Ostern 2022 - Jesuiten weltweit
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EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, der Gitterzaun könnte für die Lebenssituation der jungen Frau auf unse- rem Titelbild stehen. Und auch die Wahl des Schwarz-weiß-Formats ist nicht zufällig. Vor oder hinter Gittern, umgeben von Einschränkungen, Grenzen und Hindernissen – da verliert das Leben schnell an Farbe. Hil- fesuchend und doch stark, in der Hoffnung auf einen Neubeginn, weil es nur besser werden kann: In dieser Lage befinden sich Millionen von Venezolaner:innen, die auswandern – meist zu Fuß – und versuchen, in einem der Nachbarländer ein neues Leben aufzubauen. Aus Verzweif- lung, weil ihnen und ihren Familien in der Heimat das Notwendigste fehlt und sie keine Zukunft haben. „Wir wollen mithelfen, die Hoffnung zu organisieren“, sagt Javier Cortegoso, der das Netzwerk der Jesuiten für Migrant:innen in Lateinamerika koordiniert. Die Organisationen der Jesuiten tun ihr Möglichstes, damit diese Hoffnung sich im Alltag in konkrete Lebensmöglichkeiten umsetzt. In diesen Wochen vor Ostern erinnern wir uns gerne an die Oster nachtsfeiern, die wir in unserer Zeit in Venezuela erlebt haben, an die Freude und Energie, die die Mitfeiernden in den Barrios ausgestrahlt haben. Und das, obwohl schon damals die Situation sehr schwierig war. Neue Lebenschancen, der Verzweiflung und den schwierigen Umstän- den zum Trotz – im Blick auf Ostern scheinen sie möglich. Wir wünschen Ihnen eine gute, gesegnete Zeit auf Ostern hin und danken Ihnen herzlich für Ihre Unterstützung! Ihre Klaus Väthröder SJ Mag. Katrin Morales Missionsprokurator Geschäftsführerin in Wien
INHALT 04 Massenexodus aus Venezuela Hunger, Gewalt und extreme Unsicherheit als Verursacher des Migrationsstroms 12 Sozial-Ökologische Transformation Mit leichtem Gepäck über die Erde 16 Haitis schweres Schicksal Inmitten aller Armut getroffen von Naturkatastrophen und politischem Chaos Krisenstaat Venezuela 18 Zwischenstation Zu Fuß verlassen viele Eine Meditation von Joe Übelmesser SJ Venezolaner:innen eine Heimat ohne Lebensgrundlagen. In den 20 „Ich höre immer noch die Schüsse“ Nachbarländern wartet eine Heftige Unruhen in der äthiopischen Region Tigray ungewisse Zukunft. 23 „Bildung ist keine Selbstverständlichkeit“ Von Nürnberg aus ermöglicht „Steps2Education“ Kindern in Vietnam, zur Schule zu gehen 24 Jeden Tag ein neues Abenteuer Als Jesuit Volunteer verbringt Mariam ein Jahr beim Jesuiten-Flüchtlingsdienst in Athen 26 Absturz in die digitale Kluft Lockdowns und Schulschließungen führen in Indien zu einer Bildungskrise unter Armen 29 Versuchen, was möglich ist Afghanische Student:innen lernen weiter in den Kursen von Jesuit Worldwide Learning 31 Im Dialog Joe Übelmesser SJ und Robert Miribung SJ, die Pioniere der Jesuitenmissionen, blicken mit uns zurück Sozial-Ökologische Transformation 33 Nachrichten und Termine Klaus Väthröder SJ mit einer Katholikentag 2022, Nachruf auf Friedrich Sperringer SJ, Einführung in unser Jahresthema. Verstärkung im Team
EDITORIAL Massenexodus aus Venezuela Caminantes, so werden sie in Lateinamerika genannt: Menschen, die meist zu Fuß auf dem Weg sind in eine mehr als ungewisse Zukunft. Sie brechen auf, weil es in ihrer Heimat kaum Lebensmöglich- keiten gibt. Das Netz- werk der Jesuiten für Migrant:innen unter- stützt die Caminantes an den Grenzen und in den Ländern, in denen sie Aufnahme suchen. 4 jesuitenweltweit
INHALT I n den letzten sechs Jahren hat sich die zentrale Wurzel dieser Krise finden wir in der von Venezuela ausgehende Migration andauernden Aushöhlung der Demokratie in in Lateinamerika zu einer andauernden Venezuela und in der damit einhergehenden humanitären Krise entwickelt. Die Gründe Verschlechterung der Lebensbedingungen. dahinter sind vielfältig und eine Fortsetzung Die Abwesenheit stabiler staatlicher Institu- dessen, was die Menschen in Venezuela tag- tionen erklärt die wirtschaftliche und soziale täglich erleben: unerträgliche Extreme, die Krise, die Gewalt und auch die ökologischen unvereinbar sind mit dem Leben und der Missstände, die zum zweitgrößten Migrati- Würde vieler Menschen. Die Mehrheit der onsstrom auf der Welt nach dem aus Syrien venezolanischen Bevölkerung hat kaum geführt haben. Seit dem Jahr 2000 sind mehr Zugang zu den wesentlichsten Rechten. Die als sechs Millionen Venezolaner:innen aus jesuitenweltweit 5
VENEZUELA ihrer Heimat geflüchtet, vier Millionen davon kriminierung und des Ausschlusses, die vor in den letzten sechs Jahren. Solange es zu kei- allem die Verwundbarsten trifft: Minderhei- nem tiefgreifenden und friedlichen Wandel ten, Indigene, schwangere Frauen, Mütter mit im Land kommt, solange keine demokrati- Kleinkindern, Menschen mit unterschiedli- schen Strukturen wiederhergestellt werden chen Behinderungen, alte Menschen. Genau und kein Wiederaufbau erfolgt, wird sich an diese Gruppe, die Allerverwundbarsten, sind den Fluchtursachen und dem damit verbun- unterwegs: die Caminates. denen Migrationsstrom nicht viel ändern. Flucht vor Gewalt „Ich bin aus Venezuela ausgewandert, weil ich nichts hatte, nur Angst, Hun- Es herrscht kein Krieg, aber alle anderen For- ger und Unsicherheit. Ich möchte eine men von Gewalt sind in Venezuela präsent und Zukunft haben, einen Ort, an dem ich treiben die Menschen in die Flucht: struktu- zu Hause sein kann.“ relle Gewalt, die sich in Armut, Ungleichheit Venezolanischer Migrant in Kolumbien und der enormen Schwierigkeit, Erfüllung von Grundbedürfnissen und -rechten wie Nahrung, Gesundheit und Ausbildung zu be- Wenn wir von erzwungener Migration in Ve- kommen, sehr deutlich zeigt. Institutionelle nezuela sprechen, muss uns klar sein, dass Gewalt, die Krise der Demokratie, die Korrup- wir überwiegend von Menschen sprechen, die tion, die Straffreiheit und die Elitenbildung dringend internationalen Schutz brauchen, spielen eine große Rolle. Hinzu kommt sozio- Asyl oder ein alternatives System, das ihnen politische bewaffnete Gewalt. Diese Faktoren nicht nur Zugang zu ihren Rechten, sondern schaffen ein Klima der sozialen Unsicherheit, auch internationalen Schutz garantiert. Sie das jegliche Zukunft verhindert. benötigen humanitäre Nothilfe, menschen- Diese Unsicherheit spiegelt sich auch in den würdige Unterkünfte und Unterstützung Worten einer Venezolanerin in Ecuador wider, – diese Forderung erheben nicht nur Organi- mit der ich sprach: „Ja, klar will ich nach Vene- sationen der Zivilgesellschaft und die Kirche, zuela zurück, um bei meiner Mutter zu sein. sondern auch das Flüchtlingswerk der Verein- Sie ist allein, seit wir alle weggegangen sind, ten Nationen (UNHCR). aber mehr, als nach Venezuela zurückzukeh- ren, wünsche ich mir, leben zu können. Wenn Schwerer Fußmarsch ich zurückkehre und umgebracht werde, wer kümmert sich dann um meine Kinder?