PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
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JUNI 2021 | NR. 178 | GÖNNER-MAGA ZIN PARAPLEGIE SCHWERPUNK T Sport und Gesundheit 6 Sport ist wichtig für die Rehabilitation 16 Silvano Beltrametti und Ronny Keller im Gespräch 22 Antoine Barizzi entschied sich, nicht unglücklich zu sein
Gastgeber aus Leidenschaft. Eines der führenden Conference Hotels der Schweiz. 150 komfortable Hotelzimmer, davon 74 barrierefrei 40 Veranstaltungsräume mit bis zu 600 m2 und 600 Gästen 2 Restaurants, 1 Bar und 1 Kaffee-Bar Vielfältige In- und Outdoor-Sportmöglichkeiten Nur 15 Minuten von Luzern SEMINARE EVENTS GENUSS Hotel Sempachersee Guido A. Zäch Strasse 2 6207 Nottwil T +41 41 939 23 23 info@hotelsempachersee.ch www.hotelsempachersee.ch Ein Unternehmen der Schweizer Paraplegiker-Stiftung
M AG A ZIN D ER G Ö NNER-V EREINIG U NG D ER SCH W EIZER PA R A PL EG IK ER-S T IF T U NG 6 22 Liebe Mitglieder Schwerpunkt: Sport und Gesundheit Wenn sich die körperlichen Voraussetzungen eines Menschen 6 SPORT THER APIE Sportliche Aktivitäten sind in Nottwil durch einen Unfall oder eine Krankheit verändern, tauchen fun- wichtig, um die Rehabilitationsziele zu erreichen. damentale Fragen auf – bei einer Querschnittlähmung oft von einer Sekunde auf die andere. Die Betroffenen werden zu tief- 10 BREITENSPORT Im Rollstuhlclub Valais Romand kommen gehenden Analysen ihrer Lebenssituation gezwungen, eine Sport und Soziales auf dynamische Art zusammen. Arbeit, die sich nicht einfach per Knopfdruck erledigen lässt. Es 14 SPITZENSPORT Cynthia Mathez und Silvio Keller haben braucht Geduld und viel Verarbeitungszeit, bis eine neue Bezie- ein grosses Ziel: die Paralympics in Tokio. hung zum Körper entstehen kann. Hinzu kommt, dass auch die mentale Verfassung mit dem Körper im Spitalbett liegt. 16 DA S Z WEITE LEBEN Die früheren Profisportler Silvano Ich musste vor 43 Jahren zuerst mit mir, dem Umfeld und Beltrametti und Ronny Keller tauschen sich darüber aus, dem Ertragenen in Einklang kommen, um zu erkennen, dass was der Sport ihnen heute gibt – als Rollstuhlfahrer. mein Körper mein Kapital bleibt. Ich musste hinschauen und ler- nen, wo die Chancen, Risiken und Nebenwirkungen einer Para- 20 SPORT OHNE GRENZEN Viele Sportarten können Fuss- plegie liegen. Das ging nicht ohne Trauer, Wut oder Auflehnung gänger und Querschnittgelähmte gemeinsam ausüben. gegenüber dem Schicksal. Mit anfangs vagem Interesse wagte ich die Entdeckungsreise des Noch-Möglichen – ohne zu wissen, 21 SEITENBLICK Ohne freiwillige Betreuer wie Jens Katzer wohin die Reise führen wird. Von jedem noch so kleinen Erfolg, sind Höchstleistungen unmöglich. von jedem kleinen Fortschritt profitierte mein Selbstwertgefühl. Als dann die Auslegeordnung gemacht und die neuen Werte definiert waren, kam auch Stolz auf. 22 BEGEGNUNG Antoine Barizzi verunfallte mit sechzehn Sport spielte dabei eine zentrale Rolle. Durch sportliche Akti- Jahren und konnte nicht mehr in sein Elternhaus zurück. vitäten habe ich bereits vor meiner Querschnittlähmung sehr viel Da entschied er sich, nicht unglücklich zu sein. Freude und Lebensqualität erleben dürfen. Dieses Interesse und 28 INNOVATIVES FOR SCHUNGSPROJEK T die damit verbundenen Tugenden sollten nicht verloren gehen, Der «Virtual Walk» hilft gegen chronische Schmerzen. weil ich fortan ein Leben im Rollstuhl führen musste. Mit der Zeit und hartem Training profitierte ich von der neu gewonnenen 30 JAHRESBERICHT 2020 Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung Selbstständigkeit und habe die Risiken eines sitzenden Lebens konnte betroffenen Menschen mehr Direkthilfe leisten. weitgehend in den Griff bekommen. Dieses «Paraplegie» bringt Ihnen die Wichtigkeit des Sports 32 DAFÜR HAT ES MICH HEUTE GEBR AUCHT … im Alltag von Menschen mit Querschnittlähmung näher. Ich Diana Pacheco Barzallo ist Gesundheitsökonomin in der bedanke mich herzlich, dass Sie unsere Schweizer Paraplegiker- Schweizer Paraplegiker-Forschung. Stiftung auch in diesem Bereich so toll unterstützen. 31 STIF TUNG 33 IHRE SEITE Heinz Frei Präsident Gönner-Vereinigung Titelbild: Walter Renner im Kajak. Der ehemalige Bergführer und Freilei- tungsmonteur verunfallte vor 20 Jahren bei Umbauarbeiten und ist seither querschnittgelähmt. Für den 67-Jährigen aus Bauen UR bedeutet Sport vor allem: in der Natur sein. Sport hilft ihm, seine Schmerzen zu vergessen, und kräftigt seinen Oberkörper für die Herausforderungen des Alltags. PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1 3
CAMPUS NOT T WIL Sporterlebnisse greifbar gemacht Das Besucherzentrum ParaForum in Nottwil bietet bis September 2021 faszinierende Einblicke in die Welt des Sports. Wie fühlt sich zum Beispiel eine rasante Monoskibob-Abfahrt aus Sicht des Athleten an? Mit einer Virtual-Reality-Brille und Simulationsgeräten kann ein solches Abenteuer im ParaForum unmittelbar erlebt werden. Die Besuchenden – Jugendliche, Erwachsene, Familien – tauchen ein in die Welt des Rollstuhlsports und erfahren mehr über seine hohe Bedeutung für Menschen mit einer Querschnittlähmung. Ob Breiten- oder Spitzensport: Diverse Stationen laden zum Entdecken und Staunen ein. Louka Réal paraforum.ch Mehr Inklusion im Foto: srf Spitzensport Seit diesem Jahr können auch Rollstuhl-Athleten 46 einen Spitzensport-WK der Schweizer Armee absolvie- mal pro Jahr ren. Bereits drei nutzen das in die Physiotherapie Angebot des Fachstabs Sport: Basketballer Louka Menschen mit Querschnitt Réal (Pully VD), Skifahrer lähmung benötigen umfas- Pascal Christen (Kriens LU) sende Leistungen zur Vorsorge und Badmintonspieler Chancengleichheit im E-Sport und Behandlung ihrer Gesund- Luca Olgiati (Hausen AG). heitsprobleme. Neue Studien- Als Fussgänger hatten sie Die Zuwachsraten sind enorm. Wenn die besten E-Sportler daten der Schweizer Para bereits die Rekrutenschule der Welt gegeneinander am Computer spielen, füllen sie grosse plegiker-Forschung zeigen: absolviert. Jetzt wurden sie Hallen und erreichen ein Millionenpublikum live im Internet. Die Betroffenen beanspruchen «remilitarisiert». Wie allen Davon sollen auch Menschen mit einer Querschnittlähmung ein breites Angebot ärztlicher, Spitzensport-Soldaten ste- profitieren – das ist das Ziel von «Pararat», an dem sich die therapeutischer und pflegeri- hen ihnen bis 100 Trainings- Schweizer Paraplegiker-Stiftung beteiligt. Das Projekt der scher Versorgung. 82 Prozent tage pro Jahr zu, die mit E-Sport-Plattform European Amateur Tournament (Eurat) setzt konsultieren mindestens ein- Erwerbsersatz und Sold ent- sich für Jugendliche mit körperlichen Beeinträchtigungen ein. mal jährlich den Hausarzt, schädigt werden. In abseh- Als E-Sportlerinnen und E-Sportler sind sie in dieselbe Stärke- 41 Prozent den Rückenmark- barer Zeit soll ein vierter klasse eingeteilt wie Fussgängerinnen und Fussgänger und spezialisten und 63 Prozent Athlet von dieser Förderung messen sich mit ihnen am Bildschirm. Das Projekt Pararat schafft benötigen eine intensive Phy- profitieren. Chancengleichheit im Sport. Es ist «Inklusion pur» – der Schritt siotherapie – durchschnittlich in eine Gesellschaft, in der es keine Rolle spielt, ob jemand eine 46 Mal pro Jahr. Querschnittlähmung hat oder nicht. baspo.admin.ch eurat.gg swisci.ch 4 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1
