dramen, Prosawerken, Skizzen und Er- zählungen. Die Stadt Jerusalem errichtete ihr ein Denk- mal, das von dem Gedicht „Gebet“ inspiriert war: Ich suche allerlanden eine Stadt, die einen Engel an der Pforte hat. Ich trage seinen großen Flügel Gebrochen schwer am Schulterblatt Und in der Stirne seinen Stern als Siegel Engel für Jerusalem, Else-Lasker-Schüler-Denkmal bei Jerusalem (2007) Fotos: Gila Brand/wikipedia.de
Herbst-Blatt Nr. 99 06.2020 Geschichte 6 Retter der Stadt - von Klaus Thorwarth - Mit meiner Frau besuchte ich vor Jahren Gegen den Führerbefehl setzte er durch, die schöne Stadt Gotha in Thüringen. dass die historische Stadt vor umfangrei- Mit Erschütterung denke ich an das Schick- chen Zerstörungen bewahrt und so viele sal eines Helden, des Retters dieser Stadt in Bewohner gerettet wurden. Am 4. April den letzten Kriegstagen, also vor 75 Jahren. 1945 übergab er den Alliierten die Stadt Es handelt sich um den Stadtkommandan- kampflos. Am gleichen Tag wurde er vom ten, den Oberstleutnant Josef Ritter von deutschen Militär verhaftet und am folgen- Gadolla. den Tag in Weimar standrechtlich erschos- sen. Seine letzten Worte waren: „Damit Gotha leben kann, muss ich sterben“. Bis in die 90er Jahre galt der hoch deko- rierte Soldat als Deserteur, wurde dann aber rehabilitiert und von der Stadt post- hum als Ehrenbürger ausgezeichnet. Es gibt zahlreiche Städte, die durch die hel- denhafte Aufopferung mutiger Menschen vor völliger Zertörung erhalten blieben. Ei- nige Beispiele: Düsseldorf, Greifswald, Rinteln, Bad Pyrmont, ja sogar Paris. Gotha
7 Geschichte Nr. 99 06.2020 Herbst-Blatt Natürlich fragte ich mich, was in Unna in digungsaufruf nicht durch. Doch zu einem den letzten Kriegsjahren geschehen war. Abzug der Truppen konnten Bürgermeister Wem haben wir zu verdanken, dass unser Hohendahl und Landrat Dr. Grotjan den Wahrzeichen, die Stadtkirche, nicht zer- Kommandanten nicht bewegen. stört wurde? Amerikanischen Truppen kämpften sich Auch zu dieser Frage fand ich unter den immer näher an die Stadt heran, wobei eine Vorträgen der Unnaer Geschichtswerkstatt militärisch sehr unübersichtliche Lage ent- umfangreiches Material. stand. Die Situation der Stadt Unna, die in einem Am 10. April setzte sich dann doch wegen großen Kessel von den Allierten von Osten der Übermacht der US-Truppen in aus- und Norden angegriffen wurde, war sehr sichtsloser Lage der Kommandant mit sei- gefährlich. Schließlich gab es hier die SS- nen Truppen nach Südwesten ab. Kaserne an der Iserlohner Straße mit hun- Die angeforderten Bombenflugzeuge zur derten Soldaten. Es drohte der Führerbe- vollen Zerstörung der Stadt wurden umge- fehl, die Stadt als Festung bis aufs äußerste leitet, weil Unna von den Amerikanern zu verteidigen. weitgehend eingenommen war und grell- Im März zerstörten bereits Bomberge- farbige Tücher auf den Dächern ausgelegt schwader ganze Straßenzüge der Innen- wurden. stadt. Am 11. April um 12.15 Uhr kapitulierte die Auch die Stadtkirche erlitt in den letzten Stadt. Um 14.30 Uhr meldeten die US- Kriegstagen heftige Schäden. Truppen, die Stadt sei „feindfrei“. Es gab wenig Hoffnung. Zwar führte der Fotos: Klaus Thorwarth SS-Kommandant Schäfer die angeordnete Sprengung der Kasernen sowie den Vertei-
Herbst-Blatt Nr. 99 06.2020 Architektur 8 Der Kölner Dom - von Klaus Busse - Verlässt man den Kölner Hauptbahnhof ein- Jugend weiter. Auch die wurde über dem mal nicht durch den Seitenausgang, sondern ständigen Gebaue wiederum alt und durch die große Eingangshalle, dann steht man schwach, so dass ihre Kinder auf dem Plan plötzlich erstaunt vor einem Kleinod deutscher traten: hämmernd wie die Väter, buddelnd Gotik: dem Kölner Dom. Seine Entstehung wie die Großväter und deren Vorfahren. weist in das frühe Mittelalter zurück. Schließlich kam dann im Jahr 1880 der gro- Als im Jahr 1164 die Reliquien der Heiligen ße Tag: Der Dom war fertig. Innen hohl und Drei Könige nach Köln gebracht wurden, soll von außen mit zwei großen Türmen verse- der sagenhafte Erzbischof von Dassel den hen, genauso, wie es sich damals der Bischof Gedanken geäußert haben, dass es doch sinn- auf dem Totenbett wohl gewünscht hatte. voll wäre, in Köln einen neuen Dom in Ge- Vor seiner endgültigen Inbetriebnahme im stalt einer gotischen Kirche zu errichten. Jahr 1888 heißt es, sei ein Steinmetz zweifelnd durch das säulenumstandene, hoch aufragende Mittelschiff gegangen. Er hätte ein um das an- dere Mal vor sich hin gemurmelt: „Ob sich die ganze Plackerei wohl auch gelohnt hat?“ Wer immer heute vor dem Kölner Dom steht, wird aus ganzem Herzen in das zö- gernde „Freilich!“ einstimmen. Und ähnlich soll ein mitleidiger Kardinal schon seinerzeit die Bedenken des wackeren Steinmetzes zu verstreuen versucht haben. Aus religiöser Pietät wird hier sein tatsächlicher Name weggelassen. Hinterlassen wurde jedoch sein Spruch: „Gott vergib mir meine Schuld, mei- Kölner Dom 1880 vollendet ne Gläubiger weigern sich!“ Eine andere in Köln zirkulierende Weisheit Keine 100 Jahre später war es dann soweit. lautet: „Wenn der Dom fertig ist, geht die An einem nebligen Novembertag des Jahres Welt unter!?“ – Zum Glück gibt es, wie all- 1255 – die Grundsteinlegung war schon einige seitig aufragende Gerüste beweisen, immer Jahre vorher erfolgt – versammelte sich auf noch etwas zu reparieren. dem Domplatz eine Menge baulustiges Volk, Quellen: Arge-Bote, Zeichnung: wikipedia.de, um das Projekt endlich in Angriff zu nehmen. Foto: Thomas Wolf/wikipedia.de Was dann geschah, beschreibt ein Chronist fol- gendermaßen: „Sie lärmten und schwärmten, sie sägten und hegten, sie hieben und trieben und siehe da: als sie das eine Woche lang getan hatten, waren sie alle ganz schön müde.“ Dieser Geist verließ die Kölner Dombauer auch während der nächsten Jahrhunderte nicht. Das Gebuddel und Gehämmer ging selbst nach einer Unterbrechung von nahezu 300 Jahren weiter: Der Stadt war nämlich zwischenzeitlich das Geld ausgegangen. Ganze Generationen starben wie die Fliegen an Altersschwäche, doch sie gaben die Fa- ckel der Begeisterung an die nachfolgende
