Ostern 2022 - Jesuiten weltweit

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Ostern 2022
Ostern 2022 - Jesuiten weltweit
EDITORIAL

            Liebe Leserinnen und Leser,

            der Gitterzaun könnte für die Lebenssituation der jungen Frau auf unse-
            rem Titelbild stehen. Und auch die Wahl des Schwarz-weiß-Formats ist
            nicht zufällig. Vor oder hinter Gittern, umgeben von Einschränkungen,
            Grenzen und Hindernissen – da verliert das Leben schnell an Farbe. Hil-
            fesuchend und doch stark, in der Hoffnung auf einen Neubeginn, weil
            es nur besser werden kann: In dieser Lage befinden sich Millionen von
            Venezolaner:innen, die auswandern – meist zu Fuß – und versuchen, in
            einem der Nachbarländer ein neues Leben aufzubauen. Aus Verzweif-
            lung, weil ihnen und ihren Familien in der Heimat das Notwendigste
            fehlt und sie keine Zukunft haben. „Wir wollen mithelfen, die Hoffnung
            zu organisieren“, sagt Javier Cortegoso, der das Netzwerk der Jesuiten
            für Migrant:innen in Lateinamerika koordiniert. Die Organisationen
            der Jesuiten tun ihr Möglichstes, damit diese Hoffnung sich im Alltag in
            konkrete Lebensmöglichkeiten umsetzt.

            In diesen Wochen vor Ostern erinnern wir uns gerne an die Oster­­
            nachtsfeiern, die wir in unserer Zeit in Venezuela erlebt haben, an die
            Freude und Energie, die die Mitfeiernden in den Barrios ausgestrahlt
            haben. Und das, obwohl schon damals die Situation sehr schwierig war.
            Neue Lebenschancen, der Verzweiflung und den schwierigen Umstän-
            den zum Trotz – im Blick auf Ostern scheinen sie möglich.

            Wir wünschen Ihnen eine gute, gesegnete Zeit auf Ostern hin und danken
            Ihnen herzlich für Ihre Unterstützung!

            Ihre

            Klaus Väthröder SJ		               Mag. Katrin Morales
            Missionsprokurator		               Geschäftsführerin in Wien
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INHALT

                                   04 Massenexodus aus Venezuela
                                   		   Hunger, Gewalt und extreme Unsicherheit als Verursacher
                                   		   des Migrationsstroms

                                   12   Sozial-Ökologische Transformation
                                   		   Mit leichtem Gepäck über die Erde

                                   16 		 Haitis schweres Schicksal
                                   		   Inmitten aller Armut getroffen von Naturkatastrophen
                                   		   und politischem Chaos
Krisenstaat Venezuela              18 		 Zwischenstation
Zu Fuß verlassen viele             		   Eine Meditation von Joe Übelmesser SJ
Venezolaner:innen eine Heimat
ohne Lebensgrundlagen. In den      20 „Ich höre immer noch die Schüsse“
Nachbarländern wartet eine         		   Heftige Unruhen in der äthiopischen Region Tigray
ungewisse Zukunft.
                                   23 		 „Bildung ist keine Selbstverständlichkeit“
                                   		   Von Nürnberg aus ermöglicht „Steps2Education“ Kindern
                                   		   in Vietnam, zur Schule zu gehen

                                   24 		 Jeden Tag ein neues Abenteuer
                                   		   Als Jesuit Volunteer verbringt Mariam ein Jahr beim
                                   		   Jesuiten-Flüchtlingsdienst in Athen

                                   26 		 Absturz in die digitale Kluft
                                   		   Lockdowns und Schulschließungen führen in Indien zu
                                   		   einer Bildungskrise unter Armen

                                   29 		 Versuchen, was möglich ist
                                   		   Afghanische Student:innen lernen weiter in den Kursen
                                   		   von Jesuit Worldwide Learning

                                   31   Im Dialog
                                   		   Joe Übelmesser SJ und Robert Miribung SJ, die Pioniere der
                                   		   Jesuitenmissionen, blicken mit uns zurück
Sozial-Ökologische
Transformation                     33   Nachrichten und Termine
Klaus Väthröder SJ mit einer       		 Katholikentag 2022, Nachruf auf Friedrich Sperringer SJ,
Einführung in unser Jahresthema.   			Verstärkung im Team
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EDITORIAL

Massenexodus
aus Venezuela
Caminantes, so werden sie
in Lateinamerika genannt:
Menschen, die meist zu
Fuß auf dem Weg sind in
eine mehr als ungewisse
Zukunft. Sie brechen auf,
weil es in ihrer Heimat
kaum Lebensmöglich-
keiten gibt. Das Netz-
werk der Jesuiten für
Migrant:innen unter-
stützt die Caminantes
an den Grenzen und in
den Ländern, in denen
sie Aufnahme suchen.

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INHALT

I
    n den letzten sechs Jahren hat sich die     zentrale Wurzel dieser Krise finden wir in der
    von Venezuela ausgehende Migration          andauernden Aushöhlung der Demokratie in
    in Lateinamerika zu einer andauernden       Venezuela und in der damit einhergehenden
humanitären Krise entwickelt. Die Gründe        Verschlechterung der Lebensbedingungen.
dahinter sind vielfältig und eine Fortsetzung   Die Abwesenheit stabiler staatlicher Institu-
dessen, was die Menschen in Venezuela tag-      tionen erklärt die wirtschaftliche und soziale
täglich erleben: unerträgliche Extreme, die     Krise, die Gewalt und auch die ökologischen
unvereinbar sind mit dem Leben und der          Missstände, die zum zweitgrößten Migrati-
Würde vieler Menschen. Die Mehrheit der         onsstrom auf der Welt nach dem aus Syrien
venezolanischen Bevölkerung hat kaum            geführt haben. Seit dem Jahr 2000 sind mehr
Zugang zu den wesentlichsten Rechten. Die       als sechs Millionen Venezolaner:innen aus

                                                                       jesuitenweltweit     5
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ihrer Heimat geflüchtet, vier Millionen davon       kriminierung und des Ausschlusses, die vor
in den letzten sechs Jahren. Solange es zu kei-     allem die Verwundbarsten trifft: Minderhei-
nem tiefgreifenden und friedlichen Wandel           ten, Indigene, schwangere Frauen, Mütter mit
im Land kommt, solange keine demokrati-             Kleinkindern, Menschen mit unterschiedli-
schen Strukturen wiederhergestellt werden           chen Behinderungen, alte Menschen. Genau
und kein Wiederaufbau erfolgt, wird sich an         diese Gruppe, die Allerverwundbarsten, sind
den Fluchtursachen und dem damit verbun-            unterwegs: die Caminates.
denen Migrationsstrom nicht viel ändern.