“. Menschen migrieren unter immer prekäre- ren Umständen, das zeigt die Veränderung im Das alles wird befeuert durch das ausbeuteri- Profil der Menschen, die Venezuela verlassen. sche Entwicklungsmodell, das das Überleben Diese Entwicklung führt zu einem Phänomen, unseres Planeten gefährdet und die sich häu- das „Wanderer/Fußgänger“ genannt wird. Das fenden Naturkatastrophen im Zusammen- Profil der Migrant:innen hat sich seit der Jahr- hang mit dem Klimawandel bedingt. Es ist tausendwende mit den unterschiedlichen Mi- eine Gewalt gegen das gemeinsame Haus, die grationsgründen stark verändert. Seit 2016 ist sich gegen alles und jeden richtet. Schließ- es vor allem jene Bevölkerungsschicht, die von lich spricht Papst Franziskus in der Enzyk- (oft extremer) Armut betroffen ist, die sich auf lika „Fratelli tutti“ von einer Gewalt der Dis- den Weg macht. 6 jesuitenweltweit
VENEZUELA Die „Caminantes“, zu Fuß unterwegs in eine bessere Zukunft. „Zuerst waren viele junge Menschen, Pärchen „Unterwegs hatte ich nur einen Schatz mit: mei- unterwegs; dann kamen ganze Familien, Frau- nen Reisepass. Jemand hat ihn mir gestohlen, als en allein mit ihren Töchtern, alte Menschen, ich für eine Wegstrecke eine Mitfahrgelegenheit Menschen mit Behinderungen. Wir waren zu gefunden hatte. Von da an musste ich immer in Fuß unterwegs, mit nichts, nur mit unseren kurzen Etappen reisen. Zuerst habe ich mit Geld Träumen“, sagt eine Caminante. Wir sprechen bezahlt, später mit meiner Arbeitskraft, später also von einem Massenexodus von Menschen auch mit meinem Körper, damit mich ‚Führer’ mit großer Verwundbarkeit, wenigen Res- über die Grenzen bringen“, berichtet eine vene- sourcen und geringen Kompetenzen – und zolanische Caminante in Kolumbien über die mehr und mehr von ganzen Familienverbän- Ereignisse während des Fußmarsches. den. Die Migration trägt heute das Gesicht von Frauen und unbegleiteten Minderjähri- Steigende Fremdenfeindlichkeit gen. Familienzusammenführungen und die Migration ganzer Großfamilien zeigen eine Mit der steigenden Anzahl mittelloser neue Phase auf: Vermutlich wird die Bewe- Migrant:innen gingen Verschärfungen in der gung über die grüne Grenze zunehmen – und Einwanderungspolitik verschiedener Länder damit die Anzahl von Personen ohne Auf- einher, die selbst in großen Schwierigkeiten enthaltsstatus. Das birgt große Risiken für stecken und mit den Flüchtlingsströmen über- Migrant:innen. Man muss bedenken, dass fordert sind. Grenzen wurden verstärkt mit schon die Wanderung zu Fuß innerhalb Vene- Militär besetzt. Regierungen und Medien füh- zuelas bis an die Grenze ein großes Risiko mit ren einen Diskurs der Fremdenfeindlichkeit, vielen Hindernissen bedeutet. Die Zunahme das setzt sich mehr und mehr in der Gesell- von bewaffneten Konflikten in Kolumbien er- schaft fest. Die massive Präsenz venezolani- schwert die Lage noch zusätzlich. scher Migrantinnen und Migranten auf dem jesuitenweltweit 7
VENEZUELA ganzen Kontinent bedeutet immense Heraus- ist, Menschen, die zur Migration gezwungen forderungen für humanitäre Hilfe und Auf- sind, zu begleiten. Hier in Lateinamerika sind nahmekapazität, aber auch für das soziale Ge- vor allem Venezolaner:innen, betroffen, aber füge in vielen lateinamerikanischen Ländern. auch Menschen aus Haiti, aus Zentralameri- ka, Honduras, El Salvador und Guatemala, aus Nicaragua sowie Opfer interner Vertreibung „2016, als mehr unserer Brüder und in Kolumbien und Mexiko. Deshalb haben wir Schwestern zu migrieren begannen, dieses Netzwerk gegründet, um über Landes- haben die Leute hier in meinem Dorf grenzen hinweg durch den Zusammenschluss sie empfangen: mit Wasser, mit Essen, verschiedener Organisationen: dem Jesuiten- Schuhen, mit Gastfreundschaft; mit Flüchtlingsdienst, aber auch nicht-jesuitischen der Zeit haben wir uns daran gewöhnt, Institutionen gemeinsam auf möglichst vielen dass viele Menschen vorbeikommen, Ebenen und an vielen Orten zu helfen. Wir ha- die Gleichgültigkeit stieg. Und noch ben Anlaufstellen an den Grenzen und in den später haben wir uns von ihnen abge- Städten, in denen die Caminantes eine Bleibe suchen. Oft sind sie in vielen Etappen unter- wendet, die Angst war gewachsen.“ wegs, werden an Grenzen abgewiesen, müssen Venezolanischer Bewohner an der Route immer wieder weiterziehen, sind hilflos und schutzlos. Sie brauchen unsere Begleitung. Es ist vorauszusehen, dass die Maßnahmen gegen Migration im Jahr 2022 an Schärfe nicht verlieren werden. Mit dem Wissen, „Sie haben mich nicht gefragt, woran dass die erzwungene Migration aus Venezu- ich glaube, woher ich komme oder ela vermutlich dauerhaft sein wird, ist es eine wohin ich will, sie haben mir ihr Haus der größten Herausforderungen der Staaten, und ihr Herz geöffnet und von Gast- die Migrationsströme zu regulieren. Beispie- freundschaft gesprochen. Sie haben le wie das „Estatuto temporal de protección“, gesagt, dein Leben ist mir wichtig, also ein temporärer Schutz in Kolumbien, mit du bist unsere Schwester. Zum ers- dem man hofft, den Status von mehr als einer ten Mal seit Monaten habe ich gut Million Venezolaner:innen zu klären, könn- geschlafen, habe gewusst, dass man ten einen interessanten Präzedenzfall dar- mich nicht verurteilt.“ stellen. Es ist ein Ansatz, bei dem humanitäre Venezolanische Geflüchtete in Mexiko Hilfe und Schutz mehr Gewicht haben als die reine Migrationskontrolle zur Wahrung der nationalen Sicherheit, wie es zum Beispiel Unsere erste Aufgabe liegt in der direkten Chile mit einem neuen Migrationsgesetz, das Begleitung der Vertriebenen. Hier sind der der Grenzpolizei großen Spielraum gibt, und Jesuiten-Flüchtlingsdienst und der Jesuiten- militarisierten Grenzen handhabt. dienst für Migrant:innen an vielen Orten in ganz Lateinamerika gefragt. Wir helfen mit Was die „Caminantes“ brauchen den notwendigsten Lebensmitteln und Un- terkunft, Medikamenten und Hygienearti- Bereits vor einiger Zeit haben wir verstanden, keln und organisieren, wenn nötig, ärztliche dass es eine sehr große und wichtige Aufgabe Hilfe. Vor allem Mütter mit Kleinkindern und jesuitenweltweit 9