9 Erlebnis Nr. 99 06.2020 Herbst-Blatt Es ist wieder passiert von Ulrike Wehner Ja, es passiert immer wieder: Mein Mann tete: „Das erledigt meine Frau, meine Haare bemerkt Passanten, oft Kinder, in einer Situ- wachsen genau wie Ihre.“ „Ja, meinem ation, die für andere belanglos und alltäglich Mann schneide ich auch die Haare zwi- erscheint. Er bringt so gern weinende Kin- schendurch, aber an meine Frisur lasse ich der mit traurigem oder brummigen Gesicht ihn besser nicht ran.“ Dann schien mein wieder zum Lachen. Die Eltern machen Mann die Lösung gefunden zu haben, in meistens begeistert mit: Fröhlich trennen dem er ihr den Rat gab, sie könne doch zu wir uns wieder. Wie schön ist dann auch ein einem anderen Friseur gehen. Wiedersehen. Daran hätte sie auch schon Die letzte Geschichte dieser gedacht, nur wenn sie 10 Art gewinnt eine ganz unge- Mal bei diesem Friseur Kun- wöhnliche Aktualität in die- din war, bekäme sie einen sen Tagen, in denen uns die Haarschnitt kostenfrei. Bewältigung der Corona- Nun brachte ich mich ins Krise heftig im Griff hat. Spiel. „Können Sie nicht Bei unseren Besorgungen in morgen wiederkommen?“ der Stadt fiel mir zunächst Das hielt sie für das Beste eine Frau vor einem Friseur- und schloss sich uns an auf laden nicht auf. Aber mein unserem weiteren Weg. Ich Mann sprach sie an, weil sie setzte die Unterhaltung fort ganz verwirrt vor der Ein- mit der Bemerkung, dass ich gangstür des Salons stand. Sie das Angebot des Friseurs nur erzählte denn auch bereitwil- von Bäckerläden kenne. Da lig, was sie so unmutig ma- bekommt man ein Brot ge- che: „Es ist Donnerstag und schenkt für eine volle Stem- ich will mir die Haare schneiden lassen, aber pelkarte. Einen Stempel auf die Karte erhält hier auf dem Zettel steht, dass der Betrieb man für einen Einkauf ab 4,- €. Die meisten heute geschlossen ist. Ich finde nirgends ei- Brote kosten aber nicht 4,- €, das heißt, zu ne Erklärung?“ Mein Mann studierte die In- einem Brot muss man immer noch etwas formation in der Klarsichthülle und meinte: dazu kaufen, um den Betrag zu erreichen. „Das sind wohl die neuen Öffnungszeiten“, Unsere Begleiterin wandte ein: „Bei man- und pflichtete ihr dann bei: „Ja, merkwür- chen Bäckereien zählt aber nicht Kuchen dig, ich weiß, dass die Friseure doch immer dazu“ und klärte uns über weitere Unter- montags ihren Laden geschlossen halten, schiede in den entsprechenden Läden auf. weil sie samstags länger geöffnet haben. Und schon waren wir beim Thema, wie die Aber, gute Frau, Ihre Frisur sitzt doch wun- Verbraucher sich heutzutage manipulieren derbar, warum wollen Sie eine neue?“ lassen. „Oh, danke schön, der Friseur soll mir auch Wir hätten unser Gespräch gern noch eine nur die Haare im Nacken etwas kürzen, da Weile fortgesetzt, aber es war so kalt und wachsen sie immer viel schneller, jetzt hän- wir hatten immer noch unsere Besorgungen gen sie mir so lang auf dem Kragen“. Sie zu machen, jetzt allerdings angeregt und gut drehte sich um, dass wir ihr Problem erken- gelaunt. nen konnten. Mein Mann wies auf seinen Foto: Gerhard Giebener/pixelio.de Nacken und erklärte, indem er auf mich deu-
Herbst-Blatt Nr. 99 06.2020 Geschichte 10 Unna – ein merkwürdiger Name - von Klaus Thorwarth - Wer kennt die Frage nicht: Stadt in Westfa- die „Onomastik“. Die ältesten Namen (vor len mit vier Buchstaben? über 2000 Jahren) sind die der Flüsse (Mosel Gesucht ist natürlich Unna. Und das merkt – mosella), später die der Städte (Köln – man sich für das nächste Kreuzworträtsel. Colonia agrippina). Zuletzt entstanden unsere Kaum eine Stadtführung vergeht, in der nicht Familiennamen vor etwa 700 Jahren. gefragt wird nach Herkunft und Bedeutung Die frühesten Überlieferungen des Namens des Namens „Unna“. Unna finden sich in einer Arbeit von Dr. Mi- Sogar bei einem Besuch in St. Wendel/ Saar- chael Flöer in dem „Historischen Porträt der land wurde ich darauf angesprochen.. Stadt Unna“, Band 1, Seite 41. Die dortigen Heimatfreunde berichteten, dass Sie gehen zurück bis auf das Jahr 1000 und in ihrer Gegend der Begriff „unnern“ be- haben verschieden Schreibweisen. kannt sei. Das bedeutet etwa „Lasst Man findet hier, dass der sprachlich uns hier niederlassen“. alte, wohl schon in germanischer Aber selbst bei Google findet Zeit entstandene und schwer man nichts zu dem Bericht zu durchschauende Name aus dem Saarland. auf einen Gewässer- Die frühesten Niederlas- Namen zurück zu führen sungen unserer Vorfahren ist. Auch das „a“ am En- brauchten Weide, Wald, de von Unna deutet auf Wild, Wege und das le- fließendes Wasser. bensnotwendige Wasser. Weniger ernst zu nehmen Für den Bedarf an Wegen sind die Erklärungen in lag Unna ideal: Neben der der „Westfälischen Ge- bedeutenden West-Ost-Route, schichte“ des Johann Die- dem Jahrhunderte alten Hellweg, Zweites Siegel der derich von Steinen (1755). Sie gab es auch eine Nord-Süd- Stadt Unna 1390 wurden wie üblich von