PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe

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PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
JUNI 2021 | NR. 178 | GÖNNER-MAGA ZIN

PARAPLEGIE
                                                             SCHWERPUNK T

                                                             Sport und
                                                             Gesundheit

6   Sport ist wichtig für
    die Rehabilitation      16   Silvano Beltrametti und
                                 Ronny Keller im Gespräch   22   Antoine Barizzi entschied sich,
                                                                 nicht unglücklich zu sein
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
Gastgeber aus Leidenschaft.
     Eines der führenden Conference Hotels der Schweiz.

     150 komfortable Hotelzimmer, davon 74 barrierefrei
 40 Veranstaltungsräume mit bis zu 600 m2 und 600 Gästen
               2 Restaurants, 1 Bar und 1 Kaffee-Bar
        Vielfältige In- und Outdoor-Sportmöglichkeiten
                        Nur 15 Minuten von Luzern

                  SEMINARE EVENTS GENUSS
          Hotel Sempachersee     Guido A. Zäch Strasse 2   6207 Nottwil
  T +41 41 939 23 23   info@hotelsempachersee.ch   www.hotelsempachersee.ch
              Ein Unternehmen der Schweizer Paraplegiker-Stiftung
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
M AG A ZIN D ER G Ö NNER-V EREINIG U NG D ER SCH W EIZER PA R A PL EG IK ER-S T IF T U NG

                                                                                                      6                                  22
Liebe Mitglieder                                                       Schwerpunkt: Sport und Gesundheit
Wenn sich die körperlichen Voraussetzungen eines Menschen               6   SPORT THER APIE Sportliche Aktivitäten sind in Nottwil
durch einen Unfall oder eine Krankheit verändern, tauchen fun-              wichtig, um die Rehabilitationsziele zu erreichen.
damentale Fragen auf – bei einer Querschnittlähmung oft von
einer Sekunde auf die andere. Die Betroffenen werden zu tief-          10   BREITENSPORT Im Rollstuhlclub Valais Romand kommen
gehenden Analysen ihrer Lebenssituation gezwungen, eine                     Sport und Soziales auf dynamische Art zusammen.
Arbeit, die sich nicht einfach per Knopfdruck erledigen lässt. Es
                                                                       14 SPITZENSPORT Cynthia Mathez und Silvio Keller haben
braucht Geduld und viel Verarbeitungszeit, bis eine neue Bezie-
                                                                          ein grosses Ziel: die Paralympics in Tokio.
hung zum Körper entstehen kann. Hinzu kommt, dass auch die
mentale Verfassung mit dem Körper im Spitalbett liegt.                 16   DA S Z WEITE LEBEN Die früheren Profisportler Silvano
     Ich musste vor 43 Jahren zuerst mit mir, dem Umfeld und                Beltrametti und Ronny Keller tauschen sich darüber aus,
dem Ertragenen in Einklang kommen, um zu erkennen, dass                     was der Sport ihnen heute gibt – als Rollstuhlfahrer.
mein Körper mein Kapital bleibt. Ich musste hinschauen und ler-
nen, wo die Chancen, Risiken und Nebenwirkungen einer Para-            20   SPORT OHNE GRENZEN Viele Sportarten können Fuss-
plegie liegen. Das ging nicht ohne Trauer, Wut oder Auflehnung              gänger und Querschnittgelähmte gemeinsam ausüben.
gegenüber dem Schicksal. Mit anfangs vagem Interesse wagte
ich die Entdeckungsreise des Noch-Möglichen – ohne zu wissen,          21   SEITENBLICK Ohne freiwillige Betreuer wie Jens Katzer
wohin die Reise führen wird. Von jedem noch so kleinen Erfolg,              sind Höchstleistungen unmöglich.
von jedem kleinen Fortschritt profitierte mein Selbstwertgefühl.
Als dann die Auslegeordnung gemacht und die neuen Werte
definiert waren, kam auch Stolz auf.                                   22 BEGEGNUNG Antoine Barizzi verunfallte mit sechzehn
     Sport spielte dabei eine zentrale Rolle. Durch sportliche Akti-      Jahren und konnte nicht mehr in sein Elternhaus zurück.
vitäten habe ich bereits vor meiner Querschnittlähmung sehr viel          Da entschied er sich, nicht unglücklich zu sein.
Freude und Lebensqualität erleben dürfen. Dieses Interesse und
                                                                       28   INNOVATIVES FOR SCHUNGSPROJEK T
die damit verbundenen Tugenden sollten nicht verloren gehen,
                                                                            Der «Virtual Walk» hilft gegen chronische Schmerzen.
weil ich fortan ein Leben im Rollstuhl führen musste. Mit der Zeit
und hartem Training profitierte ich von der neu gewonnenen             30   JAHRESBERICHT 2020 Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung
Selbstständigkeit und habe die Risiken eines sitzenden Lebens               konnte betroffenen Menschen mehr Direkthilfe leisten.
weitgehend in den Griff bekommen.
     Dieses «Paraplegie» bringt Ihnen die Wichtigkeit des Sports       32   DAFÜR HAT ES MICH HEUTE GEBR AUCHT …
im Alltag von Menschen mit Querschnittlähmung näher. Ich                    Diana Pacheco Barzallo ist Gesundheitsökonomin in der
bedanke mich herzlich, dass Sie unsere Schweizer Paraplegiker-              Schweizer Paraplegiker-Forschung.
Stiftung auch in diesem Bereich so toll unterstützen.
                                                                       31   STIF TUNG
                                                                       33   IHRE SEITE