VENEZUELA Rechte bekommen. All das basiert auf dem Wunsch, in den Aufnahmeländern eine Kul- tur der Gastfreundschaft zu schaffen und zu fördern, mit einem klaren Horizont von Ge- rechtigkeit und Versöhnung, damit langfristig ein gutes Zusammenleben möglich wird. Hoffnung organisieren Die humanitäre Krise in Venezuela, die sich im Massenexodus auf dem ganzen Kontinent und auch in anderen Gegenden der Welt zeigt, stellt für uns eine große Herausforderung dar. Wir denken, dass eine Aufgabe, zu der uns Papst Franziskus auffordert, ganz wesentlich ist: die Hoffnung zu organisieren. Gemein- sam Möglichkeiten zu schaffen und uns dafür einzusetzen, dass die Hoffnung auf eine neue Aktivitäten im jesuitischen Netzwerk vermitteln Freude, Zukunft real wird. Ein venezolanischer Cami- Hoffnung und ein Gemeinschaftsgefühl. nante in Ecuador erklärt es so: „Das Schöne am Menschsein ist, dass wir immer wieder neu angekommene Migrant:innen brauchen neu anfangen können.“ diese Unterstützung dringend. Außerdem bie- ten wir Begleitung und Rechtsberatung an, und Seine Worte zeigen, warum wir immer wieder wir versuchen, bei der Integration im Aufnah- von den Migrant:innen, denen wir begegnen, meland zu helfen. Hier geht es nicht nur um lernen können: von ihrer Fähigkeit zu träu- die Unterstützung bei ihrem Bemühen, Fuß zu men und schwerste Lebenssituationen durch- fassen, Unterkunft und Arbeit zu finden, son- zustehen, von ihrer Kreativität und ihrem dern es betrifft die gesamte Gemeinschaft. Es unbändigen Verlangen, sich für das Leben geht darum, ein gegenseitiges Verständnis zu einzusetzen. Sie sind es, die es uns erlauben, schaffen und die Kultur der Gastfreundschaft die Hoffnung aufrechtzuerhalten, damit wir zu fördern, inmitten aller Schwierigkeiten. gemeinsam unterwegs sein und gemeinsam einen nächsten Schritt machen können. Eine zweite Dimension umfasst die wissen- schaftliche Begleitung unserer Arbeit und, Javier Cortegoso Lobato, aufbauend auf diesen beiden Aspekten, die Koordinator des Netzwerks der Jesuiten für politische und gesellschaftliche Einfluss- Migrant:innen in Lateinamerika nahme. Wir arbeiten daran, vorherrschende Narrative zu verändern und auch die positi- ven Aspekte und Beiträge der Migrant:innen Unterstützung für venezolanische zu betonen. Auf politischer Ebene setzen wir Migrant:innen: uns bei Entscheidungsträgern dafür ein, dass jesuitenweltweit.de • jesuitenweltweit.at Migrant:innen besseren Schutz und mehr ⇢ /venezuela 10 jesuitenweltweit
Unsere Bitte für Venezuela „Wenn ich wieder neue Kraft geschöpft habe, dann werde ich den nächsten Schritt machen. Im Moment habe ich kaum Hoffnung. Ich wollte nicht gehen, aber der Hunger und die Ver- zweiflung haben mir keine andere Wahl gelassen“. So oder ähnlich verlaufen viele Geschich- ten der „Caminantes“. Es wird geschätzt, dass jeden Tag ca. 5.000 Menschen Venezuela ver- lassen. Es sind Menschen, die sich keine Flugtickets leisten können. Sie haben nichts, was sie verkaufen können für einen Start in ein neues Leben. Sie sind zu Fuß unterwegs. Jede Etap- pe ihres Weges ist von Unsicherheit und nur schwer überwindbaren Hindernissen geprägt. Das Netzwerk der Jesuiten für Migrant:innen leistet in ganz Lateinamerika koordinierte Hilfe auf vielfältige Weise, durch Versorgung mit Lebensmitteln und durch Rechtsberatung, durch psychosoziale Begleitung und bei der Integration im Aufnahmeland, beim Schulbesuch und bei der Suche nach Arbeit, um die Familie zu ernähren. Dafür bitten wir Sie herzlich um Unterstützung und bedanken uns für Ihre Hilfe! Klaus Väthröder SJ Missionsprokurator Spendenkonto Österreich IBAN: AT94 2011 1822 5344 0000 Spendenkonto Deutschland IBAN: DE61 7509 0300 0005 1155 82 Stichwort: X31221 Venezuela jesuitenweltweit 11
Mit leichtem Gepäck über die Erde Die Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation steht außer Frage. In den nächsten Ausgaben von weltweit wollen wir das Thema aus der Sicht unserer Partner:innen aus dem Globalen Süden aufgreifen. Klaus Väthröder SJ führt uns in das Thema ein. S tellen Sie sich vor, dass sich die Ge- Mitternacht lebt Abraham, und 14 Sekunden schichte des Planeten Erde an den 365 vor Mitternacht wird Jesus geboren. In den Tagen eines einzelnen Jahres abspielt. letzten zwei Sekunden des Jahres steigt die Am Neujahrstag, dem 1. Januar, beginnt die Anzahl der auf dem Planeten Erde lebenden Erdentstehung, und in der Umgebung der Menschen von einer auf acht Milliarden. Erde entstehen Planeten im Urzustand. An- fang März entstehen die ersten Kontinente Dieses Gedankenexperiment macht mir auf der Erde. Im August gibt es genügend Sau- deutlich, was der Mensch als „Krone der erstoff für die einfachsten Lebewesen. Am 27. Schöpfung“ in den letzten beiden Sekunden November entwickeln sich die ersten Pflan- des Jahres mit dem Planeten Erde gemacht zen, am 3. Dezember kriechen die ersten Tiere hat. Der Glaube an unendliches Wirtschafts- auf das Festland. Am Abend des 31. Dezember wachstum und die damit notwendigerweise finden sich erste Spuren früher Menschen- einhergehende exponentielle Steigerung des typen in Ostafrika. Um 23:56 Uhr erscheint Verbrauchs von Energie und endlichen Res- der anatomisch moderne Mensch, der Homo sourcen, von Konsum, Mobilität, Bevölke- sapiens. Um 23:58 Uhr und 50 Sekunden rung, Urbanisierung und anderen menschli- wird der Mensch sesshaft. 22 Sekunden vor chen Aktivitäten haben in diesem winzigen 12 jesuitenweltweit
SOZIAL-ÖKOLOGISCHE TRANSFORMATION Augenblick der Erdgeschichte Auswirkun- gen von gravierender globaler Bedeutung, Heute ist die Menschheit mit einer die das Überleben der Menschheit grund- dritten großen Transformation sätzlich infrage stellen. konfrontiert, der sozial-ökologischen Transformation, für die nach Die Zeit der Wenden Einschätzung der Wissenschaft nur noch wenige Jahre bleiben. Klimawandel und die Gefahr von Kipppunk- ten und ihnen folgenden Extremwetterereig- nissen, Wasserknappheit und Meeresanstieg, Es gilt, das gesamte Wirtschaftssystem umzu- Artensterben und Verlust von Biomasse – das bauen und so zu gestalten, dass wir innerhalb sind Schlagworte, die täglich aus den Medien unserer planetarischen Grenzen leben. Wir auf uns einprasseln. Die Auswirkungen tref- müssen die Energieversorgung auf erneuer- fen allerdings besonders die Menschen im bare Energie umstellen und die Produktion Globalen Süden, die am wenigsten zu dieser vom Verbrauch endlicher Ressourcen ent- Situation beigetragen haben. Als Antwort koppeln. Zukünftig sollten