nachfolgen- Verbindung. Über den Wasser- den Historikern immer wieder über- Reichtum der Hellweg-Stadt wurde immer nommen. wieder spekuliert. Es heißt da: Viele Täler vom Haarstrang, Richtung Nor- Die Bürger der schon früher entstandenen den ausgerichtet, sind noch heute wasserreich Stadt Kamen sollen bei Gründung der Stadt und verursachen gelegentlich gefährliche Unna gerufen haben: „Uns tho nah“. Ähnli- Überschwemmungen. Es heißt, früher gab es ches kennen wir von Altena und Altona. auch hier viel mehr Wasser, wie z. B. in Von Steinen zitiert auch die erbauliche Inter- Mühlhausen, Massen oder Soest. Betrachtet pretation von Merian „Ab unitate animo- man den heutigen Zustand des Kortelbachs, rum“. Übersetzt „Von der besonderen Einig- ist ein stärkerer Wasserlauf vor Jahrhunder- keit der Bürger untereinander“. Herrlich! ten schwer vorstellbar. Immerhin aber soll es Was letztlich bleibt, ist, dass der Name vor in diesem eiszeitlichen Tal nahe der Stadt sehr langer Zeit entstand und etwas mit dem eine Wasser-Mühle gegeben haben. Auch das Wasser zu tun hat, dem Quell des Lebens. Bornekamp-Bad, das als ältestes Bad in So gesehen war es eine gute Entscheidung, Westfalen gilt, wird wohl als Naturbad von den ersten Band der neuen Unnaer Stadtge- diesem Wasserfluss gespeist worden sein. schichte mit einem blauen Band zu schmü- Die Erforschung von Namen ist recht kom- cken, der Farbe des Wassers. pliziert. Da hilft die spezielle Wissenschaft, Foto: Klaus Thorwarth
11 Geschichte Nr. 99 06.2020 Herbst-Blatt Erinnerungen - von Franz Wiemann - Es muss nicht immer alles aus der Ge- schauung eh ganz unterschiedlich bewertet. schichtswerkstatt kommen, was wir hier zu Man wundert sich vielleicht über die inzwi- Papier bringen. Gleichwohl ist der zu be- schen immer zahlreicher werdenden Stolper- schreibende Vorfall ein Resultat der (Welt-) steine, die in Unnas Bürgersteige vor der Geschichte. Allein das Ende des 2. Weltkrie- nachweislich „letzten Wohnstätte“ der Er- ges, in diesem Jahr 75 Jahre her, hat genü- mordeten eingelassen worden und hauptsäch- gend Ereignisse, Geschichten und mitunter lich jüdischen Opfern des Holocaust gewid- sehr traurige Episoden wieder in unser Be- met sind. Allein das ist schon mehr als ein wußtsein gebracht. Darum muss es sich nicht Stehenbleiben wert, um sich noch einmal die immer bei all dem, was unter das Stichwort Menschenverachtung des untergehenden Geschichte fällt, gleich um „Erhabenes“ Systems des Natio- bzw. „Welt-Bewegendes“ gehandelt haben. nalsozialismus in Mitunter geht die Episode, ein klitzekleiner Erinnerung zu ru- Reflex also auf die Geschichte, einem viel fen. näher als die weltbewegenden Ereignisse. Mehr und mehr Re- Eine traurige Episode hat sich, lt. Pressebe- cherchen werden richt im HA (Ausgabe von Mitte April jetzt bekannt, mehr- 2020), sozusagen „Minuten vor Kriegsende heitlich auch von am 10. April 1945“ in Holland zugetragen. vielen Jugendlichen Der Unnaer Bürger Ernst Gräwe sei im nie- (!) durchgeführt, um derländischen Deventer ermordet worden, auch andere als nur standrechtlich erschossen. Er wurde zum jüdische“ Opfer „tragischen Helden“, indem er sich gewei- aufzuspüren. Der gert habe, niederländische Widerstands- Verfasser selber Ernst Gräwe kämpfer zu erschießen. weiß erst seit fünf Jahren von einem Vorfall Nun gab es sicherlich zig solcher tragischen in seiner eigenen Verwandtschaft – mütterli- Ereignisse, das Morden und heimtückische cherseits – zu berichten, wo es um eine Hin- Erschießen von Personen, die sich auch nur richtung im November 1944 ging. Besagter aus geringstem Anlass in dem Netzwerk von Onkel hatte sich partout geweigert „für Hit- Denunziation und Aktionen der Gestapo ver- ler in den Krieg zu ziehen“, so seine bewe- fangen haben, inbegriffen. Aber warum genden Worte. Ihm wurde in seiner Heimat- weist – zumindest bisher – kein Gedenkstein, stadt ein Stolperstein gewidmet. keine an seinem Unnaer Wohnhaus ange- Wir und Sie, liebe Leser, liebe Leserin inbegrif- brachte Hinweistafel darauf hin? Dieser Fra- fen, haben mehrheitlich den Krieg nicht selbst ge ging ein junger Praktikant nach, der bei bzw. nicht unmittelbar miterlebt. Die Corona- seiner Arbeit im Unnaer Stadtarchiv rein zu- Krise wurde zwar so bewertet, als befänden wir fällig auf diesen Vorfall stieß. So konnte das uns „im Krieg mit einer Pandemie“. Das Aus- Schicksal des Ernst Gräwe in Erinnerung maß ihrer Auswirkungen, mitsamt allen Ein- gebracht werden. Eine für den 15. April d. J. schränkungen und Unannehmlichkeiten, mag angesetzte Gedenkveranstaltung, die im dies zwar im Ansatz bestätigen, aber all die „Grünen Salon“ an der Wasserstraße stattfin- Greueltaten, das menschengemachte Elend, den sollte, musste digital stattfinden – wie so welches die Nationalsozialisten über unser vieles in den letzten Wochen und Monaten. Land gebracht haben, dürfen sich nicht wieder- Hier soll nicht eine Diskussion um den Hel- holen. Um Zustimmung für diese Überzeugung den-Begriff angezettelt werden. Was ein muss man wohl nicht lange bitten. „Wirklicher Held“ ist, wird je nach Weltan- Foto (Quelle): Hellweger Anzeiger (08.05.2020)
