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Offene Fragen in der demographischen Mortalitätsforschung R OLAND R AU Soziologische Perspektiven auf die Corona-Krise Digitales Kolloquium Berlin, Reddelich, Cyberspace, 20. Mai 2020 c Roland Rau Fragen eines Mortalitätsforschers 1 / 14
“So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie” Jürgen Habermas, 10.04.2020 Interview in der Frankfurter Rundschau (Überschrift) Meine Frage: Was würde ich als Mortalitätsforscher gerne über die gegenwärtige Krise wissen wollen? c Roland Rau Fragen eines Mortalitätsforschers 2 / 14
Generell: Messung der Sterblichkeit Welcher Indikator sollte ex-post verwendet werden, um den Einfluss der Pandemie auf die Mortalität zu schätzen? Lebenserwartung? Standardinstrumentarium Kein Einfluss von Altersstruktur Sehr gut vergleichbar a) über die Zeit hinweg sowie b) zwischen Regionen und Ländern Problematisch aus meiner Sicht: Anzahl der gelebten Personenjahre in Alter x und darüber Lebenserwartung im Alter x misst: Anzahl der lebenden Personen im Alter x Hypothetisches Beispiel: Lebenserwartung, Frauen in Deutschland, 2017 Reguläre Berechnung: 83.30 1000 zusätzliche Sterbefälle im Alter 25: 83.18 8500 zusätzliche Sterbefälle im Alter 85; 83.18 Datenquelle: Human Mortality Database ; Methodik, siehe Kap. 3 in Preston et al. (2001) c Roland Rau Fragen eines Mortalitätsforschers 3 / 14
Generell: Messung der Sterblichkeit Welcher Indikator sollte ex-post verwendet werden, um den Einfluss der Pandemie auf die Mortalität zu schätzen? Exzess-Mortalität? Beobachtete Sterbefälle minus Erwartete Sterbefälle ein Sterbefall = ein Sterbefall, egal in welchem Alter Temporale Vergleichbarkeit ist gegeben. Geographische Vergleichbarkeit ist schwierig (Einfluss von Altersstruktur) Bisher keine einheitliche Methodik ⇒ Was sind “erwartete Sterbefälle”? Flexible oder fixe saisonale Komponente? Positive Abweichungen über dem Erwartungswert? über dem 90% CI? einem 95% CI? wichtig: Wie sieht es über das Alter aus? c Roland Rau Fragen eines Mortalitätsforschers 4 / 14
Wollen wir tiefer gehen? Todesursachen Klingt prinzpiell wie eine gute Idee: Leitfaden zur Codierung von Covid-19 als Todesursache, WHO, 16.04.2020 “International Guidelines for Certification and Classification (coding) of Covid-19 as Cause of Death” Zentrales Register der Obduktionen von COVID-19 Erkrankten durch Bundesverbandes Deutscher Pathologen e.V. (BDP) und der Deutschen Gesellschaft für Pathologie (DGP) Verbesserte (→ vereinheitlichte) Auswertung der Todesbescheinigungen durch “MUSE” , siehe auch: Eckert (2017) c Roland Rau Fragen eines Mortalitätsforschers 5 / 14
Wollen wir tiefer gehen? Todesursachen Klingt prinzpiell wie eine gute Idee: Leitfaden zur Codierung von Covid-19 als Todesursache, WHO, 16.04.2020 Zentrales Register der Obduktionen von COVID-19 Erkrankten Verbesserte Auswertung der Todesbescheinigungen durch “MUSE” Es gilt jedoch zu bedenken: In der Todesursachenstatistik wird prinzipiell der underlying cause codiert. Zum selbst ausprobieren: Link zur Software MUSE / Iris Institute “Görlitz-Studie”: Obduktion nahezu aller Sterbefälle 1987 in Görlitz, danach Vergleich Totenschein ↔ Obduktion. “. . . for 30 percent of the subjects, the difference crossed a major disease category.” Quelle: Modelmog et al. (1992, S. 541) , auch: Modelmog and Goertchen (1992) “Rostock-Studie”: Analyse von 10000 fortlaufenden Todesbescheinigungen. Es wurden “223 (2,23%) fehlerfrei ausgestellt [. . . ]. Auf den 9777 (97,77%) nichtkorrekt ausge- stellten Todesbescheinigungen fanden sich insgesamt 38.852 Fehler. Bei den darunter festgestellten 3116 schwerwiegenden Fehlern dominierte eine nichtmögliche Kausalkette in dem Feld ’Todesursache/Klinischer Befund’ (n = 1268, 12,68%) . . . ” Quelle: Zack et al. (2017, S. 518) , auch Artikel in der FAZ (2017): c Roland Rau Fragen eines Mortalitätsforschers 6 / 14