wir unseren Wohl- werden uns von Politik und Wissenschaft ver- stand und unser Glücksempfinden nicht an schiedene Wenden präsentiert: Energie- und einem Wirtschaftswachstum messen, das un- Verkehrswende, Agrar- und Konsumwende, sere Mit-Welt zerstört. Das Ganze müssen wir urbane und industrielle Wende. Wenn wir alle tun unter der Bedingung der Gerechtigkeit Wenden zusammennehmen, sprechen wir und des Wohlergehens für alle Menschen die- von der sozial-ökologischen Transformation. ses Planeten. Das heißt, dass wir uns an den 17 nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainab- Bisher gab es zwei große Transformationen le Development Goals) ausrichten sollen, die oder Umwälzungen in der Menschheitsge- von allen Staaten im Jahr 2015 verabschiedet schichte. Während der ersten großen Trans- wurden. Das hört sich erst einmal schwierig formation, vor gut 10.000 Jahren oder 70 Se- an, wenn nicht gar unmöglich. kunden vor Ende des letzten Tages unserer Jahres-Welt-Uhr, beendeten kleine Sammler- Spiritualität der Schöpfung und Jägergruppen das Herumziehen, um sess- haft zu werden, Vieh zu zähmen und Ackerbau Experten nennen die jüngste Phase der Erd- zu betreiben. Mit der Industriellen Revolution geschichte, in der menschliche Aktivität der vor ca. 250 Jahren begann die zweite Transfor- bestimmende Faktor ist, das Anthropozän, das mation, mit der tiefgreifenden und dauerhaf- Zeitalter des Menschen. Auf der einen Seite ten Umgestaltung von wirtschaftlichen und steht die Frage, ob wir überhaupt in der Lage sozialen Verhältnissen, von Arbeitsbedingun- sind, für den Planeten Verantwortung zu über- gen und Lebensumständen. In dieser Zeit be- nehmen und Prozesse zu steuern, die über schleunigte sich die Entwicklung von Technik, Jahrtausende unsere gesamte Biosphäre beein- Produktivität und Wissenschaften; Elektrizität flussen, auf der anderen Seite steht die Mög- und Dampfmaschinen wurden erfunden, und lichkeit der Umkehr mit einer neuen Spiritua- die Bevölkerung nahm stark zu. Diese Trans- lität der Schöpfung, die bei uns selbst beginnt. formation brachte Wohlstand, aber auch sozi- Damit meine ich nicht in erster Linie, dass wir ale Verwerfungen und neues Elend. nachhaltiger leben, weniger Fleisch essen, auf jesuitenweltweit 13
SOZIAL-ÖKOLOGISCHE TRANSFORMATION Respekt und Verantwortung gegenüber der Natur und Ressourcen: eine Familie in Kambodscha. Flugreisen verzichten und zu Hause auf erneu- vom Anfang, sondern von der Gegenwart, die erbare Energie umsteigen. Das auch. Ich mei- mit einem Handlungsauftrag verbunden ist. ne aber vor allem eine geistige und spirituelle In einer solchen Spiritualität der Schöpfung Wende, die allen anderen technologischen und ist die Mit-Welt nicht ein Ding, über das wir wirtschaftlichen Wenden vorausgehen muss. herrschen und das wir zu unserem Wohler- gehen beliebig benutzen und ausnutzen kön- Die Natur als Geschenk nen. Schöpfung meint die ständige Gegen- wart Gottes in seinen Geschöpfen, welche die Jede Schöpfungsspiritualität beginnt mit Dan- Menschen zur Liebe befähigt, zum Handeln ke-Sagen, etwa „für einen Baum, der mir zum verpflichtet und zur Hoffnung ermutigt. Aus Freund geworden ist, für mein Lieblingswald- dieser Dankbarkeit heraus können wir einen stück, für die Amseln, die meinen Garten be- neuen Lebensstil entwickeln, der nicht unter suchen; und für den Amazonas, der weit weg dem Vorzeichen des Verzichts steht. ist, aber von dem auch mein Leben abhängt“, schreibt Fabian Moos SJ im Buch „Der Zukunft eine Zukunft geben. Eine Spiritualität der so- Trotz eines historisch nie dagewese- zialökologischen Umkehr“. Dadurch entsteht nen Wohlstands und Konsumniveaus eine Perspektive, die die Natur als Geschenk, ist das subjektive Glücksempfinden nicht als selbstverständliche und beliebig ver- der Menschen in der westlichen Welt fügbare Voraussetzung unseres Daseins wahr- seit Jahrzehnten nicht gewachsen. nimmt. Schöpfung ist nicht eine Erzählung 14 jesuitenweltweit
SOZIAL-ÖKOLOGISCHE TRANSFORMATION Vielmehr sind wir getrieben von dem Verlan- gen nach „immer mehr“. Doch die Befriedigung unserer anscheinend grenzenlosen Bedürfnis- se bewirkt keine tiefe Zufriedenheit in uns. Wir brauchen daher eine neue Idee vom glück- lichen Leben, vom „Buen Vivir“, wie es die indi- genen Völker des Anden- und Amazonasraums in Südamerika ausdrücken und leben. Papst Franziskus beschreibt das „Gute Leben“ oder „Buen Vivir“ in seiner Enzyklika „Lauda- to si“ als ein Leben in Dankbarkeit und Unent- geltlichkeit, mit Verzicht und Großzügigkeit, im liebevollen Bewusstsein, nicht von den anderen Geschöpfen getrennt zu sein, son- dern mit den anderen Wesen des Universums eine wertvolle allumfassende Gemeinschaft zu bilden (LS 220). Der Papst möchte einen prophetischen und kontemplativen Lebens- stil, der fähig ist, sich zutiefst zu freuen, ohne Papst Franziskus über „Buen Vivir“, einen Lebensstil der auf Konsum versessen zu sein. Es handelt sich Freude – nicht der Konsumversessenheit. um die Überzeugung, dass „weniger mehr ist“ und letztlich befreiend wirkt (LS 222). Anders ausgedrückt: Eine Änderung des Lebensstils Weniger ist mehr sollte Spaß machen. Die Herausforderungen, vor denen wir ste- hen, sind enorm. Es besteht die Versuchung, sich wegzuducken oder in Aktivismus aufzu- reiben. Das Wesentliche ist meine innere Ein- stellung. Gerade als Christ:innen sind wir ein- geladen, Gott zu vertrauen und mit „leichtem Gepäck“ über die Erde zu gehen. Das „Mehr“ oder das ignatianische „Magis“ kann gerade in einem „Weniger“ bestehen, im Sinne einer Entrümpelung. Dazu gibt es eine Vielzahl von Initiativen und Menschen, die sich auf den Weg der sozial-ökologischen Transformation gemacht haben und die Welt von morgen be- reits vorwegnehmen. Wenn wir wach und auf- merksam sind, werden auch wir bald bemer- ken, in welche Richtung uns Gott ziehen will. P. Klaus Väthröder SJ jesuitenweltweit 15