Herbst-Blatt Nr. 99 06.2020 Literatur 12 Geh aus, mein Herz und suche Freud Paul Gerhardt (1607–1676) von Bärbel Beutner „Geh aus, mein Herz, und suche Freud Die Jugend von Paul Gerhardt überschatte- In dieser schönen Sommerzeit...“ te der Dreißigjährige Krieg, der in der Lite- Es ist sicherlich eines der bekanntesten ratur oft als „Urkatastrophe der deutschen Lieder des Barock-Dichters Paul Gerhardt Geschichte“ bezeichnet wird. (1607–1676). Im Gesangbuch hat es seit seiner Entstehung 1653 einen festen Platz, und durch die Aufnahme in die Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“, von Clemens Brentano und Achim von Ar- nim 1806–08 herausgegeben, fand es Eingang in die Rom- antik und wurde endgültig zum Volkslied. Die ersten sieben der insge- samt fünfzehn Strophen be- schreiben opulent die Schön- heiten des Sommers: grünes Laub, bunte Blumen, Vogel- gesang, Wachstum und Fruchtbarkeit. Da muss das lyrische Ich in der 8. Strophe ebenfalls singen und „des großen Gottes großes Tun“ loben, und das aus ganzem Herzen, Paul Gerhardt studierte Theologie in Wit- „... ich singe mit, wenn alles singt, tenberg und ging 1642 nach Berlin, wo er und lasse, was dem Höchsten klingt, 1651 ordiniert wurde. Als er 1651 die Ge- aus meinem Herzen rinnen.“ meinde in Mittenwalde als Pfarrer über- Die reichen Gaben des Sommers machen nahm, fand er eine vom Krieg verwüstete die Erde zu einem lieblichen Ort. Doch im Stadt mit gerade mal 250 Einwohnern vor, selben Atemzug ist von „dieser armen Er- die einst wohlhabend durch den Salzhandel den“ die Rede. Nur diese drei Wörter ste- geworden war und mit tausend Einwohnern hen der Pracht und der Freude gegenüber. eine solide Größe hatte. Krieg und Pest hat- „Narzissen und die Tulipan te Paul Gerhardt auch in Wittenberg und die ziehen sich viel schöner an Berlin kennengelernt. als Salomonis Seide.“ Sein persönlicher Lebenslauf war von Ju- Wie kann diese Erde mit den schönen Tie- gend auf von Schicksalsschlägen geprägt. ren, die „edle Honigspeise“, starken Wein 1619 starb sein Vater, 1621 verlor der und kräftigen Weizen hervorbringt, arm Vierzehnjährige seine Mutter. 1637 starb sein? ein Bruder an der Pest. Seine Ehe mit Anna
13 Literatur Nr. 99 06.2020 Herbst-Blatt Maria Berthold, die er 1655 heiratete, dau- erte nur dreizehn Jahre und stand geradezu im Zeichen des Todes. Das Ehepaar bekam fünf Kinder. Vier überstanden das erste Le- bensjahr nicht. Nur der Sohn Paul Fried- rich, geb. 1662, überlebte die Eltern und starb 1716. Paul Gerhardt wurde 1668 Wit- wer. Und doch hinterließ der Schwergeprüfte, der auch berufliche Schwierigkeiten erle- ben musste, eine Fülle von Gedichten vol- ler Trost, Hoffnung und Gotteslob. Selbst komponiert hat Paul Gerhardt nicht. Er traf in Berlin die Kantoren Johann Crüger und Johann Georg Ebeling, die seine Texte ver- tonten und verbreiteten. Er war schon zu Lebzeiten ein weithin bekannter Lieder- dichter. In dem Lob- und Dankeslied „Geh aus, mein Herz“ ruft die schöne Sommerzeit einen „Vorgeschmack“ auf die Herrlichkeit des Himmels hervor. „Welch hohe Lust, welch heller Schein/wird wohl in Christi Licht findet der Mensch erst im Jenseits, in Garten sein!“, heißt es in der 10. Strophe. der Ewigkeit. In Paul Gerhardts Sommerhit In der Barock-Dichtung geht es ständig um aber ist die Erde bereits ein Abbild des „das irdische Jammertal“, in dem alles ver- Himmels – sozusagen im Kleinformat. gänglich und nichtig ist. Beständigkeit und Zwar wünscht sich das lyrische Ich auch in den Himmel hinein („O wär ich da! O stünd ich schon, / ach süßer Gott, vor deinem Thron...“), aber noch möchte es auf der Erde reifen und „ein guter Baum“ wer- den. Das Herz, das sich an den Herrlichkei- ten des Sommers erfreuen soll, „soll sich fort und fort ... zu deinem Lobe neigen“, sagt die 12. Strophe. Ein fröhliches Lied, das über Jahrhunderte hin die Menschen erfreut und getröstet hat und weiterhin erfreuen wird – auch über Corona hinaus! Gemälde von Wassili Jeremejew, Quelle: Sonntagsblatt 1/2007 Fotos: Andrea Irslinger
Herbst-Blatt Nr. 99 06.2020 Literatur 14 Wohin mit all den Büchern? - von Franz Wiemann - Ergeht es Ihnen mitunter auch so? Wohin mit schlungen haben. Ja, ganze Jugendbuchse- all den Gegenständen, den Büchern etc., die rien haben uns fasziniert. Nur um ein Bei- sich im Laufe des Lebens angesammelt ha- spiel zu geben: Enid Blyton und die von ihr ben! Und man weiß, oder zumindest ahnt in Englisch verfassten Jugendbücher erreich- man es schon: Die nachwachsende Generati- ten uns in der Serie „Hanni und Nanni – on hat für vieles keine Verwendung. Wir ha- Mehr als beste Freunde“. Die Unterschei- ben darüber im Herbst-Blatt früher schon dung in literarisch wertvoll bis hin zum Be- mal geschrieben. griff Trivialliteratur interessierte uns dabei Es war Mitte Februar d. J. – ich war mit dem gar nicht. Vielfach stammten die Verfasser Fahrrad kaum 60 Meter von der Haustür ent- aus ganz einfachen Verhältnissen und waren fernt – als ich vier Bücher mitten auf der zum Teil auch schon vor dem 2. Weltkrieg Straße liegen sah. Über eins war schon ein schriftstellerisch aktiv. Wagen hinweggerollt. Wenn es um Literari- Wie verhält sich das denn im Fall der oben sches geht, bin ich immer wachsam. Und sie- genannten, von mir aufgefundenen Buchtitel he da, nach näherer Betrachtung sah ich, dass und Autoren?, dachte ich mir. So googelte es sich wohl um typische Jugendbuchliteratur ich halt mal. aus den 50er und 60er Jahren handeln muss- Zwei Titel von M. Haller waren darunter: te. Für mich nicht unbedingt der Klassiker „Hilde und der Fünferbund“ (1953) und oder ein für besondere Wertschätzung geeig- „Gretel schießt den Vogel ab“ (1955). Hinter neter Lesestoff, dachte ich zunächst. Aber dem Namen des Autors M. Haller verbirgt ehe ich – die Bücher sahen äußerlich alle ein sich der echte Name: Margarete Deinet, so wenig ramponiert aus – so etwas unbeachtet konnte ich unter Wikipedia nachlesen. Die liegen lasse bzw. in den Altpapiercontainer ursprünglich als Buchhändlerin in Hamburg werfe, waren sie auch schon in meinem lebende Frau verlor infolge eines Bombenan- Hausflur gelandet. griffs 1943 fast ihren gesamten Besitz, im- Wer kennt sie nicht, diese Autoren der Nach- merhin drei Buchhandlungen. Sich auch mal kriegszeit? Sicherlich haben Sie noch so als Schriftstellerin zu versuchen, das war al- manche gute Erinnerung an den einen oder lerdings schon weit vor dem Kriege gesche- anderen Buchtitel, den Sie förmlich ver- hen: Sie hätte sich im Jahr 1931 ermuntert