Flucht vor Gewalt                                   „Ich bin aus Venezuela ausgewandert,
                                                    weil ich nichts hatte, nur Angst, Hun-
Es herrscht kein Krieg, aber alle anderen For-      ger und Un­sicherheit. Ich möchte eine
men von Gewalt sind in Venezuela präsent und        Zukunft haben, einen Ort, an dem ich
treiben die Menschen in die Flucht: struktu-        zu Hause sein kann.“
relle Gewalt, die sich in Armut, Ungleichheit             Venezolanischer Migrant in Kolumbien
und der enormen Schwierigkeit, Erfüllung
von Grundbedürfnissen und -rechten wie
Nahrung, Gesundheit und Ausbildung zu be-           Wenn wir von erzwungener Migration in Ve-
kommen, sehr deutlich zeigt. Institutionelle        nezuela sprechen, muss uns klar sein, dass
Gewalt, die Krise der Demokratie, die Korrup-       wir überwiegend von Menschen sprechen, die
tion, die Straffreiheit und die Elitenbildung       dringend internationalen Schutz brauchen,
spielen eine große Rolle. Hinzu kommt sozio-        Asyl oder ein alternatives System, das ihnen
politische bewaffnete Gewalt. Diese Faktoren        nicht nur Zugang zu ihren Rechten, sondern
schaffen ein Klima der sozialen Unsicherheit,       auch internationalen Schutz garantiert. Sie
das jegliche Zukunft verhindert.                    benötigen humanitäre Nothilfe, menschen-
Diese Unsicherheit spiegelt sich auch in den        würdige Unterkünfte und Unterstützung
Worten einer Venezolanerin in Ecuador wider,        – diese Forderung erheben nicht nur Organi-
mit der ich sprach: „Ja, klar will ich nach Vene-   sationen der Zivilgesellschaft und die Kirche,
zuela zurück, um bei meiner Mutter zu sein.         sondern auch das Flüchtlingswerk der Verein-
Sie ist allein, seit wir alle weggegangen sind,     ten Nationen (UNHCR).
aber mehr, als nach Venezuela zurückzukeh-
ren, wünsche ich mir, leben zu können. Wenn         Schwerer Fußmarsch
ich zurückkehre und umgebracht werde, wer
kümmert sich dann um meine Kinder?“.                Menschen migrieren unter immer prekäre-
                                                    ren Umständen, das zeigt die Veränderung im
Das alles wird befeuert durch das ausbeuteri-       Profil der Menschen, die Venezuela verlassen.
sche Entwicklungsmodell, das das Überleben          Diese Entwicklung führt zu einem Phänomen,
unseres Planeten gefährdet und die sich häu-        das „Wanderer/Fußgänger“ genannt wird. Das
fenden Naturkatastrophen im Zusammen-               Profil der Migrant:innen hat sich seit der Jahr-
hang mit dem Klimawandel bedingt. Es ist            tausendwende mit den unterschiedlichen Mi-
eine Gewalt gegen das gemeinsame Haus, die          grationsgründen stark verändert. Seit 2016 ist
sich gegen alles und jeden richtet. Schließ-        es vor allem jene Bevölkerungsschicht, die von
lich spricht Papst Franziskus in der Enzyk-         (oft extremer) Armut betroffen ist, die sich auf
lika „Fratelli tutti“ von einer Gewalt der Dis-     den Weg macht.

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Die „Caminantes“, zu Fuß unterwegs in eine bessere Zukunft.

„Zuerst waren viele junge Menschen, Pärchen                   „Unterwegs hatte ich nur einen Schatz mit: mei-
unterwegs; dann kamen ganze Familien, Frau-                   nen Reisepass. Jemand hat ihn mir gestohlen, als
en allein mit ihren Töchtern, alte Menschen,                  ich für eine Wegstrecke eine Mitfahrgelegenheit
Menschen mit Behinderungen. Wir waren zu                      gefunden hatte. Von da an musste ich immer in
Fuß unterwegs, mit nichts, nur mit unseren                    kurzen Etappen reisen. Zuerst habe ich mit Geld
Träumen“, sagt eine Caminante. Wir sprechen                   bezahlt, später mit meiner Arbeitskraft, später
also von einem Massenexodus von Menschen                      auch mit meinem Körper, damit mich ‚Führer’
mit großer Verwundbarkeit, wenigen Res-                       über die Grenzen bringen“, berichtet eine vene-
sourcen und geringen Kompetenzen – und                        zolanische Caminante in Kolumbien über die
mehr und mehr von ganzen Familienverbän-                      Ereignisse während des Fußmarsches.
den. Die Migration trägt heute das Gesicht
von Frauen und unbegleiteten Minderjähri-                     Steigende Fremdenfeindlichkeit
gen. Familienzusammenführungen und die
Migration ganzer Großfamilien zeigen eine                     Mit der steigenden Anzahl mittelloser
neue Phase auf: Vermutlich wird die Bewe-                     Migrant:innen gingen Verschärfungen in der
gung über die grüne Grenze zunehmen – und                     Einwanderungspolitik verschiedener Länder
damit die Anzahl von Personen ohne Auf-                       einher, die selbst in großen Schwierigkeiten
enthaltsstatus. Das birgt große Risiken für                   stecken und mit den Flüchtlingsströmen über-
Migrant:innen. Man muss bedenken, dass                        fordert sind. Grenzen wurden verstärkt mit
schon die Wanderung zu Fuß innerhalb Vene-                    Militär besetzt. Regierungen und Medien füh-
zuelas bis an die Grenze ein großes Risiko mit                ren einen Diskurs der Fremdenfeindlichkeit,
vielen Hindernissen bedeutet. Die Zunahme                     das setzt sich mehr und mehr in der Gesell-
von bewaffneten Konflikten in Kolumbien er-                   schaft fest. Die massive Präsenz venezolani-
schwert die Lage noch zusätzlich.                             scher Migrantinnen und Migranten auf dem

                                                                                      jesuitenweltweit      7
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ganzen Kontinent bedeutet immense Heraus-         ist, Menschen, die zur Migration gezwungen
forderungen für humanitäre Hilfe und Auf-         sind, zu begleiten. Hier in Lateinamerika sind
nahmekapazität, aber auch für das soziale Ge-     vor allem Venezolaner:innen, betroffen, aber
füge in vielen lateinamerikanischen Ländern.      auch Menschen aus Haiti, aus Zentralameri-
                                                  ka, Honduras, El Salvador und Guatemala, aus
                                                  Nicaragua sowie Opfer interner Vertreibung
„2016, als mehr unserer Brüder und                in Kolumbien und Mexiko. Deshalb haben wir
Schwes­tern zu migrieren begannen,                dieses Netzwerk gegründet, um über Landes-
haben die Leu­te hier in meinem Dorf              grenzen hinweg durch den Zusammenschluss
sie empfangen: mit Wasser, mit Essen,             verschiedener Organisationen: dem Jesuiten-
Schuhen, mit Gastfreund­schaft; mit               Flüchtlingsdienst, aber auch nicht-jesuitischen
der Zeit haben wir uns daran ge­wöhnt,            Institutionen gemeinsam auf möglichst vielen
dass viele Menschen vorbeikommen,                 Ebenen und an vielen Orten zu helfen. Wir ha-
die Gleichgültigkeit stieg. Und noch              ben Anlaufstellen an den Grenzen und in den
später ha­ben wir uns von ihnen abge-             Städten, in denen die Caminantes eine Bleibe
                                                  suchen. Oft sind sie in vielen Etappen unter-
wendet, die Angst war gewachsen.“
                                                  wegs, werden an Grenzen abgewiesen, müssen
     Venezolanischer Bewohner an der Route
                                                  immer wieder weiterziehen, sind hilflos und
                                                  schutzlos. Sie brauchen unsere Begleitung.
Es ist vorauszusehen, dass die Maßnahmen
gegen Migration im Jahr 2022 an Schärfe
nicht verlieren werden. Mit dem Wissen,           „Sie haben mich nicht gefragt, woran
dass die erzwungene Migration aus Venezu-         ich glaube, woher ich komme oder
ela vermutlich dauerhaft sein wird, ist es eine   wohin ich will, sie haben mir ihr Haus
der größten Herausforderungen der Staaten,        und ihr Herz geöffnet und von Gast-
die Migrationsströme zu regulieren. Beispie-      freundschaft gesprochen. Sie haben
le wie das „Estatuto temporal de protección“,     gesagt, dein Leben ist mir wichtig,
also ein temporärer Schutz in Kolumbien, mit      du bist unsere Schwester. Zum ers-
dem man hofft, den Status von mehr als einer
                                                  ten Mal seit Monaten habe ich gut
Million Venezolaner:innen zu klären, könn-
                                                  geschlafen, habe gewusst, dass man
ten einen interessanten Präzedenzfall dar-
                                                  mich nicht verurteilt.“
stellen. Es ist ein Ansatz, bei dem humanitäre
                                                         Venezolanische Geflüchtete in Mexiko
Hilfe und Schutz mehr Gewicht haben als die
reine Migrationskontrolle zur Wahrung der
nationalen Sicherheit, wie es zum Beispiel        Unsere erste Aufgabe liegt in der direkten
Chile mit einem neuen Migrationsgesetz, das       Begleitung der Vertriebenen. Hier sind der
der Grenzpolizei großen Spielraum gibt, und       Jesuiten-Flüchtlingsdienst und der Jesuiten-
militarisierten Grenzen handhabt.                 dienst für Migrant:innen an vielen Orten in
                                                  ganz Lateinamerika gefragt. Wir helfen mit
Was die „Caminantes“ brauchen                     den notwendigsten Lebensmitteln und Un-
                                                  terkunft, Medikamenten und Hygienearti-
Bereits vor einiger Zeit haben wir verstanden,    keln und organisieren, wenn nötig, ärztliche
dass es eine sehr große und wichtige Aufgabe      Hilfe. Vor allem Mütter mit Kleinkindern und

                                                                          jesuitenweltweit     9
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                                                          Rechte bekommen. All das basiert auf dem
                                                          Wunsch, in den Aufnahmeländern eine Kul-
                                                          tur der Gastfreundschaft zu schaffen und zu
                                                          fördern, mit einem klaren Horizont von Ge-
                                                          rechtigkeit und Versöhnung, damit langfristig
                                                          ein gutes Zusammenleben möglich wird.