EDITORIAL Haitis schweres Schicksal Immer wieder wird Haiti von Erdbeben getroffen, die gerade begonnene Wiederaufbauarbeiten zunichte machen. Gleichzeit herrschen in dem bitterarmen Inselstaat politisches Chaos, Kriminalität, Korruption und totale Instabilität. E ines der verheerendsten Erdbeben kungen des Klimawandels betroffen wie Haiti. erschütterte Haiti Anfang 2010. Es Dort, inmitten aller Armut, schlägt er hart zu. kostete Schätzungen zufolge 300.000 Menschen das Leben, fast zwei Millionen Politisches Erdbeben Menschen wurden mit einem Schlag obdach- los. Insgesamt war ein Drittel der Bevölkerung Neben den Naturkatastrophen leidet Haiti von der Katastrophe betroffen. 2016 folgte in auch an einer andauernden politischen Krise, die stockenden Wiederaufbauarbeiten hinein an Gewalt durch Bandenkriege, die vor allem „Hurricane Matthew“, der schwere Überflu- in der Hauptstadt ganze Stadtteile kontrol- tungen auslöste und wiederum etwa 30.000 lieren, an Unruhen, Entführungen und all- Häuser zerstörte. 1.000 Menschen verloren gegenwärtiger Korruption. Der Karibik-Staat dabei ihr Leben. Seither hatte Haiti kaum eine ist das ärmste Land Amerikas und belegt im Verschnaufpause. 2018 und im Sommer 2021 „Human Development Index“, der den Ent- ereigneten sich stärkere Erdbeben, unmittel- wicklungsstand eines Landes misst, den 170. bar gefolgt von dem Tropensturm „Grace“. Die- von 189 Plätzen. Etwa 60 Prozent der Bevölke- se Naturkatastrophen führten wieder zu Zer- rung leben unter der Armutsgrenze. Mit der störungen und Todesopfern und behinderten Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse im die Hilfsarbeiten mit starken Regenfällen bei Juli 2021, dem schon ein versuchter Mordan- schlechter Infrastruktur. So wie das Jahr 2021 schlag vorausging, und dem misslungenen endete, begann auch das Jahr 2022. Kaum ein Anschlag auf den aktuellen Interimspremi- anderes Land ist dermaßen von den Auswir- erminister Ariel Henry wurde ein politisches 16 jesuitenweltweit
HAITI Erdbeben losgetreten. Henry verfügt, zahl- Versprechen werden gemacht und in takti- reichen haitischen Stimmen zufolge, weder schen Spielchen von Politikern wieder ge- über Glaubwürdigkeit noch über Legitimität. brochen oder manipuliert“, so ein Bewohner. Im November geplante Wahlen fanden nicht Diese Meinung zeigt mit aller Deutlichkeit die statt, einen Ersatztermin gibt es nicht. kollektive Frustration der Menschen Haitis. Der Weg aus der Krise Die aussichtslose Situation veranlasst immer mehr Menschen, das Land zu verlassen, vor allem nach Mexiko und weiter in Richtung USA. Die Hilfsaktion der Jesuiten in Haiti ist in vollem Gange – für jene, die aufgebrochen sind, und vor Ort mit Soforthilfe für akut be- troffene Familien, die ihr Hab und Gut verlo- ren haben: durch Unterkünfte, Lebensmittel und psychosoziale Unterstützung, aber auch durch langfristige Projekte, um zerstörte Häu- ser nachhaltig aufzubauen. Denn das nächste Erdbeben wird kommen – Haiti liegt in der Nähe des Schnittpunkts zweier tektonischer Platten, der karibischen und der nordameri- Ein Lächeln schenkt Hoffnung in dieser schwierigen Zeit. kanischen Platte –, und dann sollen die Häu- ser den Erschütterungen standhalten können. Hoffnung und Würde Kollektive Frustration Die Jesuiten in Haiti sprechen von der Not- wendigkeit „einer spirituellen Wiedergeburt“, Die Jesuiten in Haiti haben selbst zu kämp- bei der die Menschen zu zivilem Engagement fen, wie sie erzählen: „Die Räumlichkeiten des zurückfinden, Respekt für das Leben wieder- Jesuiten-Flüchtlingsdiensts wurden am 4. Ok- gewinnen und der Voluntarismus unter jungen tober bei einem Feuer zerstört, darunter vier Leuten wieder einen Platz findet, zur Unter- Büros des Schulwerks ,Foi et Joie‘. Trotz der stützung des guten Zwecks – auf politischem Umstände arbeiten wir weiter, denn die Not wie sozialem Feld. Die Basis dafür ist gute Bil- hier ist groß. Wir Jesuiten in Haiti sind den dung für alle, ohne Ausnahme und mit großen Menschen im Land nahe und wir spüren ihren Anstrengungen, um Hoffnung und Würde zu- Schmerz als Ergebnis dieser Krise.“ rückzugewinnen, um das natürliche und kul- turelle Potenzial des Landes auszuschöpfen. Die Überhandnahme des Terrors bewaffneter Banden hat viele Haitianer:innern zur Flucht Sara Gratt veranlasst, und das in einem Land, das von vollkommener Unsicherheit geprägt ist. „Auf Hilfe für Haiti: dem politischen Level gibt es absolut keinen jesuitenweltweit.de • jesuitenweltweit.at Grund, optimistisch in die Zukunft zu blicken: ⇢ /haiti jesuitenweltweit 17
18 jesuitenweltweit Kleidung Geflüchteter in Bar Elias, Libanon.
Zwischenstation Der bunte Bilderbogen aus Kleidern, die leise schaukeln im Wind, aufgereiht sind auf einer Leine, die über den Rand des Bildes hinauszureichen scheint: ins Unendliche. Ist es nur ein Ruheplatz am Wasser, vor einer neuen Etappe der Flucht oder die Endstation aller Hoffnung? Joe Übelmesser SJ jesuitenweltweit 19
EDITORIAL „Ich höre immer noch die Schüsse“ Der Konflikt um die abtrünnige Provinz Tigray treibt Hunderttausende in die Flucht, viele von ihnen zum zweiten Mal. Überlebende berichten von schweren Kriegsverbrechen. In einem Auffangzentrum des Jesuiten-Flüchtlingsdiensts (JRS) in Addis Abeba können sie Hoffnung schöpfen. D ie Lage in der äthiopischen Unruhe- werden Kriegsverbrechen und schwere Men- region Tigray hat sich in den vergan- schenrechtsverletzungen vorgeworfen. Nach genen Monaten zugespitzt. Im Juli UN-Angaben sind über 2,2 Millionen Men- 2021 fielen die aufständischen Tigray Defence schen auf Nothilfe angewiesen. Forces (TDF) in die Nachbarregionen ein. An- fang 2022 schien es, als habe die TDF, die fast bis in die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba „Die Lage ist so gefährlich geworden, vorgestoßen war, die Oberhand gewonnen im dass wir bei unserer letzten Reise Mehrfronten-Konflikt gegen die äthiopischen nach Tigray nicht die Missionsstation Streitkräfte, Milizen aus der Nachbarregion besuchen konnten“, sagt Paula Casado Amhara sowie die Streitkräfte des Nachbar- vom JRS Ostafrika. lands Eritrea. Durch die Offensive der Rebellen wurden in Amhara mehr als eine halbe Million Men- In den ersten Wochen des Jahres forderten schen vertrieben, in der benachbarten Region Drohnenangriffe der äthiopischen Armee Dut- Afar über 250.000. Allen Konfliktparteien zende Todesopfer unter der Zivilbevölkerung, 20 jesuitenweltweit