15 Literatur Nr. 99 06.2020 Herbst-Blatt gefühlt, eine Geschichte an den Franz der. Fernsehen gab es ja nicht. Sicherlich Schneider Verlag (München) zu schicken. dürften Ihnen, liebe Leser/in, die Kinder und Daraus erwuchs eine zweite Karriere, in de- Jugendbücher aus dem Arena-Verlag in bes- ren Verlauf – mit einer Gesamtauflage von ter Erinnerung geblieben sein. Der Verlag etwa sieben Millionen Büchern – etliche un- veröffentlicht übrigens auch heute noch vor- terhaltsame Titel entstanden sind: Alles ver- wiegend im Bereich der Kinder- und Jugend- schiedene Jungmädchenromane, versteht literatur und verbreitet weiterhin faszinieren- sich. Ein weiterer Band, der auf der Straße de Gegenwartsgeschichten. Noch gut kann lag, war das wohl ebenfalls ich mich an die recht an- „nur“ für Mädchen interes- schaulich bebilderten Titel sante Buch „Versteck am wie Till Eulenspiegel oder Fluß“, von Eva Thiede- Tom Sawyers erinnern, die mann. Der antiquarische in uns eine Faszination für Anbieter booklooker eine andere Welt auslösten. (www.booklooker.de) reiht Na ja, aber wer will diese es in die Reihe der Schnei- „alten Schinken“ denn heu- der-Bücher für Mädchen te noch lesen? Sammler al- ein und bewertet das Buch ter Bücher geben nicht nur schlichtweg als „aufregen- für das Antiquariat den ei- de Geschichte“. Für eine nen oder anderen Euro aus. ganze Reihe dieser oben Das konnte ich einem Ebay- näher beschriebenen Bü- Eintrag entnehmen. Es gibt cher fertigte übrigens die das Bücherantiquariat, in- Illustratorin Gerda Radtke nerhalb der Stadt beispiels- skizzierte Zeichnungen an, weise bei der Buchhand- die zur Belebung der Lite- lung Hornung. Oder suchen ratur für die jungen Leser Sie mal nach einem der im- diente. mer zahlreicher werden Bü- „Das Glück der Erde le- cherschränke (s. Foto), in send erleben“, so lautet ein die man Bücher kostenlos von Danielle Cerovina im hineinstellen kann, aber Jahre 2019 erschienenes auch mitnehmen darf. Buch, in dem sie sich aus Ich war zuletzt nicht er- psychologisch-analytischer staunt, die ganz zu Anfang Sicht mit dem Wert sol- erwähnten Büchertitel auch cher Buchtitel näher befasst. Darunter insbe- „auf eBay“ wieder zu finden: zwischen sondere die immer wieder beliebten Mäd- 99 Cent und 1,70 € bezahlt man für solch ein chen-Pferdebuchserien, angefangen von der Buch noch. Na dann, nichts wie ran! Eine Serie “Britta“ bis hin zu der wohl auflagen- weitere gute Adresse, um sich schlau zu ma- stärksten Serie „Ponyhof“ von Pippa Young. chen, ist auch die website www.ZV A B.com: Und die Jungen? Was haben die denn so ge- Dort werden Sie alle Bücher sogar für etwas lesen, außer den Karl May-Geschichten?, Geld los. Doch wer diese beiden Wege fragte ich mich. Mir ist persönlich noch ein scheut, bringt seine Bücher gleich ins Sozial- Buch, das mir meine Großmutter zur Erst- kaufhaus Unna, das der Lindenbrauerei ge- kommunion im Jahr 1955 geschenkt hatte, in genüber gelegen ist. guter Erinnerung geblieben: Heinz Helfgen, Und Sie haben sich selbst ein ruhiges Gewis- „Ich radle um die Welt“ (zweibändig). Wie sen verschafft, indem Sie jemand anderem habe ich die beiden Bände verschlungen (!), damit eine Freude machen. wohl gleich vier- oder fünf Mal hintereinan- Fotos: Franz Wiemann
Herbst-Blatt Nr. 99 06.2020 Erlebnis 16 Kaum zu glauben - von Anne Nühm - Wer kennt nicht den Spruch „Das Geld glaube ich nicht!“ Auf dem Pflastersteinen liegt auf der Straße. Man braucht es nur lag … wieder eine Münze. Wieder war es aufzuheben“? Anne hat die Erfahrung ge- ein Cent. Wie kann das sein? Ist vielleicht macht, dass es wirklich so ist. Der Geburts- ein Freund oder Bekannter vorweg gegan- tag ihrer Enkelin stand bevor. Sie wollte gen, der Anne überraschen wollte und wie sich auf die Suche nach einem Geschenk im Märchen „Hänsel und Gretel“ nicht mit machen. Das große Regengebiet war Steinen, sondern mit Geldstücken den Weg durchgezogen, der Einsatz eines Regen- weisen wollte? Das konnte nicht sein. Denn schirms überflüssig und der Blick auf den Anne hatte niemanden über ihr Vorhaben, Gehweg frei. Kurz, nachdem sie ihre in die Stadt zu gehen, informiert. Wohnstraße verlassen hatte, fiel ihr ein Ein-Cent-Stück auf. „Ein Glücksbringer“ war ihr erster Impuls. Sie hob die Kupfermünze auf und steckte sie in ihr Portemonnaie. Ihr Weg in die Innenstadt machte eine langgezogene Kurve. Kurz nachdem sie diese hinter sich gelassen hatte, glaubte sie ihren Augen nicht zu trau- en. Diesmal lag eine Fünf- Cent-Münze am Wegrand. Mit einem Lächeln hob Anne auch diese auf und legte sie ebenfalls in die Geldbörse. Nun erreichte sie die Haupt- verkehrsstraße, die direkt in die Stadt führ- Sie betrat das erste Geschäft und machte te. Sie nahm den Verkehr wahr und dachte sich auf die Suche nach dem Geburtstags- schon nicht mehr an ihren Fund. Aber dann geschenk für ihre Enkelin. geschah es! Alle guten Dinge sind drei. Die Fundserie hatte damit ihr Ende gefun- Diesmal war es wieder ein Cent, der vor den. Denn Anne hat auf dem Heimweg Anne auf dem Bürgersteig lag. Wenn ich kein Geld mehr gefunden. Die insgesamt davon erzähle, wird mir keiner glauben, acht Cent, die sie an diesem Morgen gefun- schoss es ihr durch den Kopf. Trotz der den hat, haben sie nicht reich gemacht, aber Skepsis konnte sie ihr Lächeln nicht zu- in ihrem Glauben bestärkt, dass zwischen rückhalten. Himmel und Erde Dinge passieren, die Eine andere Fußgängerin kam ihr entgegen nicht zu erklären sind, aber trotzdem ge- und beantwortete ihr strahlendes Gesicht schehen. mit einem Morgengruß. Foto: Andrea Irslinger Nun war die Fußgängerzone erreicht und die Suche nach dem Geburtstagsschenk konnte beginnen. Aber dann … Nein, das