                                                          Hoffnung organisieren

                                                          Die humanitäre Krise in Venezuela, die sich
                                                          im Massenexodus auf dem ganzen Kontinent
                                                          und auch in anderen Gegenden der Welt zeigt,
                                                          stellt für uns eine große Herausforderung dar.
                                                          Wir denken, dass eine Aufgabe, zu der uns
                                                          Papst Franziskus auffordert, ganz wesentlich
                                                          ist: die Hoffnung zu organisieren. Gemein-
                                                          sam Möglichkeiten zu schaffen und uns dafür
                                                          einzusetzen, dass die Hoffnung auf eine neue
Aktivitäten im jesuitischen Netzwerk vermitteln Freude,   Zukunft real wird. Ein venezolanischer Cami-
Hoffnung und ein Gemeinschaftsgefühl.                     nante in Ecuador erklärt es so: „Das Schöne
                                                          am Menschsein ist, dass wir immer wieder
neu angekommene Migrant:innen brauchen                    neu anfangen können.“
diese Unterstützung dringend. Außerdem bie-
ten wir Begleitung und Rechtsberatung an, und             Seine Worte zeigen, warum wir immer wieder
wir versuchen, bei der Integration im Aufnah-             von den Migrant:innen, denen wir begegnen,
meland zu helfen. Hier geht es nicht nur um               lernen können: von ihrer Fähigkeit zu träu-
die Unterstützung bei ihrem Bemühen, Fuß zu               men und schwerste Lebenssituationen durch-
fassen, Unterkunft und Arbeit zu finden, son-             zustehen, von ihrer Kreativität und ihrem
dern es betrifft die gesamte Gemeinschaft. Es             unbändigen Verlangen, sich für das Leben
geht darum, ein gegenseitiges Verständnis zu              einzusetzen. Sie sind es, die es uns erlauben,
schaffen und die Kultur der Gastfreundschaft              die Hoffnung aufrechtzuerhalten, damit wir
zu fördern, inmitten aller Schwierigkeiten.               gemeinsam unterwegs sein und gemeinsam
                                                          einen nächsten Schritt machen können.
Eine zweite Dimension umfasst die wissen-
schaftliche Begleitung unserer Arbeit und,                                      Javier Cortegoso Lobato,
aufbauend auf diesen beiden Aspekten, die                   Koordinator des Netzwerks der Jesuiten für
politische und gesellschaftliche Einfluss-                            Migrant:innen in Lateinamerika
nahme. Wir arbeiten daran, vorherrschende
Narrative zu verändern und auch die positi-
ven Aspekte und Beiträge der Migrant:innen                  Unterstützung für venezolanische
zu betonen. Auf politischer Ebene setzen wir                Migrant:innen:
uns bei Entscheidungsträgern dafür ein, dass                jesuitenweltweit.de • jesuitenweltweit.at
Migrant:innen besseren Schutz und mehr                      ⇢ /venezuela

10 jesuitenweltweit
Unsere Bitte für Venezuela
„Wenn ich wieder neue Kraft geschöpft habe, dann werde ich den nächsten Schritt machen.
Im Moment habe ich kaum Hoffnung. Ich wollte nicht gehen, aber der Hunger und die Ver-
zweiflung haben mir keine andere Wahl gelassen“. So oder ähnlich verlaufen viele Geschich-
ten der „Caminantes“. Es wird geschätzt, dass jeden Tag ca. 5.000 Menschen Venezuela ver-
lassen. Es sind Menschen, die sich keine Flugtickets leisten können. Sie haben nichts, was sie
verkaufen können für einen Start in ein neues Leben. Sie sind zu Fuß unterwegs. Jede Etap-
pe ihres Weges ist von Unsicherheit und nur schwer überwindbaren Hindernissen geprägt.

Das Netzwerk der Jesuiten für Migrant:innen leistet in ganz Lateinamerika koordinierte Hilfe
auf vielfältige Weise, durch Versorgung mit Lebensmitteln und durch Rechtsberatung, durch
psychosoziale Begleitung und bei der Integration im Aufnahmeland, beim Schulbesuch und bei
der Suche nach Arbeit, um die Familie zu ernähren.

Dafür bitten wir Sie herzlich um Unterstützung und bedanken uns für Ihre Hilfe!

Klaus Väthröder SJ
Missionsprokurator
                                                         Spendenkonto Österreich
                                                         IBAN: AT94 2011 1822 5344 0000
                                                         Spendenkonto Deutschland
                                                         IBAN: DE61 7509 0300 0005 1155 82
                                                         Stichwort: X31221 Venezuela

                                                                        jesuitenweltweit 11
Mit leichtem Gepäck über die Erde
Die Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation steht außer Frage.
In den nächsten Ausgaben von weltweit wollen wir das Thema aus der Sicht unserer
Partner:innen aus dem Globalen Süden aufgreifen. Klaus Väthröder SJ führt uns
in das Thema ein.

S
       tellen Sie sich vor, dass sich die Ge-   Mitternacht lebt Abraham, und 14 Sekunden
       schichte des Planeten Erde an den 365    vor Mitternacht wird Jesus geboren. In den
       Tagen eines einzelnen Jahres abspielt.   letzten zwei Sekunden des Jahres steigt die
Am Neujahrstag, dem 1. Januar, beginnt die      Anzahl der auf dem Planeten Erde lebenden
Erdentstehung, und in der Umgebung der          Menschen von einer auf acht Milliarden.
Erde entstehen Planeten im Urzustand. An-
fang März entstehen die ersten Kontinente       Dieses Gedankenexperiment macht mir
auf der Erde. Im August gibt es genügend Sau-   deutlich, was der Mensch als „Krone der
erstoff für die einfachsten Lebewesen. Am 27.   Schöpfung“ in den letzten beiden Sekunden
November entwickeln sich die ersten Pflan-      des Jahres mit dem Planeten Erde gemacht
zen, am 3. Dezember kriechen die ersten Tiere   hat. Der Glaube an unendliches Wirtschafts-
auf das Festland. Am Abend des 31. Dezember     wachstum und die damit notwendigerweise
finden sich erste Spuren früher Menschen-       einhergehende exponentielle Steigerung des
typen in Ostafrika. Um 23:56 Uhr erscheint      Verbrauchs von Energie und endlichen Res-
der anatomisch moderne Mensch, der Homo         sourcen, von Konsum, Mobilität, Bevölke-
sapiens. Um 23:58 Uhr und 50 Sekunden           rung, Urbanisierung und anderen menschli-
wird der Mensch sesshaft. 22 Sekunden vor       chen Aktivitäten haben in diesem winzigen