Heinz Frei
Präsident Gönner-Vereinigung                                           Titelbild: Walter Renner im Kajak. Der ehemalige Bergführer und Freilei-
                                                                       tungsmonteur verunfallte vor 20 Jahren bei Umbauarbeiten und ist seither
                                                                       querschnittgelähmt. Für den 67-Jährigen aus Bauen UR bedeutet Sport vor
                                                                       allem: in der Natur sein. Sport hilft ihm, seine Schmerzen zu vergessen, und
                                                                       kräftigt seinen Oberkörper für die Herausforderungen des Alltags.

                                                                                                                  PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1   3
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
CAMPUS NOT T WIL

                                    Sporterlebnisse greifbar gemacht

                                    Das Besucherzentrum ParaForum in Nottwil bietet bis September 2021 faszinierende Einblicke
                                    in die Welt des Sports. Wie fühlt sich zum Beispiel eine rasante Monoskibob-Abfahrt aus Sicht des
                                    Athleten an? Mit einer Virtual-Reality-Brille und Simulationsgeräten kann ein solches Abenteuer
                                    im ParaForum unmittelbar erlebt werden. Die Besuchenden – Jugendliche, Erwachsene, Familien –
                                    tauchen ein in die Welt des Rollstuhlsports und erfahren mehr über seine hohe Bedeutung für
                                    Menschen mit einer Querschnittlähmung. Ob Breiten- oder Spitzensport: Diverse Stationen laden
                                    zum Entdecken und Staunen ein.
Louka Réal

                                          paraforum.ch

     Mehr Inklusion im
                                                                                                     Foto: srf