17 Poesie Nr. 99 06.2020 Herbst-Blatt Glück – in Ostfriesland gefunden Der Text zu dem Gedicht „Glück“ fand sich in Ditzum/Ostfriesland im Aushang einer ehemaligen Gaststätte und kann sicherlich in diesen Zeiten aufhellend wirken. Glück Glück ist gar nicht mal so selten, Glück wird überall beschert. Vieles kann als Glück uns gelten, was das Leben uns so lehrt. Glück ist jeder neue Morgen, Glück ist bunte Blumenpracht, Glück sind Tage ohne Sorgen, Glück ist, wenn man fröhlich lacht. Glück ist Regen, wenn es heiß ist, Glück ist Sonne nach dem Guss, Glück ist, wenn ein Kind ein Eis isst, Glück ist auch ein lieber Gruß. Glück ist Wärme, wenn es kalt ist, Glück ist weißer Meeresstrand, Glück ist Ruhe, die im Wald ist, Glück ist eines Freundes Hand. Glück ist eine stille Stunde, Glück ist auch ein gutes Buch, Glück ist Spaß in froher Runde, Glück ist freundlicher Besuch. Glück ist niemals ortsgebunden, Glück kennt keine Jahreszeit, Glück hat immer den gefunden, der sich seines Lebens freut. Verfasser unbekannt Fotos: Klaus Thorwarth, Andrea Irslinger
Herbst-Blatt Nr. 99 06.2020 Heimat 18 Heimaterde und Corona - von Bärbel Beutner - „Was auch immer werde, auf: Corona-Virus. Plötzlich kamen Mails Steh zur Heimaterde! von russischen Freunden, es gebe Kontrol- Treue gibt dir Kraft!“ len an den Grenzen, das Virus breite sich Wie oft haben wir dieses Lied aus Ostpreu- aus, man solle eigentlich keine Reisen wa- ßen auf unseren Tagungen gesungen! Ob es gen. Ich telefonierte mit dem Busunterneh- immer noch Menschen gibt, denen die Hei- men, mit seinen Büros, schließlich mit dem materde so viel bedeutet? Auswärtigen Amt. Werden die Busse fah- Mitte Februar 2020 ging ein Telefonanruf ren? Ist irgendetwas über die Situation an ein. Ob dort die Kreisgemeinschaft Land- den Grenzen bekannt? Nirgendwo gab es kreis Königsberg sei, fragte der Anrufer. eine verbindliche Auskunft. Die deutschen Sein Anliegen: seine Mutter werde am 24. Nachrichten wurden immer bedrohlicher ... März 80 Jahre alt. Sie sei in Fischhausen Nachfragen bei einer Freundin, die russi- geboren und er, der Sohn, wolle ihr zum Ge- sches Fernsehen hat ... Es kostete reichlich burtstag eine Rose schenken, die in Heimat- Nerven. Schließlich doch die planmäßige erde eingepflanzt ist. Nur – er wisse nicht, Abfahrt von Hannover und die Ankunft in wie er die Heimaterde bekommen könne. der Heimat am Sonntag, den 8. März. Ob jemand nach Ostpreußen fahre, der viel- An der Grenze bei Heiligenbeil ging es leicht Erde mitbringen könne. Ich konnte friedlich zu. Auf der polnischen Seite pas- ihm mitteilen, dass ich in der letzten Febru- sierte gar nichts, man sah auch keine Atem- arwoche hinfahren wollte. Allerdings würde schutzmasken. Auf der russischen Seite ich es nicht bis nach Fischhausen schaffen, stieg eine uniformierte Mitarbeiterin mit aber aus Heiligenwalde könnte ich Erde mit- Mundschutz in den Bus, bevor es zur Pass- bringen. kontrolle ging, und richtete ein Gerät zum Daraufhin schilderte eine tränenerstickte Fiebermessen, das an eine Pistole erinnerte, Stimme die Bemühungen, die für dieses Ge- an die Stirn der Fahrgäste. Es dauerte vielleicht burtstagsgeschenk bereits unternommen zehn Minuten, dann hieß es, alles sei gut. worden waren: Anfragen bei Reisebüros und Im russischen Fernsehen wurden die War- bei Speditionsfirmen, bei verschiedenen In- nungen vor der Seuche immer nachdrückli- stanzen der Landsmannschaft – und nun sei cher. Busse „aus Germania“ wurden nicht das Ziel greifbar nahe – diese Überraschung mehr ohne weiteres ins Gebiet gelassen, in für die Mutter – eine Rose in ostpreußischer ganz Russland durften keine deutschen Erde … Flugzeuge mehr landen, Israel hatte schon Aber das Schicksal war gegen uns, gegen vorher die Einreise für Deutsche verweigert. mich und gegen den Sohn der Jubilarin. Als Ich musste nun aber die „Mission Heimater- ich am 22. Februar wie geplant mit dem Li- de“ in Angriff nehmen. Es war nicht leicht, nienbus von Hannover nach Königsberg meiner Freundin und Gastgeberin das Anlie- fahren wollte, gab es eine unheilvolle Kette gen zu erklären; mein bescheidenes Rus- von Verspätungen bei der Bahn, und in Han- sisch führte zu einigen – erheiternden – nover war der Bus weg. Neue Planungen, Missverständnissen. Außerdem meinte es neue Organisation, neue Absprachen mit das Wetter nicht gut für das ganze Vorha- dem Sohn. Der neue Reisetermin wurde auf ben. Es regnete zeitweise in Strömen, auf den 7. März gelegt, dann müsste die Überra- den Feldern und Wegen gab es große Was- schung bis zum 24. März noch klappen. serlachen – eine Tüte Matsche wurde für Nun zogen neue Wolken am Reisehimmel mich zur Schreckensvorstellung.