12   jesuitenweltweit
SOZIAL-ÖKOLOGISCHE TRANSFORMATION

Augenblick der Erdgeschichte Auswirkun-
gen von gravierender globaler Bedeutung,         Heute ist die Menschheit mit einer
die das Überleben der Menschheit grund-          dritten großen Transformation
sätzlich infrage stellen.                        konfrontiert, der sozial-ökologischen
                                                 Transformation, für die nach
Die Zeit der Wenden                              Einschätzung der Wissenschaft
                                                 nur noch wenige Jahre bleiben.
Klimawandel und die Gefahr von Kipppunk-
ten und ihnen folgenden Extremwetterereig-
nissen, Wasserknappheit und Meeresanstieg,       Es gilt, das gesamte Wirtschaftssystem umzu-
Artensterben und Verlust von Biomasse – das      bauen und so zu gestalten, dass wir innerhalb
sind Schlagworte, die täglich aus den Medien     unserer planetarischen Grenzen leben. Wir
auf uns einprasseln. Die Auswirkungen tref-      müssen die Energieversorgung auf erneuer-
fen allerdings besonders die Menschen im         bare Energie umstellen und die Produktion
Globalen Süden, die am wenigsten zu dieser       vom Verbrauch endlicher Ressourcen ent-
Situation beigetragen haben. Als Antwort         koppeln. Zukünftig sollten wir unseren Wohl-
werden uns von Politik und Wissenschaft ver-     stand und unser Glücksempfinden nicht an
schiedene Wenden präsentiert: Energie- und       einem Wirtschaftswachstum messen, das un-
Verkehrswende, Agrar- und Konsumwende,           sere Mit-Welt zerstört. Das Ganze müssen wir
urbane und industrielle Wende. Wenn wir alle     tun unter der Bedingung der Gerechtigkeit
Wenden zusammennehmen, sprechen wir              und des Wohlergehens für alle Menschen die-
von der sozial-ökologischen Transformation.      ses Planeten. Das heißt, dass wir uns an den 17
                                                 nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainab-
Bisher gab es zwei große Transformationen        le Development Goals) ausrichten sollen, die
oder Umwälzungen in der Menschheitsge-           von allen Staaten im Jahr 2015 verabschiedet
schichte. Während der ersten großen Trans-       wurden. Das hört sich erst einmal schwierig
formation, vor gut 10.000 Jahren oder 70 Se-     an, wenn nicht gar unmöglich.
kunden vor Ende des letzten Tages unserer
Jahres-Welt-Uhr, beendeten kleine Sammler-       Spirituali­tät der Schöpfung
und Jägergruppen das Herumziehen, um sess-
haft zu werden, Vieh zu zähmen und Ackerbau      Experten nennen die jüngste Phase der Erd-
zu betreiben. Mit der Industriellen Revolution   geschichte, in der menschliche Aktivität der
vor ca. 250 Jahren begann die zweite Transfor-   bestimmende Faktor ist, das Anthropozän, das
mation, mit der tiefgreifenden und dauerhaf-     Zeitalter des Menschen. Auf der einen Seite
ten Umgestaltung von wirtschaftlichen und        steht die Frage, ob wir überhaupt in der Lage
sozialen Verhältnissen, von Arbeitsbedingun-     sind, für den Planeten Verantwortung zu über-
gen und Lebensumständen. In dieser Zeit be-      nehmen und Prozesse zu steuern, die über
schleunigte sich die Entwicklung von Technik,    Jahrtausende unsere gesamte Biosphäre beein-
Produktivität und Wissenschaften; Elektrizität   flussen, auf der anderen Seite steht die Mög-
und Dampfmaschinen wurden erfunden, und          lichkeit der Umkehr mit einer neuen Spiritua-
die Bevölkerung nahm stark zu. Diese Trans-      lität der Schöpfung, die bei uns selbst beginnt.
formation brachte Wohlstand, aber auch sozi-     Damit meine ich nicht in erster Linie, dass wir
ale Verwerfungen und neues Elend.                nachhaltiger leben, weniger Fleisch essen, auf

                                                                         jesuitenweltweit 13
SOZIAL-ÖKOLOGISCHE TRANSFORMATION

Respekt und Verantwortung gegenüber der Natur und Ressourcen: eine Familie in Kambodscha.

Flugreisen verzichten und zu Hause auf erneu-            vom Anfang, sondern von der Gegenwart, die
erbare Energie umsteigen. Das auch. Ich mei-             mit einem Handlungsauftrag verbunden ist.
ne aber vor allem eine geistige und spirituelle          In einer solchen Spiritualität der Schöpfung
Wende, die allen anderen technologischen und             ist die Mit-Welt nicht ein Ding, über das wir
wirtschaftlichen Wenden vorausgehen muss.                herrschen und das wir zu unserem Wohler-
                                                         gehen beliebig benutzen und ausnutzen kön-
Die Natur als Geschenk                                   nen. Schöpfung meint die ständige Gegen-
                                                         wart Gottes in seinen Geschöpfen, welche die
Jede Schöpfungsspiritualität beginnt mit Dan-            Menschen zur Liebe befähigt, zum Handeln
ke-Sagen, etwa „für einen Baum, der mir zum              verpflichtet und zur Hoffnung ermutigt. Aus
Freund geworden ist, für mein Lieblingswald-             dieser Dankbarkeit heraus können wir einen
stück, für die Amseln, die meinen Garten be-             neuen Lebensstil entwickeln, der nicht unter
suchen; und für den Amazonas, der weit weg               dem Vorzeichen des Verzichts steht.
ist, aber von dem auch mein Leben abhängt“,
schreibt Fabian Moos SJ im Buch „Der Zukunft
eine Zukunft geben. Eine Spiritualität der so-           Trotz eines historisch nie dagewese-
zialökologischen Umkehr“. Dadurch entsteht               nen Wohlstands und Konsumniveaus
eine Perspektive, die die Natur als Geschenk,            ist das subjektive Glücksempfinden
nicht als selbstverständliche und beliebig ver-          der Menschen in der westlichen Welt
fügbare Voraussetzung unseres Daseins wahr-              seit Jahrzehnten nicht gewachsen.
nimmt. Schöpfung ist nicht eine Erzählung

14 jesuitenweltweit
SOZIAL-ÖKOLOGISCHE TRANSFORMATION

Vielmehr sind wir getrieben von dem Verlan-
gen nach „immer mehr“. Doch die Befriedigung
unserer anscheinend grenzenlosen Bedürfnis-
se bewirkt keine tiefe Zufriedenheit in uns.
Wir brauchen daher eine neue Idee vom glück-
lichen Leben, vom „Buen Vivir“, wie es die indi-
genen Völker des Anden- und Amazonasraums
in Südamerika ausdrücken und leben.

Papst Franziskus beschreibt das „Gute Leben“
oder „Buen Vivir“ in seiner Enzyklika „Lauda-
to si“ als ein Leben in Dankbarkeit und Unent-
geltlichkeit, mit Verzicht und Großzügigkeit,
im liebevollen Bewusstsein, nicht von den
anderen Geschöpfen getrennt zu sein, son-
dern mit den anderen Wesen des Universums
eine wertvolle allumfassende Gemeinschaft
zu bilden (LS 220). Der Papst möchte einen
prophetischen und kontemplativen Lebens-
stil, der fähig ist, sich zutiefst zu freuen, ohne   Papst Franziskus über „Buen Vivir“, einen Lebensstil der
auf Konsum versessen zu sein. Es handelt sich        Freude – nicht der Konsumversessenheit.
um die Überzeugung, dass „weniger mehr ist“
und letztlich befreiend wirkt (LS 222). Anders
ausgedrückt: Eine Änderung des Lebensstils           Weniger ist mehr
sollte Spaß machen.
                                                     Die Herausforderungen, vor denen wir ste-
                                                     hen, sind enorm. Es besteht die Versuchung,
                                                     sich wegzuducken oder in Aktivismus aufzu-
                                                     reiben. Das Wesentliche ist meine innere Ein-
                                                     stellung. Gerade als Christ:innen sind wir ein-
                                                     geladen, Gott zu vertrauen und mit „leichtem
                                                     Gepäck“ über die Erde zu gehen. Das „Mehr“
                                                     oder das ignatianische „Magis“ kann gerade
                                                     in einem „Weniger“ bestehen, im Sinne einer
                                                     Entrümpelung. Dazu gibt es eine Vielzahl von
                                                     Initiativen und Menschen, die sich auf den
                                                     Weg der sozial-ökologischen Transformation
                                                     gemacht haben und die Welt von morgen be-
                                                     reits vorwegnehmen. Wenn wir wach und auf-
                                                     merksam sind, werden auch wir bald bemer-
                                                     ken, in welche Richtung uns Gott ziehen will.

                                                                                      P. Klaus Väthröder SJ

                                                                                  jesuitenweltweit 15
EDITORIAL

Haitis schweres Schicksal
Immer wieder wird Haiti von Erdbeben getroffen, die gerade begonnene
Wieder­aufbauarbeiten zunichte machen. Gleichzeit herrschen in dem bitterarmen
Inselstaat politisches Chaos, Kriminalität, Korruption und totale Instabilität.