ÄTHIOPIEN etwa in einem Flüchtlingslager nahe der Klein- stadt Dedebit, woraufhin internationale Hilfsor- ganisationen ihre Arbeit aussetzen mussten. Die meisten der Betroffenen stammen ur- sprünglich aus Eritrea und werden nun er- neut vertrieben. Einige haben keine andere Wahl, als in die Heimat zurückzukehren, wo ihnen Verfolgung oder Zwangsrekrutierung drohen. Zehntausenden ist es gelungen, sich weiter nach Äthiopien abzusetzen, viele sind in der Hauptstadt Addis Abeba gestrandet, er- fahren dort aber keine Unterstützung durch die Behörden. Einen Hoffnungsschimmer bringen Einrichtungen wie das Refugee Com- munity Center (RCC) des JRS. Nach den Strapazen der Flucht gibt das JRS-Zentrum in Addis Abeba erste Orientierung. Mahlet (Name geändert) ist eine 26-jährige Geflüchtete aus Eritrea. Nachdem sie noch als Teenager zum Militärdienst an einem sehr „Ich wurde bewusstlos und war, gefährlichen Ort einberufen wurde, beschloss als ich wieder aufwachte, so schwer sie, nach Äthiopien zu fliehen. 2014 kam sie verletzt, dass ich nicht einmal im Flüchtlingslager Histats in der Region Ti- laufen konnte.“ gray an. Dort bekam sie zwei Kinder, wurde aber bald von ihrem Mann verlassen. Als ihre Nachbarin bemerkte, was passiert war, brachte sie Mahlet und die Kinder zurück „Eines nachts kamen Soldaten ins ins Lager. Einige Wochen später, Anfang 2021, Lager und begannen, in die Luft zu gelang Mahlet die Flucht nach Addis Abeba. schießen“, erinnert sie sich. Noch immer leidet sie an den körperlichen und seelischen Verletzungen, traute sich lan- „Unmittelbar nach den ersten Schüssen er- ge Zeit nicht, einen HIV-Test zu machen. Im tönten Schreie, Weinen und viele schreck- Refugee Community Center des JRS bekam liche Geräusche im ganzen Lager. Ich habe Mahlet nicht nur die notwendige medizini- mich mit meinen Kindern versteckt, dann sche Versorgung, sondern auch psychologi- kam meine Nachbarin und drängte mich zu sche Erste Hilfe. Unter Tränen bedankt sie fliehen.“ Die beiden Frauen rannten mit den sich für die Unterstützung: „Ich war die gan- Kindern zu Fuß davon. zen Tage wie erstickt, weil ich niemanden fand, dem ich mich anvertrauen konnte. Im- Unterwegs wurde Mahlet auf der Suche nach mer wenn ich an die Situationen denke, die Wasser von einem Uniformierten überfallen, mir widerfahren sind, schäme ich mich. Aber verprügelt und vergewaltigt. jetzt bin ich so froh, dass mir jemand zuhört.“ jesuitenweltweit 21
EDITORIAL Nach wiederholten Angriffen auf Flüchtlingslager mussten NGOs die humanitäre Arbeit aussetzen. In Addis Abeba angekommen, wurde er vom „Dank des Mitgefühls und der UN-Flüchtlingswerk registriert und mit an- Unterstützung durch den JRS habe deren Neuankömmlingen im JRS-Refugee ich neue Hoffnung für mein Leben.“ Community Center (RCC) untergebracht. Dort erfuhr er von der Möglichkeit, eine Tewolde ist 44 Jahre alt, auch er ist ein Ge- Grundausbildung in IT-Technik zu absolvie- flüchteter aus Eritrea und lebt seit drei Jahren ren, und meldete sich für den Kurs an, den er in Äthiopien, zunächst in Histats, nach Aus- erfolgreich abschloss. bruch des Konflikts ging er nach Addis Abeba. „Immer wieder hörten wir die Schusswechsel Wenig später wurde im RCC eine Stelle als zwischen Milizen und eritreischen Streitkräf- Englischlehrer frei: „Jetzt bin ich angestellt ten. Es gab keine Möglichkeit mehr, an Geld zu und unterrichte“, berichtet Tewolde voller kommen, und immer weniger Lebensmittel.“ Freude, doch dann hält er inne: „Ich höre im- mer noch die Schüsse, und es fällt mir schwer, Durch Restriktionen der äthiopischen Regie- nachts zu schlafen.“ rung wurde es für NGOs immer schwieriger Steffen Windschall Medikamente in die Konfliktregion zu brin- gen. Als Tewolde krank wurde, überlebte er nur, weil ihn ein Priester aufnahm und ver- Unterstützung für Geflüchtete in Äthiopien: sorgte. Als eritreische Truppen in Histats ein- jesuitenweltweit.de • jesuitenweltweit.at marschierten, beschloss er, erneut zu fliehen. ⇢ /tigray 22 jesuitenweltweit
VIETNAM „Bildung ist keine Selbstverständlichkeit“ 3.500 Euro für „Tadihoc“: Von Nürnberg aus ermöglicht der Verein „Steps2Education“ Kindern in Vietnam, zur Schule zu gehen. D ass Bildung der Schlüssel ist zu einem Knapp 70.000 Kinder leben in den Städten erfüllten Leben, weiß der vietname- Vietnams auf der Straße und mehr als 16 Pro- sischstämmige Nürnberger Viet Bui zent der Kinder im Land müssen arbeiten. von „Steps2Education“. Vor vier Jahren hat Von Armut betroffen sind vor allem die Ange- der IT-Ingenieur mit einem guten Dutzend hörigen der über 50 ethnischen Minderhei- Freundinnen und Freunden den Verein ge- ten, die in abgelegenen Bergregionen zu Hau- gründet: „Damals haben wir noch studiert. se sind. Hier ist der Zugang zu Bildung stark Die meisten von uns haben Migrationshin- eingeschränkt. tergrund und durften in Deutschland gute Startbedingungen genießen, wissen aber, Vor über 20 Jahren hat Cam Hong Mai, auch dass nicht jedes Kind auf der Welt so einen sie lebt in Nürnberg, in der südvietname- einfachen Zugang zu Bildung hat.“ Ziel der sischen Metropole Bien Hoa, „Tadihoc“ ge- „Steps2Education“: Geld sammeln, um so ei- gründet, auf Deutsch: „Lasst uns zur Schule nen Beitrag zu mehr Chancengleichheit auf gehen“. Mit Unterstützung der Jesuiten hat der Welt zu leisten. Zum Beispiel in Vietnam, „Tadihoc“ vor drei Jahren im Hochland der wo an bald fünf Standorten die Sozialzentren Provinz Lam Dong einen zweiten Standort von „Tadihoc“ Kindern aus armen Verhält- eröffnet, in Cam Ranh betreibt „Tadihoc“ seit nissen eine neue Perspektive geben, durch kurzem ein Internat für 24 Schülerinnen, Hausaufgabenbetreuung, Freizeitangebote, zwei weitere Ableger sind in Planung. Mahlzeiten, Stipendien für weiterführen- de Schulen und ein immer offenes Ohr der Für ihr Herzensprojekt organisieren „Steps2 Mitarbeiter:innen. Education“ seit 2018 Benefizveranstaltungen wie Fußballturniere und Computerspiel-Par- tys. Trotz Corona gelang es im vergangenen Jahr, mit nur wenigen Events, etwa dem Ca- tering bei der Neueröffnung einer Rollladen- fabrik in Nürnberg, 3.500 Euro für Tadihoc zusammenzutragen und so ein Bewusstsein zu schaffen: „Bildung ist keine Selbstver- ständlichkeit“, sagt Viet, „darauf wollen wir aufmerksam machen.“ Mehr Infos: jesuitenweltweit.de • jesuitenweltweit.at ⇢ /tadihoc Bildung und Spaß mit „Tadihoc“. steps2education.de jesuitenweltweit 23