CAMPUS NOT T WIL 61750 Follower folgen der Schweizer Paraplegiker-Stiftung auf Social Media und sorgen für einen intensiven und spannenden Austausch auf unseren Kanälen. Wir danken allen für ihre Kommentare. Dauermitgliedschaft für Lena Bessere Versorgung dank neuer Diagnostik Dieser Facebook-Post hat viel Feedback ausgelöst: Die frühere Schwingerkönigin Sonia Kälin schenkte im März ihrer neuge- Die Digitalisierung erschliesst borenen Tochter Lena eine Dauermitgliedschaft. neue Dimensionen in der lebens- langen Patientenversorgung. Die Schweizer Paraplegiker- Stiftung und die ETH Zürich sind dazu eine wegweisende Partner- schaft zur Entwicklung einer Frauenpower im Sport personalisierten Medizin für Menschen mit Querschnittläh- Vor 50 Jahren wurden Frauen mung eingegangen. noch ausgeschlossen, wenn sie an einem Volkslauf teil- Das Ziel des auf zehn Jahre ange- nehmen wollten. Seither hat legten Projekts mit Beteiligung sich der Frauensport stark von Fachkräften aus der ganzen entwickelt und die Schweiz Welt ist eine bessere Behandlung brachte grosse Athletinnen für die Betroffenen, indem spezi- hervor. Das Buch «Frauen- fische Funktionsstörungen und power» stellt 30 Sportlerinnen typische Erkrankungen bereits vor, die den Frauensport vor dem Auftreten von klinischen geprägt haben. Mit Edith Symptomen erkannt werden – Hunkeler und Manuela durch Datenanalyse. Dabei Schär sind auch zwei heraus- werden grosse Mengen an Mess- ragende Rollstuhlathletinnen daten und Befunden zu Krank- vertreten. Zusammenge- heitsbildern verknüpft. Sensoren kommen sind 30 spannende messen die Gesundheitsdaten Geschichten über Frauen, die und Systeme der künstlichen sich in der männerdominier- Intelligenz helfen bei der Früh- ten Sportwelt durchgekämpft diagnostik durch das Erkennen haben. Das Buch wurde von von bisher unbekannten Zusam- der Schweizer Paraplegiker- menhängen und Mustern. Stiftung unterstützt. Sonia Kälin mit ihrer Mutter und Tochter. So kann zum Beispiel ein Sensor Keller, Schneider, Birrer: im Kissen des Rollstuhls in «Frauenpower», Kebisch- Verbindung mit anderen, heute Verlag, 220 Seiten. noch unbekannten Befund- konstellationen direkt vor einem Druckgeschwür (Dekubitus) warnen. Dies erleichtert und 2020: Hohe Patientenzufriedenheit im SPZ in Nottwil verbessert die klinische Arbeit. Sehr gute Noten für das SPZ: Die Patientinnen und Patienten des Schweizer Paraplegiker- Belastende Untersuchungen Zentrums (SPZ) waren mit ihrem Aufenthalt im Jahr 2020 so zufrieden wie noch nie. können dadurch weitgehend Mit 90 von 100 Punkten gaben sie der Klinik in der Gesamtwertung ein tolles Feedback. vermieden werden und die 93,8 Prozent würden das SPZ weiterempfehlen. In sämtlichen Punkten ergab die Patientinnen und Patienten sind Umfrage zur Patientenzufriedenheit bessere Werte als in den Vorjahren – eine schöne präziser informiert. Anerkennung der Teamleistung zum Abschluss der Umbauphase. PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1 5
SCHWERPUNKT Die Therapie mit Spassfaktor Sportliche Aktivitäten sind in Nottwil fest in den therapeutischen Ablauf eingebunden. Im Spitalalltag sind sie enorm wichtig, um die gesteckten Rehabilitationsziele zu erreichen. Dienstag, 9.30 Uhr, Spieltraining im Schwei- therapeutin Anael Plebani. «Und plötzlich können zer Paraplegiker-Zentrum (SPZ). Mit dem Zuruf sie wieder Bewegungen ausführen, die sie am «Los, den schaffst du!» treibt Dominic Fäs seinen Anfang für nicht mehr möglich gehalten hätten.» Teamkollegen beim Rollstuhlbasketball an. Der Der Erfolg stellt sich quasi unbewusst ein. Das 37-Jährige ist hoch motiviert, kämpft um jeden Spiel in der Turnhalle macht Spass und wird nicht Ball. «Mich muss man eher bremsen», sagt er. wie eine Therapieeinheit empfunden – und den- Das war schon vor seinem Unfall so: Dominic Fäs noch hat die Sporttherapie einen wesentlichen bewältigte ein anspruchsvolles Programm. Unter Anteil daran, dass die Patientinnen und Patienten der Woche arbeitete er als Gerüstbauer, am ihre Rehabilitationsziele erreichen. Anael Plebani, Sporttherapeutin Wochenende war er Türsteher in einem Club an Die Sporttherapeutinnen und -therapeuten der Zürcher Langstrasse. Am 23. Oktober 2020, des SPZ vermitteln die wichtige Freude an der kurz vor Feierabend, stürzte er aus fünf Metern Bewegung. Gleichzeitig arbeiten sie daran, vom Gerüst. Seither ist er Paraplegiker. die Betroffenen gezielt zu kräftigen und ihnen Die vielen Sportmöglichkeiten in Nottwil Schritt für Schritt weitere Körperfunktionen zu nutzt der Patient so oft es nur geht: «Am Anfang erschliessen. Dabei stehen sie in einem engen dachte ich, es sei einfach nur eine coole Abwechs- Austausch mit anderen Therapieformen wie der lung im Spitalalltag. Aber dann ging es mir kör- perlich immer besser, je mehr ich trainiert habe.» Die Fortschritte spornen ihn weiter an, und sein «Plötzlich führen sie Bewegungen aus, die sie randvoller Trainingsplan hilft gegen aufkom- mende Frustgefühle in der von Corona gepräg- am Anfang für unmöglich gehalten hätten.» ten Anfangszeit. «Nur rumsitzen und Therapien Anael Plebani machen, das wäre nichts für mich», sagt Dominic Fäs. «Man ist viel besser drauf, wenn man seinen Physio- und der Ergotherapie. «Das interprofessi- Körper fit hält und kräftigt, was noch geht.» Am onelle Reha-Team bespricht gemeinsam die aktu- Anfang standen beim Bogenschiessen die Rumpf- ellen Ziele und wir wählen eine Sporttherapie, die aufrichtung und die Stärkung des Rückens im diese Ziele am besten unterstützt», sagt Anael Vordergrund, je mehr sich sein Zustand stabili- Plebani. Die Therapien richten sich dabei an den sierte, desto mehr Sportarten konnte er auspro- individuellen Bedürfnissen und Wünschen der bieren. Am besten gefällt ihm Rollstuhl-Rugby, Patientinnen und Patienten für das spätere All- die Stimmung in der Gruppe sei richtig toll. tagsleben aus. Beispielsweise ist ohne ausreichende Kraft Spielerisch erreichbare Fortschritte im Oberkörper kein selbstständiger Transfer in Auch beim heutigen Spieltraining wird viel den Rollstuhl möglich. Für Menschen mit einer gelacht, trotz der Ernsthaftigkeit, mit der beide Querschnittlähmung ist das regelmässige Aus- Teams den Ball in den Korb werfen wollen. üben einer sportlichen Tätigkeit daher beson- Konzentriert auf den Ball «Unsere Patientinnen und Patienten konzentrie- ders wichtig: Es dient der Vorbeugung vor Folge- im Korb: Patienten und Thera ren sich voll auf die Aufgaben im Basketball und erkrankungen, die ihr Leben noch stärker ein- peutinnen beim Spieltraining vergessen dabei ihre Schmerzen», erklärt Sport- schränken würden. Sport beeinflusst aber auch in der SPZ-Turnhalle. 6 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1