     Spitzensport

     Seit diesem Jahr können
     auch Rollstuhl-Athleten                                                                                     46
     einen Spitzensport-WK der
     Schweizer Armee absolvie-                                                                                   mal pro Jahr
     ren. Bereits drei nutzen das                                                                                in die Physiotherapie
     Angebot des Fachstabs
     Sport: Basketballer Louka                                                                                   Menschen mit Querschnitt­
     Réal (Pully VD), Skifahrer                                                                                  lähmung benötigen umfas-
     Pascal Christen (Kriens LU)                                                                                 sende Leistungen zur Vorsorge
     und Badmintonspieler           Chancengleichheit im E-Sport                                                 und Behandlung ihrer Gesund-
     Luca Olgiati (Hausen AG).                                                                                   heitsprobleme. Neue Studien-
     Als Fussgänger hatten sie      Die Zuwachsraten sind enorm. Wenn die besten E-Sportler                      daten der Schweizer Para­
     bereits die Rekrutenschule     der Welt gegeneinander am Computer spielen, füllen sie grosse                plegiker-Forschung zeigen:
     absolviert. Jetzt wurden sie   Hallen und erreichen ein Millionenpublikum live im Internet.                 Die Betroffenen beanspruchen
     «remilitarisiert». Wie allen   Davon sollen auch Menschen mit einer Querschnittlähmung                      ein breites Angebot ärztlicher,
     Spitzensport-Soldaten ste-     profitieren – das ist das Ziel von «Pararat», an dem sich die                therapeutischer und pflegeri-
     hen ihnen bis 100 Trainings-   Schweizer Paraplegiker-Stiftung beteiligt. Das Projekt der                   scher Versorgung. 82 Prozent
     tage pro Jahr zu, die mit      E-Sport-Plattform European Amateur Tournament (Eurat) setzt                  konsultieren mindestens ein-
     Erwerbsersatz und Sold ent-    sich für Jugendliche mit körperlichen Beeinträchtigungen ein.                mal jährlich den Hausarzt,
     schädigt werden. In abseh-     Als E-Sportlerinnen und E-Sportler sind sie in dieselbe Stärke­-             41 Prozent den Rückenmark-
     barer Zeit soll ein vierter    klasse eingeteilt wie Fussgängerinnen und Fussgänger und                     spezialisten und 63 Prozent
     Athlet von dieser Förderung    messen sich mit ihnen am Bildschirm. Das Projekt Pararat schafft             benötigen eine intensive Phy-
     profitieren.                   Chancengleichheit im Sport. Es ist «Inklusion pur» – der Schritt             siotherapie – durchschnittlich
                                    in eine Gesellschaft, in der es keine Rolle spielt, ob jemand eine           46 Mal pro Jahr.
                                    Querschnittlähmung hat oder nicht.
             baspo.admin.ch
                                          eurat.gg                                                                    swisci.ch

4 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
CAMPUS NOT T WIL

    61750 Follower
     folgen der Schweizer Paraplegiker-Stiftung auf Social Media und sorgen
     für einen intensiven und spannenden Austausch auf unseren Kanälen.
     Wir danken allen für ihre Kommentare.