E
        ines der verheerendsten Erdbeben         kungen des Klimawandels betroffen wie Haiti.
        erschütterte Haiti Anfang 2010. Es       Dort, inmitten aller Armut, schlägt er hart zu.
        kostete Schätzungen zufolge 300.000
Menschen das Leben, fast zwei Millionen          Politisches Erdbeben
Menschen wurden mit einem Schlag obdach-
los. Insgesamt war ein Drittel der Bevölkerung   Neben den Naturkatastrophen leidet Haiti
von der Katastrophe betroffen. 2016 folgte in    auch an einer andauernden politischen Krise,
die stockenden Wiederaufbauarbeiten hinein       an Gewalt durch Bandenkriege, die vor allem
„Hurricane Matthew“, der schwere Überflu-        in der Hauptstadt ganze Stadtteile kontrol-
tungen auslöste und wiederum etwa 30.000         lieren, an Unruhen, Entführungen und all-
Häuser zerstörte. 1.000 Menschen verloren        gegenwärtiger Korruption. Der Karibik-Staat
dabei ihr Leben. Seither hatte Haiti kaum eine   ist das ärmste Land Amerikas und belegt im
Verschnaufpause. 2018 und im Sommer 2021         „Human Development Index“, der den Ent-
ereigneten sich stärkere Erdbeben, unmittel-     wicklungsstand eines Landes misst, den 170.
bar gefolgt von dem Tropensturm „Grace“. Die-    von 189 Plätzen. Etwa 60 Prozent der Bevölke-
se Naturkatastrophen führten wieder zu Zer-      rung leben unter der Armutsgrenze. Mit der
störungen und Todesopfern und behinderten        Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse im
die Hilfsarbeiten mit starken Regenfällen bei    Juli 2021, dem schon ein versuchter Mordan-
schlechter Infrastruktur. So wie das Jahr 2021   schlag vorausging, und dem misslungenen
endete, begann auch das Jahr 2022. Kaum ein      Anschlag auf den aktuellen Interimspremi-
anderes Land ist dermaßen von den Auswir-        erminister Ariel Henry wurde ein politisches

16   jesuitenweltweit
HAITI

Erdbeben losgetreten. Henry verfügt, zahl-       Versprechen werden gemacht und in takti-
reichen haitischen Stimmen zufolge, weder        schen Spielchen von Politikern wieder ge-
über Glaubwürdigkeit noch über Legitimität.      brochen oder manipuliert“, so ein Bewohner.
Im November geplante Wahlen fanden nicht         Diese Meinung zeigt mit aller Deutlichkeit die
statt, einen Ersatztermin gibt es nicht.         kollektive Frustration der Menschen Haitis.

Der Weg aus der Krise

Die aussichtslose Situation veranlasst immer
mehr Menschen, das Land zu verlassen, vor
allem nach Mexiko und weiter in Richtung
USA. Die Hilfsaktion der Jesuiten in Haiti ist
in vollem Gange – für jene, die aufgebrochen
sind, und vor Ort mit Soforthilfe für akut be-
troffene Familien, die ihr Hab und Gut verlo-
ren haben: durch Unterkünfte, Lebensmittel
und psychosoziale Unterstützung, aber auch
durch langfristige Projekte, um zerstörte Häu-
ser nachhaltig aufzubauen. Denn das nächste
Erdbeben wird kommen – Haiti liegt in der
Nähe des Schnittpunkts zweier tektonischer
Platten, der karibischen und der nordameri-      Ein Lächeln schenkt Hoffnung in dieser schwierigen Zeit.
kanischen Platte –, und dann sollen die Häu-
ser den Erschütterungen standhalten können.      Hoffnung und Würde

Kollektive Frustration                           Die Jesuiten in Haiti sprechen von der Not-
                                                 wendigkeit „einer spirituellen Wiedergeburt“,
Die Jesuiten in Haiti haben selbst zu kämp-      bei der die Menschen zu zivilem Engagement
fen, wie sie erzählen: „Die Räumlichkeiten des   zurückfinden, Respekt für das Leben wieder-
Jesuiten-Flüchtlingsdiensts wurden am 4. Ok-     gewinnen und der Voluntarismus unter jungen
tober bei einem Feuer zerstört, darunter vier    Leuten wieder einen Platz findet, zur Unter-
Büros des Schulwerks ,Foi et Joie‘. Trotz der    stützung des guten Zwecks – auf politischem
Umstände arbeiten wir weiter, denn die Not       wie sozialem Feld. Die Basis dafür ist gute Bil-
hier ist groß. Wir Jesuiten in Haiti sind den    dung für alle, ohne Ausnahme und mit großen
Menschen im Land nahe und wir spüren ihren       Anstrengungen, um Hoffnung und Würde zu-
Schmerz als Ergebnis dieser Krise.“              rückzugewinnen, um das natürliche und kul-
                                                 turelle Potenzial des Landes auszuschöpfen.
Die Überhandnahme des Terrors bewaffneter
Banden hat viele Haitianer:innern zur Flucht                                                 Sara Gratt
veranlasst, und das in einem Land, das von
vollkommener Unsicherheit geprägt ist. „Auf        Hilfe für Haiti:
dem politischen Level gibt es absolut keinen       jesuitenweltweit.de • jesuitenweltweit.at
Grund, optimistisch in die Zukunft zu blicken:     ⇢ /haiti

                                                                             jesuitenweltweit 17
18    jesuitenweltweit
Kleidung Geflüchteter in Bar Elias, Libanon.
Zwischenstation
Der bunte Bilderbogen aus Kleidern,
die leise schaukeln im Wind,
aufgereiht sind auf einer Leine,
die über den Rand des Bildes
hinauszureichen scheint: ins Unendliche.

Ist es nur ein Ruheplatz am Wasser,
vor einer neuen Etappe der Flucht
oder die Endstation aller Hoffnung?
Joe Übelmesser SJ
                                           jesuitenweltweit 19
EDITORIAL

„Ich höre immer noch die Schüsse“
Der Konflikt um die abtrünnige Provinz Tigray treibt Hunderttausende in die
Flucht, viele von ihnen zum zweiten Mal. Überlebende berichten von schweren
Kriegsverbrechen. In einem Auffangzentrum des Jesuiten-Flüchtlingsdiensts (JRS)
in Addis Abeba können sie Hoffnung schöpfen.

D
         ie Lage in der äthiopischen Unruhe-      werden Kriegsverbrechen und schwere Men-
         region Tigray hat sich in den vergan-    schenrechtsverletzungen vorgeworfen. Nach
         genen Monaten zugespitzt. Im Juli        UN-Angaben sind über 2,2 Millionen Men-
2021 fielen die aufständischen Tigray Defence     schen auf Nothilfe angewiesen.
Forces (TDF) in die Nachbarregionen ein. An-
fang 2022 schien es, als habe die TDF, die fast
bis in die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba     „Die Lage ist so gefährlich geworden,
vorgestoßen war, die Oberhand gewonnen im         dass wir bei unserer letzten Reise
Mehrfronten-Konflikt gegen die äthiopischen       nach Tigray nicht die Missionsstation
Streitkräfte, Milizen aus der Nachbarregion       besuchen konnten“, sagt Paula Casado
Amhara sowie die Streitkräfte des Nachbar-        vom JRS Ostafrika.
lands Eritrea.
Durch die Offensive der Rebellen wurden in
Amhara mehr als eine halbe Million Men-           In den ersten Wochen des Jahres forderten
schen vertrieben, in der benachbarten Region      Drohnenangriffe der äthiopischen Armee Dut-
Afar über 250.000. Allen Konfliktparteien         zende Todesopfer unter der Zivilbevölkerung,

20 jesuitenweltweit
ÄTHIOPIEN

etwa in einem Flüchtlingslager nahe der Klein-
stadt Dedebit, woraufhin internationale Hilfsor-
ganisationen ihre Arbeit aussetzen mussten.