SCHWERPUNKT Lernen der richtigen Technik: Rollstuhl- Handling im SPZ-Therapiegarten. das Herz-Kreislauf-System positiv und bringt viele weitere gesundheitliche Vorteile. In Nottwil ver- bessern die Patientinnen und Patienten damit auf spielerische Art wichtige Funktionen wie Kraft, Koordination, Stabilität, Ausdauer, Wärmetrans- port und Atmung. Das Gehirn lernt mit Die herausragende Bedeutung des Sports für Menschen mit einer Querschnittlähmung wurde schon von Pionier Sir Ludwig Guttmann erkannt. 1944, kurz nach der Eröffnung des weltweit ersten Paraplegiker-Zentrums in Aylesbury (GB), führte er Sport in die Rehabilitation ein und publizierte ein Jahr später eine Studie zu den Behandlungs- erfolgen. Guttmanns Grundgedanken haben bis heute Bestand. Doch die Hilfsmittel haben sich sehr verfeinert. Heute weiss man, dass gerade in der Früh- phase nach einem Unfall das menschliche Gehirn zu erstaunlichen Lernschritten angeregt werden Perspektiven für ein aktives Leben kann. Daher werden in Nottwil die Betroffenen Auch Sporttherapeutin Anael Plebani sieht soziale von Anfang an motiviert, sich im Rahmen ihrer Aspekte als zentralen Nebeneffekt ihrer Arbeit: lähmungsbedingten Möglichkeiten zu bewegen, «In unseren Sportgruppen lernen die Betroffenen erklärt Michael Baumberger, Chefarzt für Paraple- neue Menschen kennen, Freundschaften entste- giologie und Rehabilitationsmedizin: «Im Sport hen und es findet ein reger Erfahrungsaustausch verbinden sich koordinative, motorische, psychi- statt.» Patientinnen und Patienten, die schon län- sche und regenerative Aspekte. Wir nutzen ihn ger in Nottwil sind, geben Tipps an die weniger als ein Mittel, damit Funktionen zurückkommen, Erfahrenen weiter. Die gegenseitige Unterstüt- Michael Baumberger von denen die Betroffenen am meisten profitie- zung verbindet und stärkt das Selbstvertrauen auf Chefarzt Paraplegiologie und ren. Ihr Körper lernt sie auf spielerische Art, ohne dem Weg zurück in die Gesellschaft. «Erfolgser- Rehabilitationsmedizin dass sie es bewusst realisieren.» lebnisse im Sport unterstützen den Verarbeitungs- Die positiven Effekte des Sports werden prozess», sagt Plebani. «Das hilft, den Rollstuhl für alle Lähmungshöhen eingesetzt. Von hoch- als Hilfsmittel zu akzeptieren und ihn später sogar gelähmten Tetraplegikern, die beim Blasrohr- als ein Sportgerät anzusehen.» schiessen die noch vorhandene Atemmuskulatur Die Sporttherapeutinnen und -therapeuten trainieren oder in der Elektrorollstuhlgruppe ihre des SPZ motivieren die Betroffenen, an ihre Ziele Fahrtechnik und Koordination verbessern, bis zu zu glauben, und lenken die Aufmerksamkeit auf Personen mit einer inkompletten Querschnittläh- zukünftige Sport- und Freizeitmöglichkeiten. Sie mung, die sich im Mattentraining die Grundlagen zeigen Perspektiven für einen aktiven Lebensstil der Fitness und Gesundheitsförderung erarbeiten. auf, der ihre Fitness und Lebensqualität nach dem Chefarzt Baumberger nennt als weitere Vorteile Austritt weiter verbessert. Dazu zählen Abklärun- psychologische und soziale Aspekte auf dem Weg gen, ob eine gewünschte Sportart längerfristig zur gesellschaftlichen Wiedereingliederung: Mit geeignet ist, und die Vermittlung von Kontakten dem Sport kommt während des monatelangen zur Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV) mit Spitalaufenthalts auch ein Stück «normale» Welt ihren 27 Rollstuhlclubs. Und dazu zählt insbeson- zurück zu den Menschen, die ihr Leben komplett dere das Rollstuhl-Handling, das die Grundlage neu ausrichten müssen. für alle weiteren Schritte ist. 8 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1
SCHWERPUNKT «Wir bieten das Rollstuhl-Handling sowohl für das Beste daraus machen», sagt er. «Es bleibt manuelle als auch für elektrische Rollstühle», sagt nichts anderes übrig. Das ist sowohl für dich als Anael Plebani. Durch das Trainieren der Mobili- auch dein Umfeld gut.» tät in einer nicht rollstuhlgerechten Welt sollen Dank des Sportangebots im SPZ sei er weni- die Patientinnen und Patienten möglichst selbst- ger gestresst als damals, als er zwei Jobs gleich- ständig werden – zu Hause, in der Stadt, auf dem zeitig bewältigen musste. Im Kraftraum und im Arbeitsweg, in den Ferien. «Am Anfang haben Spieltraining kann er sich «auspowern», seine alle Respekt vor dem Umkippen. Aber schon bald Energie rauslassen. Für die Zeit nach dem Aus- können sie eine sechs Zentimeter hohe Stufe tritt sucht er einen Rollstuhlclub in der Nähe sei- Dominic Fäs, Patient befahren. Sie lernen: Mit der richtigen Technik nes Wohnorts Bremgarten AG, um zu trainieren funktioniert es.» Entscheidend ist auch die Tech- und Rugby zu spielen. Den Austausch mit ande- nik beim Antreiben des Rollstuhls. Bei Men- ren Betroffenen und die gegenseitige Unterstüt- schen mit Querschnittlähmung tragen die Schul- zung möchte er nicht mehr missen. tern die Hauptlast für die meisten Bewegungen, Möglichst bald wird sich der Paraplegiker mit doch diese sind von Natur aus nicht für ein Leben einer inkompletten Querschnittlähmung in seiner im Rollstuhl vorgesehen. So drohen bei falscher Belastung gravierende Folgeschäden. «Wenn man seinen Körper nicht kräftigt, «Das Beste daraus machen …» Patient Dominic Fäs findet das Rollstuhltraining baut man ab und verkümmert.» wichtig, «um draussen klar zu kommen», wie er Dominic Fäs es nennt. Bei seinem früheren Arbeitgeber, einer Umzugsfirma, hat er bereits eine Stelle in Aus- Wohnung einen Barren installieren, an dem er sicht, für die er nach seiner Rehabilitation beruf- die aufrechten Schritte üben kann, zu denen er liche Massnahmen bei der ParaWork in Nottwil schon fähig ist. «Wenn man nach der Rehabilita- beginnen wird. Er ist froh, dass sich seine Lebens- tion nichts mehr macht, dann baut man ab und umstände nach dem Unfall so gut entwickelt verkümmert», sagt er. «Ich bin noch zu jung, um haben. «Man muss die Situation annehmen und aufzugeben.» (kste / baad / boa) PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1 9