EDITORIAL Stipendien Jeden Tag ein neues Abenteuer Mariam (im Foto rechts) verbringt ihr Freiwilliges Internationales Jahr als Jesuit Volunteer beim Jesuiten-Flüchtlingsdienst in Athen. Nach einigen Monaten hat sie sich eingelebt und ihr Herzensprojekt gefunden. W enn ich an meine Anfangszeit zu- Kostenlose Kleiderausgabe rückdenke, wird mir deutlich, wie gut ich mich hier eingelebt habe. „Magazi“ ist griechisch für „Laden“, und genau Es fühlt sich fast so an, als hätte ich in mei- das ist „Magazi“ auch: ein Secondhand-Klamot- nem ganzen Leben nichts anderes gemacht. tenladen für Geflüchtete. Hier bekommen sie Das liegt an drei Aspekten: meiner Arbeit, kostenlos Kleidung, aber auch Dinge wie Pam- meiner Community und an dem Land oder pers oder Trockenmilch für die Kleinen. Seit der Kultur selbst. Corona arbeiten wir mit Terminen, die über WhatsApp vereinbart und von uns Freiwilli- Buntes Aufgabenbündel gen gemanagt werden. Pro Familienmitglied gibt es eine bestimmte Anzahl an Kleidungs- Ich arbeite hier im Flüchtlingsdienst der Jesu- stücken, die mitgenommen werden dürfen. iten (JRS) mit drei weiteren Freiwilligen zu- Nur im Notfall weichen wir von den Regeln sammen, mit denen ich auch zusammenwoh- ab. Oft werden Unverständnis und Frust an ne. Meine JV-Kollegin Patricia ist auch gerade uns ausgelassen, was angesichts der Lebens- beim JRS tätig, jedoch in der Einsatzstelle in umstände der Menschen verständlich ist. Bosnien-Herzegowina. Meine Aufgaben ori- entieren sich an fünf kleineren Projekten, die Viele andere Dinge machen die Arbeit aber so hier aktiv sind und von denen ich vier der Rei- schön und bereichernd: die vielen guten Ge- he nach vorstellen möchte. spräche, das Spielen mit den Kindern und die 24 jesuitenweltweit
JESUIT VOLUNTEERS große Dankbarkeit. Das alles entschädigt für die schwierigen Momente. Nähen als Entspannungstherapie Einen Ort speziell für Frauen bietet das Women- Day-Center. Sie haben dort die Möglichkeit, soziale Kontakte zu pflegen, sich zu duschen, Wäsche zu waschen und an verschiedenen Workshops teilzunehmen. Ich biete seit knapp zwei Monaten einen wöchentlichen Scrunchie- Workshop an, bei dem wir Haargummis nähen. Zu meiner Freude stößt das Angebot bei fünf Teilnehmerinnen auf reges Interesse. Meist Mariams Lieblingsprojekt: offene Angebote für Kinder mache ich Musik an, während die Frauen nä- am Viktoria Square. hen und sich in ihrer Muttersprache, Farsi, un- terhalten. Das Women-Day-Center soll ein Ort sie glücklich nach Hause gehen, war es die sein, an dem die Frauen ihre Sorgen zurücklas- Mühen wert. sen und sich entspannen können, und ich habe das Gefühl, dieses Ziel mit meinem Workshop Den Menschen am nächsten erreicht zu haben. Zwei bis drei Mal die Woche gehen wir in ei- Raum, Routine und Hoffnung nen nahegelegenen Park, den Viktoria Square, der sich in den letzten Jahren zum Hotspot Altersunabhängigen Sprachunterricht bietet für Geflüchtete, aber leider auch für Drogen- das Magistories-Projekt. Je nachdem wel- abhängige und Kriminelle entwickelt hat. Wir che Freiwilligen vor Ort sind, wird Deutsch, spielen dort mit den Kindern, reden mit den Englisch oder Griechisch gelehrt. Für Kin- Eltern und lernen Leute kennen. Es ist defi- der bieten wir Mathematik, Spiele und Ma- nitiv das Projekt, bei dem wir den Menschen len an. Ich unterrichte Mathe für Kinder am nächsten sind. Oft ist alles sehr emotional, und die erste Englischstufe für Erwachsene. und trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, Lehrerin zu sein ist für mich eine echte He- ist es eines meiner liebsten Projekte hier. rausforderung. Meine Geduld und Frustrati- onstoleranz werden regelmäßig auf die Probe Das ist der JRS Greece, ein bunt gemischtes, gestellt. Es hat eine Weile gebraucht, bis ich abwechslungsreiches Programm. Jeder Tag ist verstanden habe, worum es in diesem Projekt anders. Ich sammle hier so viele einzigartige wirklich geht. Wir geben den Menschen ei- und wertvolle Erfahrungen und blicke mit nen sicheren Raum, eine Routine, Hoffnung. Spannung auf die kommenden Monate! Wir hören viele Geschichten. Man lernt sich kennen und gewinnt Vertrauen. Mit diesem Mariam Amman Verständnis im Hinterkopf wurde die Arbeit für mich viel leichter. Wenn mich meine Kids Mehr Infos unter: jesuit-volunteers.org nach 90 Minuten Mathetortur umarmen und Mariams Blog: myyearingreece.com jesuitenweltweit 25
Absturz in die digitale Kluft 168 Millionen Kinder weltweit konnten in den vergangenen zwei Jahren nicht am Unterricht teilnehmen. Im Globalen Süden bedeutet der Corona-Lockdown für viele das Ende der Schulkarriere. John Ravi SJ schildert die Situation in Indien. D ie COVID-19-Pandemie hat in Indien der Gefahr laufen zurückzubleiben. So hat die unmittelbare Auswirkungen auf die Pandemie die staatlichen und privaten Schulen Bildung von Kindern, vor allem für des Landes vor große Herausforderungen ge- jene aus armen und benachteiligten Familien. stellt: Schulabbrüche, Wissenslücken und eine Seit Beginn der Schulschließungen sind ihre Vertiefung der digitalen Kluft sind die Folge. Wohnungen ihr einziger Lernort. Die Tatsa- che, dass so viele Kinder über 20 Monate hin- Letztere war schon vor der Pandemie eine weg rund um die Uhr in kleinen Häusern auf Realität in Indien: Nur 23,8 Prozent der Haus- engstem Raum und in unhygienischen Ver- halte im ganzen Land haben Zugang zum In- hältnissen leben, hat traumatische Auswir- ternet, die Unterschiede zwischen städtischen kungen auf ihr körperliches, emotionales und und ländlichen Haushalten sind immens. Von soziales Wohlbefinden und wirkt sich direkt den 60 Prozent der indischen Bevölkerung, auf ihre Lernergebnisse aus. die auf dem Land leben, haben nur 14 Prozent Zugang zum Internet, noch einmal deutlich Da viele indische Familien keinen Zugang zu weniger als die 42 Prozent der städtischen Technologien wie Smartphones, Computer und Haushalte. 5,3 Prozent der Kinder im ländli- Internet haben, die für Distanzunterricht uner- chen Raum wurden 2021 nicht eingeschult, lässlich sind, war schon früh klar, dass viele Kin- 2018 waren es nur 1,8 Prozent. 26 jesuitenweltweit
INDIEN Die meisten Dörfer, in denen die Betroffenen Über 80 Prozent der Schülerinnen leben, erreichen keine staatlichen Hilfen, und Schüler in staatlichen Schulen etwa die von der Regierung angekündigten sind vom Online-Unterricht ausge- Sozialfürsorgeprogramme. Bei der Bereitstel- schlossen. lung von Hilfsgütern kam es oft zu Diskrimi- nierungen. Vielen Dalits wurde während der Pandemie aufgrund ihrer Kastenzugehörig- Die Regierungen der Bundesstaaten versäu- keit kein Zugang zu Feuerbestattungsplätzen men es, entsprechende Kapazitäten aufzu- gewährt. bauen. Auch die nationale Bildungspolitik wird nicht müde, die Bedeutung von Online- Bildung zu betonen, ist jedoch nicht in der Der Verlust von Arbeitsplätzen hat Lage, die digitale Kluft zu verkleinern. Nicht nicht nur persönliche Tragödien zur alle Lehrkräfte haben das fachliche Rüstzeug Folge, sondern auch weitreichende für Online-Unterricht. soziale und volkswirtschaftliche Konsequenzen. Dalits („Kastenlose“) und indigene Adivasi fin- den Arbeit meist im informellen Sektor. Für sie bedeutet Lockdown: Jobverlust, massive