Die meisten der Betroffenen stammen ur-
sprünglich aus Eritrea und werden nun er-
neut vertrieben. Einige haben keine andere
Wahl, als in die Heimat zurückzukehren, wo
ihnen Verfolgung oder Zwangsrekrutierung
drohen. Zehntausenden ist es gelungen, sich
weiter nach Äthiopien abzusetzen, viele sind
in der Hauptstadt Addis Abeba gestrandet, er-
fahren dort aber keine Unterstützung durch
die Behörden. Einen Hoffnungsschimmer
bringen Einrichtungen wie das Refugee Com-
munity Center (RCC) des JRS.                       Nach den Strapazen der Flucht gibt das JRS-Zentrum in
                                                   Addis Abeba erste Orientierung.
Mahlet (Name geändert) ist eine 26-jährige
Geflüchtete aus Eritrea. Nachdem sie noch
als Teenager zum Militärdienst an einem sehr       „Ich wurde bewusstlos und war,
gefährlichen Ort einberufen wurde, beschloss       als ich wieder aufwachte, so schwer
sie, nach Äthiopien zu fliehen. 2014 kam sie       verletzt, dass ich nicht einmal
im Flüchtlingslager Histats in der Region Ti-      laufen konnte.“
gray an. Dort bekam sie zwei Kinder, wurde
aber bald von ihrem Mann verlassen.
                                                   Als ihre Nachbarin bemerkte, was passiert
                                                   war, brachte sie Mahlet und die Kinder zurück
„Eines nachts kamen Soldaten ins                   ins Lager. Einige Wochen später, Anfang 2021,
Lager und begannen, in die Luft zu                 gelang Mahlet die Flucht nach Addis Abeba.
schießen“, erinnert sie sich.
                                                   Noch immer leidet sie an den körperlichen
                                                   und seelischen Verletzungen, traute sich lan-
„Unmittelbar nach den ersten Schüssen er-          ge Zeit nicht, einen HIV-Test zu machen. Im
tönten Schreie, Weinen und viele schreck-          Refugee Community Center des JRS bekam
liche Geräusche im ganzen Lager. Ich habe          Mahlet nicht nur die notwendige medizini-
mich mit meinen Kindern versteckt, dann            sche Versorgung, sondern auch psychologi-
kam meine Nachbarin und drängte mich zu            sche Erste Hilfe. Unter Tränen bedankt sie
fliehen.“ Die beiden Frauen rannten mit den        sich für die Unterstützung: „Ich war die gan-
Kindern zu Fuß davon.                              zen Tage wie erstickt, weil ich niemanden
                                                   fand, dem ich mich anvertrauen konnte. Im-
Unterwegs wurde Mahlet auf der Suche nach          mer wenn ich an die Situationen denke, die
Wasser von einem Uniformierten überfallen,         mir widerfahren sind, schäme ich mich. Aber
verprügelt und vergewaltigt.                       jetzt bin ich so froh, dass mir jemand zuhört.“

                                                                               jesuitenweltweit 21
EDITORIAL

Nach wiederholten Angriffen auf Flüchtlingslager mussten NGOs die humanitäre Arbeit aussetzen.

                                                           In Addis Abeba angekommen, wurde er vom
„Dank des Mitgefühls und der                               UN-Flüchtlingswerk registriert und mit an-
Unterstützung durch den JRS habe                           deren Neuankömmlingen im JRS-Refugee
ich neue Hoffnung für mein Leben.“                         Community Center (RCC) untergebracht.
                                                           Dort erfuhr er von der Möglichkeit, eine
Tewolde ist 44 Jahre alt, auch er ist ein Ge-              Grundausbildung in IT-Technik zu absolvie-
flüchteter aus Eritrea und lebt seit drei Jahren           ren, und meldete sich für den Kurs an, den er
in Äthiopien, zunächst in Histats, nach Aus-               erfolgreich abschloss.
bruch des Konflikts ging er nach Addis Abeba.
„Immer wieder hörten wir die Schusswechsel                 Wenig später wurde im RCC eine Stelle als
zwischen Milizen und eritreischen Streitkräf-              Englischlehrer frei: „Jetzt bin ich angestellt
ten. Es gab keine Möglichkeit mehr, an Geld zu             und unterrichte“, berichtet Tewolde voller
kommen, und immer weniger Lebensmittel.“                   Freude, doch dann hält er inne: „Ich höre im-
                                                           mer noch die Schüsse, und es fällt mir schwer,
Durch Restriktionen der äthiopischen Regie-                nachts zu schlafen.“
rung wurde es für NGOs immer schwieriger                                                Steffen Windschall
Medikamente in die Konfliktregion zu brin-
gen. Als Tewolde krank wurde, überlebte er
nur, weil ihn ein Priester aufnahm und ver-                  Unterstützung für Geflüchtete in Äthiopien:
sorgte. Als eritreische Truppen in Histats ein-              jesuitenweltweit.de • jesuitenweltweit.at
marschierten, beschloss er, erneut zu fliehen.               ⇢ /tigray

22 jesuitenweltweit
VIETNAM

„Bildung ist keine Selbstverständlichkeit“
3.500 Euro für „Tadihoc“: Von Nürnberg aus ermöglicht der Verein „Steps2Education“
Kindern in Vietnam, zur Schule zu gehen.

D
       ass Bildung der Schlüssel ist zu einem   Knapp 70.000 Kinder leben in den Städten
       erfüllten Leben, weiß der vietname-      Vietnams auf der Straße und mehr als 16 Pro-
       sischstämmige Nürnberger Viet Bui        zent der Kinder im Land müssen arbeiten.
von „Steps2Education“. Vor vier Jahren hat      Von Armut betroffen sind vor allem die Ange-
der IT-Ingenieur mit einem guten Dutzend        hörigen der über 50 ethnischen Minderhei-
Freundinnen und Freunden den Verein ge-         ten, die in abgelegenen Bergregionen zu Hau-
gründet: „Damals haben wir noch studiert.       se sind. Hier ist der Zugang zu Bildung stark
Die meisten von uns haben Migrationshin-        eingeschränkt.
tergrund und durften in Deutschland gute
Startbedingungen genießen, wissen aber,         Vor über 20 Jahren hat Cam Hong Mai, auch
dass nicht jedes Kind auf der Welt so einen     sie lebt in Nürnberg, in der südvietname-
einfachen Zugang zu Bildung hat.“ Ziel der      sischen Metropole Bien Hoa, „Tadihoc“ ge-
„Steps2Education“: Geld sammeln, um so ei-      gründet, auf Deutsch: „Lasst uns zur Schule
nen Beitrag zu mehr Chancengleichheit auf       gehen“. Mit Unterstützung der Jesuiten hat
der Welt zu leisten. Zum Beispiel in Vietnam,   „Tadihoc“ vor drei Jahren im Hochland der
wo an bald fünf Standorten die Sozialzentren    Provinz Lam Dong einen zweiten Standort
von „Tadihoc“ Kindern aus armen Verhält-        eröffnet, in Cam Ranh betreibt „Tadihoc“ seit
nissen eine neue Perspektive geben, durch       kurzem ein Internat für 24 Schülerinnen,
Hausaufgabenbetreuung, Freizeitangebote,        zwei weitere Ableger sind in Planung.
Mahlzeiten, Stipendien für weiterführen-
de Schulen und ein immer offenes Ohr der        Für ihr Herzensprojekt organisieren „Steps2­
Mitarbeiter:innen.                              Education“ seit 2018 Benefizveranstaltungen
                                                wie Fußballturniere und Computerspiel-Par-
                                                tys. Trotz Corona gelang es im vergangenen
                                                Jahr, mit nur wenigen Events, etwa dem Ca-
                                                tering bei der Neueröffnung einer Rollladen-
                                                fabrik in Nürnberg, 3.500 Euro für Tadihoc
                                                zusammenzutragen und so ein Bewusstsein
                                                zu schaffen: „Bildung ist keine Selbstver-
                                                ständlichkeit“, sagt Viet, „darauf wollen wir
                                                aufmerksam machen.“

                                                  Mehr Infos:
                                                  jesuitenweltweit.de • jesuitenweltweit.at
                                                  ⇢ /tadihoc
Bildung und Spaß mit „Tadihoc“.                   steps2education.de

                                                                       jesuitenweltweit 23
EDITORIAL
Stipendien

Jeden Tag ein neues Abenteuer
Mariam (im Foto rechts) verbringt ihr Freiwilliges Internationales Jahr
als Jesuit Volunteer beim Jesuiten-Flüchtlingsdienst in Athen. Nach einigen
Monaten hat sie sich eingelebt und ihr Herzensprojekt gefunden.