Geschlechtsspezifische Unterschiede Männliche Übersterblichkeit in Prozent in Deutschland 100 20% 20% 95 90 40% 30% 85 50% 60% 80 “Daten aus China zeigen, dass Männer das 70% 75 80% 90% Virus härter zu treffen scheint als Frauen” 100% 70 110% (Berliner Morgenpost, 24.04.2020 ) 65 60 “Noch immer weiß niemand genau, warum 120% 55 Männer anfälliger für eine SARS-CoV-2- 90% Alter 50 Infektion zu sein scheinen als Frauen.” 45 (tagesschau.de, 24.03.2020 ) 90 % 40 80% Männer haben in jeder Altersstufe über das 35 110% 100% 130% 120% gesamte Leben hinweg eine höhere 30 150% 140% Sterblichkeit als Frauen (siehe Abb. ⇒). 25 200% 20 Erhöht Corona bei den Männern die bekannte 120% 100% 70% 15 Übersterblichkeit? 60% 40% 50% 30% 10 Und falls ja: Liegt es nur am Rauchen? 30% 5 20% 0 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 Kalenderjahr Quelle: Eigene Darstellung mittels Daten der Human Mortality Database c Roland Rau Fragen eines Mortalitätsforschers 7 / 14
Regionale Unterschiede Bevölkerungsanteil 75+, Frauen, 2017 Falls ältere Menschen zur Risikogruppe gehören: Sind dann diese Regionen ⇒ besonders gefährdet? Oder gilt wie in vergangenen Zeiten ein “urban penalty”? (Kearns, 1988 ; Vögele, 2000 ) Blick aus meinem Home Office Quelle: INKAR Datenbank des BBSR, Bonn, 2020 c Roland Rau Fragen eines Mortalitätsforschers 8 / 14
Sozioökonomische Unterschiede in der Sterblichkeit Sterberaten, Frauen, Österreich, 1991/92 (incl. 95% Konfidenintervalle) ● 0.1 ● Hohe Bildung ● ● ● Niedrige Bildung ● ● log10 Sterberate ● ● ● ● 0.01 ● ● ● ● ● ● Es ist bekannt, dass Personen ● ● ● 0.001 ● ● mit geringerer Bildung eine ● 78% 70% 20% 8% 37% 79% 59% 50% 63% 83% 45% höhere Sterblichkeit besitzen. 35 45 55 65 75 85 Werden diese Unterschiede von Alter der gegenwärtigen Krise noch Sterberaten, Männer, Österreich, 1991/92 verstärkt? (incl. 95% Konfidenintervalle) ● ● ● 0.1 ● Hohe Bildung Illustratives Beispiel: ● Niedrige Bildung ● ● ● ● log10 Sterberate Ich konnte seit 16.03. ins Home ● ● ● ● ● 0.01 Office, während eine Kassiererin im ● ● ● Supermarkt seither weitaus weniger ● ● ● ● ● 0.001 “social distancing” praktizieren kann. ● ● 143% 225% 211% 170% 301% 121% 89% 80% 49% 33% 39% 35 45 55 65 75 85 Alter Quelle: Eigene Darstellung, basierend auf Daten von Doblhammer, Rau, Kytir (2005, S. 470f) c Roland Rau Fragen eines Mortalitätsforschers 9 / 14
Weitere Fragen: Einfluss der Ökonomie, langfristige Folgen, . . . Lebenserwartung für Frauen in Deutschland, Griechenland, Italien und Spanien 86 Deutschland 85 Griechenland Italien Spanien Wir wissen auf der Mikroebene und 84 Makroebene, dass die Lebenserwartung ökonomischen Bedingungen die 83 Sterblichkeit beeinflussen. Wird die gegenwärtige Krise die 82 Ökonomie derart in Mitleidenschaft ziehen, dass dies kurz-, mittel- oder 81 auch langfristig die Entwicklung der Lebenserwartung beeinflussen wird? 80 2000 2005 2010 2015 2020 Jahr Quelle: Eigene Darstellung mittels Daten der Human Mortality Database c Roland Rau Fragen eines Mortalitätsforschers 10 / 14