Einschränkung der Mobilität, Entzug der Le- bensgrundlage und Ernährungsunsicherheit. Von den 395 Millionen Wanderarbeiter:innen in Indien sind schätzungsweise 62 Millio- nen Dalits und 31 Millionen Adivasi. Sie sind aus ihrer Heimat in die Städte gezogen, weil sie Gewalt gegen ihre Kaste, Armut oder den Verlust ihres Eigentums fürchten mussten. Durch Arbeitslosigkeit und die erzwungene Rückkehr in ihre Dörfer sind sie erneut der Gewalt und Ausbeutung ausgeliefert. Viele Kinder aus armen Familien haben die John Ravi SJ ist Sekretär für Bildungsangelegenheiten Schule abgebrochen, um Eltern und Ge- der Jesuiten in Südasien. schwister durch Arbeit zu unterstützen. Eine große Mehrheit der Mädchen zwischen zehn So wird die dauerhafte Abwanderung von und vierzehn Jahren muss Hausarbeit ver- Frauen aus dem Erwerbsleben den gesell- richten. Das Wegbrechen der Einkommen schaftlichen Fortschritt der Gleichstellung treibt viele arme Familien in die Kreditfalle zunichtemachen und zugleich das Bruttoin- - die Zinssätze sind hoch. Betroffen sind hier landsprodukt gefährden. vor allem Angehörige der muslimischen Ge- meinschaft in Indien, von denen die Mehrheit Immer weniger Eltern aus armen Familien eigene Gewerbe betreibt. Es drohen Zwangs- sind bereit, ihre Mädchen zur Schule zu schi- arbeit und Schuldknechtschaft. cken. Das wird vermehrt zu Kinderheiraten jesuitenweltweit 27
EDITORIAL führen und dazu, dass eine ganze Generation Um die Lage der Frauen zu verbessern, bedarf junger Frauen ohne Bildungs- und Beschäfti- es verschiedener Maßnahmen: Wichtig sind gungsmöglichkeiten dasteht. Auch die Gewalt die Einführung wirtschaftlicher Unterstüt- gegen Frauen und Kinder wird zum Problem: zungspakete, einschließlich direkter Geld- Nach Angaben der National Commission of transfers, eine erweiterte Arbeitslosenunter- Women verzeichnete Indien zwischen Feb- stützung, Steuererleichterungen und größere ruar und Mai 2020 einen 2,5-fachen Anstieg Familien- und Kinderbeihilfen für gefährdete der häuslichen Gewalt. Mangelnde Bildung Frauen und ihre Familien. Die Überwindung und wirtschaftliche Unsicherheit erhöhen das des geschlechtsspezifischen Lohngefälles ist Risiko geschlechtsspezifischer Gewalt. Ohne dringend erforderlich und beginnt mit der ausreichende wirtschaftliche Ressourcen sind Verabschiedung von Gesetzen und politischen Frauen nicht in der Lage, missbräuchlichen Maßnahmen, die gleichen Lohn für gleich- Partnern zu entkommen, und sehen sich ei- wertige Arbeit bedeuten. ner größeren Gefahr der sexuellen Ausbeu- tung und des Menschenhandels ausgesetzt. Eine wirksame Reaktion zur Unterstützung armer und gefährdeter Haushalte erfor- Frauen den Rücken stärken dert erhebliche zusätzliche Haushaltsmit- tel. Jedes Unterstützungspaket muss sowohl Die Stärkung der Bildung auf dem Lande die bestehenden als auch die neuen Armen erfordert die Bereitstellung angemessener schnell erreichen. Haushaltsmittel für die Ausbildung von John Ravi SJ Lehrern, den Ausbau von Infrastruktur- einrichtungen sowie Hilfsmaßnahmen für Schüler:innen in Form von Stipendien und Unterstützung für Dalit-Schüler:innen anderen Sozialleistungen. Für informell Be- in Südindien: schäftigte, die arbeitslos sind, können Bar- jesuitenweltweit.de • jesuitenweltweit.at geldtransfers oder Arbeitslosenunterstützung ⇢ /DACA die finanzielle Belastung verringern, ebenso Corona-Hilfe weltweit: wie die Stundung oder Befreiung von Steuern jesuitenweltweit.de • jesuitenweltweit.at und Sozialversicherungszahlungen. ⇢ /corona 28 jesuitenweltweit
AFGHANISTAN Versuchen, was möglich ist Afghanistans Jugend will sich nicht beugen: Nach Verhandlungen mit den Taliban kön- nen JWL-Studierende ihre Kurse fortsetzen – über die Hälfte von ihnen sind Frauen. A nfangs wussten wir nicht, ob die schaffen es die jungen Leute zu studieren. Studierenden von Jesuit Worldwide Bei der Zulassung im Januar gab es über Learning – vor allem die Studentin- 40 Neueinschreibungen für das einjährige nen – nach dem 15. August 2021, dem Tag der Grundstudium. Machtübernahme der Taliban in Afghanistan, weitermachen können und ob es Internet ge- Schon in den Vorjahren konnten JWL-Studie- ben würde. Aus den Medien erfahren wir von rende, die als lokale NGO New Horizon regis- einer großen humanitären Krise im Land, vom triert und organisiert sind, mit finanzieller Kollaps der Wirtschaft, dass es keine Jobs und Hilfe von außen das EOTS-Programm (Each kein Einkommen mehr gibt und infolgedessen One Teaches Someone – jeder unterrichtet viele Menschen hungern. Und doch sind wider einen anderen) durchführen. Auch dieses alle Erwartungen weiterhin über tausend junge Programm geht weiter und erreicht weitere Leute in eLearning-Kursen von Jesuit World 2.000 junge Leute. Da der Hunger die Jugend- wide Learning (JWL) engagiert. Die Mehrheit lichen und ihre Familien plagt, setzen sie nun von ihnen lernt Englisch, und rund hundert ler- ein Hilfsprogramm auf, um über drei Monate nen in den berufsbildenden und akademischen 2.000 der bedürftigsten Familien mit Essens- Programmen (Liberal Studies und ein Bachelor- paketen zu versorgen. Wenn es gut läuft und Studium in nachhaltiger Entwicklung). weiter Bedarf besteht, wird das Programm verlängert. Die größten Hürden sind derzeit der Transfer und die Auszahlung der finan- Nur eine Woche nach der Machtüber- ziellen Hilfen für den Kauf der Lebensmittel. nahme sprachen in Khidir die Studen- ten und Studentinnen mit der lokalen Die Angst, dass Afghanistan in das dunkle Regierung und den Taliban. Zeitalter der ersten Machtübernahme der Ta- liban der Neunzigerjahre zurückfällt, war be- rechtigt. Warum es nicht ganz so gekommen Sie bekamen die Erlaubnis, ihr Lernzentrum ist? Das hat sicher viele politische Gründe, die samt Computern und Internet wieder aufzu- es den Taliban nicht erlauben, die Neunziger- machen. Das kam den Taliban gelegen, die jahre zu wiederholen. Aber es gibt einen wei- auch Zugang zum Internet suchten. Dieser teren, besonderen Grund: Wiederöffnung eines Lernzentrums folgten alle anderen, sogar zwei neue Zentren ka- men hinzu, insgesamt sind es zehn in Ba- 20 Jahre Schuldbildung ließen eine myan, Daikundi und Ghor sowie je eines in neue Generation heranwachsen, die Kabul und Herat. Trotz aller Widrigkeiten sich nicht so leicht einem fundamen- und des harten Winters in den Bergen und talistischen Diktat beugt. der verschneiten Wege zu den Lernzentren jesuitenweltweit 29
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