W
           enn ich an meine Anfangszeit zu-       Kostenlose Kleiderausgabe
           rückdenke, wird mir deutlich, wie
           gut ich mich hier eingelebt habe.      „Magazi“ ist griechisch für „Laden“, und genau
Es fühlt sich fast so an, als hätte ich in mei-    das ist „Magazi“ auch: ein Secondhand-Klamot-
nem ganzen Leben nichts anderes gemacht.           tenladen für Geflüchtete. Hier bekommen sie
Das liegt an drei Aspekten: meiner Arbeit,         kostenlos Kleidung, aber auch Dinge wie Pam-
meiner Community und an dem Land oder              pers oder Trockenmilch für die Kleinen. Seit
der Kultur selbst.                                 Corona arbeiten wir mit Terminen, die über
                                                   WhatsApp vereinbart und von uns Freiwilli-
Buntes Aufgabenbündel                              gen gemanagt werden. Pro Familienmitglied
                                                   gibt es eine bestimmte Anzahl an Kleidungs-
Ich arbeite hier im Flüchtlingsdienst der Jesu-    stücken, die mitgenommen werden dürfen.
iten (JRS) mit drei weiteren Freiwilligen zu-      Nur im Notfall weichen wir von den Regeln
sammen, mit denen ich auch zusammenwoh-            ab. Oft werden Unverständnis und Frust an
ne. Meine JV-Kollegin Patricia ist auch gerade     uns ausgelassen, was angesichts der Lebens-
beim JRS tätig, jedoch in der Einsatzstelle in     umstände der Menschen verständlich ist.
Bosnien-Herzegowina. Meine Aufgaben ori-
entieren sich an fünf kleineren Projekten, die    Viele andere Dinge machen die Arbeit aber so
hier aktiv sind und von denen ich vier der Rei-   schön und bereichernd: die vielen guten Ge-
he nach vorstellen möchte.                        spräche, das Spielen mit den Kindern und die

24 jesuitenweltweit
JESUIT VOLUNTEERS

große Dankbarkeit. Das alles entschädigt für
die schwierigen Momente.

Nähen als Entspannungstherapie

Einen Ort speziell für Frauen bietet das Women-
Day-Center. Sie haben dort die Möglichkeit,
soziale Kontakte zu pflegen, sich zu duschen,
Wäsche zu waschen und an verschiedenen
Workshops teilzunehmen. Ich biete seit knapp
zwei Monaten einen wöchentlichen Scrunchie-
Workshop an, bei dem wir Haargummis nähen.
Zu meiner Freude stößt das Angebot bei fünf
Teilnehmerinnen auf reges Interesse. Meist        Mariams Lieblingsprojekt: offene Angebote für Kinder
mache ich Musik an, während die Frauen nä-        am Viktoria Square.
hen und sich in ihrer Muttersprache, Farsi, un-
terhalten. Das Women-Day-Center soll ein Ort      sie glücklich nach Hause gehen, war es die
sein, an dem die Frauen ihre Sorgen zurücklas-    Mühen wert.
sen und sich entspannen können, und ich habe
das Gefühl, dieses Ziel mit meinem Workshop       Den Menschen am nächsten
erreicht zu haben.
                                                  Zwei bis drei Mal die Woche gehen wir in ei-
Raum, Routine und Hoffnung                        nen nahegelegenen Park, den Viktoria Square,
                                                  der sich in den letzten Jahren zum Hotspot
Altersunabhängigen Sprachunterricht bietet        für Geflüchtete, aber leider auch für Drogen-
das Magistories-Projekt. Je nachdem wel-          abhängige und Kriminelle entwickelt hat. Wir
che Freiwilligen vor Ort sind, wird Deutsch,      spielen dort mit den Kindern, reden mit den
Englisch oder Griechisch gelehrt. Für Kin-        Eltern und lernen Leute kennen. Es ist defi-
der bieten wir Mathematik, Spiele und Ma-         nitiv das Projekt, bei dem wir den Menschen
len an. Ich unterrichte Mathe für Kinder          am nächsten sind. Oft ist alles sehr emotional,
und die erste Englischstufe für Erwachsene.       und trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb,
Lehrerin zu sein ist für mich eine echte He-      ist es eines meiner liebsten Projekte hier.
rausforderung. Meine Geduld und Frustrati-
onstoleranz werden regelmäßig auf die Probe       Das ist der JRS Greece, ein bunt gemischtes,
gestellt. Es hat eine Weile gebraucht, bis ich    abwechslungsreiches Programm. Jeder Tag ist
verstanden habe, worum es in diesem Projekt       anders. Ich sammle hier so viele einzigartige
wirklich geht. Wir geben den Menschen ei-         und wertvolle Erfahrungen und blicke mit
nen sicheren Raum, eine Routine, Hoffnung.        Spannung auf die kommenden Monate!
Wir hören viele Geschichten. Man lernt sich
kennen und gewinnt Vertrauen. Mit diesem                                               Mariam Amman
Verständnis im Hinterkopf wurde die Arbeit
für mich viel leichter. Wenn mich meine Kids        Mehr Infos unter: jesuit-volunteers.org
nach 90 Minuten Mathetortur umarmen und             Mariams Blog: myyearingreece.com

                                                                              jesuitenweltweit 25
Absturz in die digitale Kluft
168 Millionen Kinder weltweit konnten in den vergangenen zwei Jahren nicht am
Unterricht teilnehmen. Im Globalen Süden bedeutet der Corona-Lockdown für
viele das Ende der Schulkarriere. John Ravi SJ schildert die Situation in Indien.

D
        ie COVID-19-Pandemie hat in Indien            der Gefahr laufen zurückzubleiben. So hat die
        unmittelbare Auswirkungen auf die             Pandemie die staatlichen und privaten Schulen
        Bildung von Kindern, vor allem für            des Landes vor große Herausforderungen ge-
jene aus armen und benachteiligten Familien.          stellt: Schulabbrüche, Wissenslücken und eine
Seit Beginn der Schulschließungen sind ihre           Vertiefung der digitalen Kluft sind die Folge.
Wohnungen ihr einziger Lernort. Die Tatsa-
che, dass so viele Kinder über 20 Monate hin-         Letztere war schon vor der Pandemie eine
weg rund um die Uhr in kleinen Häusern auf            Realität in Indien: Nur 23,8 Prozent der Haus-
engstem Raum und in unhygienischen Ver-               halte im ganzen Land haben Zugang zum In-
hältnissen leben, hat traumatische Auswir-            ternet, die Unterschiede zwischen städtischen
kungen auf ihr körperliches, emotionales und          und ländlichen Haushalten sind immens. Von
soziales Wohlbefinden und wirkt sich direkt           den 60 Prozent der indischen Bevölkerung,
auf ihre Lernergebnisse aus.                          die auf dem Land leben, haben nur 14 Prozent
                                                      Zugang zum Internet, noch einmal deutlich
Da viele indische Familien keinen Zugang zu           weniger als die 42 Prozent der städtischen
Technologien wie Smartphones, Computer und            Haushalte. 5,3 Prozent der Kinder im ländli-
Internet haben, die für Distanzunterricht uner-       chen Raum wurden 2021 nicht eingeschult,
lässlich sind, war schon früh klar, dass viele Kin-   2018 waren es nur 1,8 Prozent.

26 jesuitenweltweit
INDIEN

                                                  Die meisten Dörfer, in denen die Betroffenen
Über 80 Prozent der Schülerinnen                  leben, erreichen keine staatlichen Hilfen,
und Schüler in staatlichen Schulen                etwa die von der Regierung angekündigten
sind vom Online-Unterricht ausge-                 Sozialfürsorgeprogramme. Bei der Bereitstel-
schlossen.                                        lung von Hilfsgütern kam es oft zu Diskrimi-
                                                  nierungen. Vielen Dalits wurde während der
                                                  Pandemie aufgrund ihrer Kastenzugehörig-
Die Regierungen der Bundesstaaten versäu-         keit kein Zugang zu Feuerbestattungsplätzen
men es, entsprechende Kapazitäten aufzu-          gewährt.
bauen. Auch die nationale Bildungspolitik
wird nicht müde, die Bedeutung von Online-
Bildung zu betonen, ist jedoch nicht in der       Der Verlust von Arbeitsplätzen hat
Lage, die digitale Kluft zu verkleinern. Nicht    nicht nur persönliche Tragödien zur
alle Lehrkräfte haben das fachliche Rüstzeug      Folge, sondern auch weitreichende
für Online-Unterricht.                            soziale und volkswirtschaftliche
                                                  Konsequenzen.
Dalits („Kastenlose“) und indigene Adivasi fin-
den Arbeit meist im informellen Sektor. Für
sie bedeutet Lockdown: Jobverlust, massive
Einschränkung der Mobilität, Entzug der Le-
bensgrundlage und Ernährungsunsicherheit.
Von den 395 Millionen Wanderarbeiter:innen
in Indien sind schätzungsweise 62 Millio-
nen Dalits und 31 Millionen Adivasi. Sie sind
aus ihrer Heimat in die Städte gezogen, weil
sie Gewalt gegen ihre Kaste, Armut oder den
Verlust ihres Eigentums fürchten mussten.
Durch Arbeitslosigkeit und die erzwungene
Rückkehr in ihre Dörfer sind sie erneut der
Gewalt und Ausbeutung ausgeliefert.