. . . und langfristige Effekte? Beispiel für langfristigen Effekt: “Barker Hypothesis:” “Intrauterine growth retardation, low birth weight, and premature birth have a causal relationship to the origins of hypertension, coronary heart disease, and non-insulin-dependent diabetes, in middle age.” Oxford Reference “Studies on the United States have shown that children born in 1919— and thus exposed to the H1N1 virus in utero—experienced worse health ([. . . ]) and higher mortality in older ages ([. . . ]). Those exposed also had lower educational attainment, higher rates of physical disability, lower in- come attainment, lower socioeconomic status (SES), and a higher depen- dence on social welfare than surrounding birth cohorts ([. . . ])” Quelle: Helgertz and Bengtsson (2019, S. 1390) “The 1918q2 and 1919q1 cohorts, which were exposed in third trimester and at birth have excess all-cause mortality, the HRs being 1.08 and 1.09, respectively (both p < .05).” Quelle: Myrskylä et al. (2013, S. E85) , Ergebnisse für USA, 1989–2006 “[T]he results for mortality in particular are rather modest in terms of size and, especially for women, are somewhat noisy. For males, exposure during the second trimester stands out both for hospitalization and mortality.” Quelle: Helgertz and Bengtsson (2019, S. 1419) , Ergebnisse für Schweden, 1968–2012 c Roland Rau Fragen eines Mortalitätsforschers 11 / 14
“So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie” Jürgen Habermas, 10.04.2020 Interview in der Frankfurter Rundschau (Überschrift) “So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit han- deln und leben zu müssen, gab es noch nie.” Jürgen Habermas, 10.04.2020 Interview in der Frankfurter Rundschau (gesamtes Zitat) c Roland Rau Fragen eines Mortalitätsforschers 12 / 14
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Zwei interessante Links zur eigenen Datenanalyse: GitHub Repository von James Tozer & Martín González (The Economist): “The Economist’s tracker for covid-19 excess deaths” (seit 16. Mai 2020) Human Mortality Database: “Short-term Mortality Fluctuations (STMF) data series” (Verfügbarkeit bekannt gegeben am 19.05.2020 um 21:55) Der Link zum erwähnten Paper von Modig & Ebeling: “Excess mortality from Covid-19. Weekly excess death rates by age and sex for Sweden.” c Roland Rau Fragen eines Mortalitätsforschers 13 / 14
Literatur Doblhammer, G., R. Rau, and J. Kytir (2005). Trends in educational and occupational differentials in all-cause mortality in Austria between 1981/82 and 1991/92. Wiener Klinische Wochenschrift 117 (13–15), 468–479. Eckert, O. (2017). Verbesserte Qualität der nationalen und internationalen Todesursachenstatistik durch den Kodierkern MUSE. WISTA 4(2017), 118–130. Helgertz, J. and T. Bengtsson (2019). The Long-Lasting Influenza: The Impact of Fetal Stress During the 1918 Influenza Pandemic on Socioeconomic Attainment and Health in Sweden, 1968–2012. Demography 56(4), 1389–1425. Kearns, G. (1988). The urban penalty and the population history of England. In A. Brandström and L.-G. Tedebrand (Eds.), Society, health, and population during the demographic transition, pp. 213–236. Stockholm, SWE: Almqvist and Wiksell International. Modelmog, D. and R. Goertchen (1992). Der Stellenwert von Obduktionsergebnissen. Deutsche Ärzteblatt 89(42), 3434–3440. Modelmog, D., S. Rahlenbeck, and D. Trichopoulos (1992). Accuracy of death certificates: a population-based, complete-coverage, one-year autopsy study in East Germany. Cancer Causes and Control 3(6), 541–546. Myrskylä, M., N. K. Mehta, and V. W. Chang (2013). Early life exposure to the 1918 influenza pandemic and old-age mortality by cause of death. American Journal of Public Health 103(7), e83–e90. Preston, S. H., P. Heuveline, and M. Guillot (2001). Demography. Measuring and Modeling Population Processes. Oxford, UK: Blackwell Publishers. Vögele, J. (2000). Urbanization and the urban mortality change in Imperial Germany. Health & Place 6(1), 41–55. Zack, F., A. Kaden, S. Riepenhausen, D. Rentsch, R. Kegler, and A. Büttner (2017). Fehler bei der Ausstellung der Todesbescheinigung. Rechtsmedizin 27 (6), 516–527. c Roland Rau Fragen eines Mortalitätsforschers 14 / 14
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