SCHWERPUNKT Wo Sport und Soziales zusammenkommen Der Rollstuhlclub Valais Romand ist eine von 27 Sektionen der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung. Für den dynamischen Club aus dem Wallis ist Breitensport ein wichtiger Bestandteil des Vereinslebens. Serge Barman ist in seinem Element. Er schlägt den freundschaftliche Austausch mit den Kolleginnen Ball elegant übers Netz und gewinnt den Punkt, und Kollegen. sein Partner quittiert den Angriff mit einem aner- Serge Barman und Roger Baumann sind kennenden Kopfnicken. Im Centre des Îles ausser- Mitglieder des Rollstuhlclubs Valais Romand, der halb von Sion findet ein umkämpfter Tennismatch zusammen mit 26 weiteren Sektionen der Schwei- im Doppel statt, die zwei Duos verstehen sich zer Paraplegiker-Vereinigung (SPV) angeschlossen ohne grosse Worte: Jeder hat seine Rolle, ein ist. Der Club ist wie ein typischer Verein struktu- Blickkontakt genügt, um Klarheit zu schaffen. Mit riert und wird von einem Vorstand mit Präsiden- ihren Rollstühlen sind die vier auf dem Platz flink ten geführt. Mehr als 170 Aktiv- und 90 Passiv- unterwegs, drehen Pirouetten, beschleunigen, mitglieder sind bei den Wallisern dabei und die um einen Ball zu erreichen, und zeigen bemer- Zahlen steigen ständig. Das hat auch damit zu kenswerte Fähigkeiten mit dem Racket. tun, dass Valais Romand als ein innovativer und Mit 72 Jahren ist Serge Barman kein Jung- dynamischer Club gilt. spund mehr, aber technisch so versiert, dass er mit jüngeren Gegnern problemlos mithalten kann. Die Gruppe erleichtert vieles Sobald der Unterwalliser auf den Court fährt, gilt Das Bedürfnis unter den Mitgliedern ist gross, seine Aufmerksamkeit nur dem Sport. «Dann ver- sich in der Gruppe zu treffen und auszutauschen, gesse ich alles rundherum», sagt er. «Beim Tennis sei es zum Sport oder für Besuche von kulturellen tauche ich in eine andere Welt ein.» Veranstaltungen. «Für viele von uns wäre es rela- tiv schwierig und aufwändig, eigenständig etwas Mehr als ein Freizeitvergnügen zu organisieren, in der Gruppe sind wir am besten So geht es in der anderen Platzhälfte auch Roger aufgehoben», erklärt Jérôme Bagnoud, der seit Baumann. Für ihn bedeutet Tennis Spass, aber es ist mehr als ein vergnüglicher Zeitvertreib. Sich mit anderen im Training und an Turnieren zu mes- « Je fitter ich bin, desto einfacher fällt es mir, sen, sich kontinuierlich zu steigern, darin sieht er die grosse Motivation. Das regelmässige Üben mich von A nach B zu bewegen.» stärkt seine körperliche Verfassung: «Je fitter ich Roger Baumann bin, desto einfacher fällt es mir, mich von A nach B zu bewegen», sagt er. 2013 als Präsident amtet. «Wir nehmen den Mit- Um Tennis spielen zu können, nimmt er eini- gliedern einiges an Arbeit ab.» gen Aufwand auf sich. Baumann lebt in der Nähe Ausserdem nimmt sich der Vorstand ihrer von Vevey, die Autofahrt nach Sion dauert eine Anliegen an, wenn sie Unterstützung brauchen, Stunde. Die Anreise ins Wallis bringt aber auch beispielsweise bei der Abklärung von versiche- willkommene Abwechslung in den Alltag und rungstechnischen Fragen. Die Mitglieder des Roll- ermöglicht soziale Kontakte. Denn unverzichtbar stuhlclubs Valais Romand haben auch direkten, ist in normalen Zeiten das, was nach dem verwer- unkomplizierten Zugang zu den verschiedenen teten Matchball folgt: das Zusammensein, der Dienstleistungen der SPV, darunter Rechtsbera- 10 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1
Mitglieder des Rollstuhlclubs Valais Romand unterwegs im Handbike. Links: Manuel Mascarenhas, Leiter der Abteilung Sport. tung, Kultur und Freizeit, hindernisfreies Bauen, Für die SPV stehen immer die Mitglieder im Zen- Lebensberatung und Rollstuhlsport. trum, sagt Laurent Prince: «Unsere Aufgabe ist es, ihnen im Rahmen unserer Möglichkeiten opti- Andocken in Nottwil mal zu helfen.» Das Konstrukt der SPV beruhe seit Die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung mit Sitz 41 Jahren auf dem guten Zusammenspiel zwi- in Nottwil ist die zentrale Anlaufstelle für die 27 schen den Mitgliedern, den Vorständen der Clubs Sektionen. «Sie wissen, wo sie andocken kön- und dem Dachverband. Je aktiver ein Club und nen», sagt SPV-Direktor Laurent Prince. Er hebt je umfangreicher sein Angebot, desto stärker ist den Dialog mit den Sektionen und den Mitglie- auch die Bindung zu seinen Mitgliedern – so wie dern hervor, aber auch die lokale Verankerung: im Rollstuhlclub Valais Romand, der sich mit Lei- «Die Clubs sind in ihren Regionen präsent, für denschaft um ein aktives Vereinsleben kümmert: die Mitglieder greifbar und sie pflegen den Aus- «Er ist ein ausgezeichnetes Beispiel eines funktio- tausch mit ihnen. Wir als Dachverband stärken nierenden Clubs.» einerseits die Funktionäre und versuchen ande- Bei den Wallisern zählt Jérôme Bagnoud, ein rerseits, konkret auf die Bedürfnisse der Mitglie- ehemaliger Sozialpädagoge, zu den treibenden der einzugehen und ihnen entsprechende Dienst- Kräften. «Es geht darum, unsere Interessen und leistungen anzubieten.» Rechte zu verteidigen», umschreibt der 57-jährige PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1 11
SCHWERPUNKT 12 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1
SCHWERPUNKT Stilsicher und konzentriert: «Spass soll der Antrieb sein» Christophe Vuillemoz (o.l.), Serge Barman (o.r.) und Roger Baumann (u.l.) Roger Getzmann leitet den Bereich Rollstuhlsport Schweiz spielen leidenschaftlich Tennis. bei der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV). Präsident Jérôme Bagnoud (u.r.) trainiert Kyusho mit Emery Richard. Rollstuhlfahrer den Kern seines Engagements: Roger Getzmann, welche Bedeu- «Wenn man leben will, muss man bereit sein, zu tung hat Sport für Menschen mit kämpfen.» Er sensibilisiert Fussgängerinnen und Querschnittlähmung? Fussgänger, macht auf die Bedürfnisse von Men- Eine sehr hohe. Es geht darum, den schen im Rollstuhl aufmerksam und setzt alles Organismus anzuregen, und um eine daran, dass sein Traum eines Tages Realität wird: möglichst gute Fitness. Das zahlt sich «Dass die Infrastruktur im Wallis so ausgebaut bei den Aktivitäten im Alltag aus. Für die ist, dass man sich nicht mehr zuerst erkundigen SPV ist der Sport ein wichtiger Bereich; muss, ob zum Beispiel ein Restaurant eine behin- wir stellen ein ungebrochenes Interesse dertengerechte Toilette hat. Leider sind wir davon fest und versuchen, mehr als nur klas- noch weit entfernt.» sische Sportarten anzubieten. Selbstverteidigung im Rollstuhl Gibt es dabei Grenzen? Auch für Jérôme Bagnoud hat der Sport im Roll- Fast keine. Jedes Mitglied muss für sich stuhlclub eine hohe Bedeutung. Es geht nicht nur entscheiden, welcher Sport infrage um die physische, sondern auch um die psychi- kommt, und wir engagieren uns, alles sche