19 Heimat Nr. 99 06.2020 Herbst-Blatt Die Heimaterde in einer Glasschale Doch in einer Regenpause füllte meine Atemschutzmasken, und die Pässe wurden Freundin einen einfachen Blumentopf mit mit Handschuhen angefasst. Die Passagiere unserer Heiligenwalder Erde, und der sandi- wurden nicht auf Fieber kontrolliert. Das ge Boden war keineswegs matschig, sondern geschah auf der polnischen Seite zweimal locker und weich. Es fand sich eine Kaffee- auf unheimliche Weise. Eine von oben bis dose aus Blech, die gut zu transportieren unten in einen knisternden Schutzanzug ein- war. Die bange Frage, was wohl bei einer gehüllte Gestalt, ohne Gesicht, nur mit einer Kontrolle an der Grenze geschehen werde, großen Maske, richtete das Fiebermessgerät schaltete meine Freundin energisch aus. auf die Stirn der Reisenden. Das Gepäck „Dann sagst du eben, das wäre für eine alte wurde nicht kontrolliert. Die heilige Heimat- Frau, die einmal hier gelebt hat. Sie will erde, in einer harmlosen Kaffeedose in die noch einmal ihre Heimaterde berühren. Die EU überführt, sollte wohl ihre Mission er- russischen Menschen haben denselben füllen dürfen: ein besonderes Geschenk wer- Wunsch!“ den, Menschen glücklich machen, alte Die Stunden bis zu meiner Abfahrt am Schmerzen lindern … 12. März aber sollten sich noch aufregend Als der große Geburtstag am 24. März da gestalten. Plötzlich war die Rede davon, war, hatte sich die ganze Welt verändert. dass eventuell die Grenzen dichtgemacht Ausgangssperre, Kontaktsperre weltweit, würden wegen Corona – kollektive Angst alle Geschäfte und Lokale geschlossen, alle bei den russischen Freunden, ob ich noch Veranstaltungen abgesagt. Es fand auch kei- sicher in den Westen käme – und dann noch ne Geburtstagsfeier statt, aber ein besonde- das Risiko mit dem Transport der ostpreußi- rer Geburtstag wurde es mit Sicherheit. Eine schen Erde … Rose wurde auch nicht gepflanzt. Die Hei- An der Grenze sah es anders aus als bei der materde blieb unberührt. Hinfahrt wenige Tage vorher. Auf der russi- Foto: Bernd Glatzer schen Seite trugen die Beamten draußen
Herbst-Blatt Nr. 99 06.2020 Natur 20 Die Turteltauben - von Benigna Blaß - Die Turteltaube, Vogel des denen Samen gefüttert, wie Klee, Vogelwi- Jahres 2020, sieht ganz an- cke und Wolfsmilch. Auch Samen von Bäu- ders aus als unsere Tauben auf men verschmähen sie nicht. Sind die Küken dem Marktplatz in Unna. flügge, so fressen sie auch Sonnenblumen- Die Turteltauben bekamen ihren Namen kerne, Raps- und Weizensamen. Sie fliegen nach ihren Gesängen: dem zarten turrr-turrr- mit den Eltern in den Süden und werden turrr Gurren. Sie haben wie alle Tauben eine erst im nächsten Jahr geschlechtsreif. rundliche Gestalt mit einem kleinen Kopf, Weltweit gibt es 300 Taubenarten aus 42 sind nur 25–28 cm groß, also viel kleiner Gattungen, die meisten leben in den Tropen. und schlanker und haben ein farbenfrohes In Deutschland gibt es nur fünf heimische Gefieder, einen gestuften dunklen Schwanz Arten. mit weißen Enden, die Flügel sind spitz zu- Viele Tauben sind ausdauernde Flieger und laufend, rostbraun mit schwarzen Federmit- haben etwas Besonderes, sie finden immer ten, die Halsseiten haben jeweils einen wieder nach Hause. Tauben spielten seit eh schwarz-weiß gestreiften Fleck, Brust und und je eine große Rolle: Sie brachten einen Kehle sind zart rosa, die Augen sind von ei- Ölzweig zur Arche Noah, wurden als Bo- nem rötlichem Lidring umrandet. Männchen tentauben an Wachtürmen gehalten und als und Weibchen kann man kaum unterschei- Liebes- und Friedensboten verehrt. Auch den. die alten Griechen und Römer haben schon Die Turteltauben sind die einzigen Tauben, die ins Winterquartier nach Süden ziehen, sie sind richtige Leis- tungsfliegerinnen. Ende April kommen sie aus ihren afri- kanischen Überwinterungsplätzen in ihre angestammten Brutgebiete, den Auenwäldern, Waldsäumen und Lich- tungen zurück. Es ist merkwürdig, dass sie im Herbst nachts fliegen und im Frühling tagsüber zurückkommen. Fast tausend Vögel haben sich vorher am Senegaldelta gesammelt und sich Reserven angefressen, um den langen Flug zu überstehen. Haben sich die Paare nach einer interessanten Flug- schau gefunden, schnäbeln sie lange und bleiben dieses Jahr treu zusam- men. Sie suchen ein dichtes Gebüsch und bauen ein flaches Nest, in das das Weibchen bis Juli zwei Mal je zwei Eier legt. Sind die Kleinen nach 13–16 Tagen geschlüpft, so werden sie 18–23 Tage von beiden Elternteilen mit verschie-