Viele Kinder aus armen Familien haben die         John Ravi SJ ist Sekretär für Bildungsangelegenheiten
Schule abgebrochen, um Eltern und Ge-             der Jesuiten in Südasien.
schwister durch Arbeit zu unterstützen. Eine
große Mehrheit der Mädchen zwischen zehn          So wird die dauerhafte Abwanderung von
und vierzehn Jahren muss Hausarbeit ver-          Frauen aus dem Erwerbsleben den gesell-
richten. Das Wegbrechen der Einkommen             schaftlichen Fortschritt der Gleichstellung
treibt viele arme Familien in die Kreditfalle     zunichtemachen und zugleich das Bruttoin-
- die Zinssätze sind hoch. Betroffen sind hier    landsprodukt gefährden.
vor allem Angehörige der muslimischen Ge-
meinschaft in Indien, von denen die Mehrheit      Immer weniger Eltern aus armen Familien
eigene Gewerbe betreibt. Es drohen Zwangs-        sind bereit, ihre Mädchen zur Schule zu schi-
arbeit und Schuldknechtschaft.                    cken. Das wird vermehrt zu Kinderheiraten

                                                                              jesuitenweltweit 27
EDITORIAL

führen und dazu, dass eine ganze Generation    Um die Lage der Frauen zu verbessern, bedarf
junger Frauen ohne Bildungs- und Beschäfti-    es verschiedener Maßnahmen: Wichtig sind
gungsmöglichkeiten dasteht. Auch die Gewalt    die Einführung wirtschaftlicher Unterstüt-
gegen Frauen und Kinder wird zum Problem:      zungspakete, einschließlich direkter Geld-
Nach Angaben der National Commission of        transfers, eine erweiterte Arbeitslosenunter-
Women verzeichnete Indien zwischen Feb-        stützung, Steuererleichterungen und größere
ruar und Mai 2020 einen 2,5-fachen Anstieg     Familien- und Kinderbeihilfen für gefährdete
der häuslichen Gewalt. Mangelnde Bildung       Frauen und ihre Familien. Die Überwindung
und wirtschaftliche Unsicherheit erhöhen das   des geschlechtsspezifischen Lohngefälles ist
Risiko geschlechtsspezifischer Gewalt. Ohne    dringend erforderlich und beginnt mit der
ausreichende wirtschaftliche Ressourcen sind   Verabschiedung von Gesetzen und politischen
Frauen nicht in der Lage, missbräuchlichen     Maßnahmen, die gleichen Lohn für gleich-
Partnern zu entkommen, und sehen sich ei-      wertige Arbeit bedeuten.
ner größeren Gefahr der sexuellen Ausbeu-
tung und des Menschenhandels ausgesetzt.       Eine wirksame Reaktion zur Unterstützung
                                               armer und gefährdeter Haushalte erfor-
Frauen den Rücken stärken                      dert erhebliche zusätzliche Haushaltsmit-
                                               tel. Jedes Unterstützungspaket muss sowohl
Die Stärkung der Bildung auf dem Lande         die bestehenden als auch die neuen Armen
erfordert die Bereitstellung angemessener      schnell erreichen.
Haushaltsmittel für die Ausbildung von                                          John Ravi SJ
Lehrern, den Ausbau von Infrastruktur-
einrichtungen sowie Hilfsmaßnahmen für
Schüler:innen in Form von Stipendien und         Unterstützung für Dalit-Schüler:innen
anderen Sozialleistungen. Für informell Be-      in Südindien:
schäftigte, die arbeitslos sind, können Bar-     jesuitenweltweit.de • jesuitenweltweit.at
geldtransfers oder Arbeitslosenunterstützung     ⇢ /DACA
die finanzielle Belastung verringern, ebenso     Corona-Hilfe weltweit:
wie die Stundung oder Befreiung von Steuern      jesuitenweltweit.de • jesuitenweltweit.at
und Sozialversicherungszahlungen.                 ⇢ /corona

28 jesuitenweltweit
AFGHANISTAN

Versuchen, was möglich ist
Afghanistans Jugend will sich nicht beugen: Nach Verhandlungen mit den Taliban kön-
nen JWL-Studierende ihre Kurse fortsetzen – über die Hälfte von ihnen sind Frauen.

A
        nfangs wussten wir nicht, ob die          schaffen es die jungen Leute zu studieren.
        Studierenden von Jesuit Worldwide         Bei der Zulassung im Januar gab es über
        Learning – vor allem die Studentin-       40 Neueinschreibungen für das einjährige
nen – nach dem 15. August 2021, dem Tag der       Grundstudium.
Machtübernahme der Taliban in Afghanistan,
weitermachen können und ob es Internet ge-        Schon in den Vorjahren konnten JWL-Studie-
ben würde. Aus den Medien erfahren wir von        rende, die als lokale NGO New Horizon regis-
einer großen humanitären Krise im Land, vom       triert und organisiert sind, mit finanzieller
Kollaps der Wirtschaft, dass es keine Jobs und    Hilfe von außen das EOTS-Programm (Each
kein Einkommen mehr gibt und infolgedessen        One Teaches Someone – jeder unterrichtet
viele Menschen hungern. Und doch sind wider       einen anderen) durchführen. Auch dieses
alle Erwartungen weiterhin über tausend junge     Programm geht weiter und erreicht weitere
Leute in eLearning-Kursen von Jesuit World­       2.000 junge Leute. Da der Hunger die Jugend-
wide Learning (JWL) engagiert. Die Mehrheit       lichen und ihre Familien plagt, setzen sie nun
von ihnen lernt Englisch, und rund hundert ler-   ein Hilfsprogramm auf, um über drei Monate
nen in den berufsbildenden und akademischen       2.000 der bedürftigsten Familien mit Essens-
Programmen (Liberal Studies und ein Bachelor-     paketen zu versorgen. Wenn es gut läuft und
Studium in nachhaltiger Entwicklung).             weiter Bedarf besteht, wird das Programm
                                                  verlängert. Die größten Hürden sind derzeit
                                                  der Transfer und die Auszahlung der finan-
Nur eine Woche nach der Machtüber-                ziellen Hilfen für den Kauf der Lebensmittel.
nahme sprachen in Khidir die Studen-
ten und Studentinnen mit der lokalen              Die Angst, dass Afghanistan in das dunkle
Regierung und den Taliban.                        Zeitalter der ersten Machtübernahme der Ta-
                                                  liban der Neunzigerjahre zurückfällt, war be-
                                                  rechtigt. Warum es nicht ganz so gekommen
Sie bekamen die Erlaubnis, ihr Lernzentrum        ist? Das hat sicher viele politische Gründe, die
samt Computern und Internet wieder aufzu-         es den Taliban nicht erlauben, die Neunziger-
machen. Das kam den Taliban gelegen, die          jahre zu wiederholen. Aber es gibt einen wei-
auch Zugang zum Internet suchten. Dieser          teren, besonderen Grund:
Wiederöffnung eines Lernzentrums folgten
alle anderen, sogar zwei neue Zentren ka-
men hinzu, insgesamt sind es zehn in Ba-          20 Jahre Schuldbildung ließen eine
myan, Daikundi und Ghor sowie je eines in         neue Generation heranwachsen, die
Kabul und Herat. Trotz aller Widrigkeiten         sich nicht so leicht einem fundamen-
und des harten Winters in den Bergen und          talistischen Diktat beugt.
der verschneiten Wege zu den Lernzentren

                                                                          jesuitenweltweit 29
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