Fitness. Zusammen mit der Vorstandscrew möglich zu machen, was im Rahmen der sorgt er dafür, den Mitgliedern eine möglichst Sicherheitskriterien liegt. Wir möchten breite Palette an Sportarten zu offerieren; da- unseren Mitgliedern ein breites Ange- wir im Breitensport möglichst viele runter Tennis, Handbike, Basketball, Curling – bot, immer wieder Neues und attraktive Menschen dazu animieren, sich zu oder Kyusho. Einmal im Monat bringt der Trainer Kurse anbieten – ohne den Mahnfinger bewegen. Zum anderen denken wir Emery Richard den Interessierten diese Form der zu heben: Ihr müsst Sport machen. Der auch an die Spitze der Pyramide. Wir Kampfkunst näher. Er lehrt gutes Atmen und ein- Spass soll der Antrieb sein. Wenn ich wollen Talente früh erkennen, ihnen fache, effiziente Handtechniken, die der Selbst- von Neuem rede, meine ich zum Bei- Wege in den Spitzensport aufzeigen verteidigung dienen. spiel den «Giro Suisse»: 2020 fand er und sie auch entsprechend fördern. Die Abteilung Sport im Club Valais Romand erstmals statt und soll mithelfen, dass Wer den Willen und ein gewisses Talent leitet Manuel Mascarenhas. Der 37-Jährige ist noch mehr Rollstuhlfahrer zum Hand- als Grundlagen mitbringt, erhält von seit einem Verkehrsunfall Tetraplegiker und spielt biken finden. uns Unterstützung. Als kleines Land mit Leidenschaft Rugby. Der Sportverantwortli- verfügt die Schweiz nicht über eine che weiss um die Vorteile, wenn sich Menschen Es bieten also nicht nur die grosse Anzahl an Spitzensportlerinnen mit einer körperlichen Behinderung regelmäs- 27 Rollstuhlclubs Sportmöglich- und -sportlern. sig bewegen. Er sagt: «Wenn sich nur schon die keiten, sondern auch die SPV? Situation eines einzelnen Menschen verbessern Ja, wir organisieren immer wieder Wie viele sind es konkret? lässt, lohnt sich jeder Aufwand, den wir in unse- Kurse für jede und jeden, die Lust In den verschiedenen Nationalkadern rem Club betreiben.» haben. Das kann Skifahren, Langlauf, sind es achtzig Athletinnen und Ath- Am Tag unseres Besuchs in Sion fährt eine Golf oder Wasserskifahren sein, um nur leten, verteilt auf sechzehn Sportar- Gruppe des Rollstuhlclubs Valais Romand mit vier Beispiele zu nennen. Unser Breiten ten, wobei wir in den beiden Sparten Handbikes der Rhone entlang. Zur gleichen Zeit sportteam erstellt Angebote für alle Leichtathletik und Handbike an gros- übt Präsident Bagnoud mit Trainer Richard in Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhl sen Wettkämpfen die meisten Medail- einem Park Selbstverteidigung und in der Tennis- fahrer. Eine Sportkoordinatorin für die len gewinnen. Rund die Hälfte dieser halle ist gerade der Doppelmatch zu Ende gegan- Westschweiz sowie ein Sportkoordi- Angehörigen des Nationalkaders ent- gen. Aber Serge Barman und Roger Baumann nator für die Deutschschweiz und das fällt auf die Teamsportarten Rugby, wollen noch in eine Verlängerung gehen: «Ener- Tessin besuchen die Clubs vor Ort, um Basketball, Curling und Powerchair- gie für dieses Spiel hat man immer!» Doch bevor ihnen bei der Ausarbeitung solcher Hockey. Aktuell zählen wir insgesamt Barman zurück auf den Court fährt, zeigt er seine Programme behilflich zu sein. rund 550 Lizenzierte. Wer eine Lizenz Dankbarkeit: «Ich ziehe den Hut vor der Arbeit, besitzt, hat bei der Anschaffung eines die der Vorstand unseres Clubs und die SPV für Und beim Spitzensport? Sportgerätes Anrecht auf finanzielle uns leisten.» Die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung Unterstützung durch die Schweizer (pmb / baad) verfolgt zwei Ziele: Zum einen wollen Paraplegiker-Stiftung. PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1 13
SCHWERPUNKT Sport bestimmt ihren Alltag Badmintonspielerin Cynthia Mathez und Tischtennisspieler Silvio Keller trainieren bis zu fünfzehn Stunden pro Woche. Ihr grosses Ziel 2021: die Paralympics in Tokio. Noch einmal zeigt sie ihr Kämpferherz. Der Shuttle, das Spielgerät, fliegt in ihre Platz- hälfte, ein Punktverlust droht. Es ist nur Trai- ning, aber das tut nichts zur Sache: Wenn Cynthia Mathez Badminton spielt, mobili- siert sie ungeahnte Energien. Dynamisch treibt sie den Rollstuhl an und spielt den Shuttle noch übers Netz. Starke Aktion. Die Kollegin nickt anerkennend. Dem Badminton ordnet Mathez alles unter, auch das Sozialleben. «Trainieren, schlafen, essen, trinken – so sieht mein All- tag aus», sagt sie, «für anderes ist kaum Platz.» Sie liebt ihren Sport und hat den Ehrgeiz, sich mit den Weltbesten zu mes- sen. 2021 stehen in Tokio zwei Grossanlässe an: die Paralympics, an denen Badminton erstmals auf dem Programm steht, und die Weltmeisterschaften Ende Oktober. Erfindergeist im Lockdown Darauf arbeitet Cynthia Mathez hin, obwohl wegen der Corona-Pandemie ungewiss ist, ob die Events tatsächlich durchgeführt wer- den. Manchmal braucht sie Erfindergeist, um zu trainieren. Als während des Lock- downs die Sporthallen geschlossen blieben, suchte sie Alternativen in einer Tiefgarage. Mit Kreide zeichnete sie ein Badmintonfeld auf den Boden, absolvierte Fahrtrainings innerhalb der Linien oder schlug Shuttles gegen die Wand. Sport spielt im Leben der Frau aus Tra- Cynthia Mathez «Mein Körper ist melan im Berner Jura eine wichtige Rolle. Sie zwar nicht mehr stark, aber der Kopf macht Judo, spielt Rugby, fährt Autorennen. ist es.» Als sie 2009 auf einmal ihre Kraft und ihre koordinativen Fähigkeiten verliert, lässt sie 14 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1
SCHWERPUNKT Silvio Keller «Wenn es mit Tokio nicht klappt, geht die Welt nicht unter.» sich untersuchen. Die Diagnose: Multiple «Wenn die Moral nicht gut ist, wirkt sich das «Sport tut meinem Körper gut» Sklerose. Die Autoimmunkrankheit schränkt rasch auf meinen Körper aus.» Silvio Keller spielte früher Fussball. Nach sei- sie kontinuierlich ein und zwingt sie 2015 nem Badeunfall 2002 findet er zum Tisch- in den Rollstuhl. Im Internet sucht sie nach Der Wettkampftyp tennis. Anfänglich ist es ein Krampf, den Möglichkeiten, um ihren Bewegungsdrang Ortswechsel, Wallbach AG. Ein Blick zum Ball überhaupt zu treffen, aber er steigert weiterhin ausleben zu können – und stösst Gegner, ein Gruss vor dem ersten Ballwech- sich rasch und erweist sich als Talent. 