21 Natur Nr. 99 06.2020 Herbst-Blatt Tauben gezüchtet. In der Schweizer Armee gab es sogar eine Brieftaubeneinheit. Ohrwurm und Taube Von Picasso gibt es etwa 100 Zeichnungen Joachim Ringelnatz von Tauben, im April 1949 die erste bei dem Weltfriedenskongress in Paris. Er Der Ohrwurm mochte die Taube nicht leiden. zeichnete jedes Jahr für den Kongress eine Sie haßte den Ohrwurm ebenso. neue Taube. Erst 1952 bekam sie einen Da trafen sich eines Tages die beiden Zweig in den Schnabel, und wurde als Frie- in einer Straßenbahn irgendwo. denstaube bezeichnet, es ist wohl das be- kannteste Bild. Sie schüttelten sich erfreut die Hände Im Ruhrgebiet, bei vielen Bergmannsfami- und lächelten liebenswürdig dabei lien, waren Brieftaubenzüchter zu finden. und sagten einander ganze Bände Diese Tauben wurden auch das Pferd des von übertriebener Schmeichelei. kleinen Mannes genannt. Leider wird auch Doch beide wünschten sie sich im stillen, dieses Hobby immer weniger ausgeübt. der andre möge zum Teufel gehen, Viele Dichter haben Gedichte über diese und da es geschah nach ihrem Willen, Vögel geschrieben: Goethe: „Adler und so gab es beim Teufel ein Wiedersehn. Taube“, Ringelnatz: „Ohrwurm und Tau- be“, Salis-Seewis (1762) „Noahs Taube“. Zeichnung: Andrea Irslinger, Foto: Jonathan Cannon/pixabay.de Hätten Sie es gewusst? Nelkenöl - von Benigna Blaß - Wussten Sie, dass Mücken und Wes- pen den Geruch des Nelkenöls nicht mögen? Im Sommer sitzt man gerne im Freien, doch die Mücken auch. Reiben Sie Fußenkel, Kniekehlen und Handgelenke mit etwas Nelkenöl (in der Apotheke erhältlich) ein, und keine Mücke wird Sie belästigen. Spicken Sie eine Zitronen- oder Apfel- sinenscheibe mit Nelken, legen diese auf einen Teller und dann auf Ihren Gartentisch. Keine Wespe kommt. Foto: Benigna Blaß
Herbst-Blatt Nr. 99 06.2020 Technik 22 Opa klärt auf Heute: Opa erklärt das Ergometer - von Christian Modrok - An einem regnerischen Tag, noch vor der chung der physikalischen Belastbarkeit der Corona-Pandemie, kam Olaf mit seinem Patienten an, dann aber in Kombination mit Schulfreund Tim in den Mittagsstunden zu einem EKG-Gerät. „Opa, darf ich auch mal seinen Großeltern und fragte, ob Tim hier treten?“ Das war doch mehr als selbstver- bleiben könne, bis seine Eltern von der Ar- ständlich, dass Opa es erlaubt. Er hat nur den beit kämen. Großmutter gestattete es sofort, Sattel etwas tiefer eingestellt, damit die et- denn sie kannte ja schon den Tim. Beide be- was kürzeren Beine noch die Pedale errei- kamen auch sofort ein Butterbrot und eine chen. Dann ging es los. Als Olaf zu treten Tasse Tee. begann, rief er mit Begeisterung aus: „Das Der Großvater schaute freundlich drein und ist ja wie beim richtigen Fahrrad.“ fragte nur so quasi nebenbei, wie es in der Ohne den Opa zu fragen, sagte er zu Tim: Schule ging und ob es Probleme gab. Olaf „Und jetzt probiere du mal.“ Etwas zöger- antwortete natürlich: „Gut, alles gut“. Der lich, mit fragenden Augen, setzte sich Tim Großvater fragte die Buben, ob sie nicht jetzt aufs Rad. Als der Großvater freundlich nick- schon einen Teil ihrer Hausaufgaben machen te, verlor er die Scheu und fing an zu treten. möchten. Beide nickten zwar mit ihren Köp- Auch in Tims Augen sah man eine fen, Tim wohl aus Höflichkeit, aber Olaf oh- Begeisterung. ne Begeisterung. Der alte Herr kennt ja seine Jetzt erst sah Olaf, dass das Ergo- Angewohnheiten und hat ihn durchschaut. meter nicht nur ein Gestell mit Während der Aufgaben wanderten Olafs Au- Pedalen ist, sondern noch ein gen in der Wohnung umher auf der Suche Display hat. „Opa, erkläre uns nach einem interessanten Objekt. bitte, was auf dem Display zu Der alte Herr aber ließ nicht locker. Immer sehen ist.“ „Also, jetzt setze dich wieder ermahnte er Olaf zur Aufmerksam- keit, versprach aber, sofort nach den Mathe- aufgaben seine Neugier zu stillen. Der Großvater schaute den Buben diskret über die Schultern zu, sagte aber nichts. Er stellte nur fest, dass die Aufgabenstellun- gen früher etwas anders aussahen. Die Hausaufgaben waren fertig. Olaf rutschte vom Stuhl runter, ging gerade- aus zum Ergometer und fragte den Großvater, ob er noch auf diesem ko- mischen Fahrrad fährt. Der alte Herr erklärte, dass, wenn es draußen länge- re Zeit kein Wetter zum Radfahren gibt, er sich eben auf dieses Gerät setzt, um die Beine und damit auch den Blutkreislauf zu bewegen. Und es sei für jedes Alter gut. Man findet es auch in den sogenannten Mucki-Buden. Ärzte wenden diese Geräte zur Untersu-
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