2005 auf Badminton. sel. Silvio Keller hat sich vor der Tischtennis- bestreitet er sein erstes Turnier. Inzwischen Cynthia Mathez ist rasch begeistert. platte positioniert und stabilisiert seinen investiert der 38-jährige Aargauer zwölf Badminton hilft ihr, ihre Gliederschmerzen Oberkörper, indem er den linken Arm hin- bis fünfzehn Stunden pro Woche – für die besser zu ertragen. An den Händen hat sie ter den Rollstuhlgriff klemmt und die Hand Technik am Tisch und fürs Kraft- und Aus- kein Gefühl mehr, die Schmerzen kommen ans Rad presst. Seine rechte Hand hat er mit dauertraining. Einmal pro Woche übt er ihr vor wie eine Dauergrippe. Sie hat sich einer Bandage um den Schlägergriff gewi- rund sechs Stunden unter Anleitung seines damit abgefunden, dass sie nicht mehr ckelt, nur der Zeigefinger schaut hervor. Trainers Fabrice Descloux, der eigens aus gehen kann und keinen stabilen Rumpf hat. Ohne Fixierung würde ihm der Schläger Freiburg anreist. Manchmal duelliert er sich Mehr zu schaffen macht ihr die krankheits aus der Hand fallen, seine Fingerfunktio- auch mit Fussgängern. bedingte Müdigkeit. Zwölf bis fünfzehn nen sind nicht mehr intakt. Die Räder des Der grosse Aufwand lohnt sich: «Allein Stunden Schlaf benötigt sie pro Tag. Rollstuhls sind so arretiert, dass er nur noch schon deshalb, weil das Tischtennis mei- vor- und rückwärts fährt. nem Körper guttut», sagt Keller. Sport auf 3000 Kilometer im Auto Ein erster Punktgewinn nach klugem diesem Niveau bringt Kosten, aber als Mit- Aus dem Hobby wurde die Hauptbeschäf- Angriff, ein vermeidbarer Fehler, ein kurzes glied des Nationalkaders muss er wenigs- tigung. Die 35-Jährige gewinnt 2018 mit Kopfschütteln. Silvio Keller befindet sich an tens nicht mehr selber drauflegen. Vier ihrer Doppelpartnerin Karin Suter-Ehrat die einem aussergewöhnlichen Ort: Er darf im halbe Tage arbeitet er im Treuhandbüro Europameisterschaft, 2020 wird sie Schwei- Gemeindesaal seines Wohnorts im Frick- seines Vaters in Möhlin. zer Meisterin im Einzel. Pro Woche trainiert tal trainieren, dort, wo in normalen Zeiten Die besondere Atmosphäre von Para- sie dreizehn Stunden, mindestens. Dafür öffentliche Anlässe stattfinden und ihm lympischen Spielen erlebte Silvio Keller nimmt sie monatlich bis 3000 Kilometer mit nach den Paralympics 2012 ein grosser schon zweimal, in London 2012 und 2016 dem Auto in Kauf: nach Luzern, Birrhard, Empfang bereitet worden ist. in Rio de Janeiro. 2019 wird er Dritter an Nottwil oder Allschwil. «Wer hohe Ziele Um als Tetraplegiker Sport auf diesem den Europameisterschaften. Im September erreichen will, darf sich nicht zurücklehnen», Niveau betreiben zu können, benötigt möchte er in Tokio dabei sein. Allerdings sagt sie. «Mein Körper ist zwar nicht mehr Silvio Keller ein ausgeprägtes Ballgefühl. Er muss er sich den Startplatz zuerst an einem stark, aber der Kopf ist es.» beweist es mit raffinierten Services, Stopp- Turnier in Slowenien erkämpfen. Er ist gedul- Die Kauffrau schätzt sich glücklich, dass bällen, Finten und präzisen Returns. Für dig, beharrlich und nervenstark. Er liebe sie sich dank Sponsoren und Gönnerinnen Laien mag das leicht aussehen, es erfordert den Wettkampf und lasse sich von Nieder- und Gönnern ein Saisonbudget von rund aber neben einer hohen Konzentrationsfä- lagen nicht demoralisieren, sagt er: «Natür- 30 000 Franken leisten kann. Ihren Lebens- higkeit auch eine ganz spezielle Technik. lich strebe ich den maximalen Erfolg an. unterhalt bestreitet sie mit einer Invaliden- «Mir fehlen ja wichtige Muskeln wie der Aber wenn es nicht klappt, geht die Welt rente. Der Sport motiviert Cynthia Mathez: Trizeps», erklärt er. nicht unter.» (pmb / d. plüss) PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1 15
«Keiner von uns wird je eine Antwort darauf bekommen, warum es passiert ist» Silvano Beltrametti war Skirennfahrer, Ronny Keller Eishockey- spieler – bis Unfälle im Wettkampf sie zu Paraplegikern machten. Die früheren Profisportler tauschen sich darüber aus, was der Sport ihnen heute gibt. 16 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1
Silvano Beltrametti (l.) mit Ronny Keller in seinem Hotel in Lenzerheide GR: «Wichtig ist, dass man sich nicht versteckt und offen ist für Neues.» Silvano Beltrametti, Ronny Keller: Querschnittgelähmt zu sein nach einem Sturz und einem Check in die Bande, wie verarbeitet man das? Beltrametti (B): Man muss lernen, loszulas- sen vom alten Leben und bereit sein für ein neues. Mir war bewusst, dass ich nie mehr würde Ski fahren können wie bis anhin, und dass die Träume von einem Weltmeistertitel und Olympiasieg zerstört sind. Wichtig ist es, neue Ziele zu haben. Aber der Prozess kann lange dauern. Keller (K): Auch ich merkte schnell: So wie vorher wird es nie mehr. Für mich stellte sich die Frage, ob ich das annehmen will. Das heisst? K: Ob ich weiterleben will oder nicht. Es gab Momente, da hatte ich das Gefühl, die Kraft nicht zu haben und gehen zu wollen. Mit meiner Frau sprach ich offen darüber. Mit etwas Abstand erschrak ich dann über diese Gedanken. Andere Menschen im Rollstuhl erzählten mir, dass es ihnen ähnlich ergan- gen sei. Irgendwann sagte ich mir: Doch, das Leben bleibt lebenswert, ich will das Beste daraus machen – go for it. War es belastend, dass eure Schick- sale ein öffentliches Thema waren? K: Mir half es, weil ich mich dem stellen und darüber sprechen musste, was passiert war. Sonst hätte ich vielleicht alles in mich hinein- gefressen. Nach dem Unfall drehte sich so viel um mich wie noch nie. B: Am Anfang war es motivierend, dass die Leute hinter mir standen und mir das Gefühl gaben: Silvano, gib nicht auf. Daran dachte ich nie. Schon an der Unfallstelle kämpfte ich ums Überleben, ich wollte, dass es weiter- geht. Hätte ich die Augen zugemacht ... es wäre wohl kritisch geworden. Habt ihr damals geahnt, dass es euch schlimm erwischt hat? B: Der Gedanke an Querschnittlähmung und Rollstuhl war da. Ich hatte starke Rücken- schmerzen und gab den Beinen den Befehl, sich zu bewegen. Aber der Befehl kam nicht PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1 17
SCHWERPUNKT an. Zwei Stunden später bekam ich im Spi- K: Zu Beginn stellte ich mir täglich die Frage B: Klar ist das Risiko höher als in einem tal von Grenoble die Diagnose. Ich finde es nach dem Warum – erst recht, wenn ich im Bürojob, aber als Athlet blendet man das wichtig, dass einem die Wahrheit ehrlich ins Alltag wieder vor einer Hürde stand. Aber aus. Ich fühlte mich immer sicher. Zudem Gesicht gesagt wird, sonst klammert man irgendwann hat man viele Situationen ge fährt man eine Abfahrt wie in Kitzbühel sich an falsche Hoffnungen. Der Teamarzt meistert. Man darf nicht ständig zurück- ja nicht gleich am ersten Skitag, sondern sagte: «Silvano, dir hat es das Rückenmark schauen. Früher war ich oft traurig, heute bereitet sich gezielt darauf vor. komplett durchtrennt, du wirst den Rest bin ich es vielleicht noch zweimal im Jahr. K: Blessuren gehören dazu, das Knie, die deines Lebens im Rollstuhl sitzen.» Das war Schulter ... was auch immer. Mit 33 Jahren eine harte Ohrfeige, aber Fakt und bereits Silvano Beltrametti, Sie sagten nach war für mich klar: Bei der nächsten grös der Anfang der Neuorientierung. dem Sturz, es war ein Fahrfehler. seren Verletzung höre ich auf. Dass meine K: Ich redete mir ein, dass ich das wieder B: Ja, der kleine Fehler war da, aber dann Karriere auf diese Weise enden würde, hinbekomme, wenn ich mich so verhalte, brauchte es eine ganze Reihe unglücklicher hatte ich natürlich nicht im Kopf. wie die Ärzte es sagen. Es war eine Erlö- Umstände, dass es mich derart traf. Kurz: Es sung, als ich hörte, dass ich nun operiert war Pech. Obwohl die Auslöser für unsere Habt ihr euch mit anderen Sportlern werde: Danke, jetzt kann ich schlafen – Unfälle unterschiedlich sind, wird keiner im Rollstuhl ausgetauscht? und ob ich wieder aufwache ... schauen wir von uns je eine Antwort darauf bekommen, K: Für mich waren vor allem die Peer Coun- mal. Drei, vier Tage später erklärten mir die warum es passiert ist. In diesen Momenten selors in Nottwil meine Ansprechpersonen, Ärzte, was Sache ist. Sie sagten auch: «Herr fehlte einfach das Glück. ich löcherte sie mit Fragen. Keller, Sie werden ein lebenswertes Leben B: In der Rehabilitation gab es einen regen haben, teilweise sogar schöner als vorher.» Ronny Keller, Ihrem Sturz ging der Austausch, aber nicht nur mit Sportlern. Das kam mir schräg rein. Check eines Gegenspielers voraus. Am Anfang weiss man ja nicht einmal, wie B: Natürlich geht dir durch den Kopf: «Der Konnten Sie ihm verzeihen? man ein T-Shirt oder eine Hose selbststän- kann das gut sagen.» Aber fünf, zehn Jahre K: Verzeihen ... Ich weiss nicht. Von mir gab dig anziehen kann. Wenn du siehst, wozu später schaut man mit anderen Augen es nie ein Wort in diese Richtung. Es ist, Leute wieder in der Lage sind, die schon zurück. Das Leben ist trotz der Behinderung wie es ist. Der Gegner wollte sicher nicht, länger im Rollstuhl sitzen, motiviert das. sehr lebenswert. Ich hätte nie geglaubt, dass es so herauskam. Es lief einfach blöd. Und manchmal gibt es lustige Zufälle. noch so viel machen zu können. Für mich war die Angelegenheit mit einem K: Ja. Trotzdem würde ich nicht sagen, dass abschliessenden SMS an ihn erledigt. Zum Beispiel? es schöner ist, sondern anders. Ich würde B: Zwei Jahre vor meinem Unfall testete ich es nicht vergleichen. Ich empfinde Glück Half euch in der Rehabilitation der im Kaunertal Ski und sah auf dem Parkplatz, anders als vorher und lebe gut. typische Ehrgeiz eines Sportlers? wie behände ein Mann im Rollstuhl seinen B: Wichtig ist, dass man sich nicht versteckt K: Extrem. Als ich mich entschieden hatte, Monoskibob im Auto verstaute. Ich war be- und offen ist für Neues. Ob das etwas Sport- leben zu wollen, setzte ich mir zum Ziel, eindruckt. Wir kamen ins Gespräch, und ich liches oder Kulturelles ist, spielt keine Rolle, die Rehabilitation optimal und möglichst sagte ihm: «Du bist ein wilder Kerl.» Nach Hauptsache, es bereitet Freude. schnell zu absolvieren, heimzugehen und dem Unfall meldete er sich: «Ich bringe dir das neue Leben anzufangen. Es war wie das Monoskibobfahren bei.» Solche Impul- Habt ihr die Verarbeitung heute ein Wettkampf, ich griff auf Erfahrungen se waren ungemein wertvoll. Der Kontakt abgeschlossen? aus dem Sport zurück. hält bis heute. B: Ganz abschliessen kann man wohl nie. B: Auch mir half es enorm. Im Spitzensport Aber nach drei, vier Jahren war ich wieder lernst du, mit Rückschlägen umzugehen, Seid ihr auch Vorbilder? zufrieden, glücklich und selbstständig; da- dich aufzulehnen – mit einem neuen Ren- B: Das müssen andere beurteilen. Ich glau- rauf hatte ich hingearbeitet. Nach der Rück- nen, einem neuen Spiel. Wer zuoberst aufs be, dass wir Menschen im Rollstuhl auf- kehr aus Nottwil ins Bündnerland musste Podest will, muss knallhart trainieren, ziel- zeigen können: Es funktioniert. Wenn sich ich mich beruflich neu orientieren, mich strebig sein und Biss haben. Durch Sport die Chance ergibt, dass wir dank unseren umschulen, die Freizeit neu gestalten und wirst du mental stärker. Namen für Querschnittgelähmte etwas Sportarten wie Handbike oder Monoski- K: Diese Qualität baut man sich über Jahre tun können, nutzen wir sie. Ronny und ich bob von Grund auf lernen. Heute denke ich hinweg auf. werden vermutlich eher gehört, wenn wir nicht mehr mit negativen Gefühlen an den darauf hinweisen, dass irgendwo bauliche Tag des Unfalls. War euch das Risiko bewusst? Massnahmen notwendig sind. 18 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1
Silvano Beltrametti (42) war Skirennfahrer. Als Junior Ronny Keller (41) war Eishockeyspieler. Er fing als 19-Jähriger gewann er zweimal WM-Silber und galt im Skiweltcup als bei den ZSC Lions an, mit denen er 2000 Schweizer Meister grösste Schweizer Abfahrtshoffnung. Ein Sturz in Val d’Isère wurde. 2013 spielte er als Verteidiger für den EHC Olten, als er nach schnellster Zwischenzeit machte ihn 2001 zum Para nach dem Check eines Gegenspielers kopfvoran in die Bande plegiker. Der gelernte Zimmermann führt mit seiner Frau prallte. Seither ist er querschnittgelähmt. Der gelernte Kauf- Edwina seit 2008 das Berghotel Tgantieni in Lenzerheide GR. mann ist seit 2017 Partner eines Treuhandbüros in Uster. K: Diese Verantwortung übernehmen wir. war stark, ich hatte ein Sixpack. Auf einmal Salt Lake City war für mich das grosse Ziel, Ich werde oft von Schulklassen für Vorträge ist das alles weg, man schafft es kaum, sich dafür vergoss ich viel Schweiss im Training. angefragt. Da bin ich gerne dabei. aufzurichten oder eine fünf Zentimeter hohe Dann kam der Unfall. Ich hätte es nicht Schwelle zu überwinden. geschafft, zuzuschauen. Aber man kriegt Nottwil bietet eine breite Auswahl relativ schnell Distanz. Ein Jahr danach an Sportarten. Habt ihr das genutzt? Was gibt euch der Sport? konnte ich wieder Rennen verfolgen. K: Das Angebot ist super. Ich habe Verschie- B: Wahnsinnig viel. Biken zum Beispiel: Sich denes ausprobiert und wollte etwas finden, fordern und dabei die Natur geniessen – Was für Zukunftspläne habt ihr? das mich körperlich fordert. Jetzt spiele ich das erfüllt mich mit Glück. Es ist Lebensqua- B: Ich möchte den Familienbetrieb weiter- vor allem Tennis, aber der Wettkampf steht lität. Man entflieht dem Stress, kann den entwickeln und so positionieren, dass wir nicht mehr im Vordergrund. Ich bin ehrgei- Kopf lüften, und ich eigne mir eine Fitness erfolgreich bleiben. Und mit meinen Freun- zig auf tiefem Niveau. an, die positiven Einfluss auf meinen beruf- den möchte ich ganz viel im Sportbereich B: Ich nahm die Gelegenheit für den Wie- lichen Alltag hat. erleben, zum Beispiel eine Skitour. Mein deraufbau der körperlichen Fitness wahr. K: Das trifft es exakt. Es erleichtert vieles, Leben ist ziemlich ausgefüllt. Wenn ich einen Skitag verbringe, möchte wenn man fit ist. Sport bedeutet auch Spass K: Ich habe eigentlich keine «Bucket List». ich schöne Schwünge zeigen und elegant und ermöglicht soziale Kontakte. Ich möchte mit meinen zwei Geschäfts- über eine Welle fahren; eine gewisse Quali- partnern unsere Treundhandfirma weiter tät soll das Ganze haben. Aber ich will mich Mit welchen Augen schaut ihr heute voranbringen. nicht mehr mit anderen duellieren. Skirennen und Eishockeyspiele an? B: Als Fan, der mitfiebert und sich in die Ath- Was vermisst ihr? Wie habt ihr euch bei den ersten leten hineinversetzen kann. Ich weiss, was K: Ohne Tabu gesprochen: die Sexualität Sporteinheiten im Rollstuhl gefühlt? in ihnen vor dem Start eines WM-Rennens von früher. K: Behindert. [schmunzelt] Einige Dinge vorgeht. Oder du, Ronny, du weisst, was in B: Die uneingeschränkte Bewegungsfrei- frustrierten, weil sie nicht sofort klappten. der Kabine abgeht, wenn eine Mannschaft heit. Das Joggen an einem Strand zum Bei- Oder die erste Lektion, um mich samt Roll- im Play-off in Rücklage geraten ist. spiel, das Eintauchen ins Meer. Mit solchen stuhl ins Auto zu transferieren: Wie lange K: Definitiv. Ich schaute schon auf der In Limiten muss man umgehen. das dauerte ... Heute gehts im Nu. tensivstation wieder Hockeyspiele. Das tat K: Es macht aber nicht mehr traurig, oder? B: Ich zweifelte nicht, weil genügend Bei- zwar weh, aber ich liebe diesen Sport und B: Nein, aber zwischendurch vermisse ich spiele zeigten, dass es machbar ist. Aber wollte einfach zuschauen. die Einfachheit, die Fussgängerinnen und die Anfänge waren hart. Athletisch war ich B: Es gab Anlässe, da konnte ich vor dem Fussgänger haben. mit 22 Jahren topfit, die Rumpfmuskulatur Fernseher nicht zusehen. Olympia 2002 in (pmb / baad) PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1 19
SCHWERPUNKT Sport ohne Grenzen Viele Sportarten können unproblematisch gemeinsam ausgeübt werden. Kann man gegen eine Rollstuhlfahrerin Ping- pong spielen? Oder mit einem Menschen mit Querschnittlähmung zum Biken gehen? Selbstverständlich. Viele Disziplinen im Brei- tensport können unproblematisch gemein- sam ausgeübt werden. Im Rollstuhlbasket- ball dürfen Fussgänger mitspielen – und sitzen im Rollstuhl. In den Skateparks sind Menschen mit und ohne Rollstuhl gleicher- massen anzutreffen. Und im Spitzensport hat mit Martin Imboden (Bild o. r.) sogar ein Rollstuhlfahrer den Schweizer Meister- titel im Bogenschiessen gegen Fussgänger errungen. Für den gemeinsamen Sport gibt es also (fast) keine Hürden. Die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV) bietet schweizweit über 120 Sport angebote in 27 Rollstuhlclubs. Direktlink zu Rollstuhlsport Schweiz (SPV) 20 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1
K O SME M I TUE N IBKL AI CT KI O N Der Lohn ist die Wertschätzung Ohne freiwillige Betreuer wie Jens Katzer sind Höchstleistungen unmöglich. «In solchen Situationen muss man sich etwas einfallen lassen», sagt Jens Katzer. Er begleitete als Freiwilliger ein Trainings- lager auf Zypern. Am dritten Tag setzte ein so starker Regen ein, dass er den dreck- verspritzten Handbiker kaum erkannte, der zum Hotel zurück fuhr. Etwas erstaunt war er über die Bitte des Athleten, ihn direkt auf den Duschrollstuhl zu transferieren – samt Sportkleidern. Erst nachdem der gröbste Schmutz abgespült war, konnten die Klei- der entfernt werden. Der 58-jährige erzählt die Geschichte mit einem Schmunzeln: «Als Athletenbe- treuer erlebt man einiges. Aber das war das Speziellste.» Eigentlich meistern Sportlerin- nen und Sportler mit einer Querschnittläh- mung ihren Alltag selbstständig. Doch im Trainingslager und an Wettkämpfen benö- tigen vor allem Tetraplegiker Hilfe für den Transfer in den engen Rennrollstuhl. Freiwil- lige wie Jens Katzer unterstützen sie dabei. Sie platzieren und fixieren sie und achten mit auf Druckstellen. «Wichtig ist, dass sie sich wohlfühlen, damit sie ihre Leistung dem Rennrad, macht Handreichungen oder Frage im Bereich des Behindertensports. erbringen können», sagt der Betreuer, der regelt den Verkehr, wenn sie im tiefliegen- Als Hauptantriebskräfte identifiziert sie die auch beruflich Menschen mit Querschnitt- den Rennrollstuhl auf eine unübersichtliche sinnhafte Tätigkeit in einem gesellschaftlich lähmung versorgt – als Pflegefachmann am Kreuzung zufahren. wichtigen Bereich sowie die Wertschätzung, Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ). Für seine Einsätze im Trainingslager die von den Athletinnen und Athleten zu- nimmt der Pflegefachmann in Abstimmung rückkommt. «Auch der Spassfaktor spielt Gegenseitige Bereicherung mit dem SPZ unbezahlt frei. Der Betreuer eine wichtige Rolle», sagt Marlis Gander Die Kombination von beruflicher Erfahrung erhält neben Kost und Logis nur eine kleine «die Freude am gemeinsamen Helfen in und freiwilligem Einsatz ist für die Betreuten Aufwandsentschädigung. «Ich bin dafür einem coolen Umfeld.» ein Glücksfall: Jens Katzer muss nicht jeder da, dass der Athlet ein optimales Programm Jens Katzer hofft, weitere Freiwillige für Handgriff erklärt werden. Er erkennt heikle absolvieren kann», sagt er. «Der Lohn ist, die Athletenbetreuung begeistern zu kön- Punkte, bevor sie zum Problem werden, dass man etwas Gutes tut. Gleichzeitig erle- nen. Eine pflegerische Ausbildung sei keine und er übernimmt auch pflegerische Aufga- ben Athleten und Staff eine tolle Zeit an Voraussetzung, aber man sollte Grundlagen ben, wenn er mit einem Athleten das Hotel- einem schönen Ort.» der Querschnittlähmung kennen – Work- zimmer teilt. Da muss die Chemie stimmen. shops der Schweizer Paraplegiker-Vereini- «Man kommt sich schon recht nahe, aber Sinnhaftigkeit mit Spassfaktor gung vermitteln das nötige Rüstzeug. das ist gegenseitig auch eine Bereicherung. Ohne freiwillige Helferinnen und Helfer (kste / rob) Zudem habe ich zwischendurch etwas Zeit geht im Sport nichts. Viele Hände werden für mich – die Athleten wollen ja auch mal in der Vorbereitung und an Wettkämpfen Interessieren Sie sich für die Ruhe vor mir haben.» gebraucht – vom Vereinsanlass bis zu Olym- Freiwilligenarbeit für Menschen Der Betreuer ist selber sportlich. Im pischen Spielen. In der Schweiz engagieren mit Querschnittlähmung? Trainingslager engagiert er sich auch als sich rund 450 000 Freiwillige in Sportverei- Schreiben Sie uns: Guide für die Tetraplegiker, die im Hand- nen. Was motiviert sie? bike weniger schnell unterwegs sind als Für ihre Masterarbeit an der Universität redaktion@paraplegie.ch die Paraplegikergruppe. Er begleitet sie auf von Luzern untersuchte Marlis Gander die PARAPLEGIE PARAPLEGIE | DEZEM | JBUENRI 22 00 22 01 21
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