                                 Dauermitgliedschaft für Lena                                    Bessere Versorgung
                                                                                                 dank neuer Diagnostik
                                 Dieser Facebook-Post hat viel Feedback ausgelöst: Die frühere
                                 Schwingerkönigin Sonia Kälin schenkte im März ihrer neuge-      Die Digitalisierung erschliesst
                                 borenen Tochter Lena eine Dauermitgliedschaft.                  neue Dimensionen in der lebens-
                                                                                                 langen Patientenversorgung.
                                                                                                 Die Schweizer Para­plegiker-
                                                                                                 Stiftung und die ETH Zürich sind
                                                                                                 dazu eine wegweisende Partner-
                                                                                                 schaft zur Entwicklung einer
Frauenpower im Sport                                                                             personalisierten Medizin für
                                                                                                 Menschen mit Querschnittläh-
Vor 50 Jahren wurden Frauen                                                                      mung eingegangen.
noch ausgeschlossen, wenn
sie an einem Volkslauf teil-                                                                     Das Ziel des auf zehn Jahre ange-
nehmen wollten. Seither hat                                                                      legten Projekts mit Beteiligung
sich der Frauensport stark                                                                       von Fachkräften aus der ganzen
entwickelt und die Schweiz                                                                       Welt ist eine bessere Behandlung
brachte grosse Athletinnen                                                                       für die Betroffenen, indem spezi-
hervor. Das Buch «Frauen-                                                                        fische Funk­tionsstörungen und
power» stellt 30 Sportlerinnen                                                                   typische Erkrankungen bereits
vor, die den Frauensport                                                                         vor dem Auftreten von klinischen
geprägt haben. Mit Edith                                                                         Symptomen erkannt werden –
Hunkeler und Manuela                                                                             durch Datenanalyse. Dabei
Schär sind auch zwei heraus-                                                                     werden grosse Mengen an Mess-
ragende Rollstuhlathletinnen                                                                     daten und Befunden zu Krank-
vertreten. Zusammenge-                                                                           heitsbildern verknüpft. Sensoren
kommen sind 30 spannende                                                                         messen die Gesundheitsdaten
Geschichten über Frauen, die                                                                     und Systeme der künstlichen
sich in der männerdominier-                                                                      Intelligenz helfen bei der Früh-
ten Sportwelt durchgekämpft                                                                      diagnostik durch das Erkennen
haben. Das Buch wurde von                                                                        von bisher unbekannten Zusam-
der Schweizer Paraplegiker-                                                                      menhängen und Mustern.
Stiftung unterstützt.                   Sonia Kälin mit ihrer Mutter und Tochter.
                                                                                                 So kann zum Beispiel ein Sensor
Keller, Schneider, Birrer:                                                                       im Kissen des Rollstuhls in
«Frauenpower», Kebisch-                                                                          Verbindung mit anderen, heute
Verlag, 220 Seiten.                                                                              noch unbekannten Befund-
                                                                                                 konstellationen direkt vor einem
                                                                                                 Druckgeschwür (Dekubitus)
                                                                                                 warnen. Dies erleichtert und
 2020: Hohe Patienten­zufriedenheit im SPZ in Nottwil
                                                                                                 verbessert die klinische Arbeit.
 Sehr gute Noten für das SPZ: Die Patientinnen und Patienten des Schweizer Paraplegiker-         Belastende Untersuchungen
 Zentrums (SPZ) waren mit ihrem Aufenthalt im Jahr 2020 so zufrieden wie noch nie.               können dadurch weit­gehend
 Mit 90 von 100 Punkten gaben sie der Klinik in der Gesamtwertung ein tolles Feedback.           vermieden werden und die
 93,8 Prozent würden das SPZ weiterempfehlen. In sämtlichen Punkten ergab die                    Patientinnen und Patienten sind
 Umfrage zur Patientenzufriedenheit bessere Werte als in den Vorjahren – eine schöne             präziser informiert.
 Anerkennung der Teamleistung zum Abschluss der Umbauphase.

                                                                                                       PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1   5
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SCHWERPUNKT

Die Therapie mit
Spassfaktor
Sportliche Aktivitäten sind in Nottwil fest in den therapeutischen Ablauf
eingebunden. Im Spitalalltag sind sie enorm wichtig, um die gesteckten
Rehabilitationsziele zu erreichen.

Dienstag, 9.30 Uhr, Spieltraining im Schwei-         therapeutin Anael Plebani. «Und plötzlich können
zer Paraplegiker-Zentrum (SPZ). Mit dem Zuruf        sie wieder Bewegungen ausführen, die sie am
«Los, den schaffst du!» treibt Dominic Fäs seinen    Anfang für nicht mehr möglich gehalten hätten.»
Teamkollegen beim Rollstuhlbasketball an. Der        Der Erfolg stellt sich quasi unbewusst ein. Das
37-Jährige ist hoch motiviert, kämpft um jeden       Spiel in der Turnhalle macht Spass und wird nicht
Ball. «Mich muss man eher bremsen», sagt er.         wie eine Therapieeinheit empfunden – und den-
Das war schon vor seinem Unfall so: Dominic Fäs      noch hat die Sporttherapie einen wesentlichen
bewältigte ein anspruchsvolles Programm. Unter       Anteil daran, dass die Patientinnen und Patienten
der Woche arbeitete er als Gerüstbauer, am           ihre Rehabilitationsziele erreichen.                 Anael Plebani, Sporttherapeutin
Wochenende war er Türsteher in einem Club an              Die Sporttherapeutinnen und -therapeuten
der Zürcher Langstrasse. Am 23. Oktober 2020,        des SPZ vermitteln die wichtige Freude an der
kurz vor Feierabend, stürzte er aus fünf Metern      Bewegung. Gleichzeitig arbeiten sie daran,
vom Gerüst. Seither ist er Paraplegiker.             die Betroffenen gezielt zu kräftigen und ihnen
     Die vielen Sportmöglichkeiten in Nottwil        Schritt für Schritt weitere Körperfunktionen zu
nutzt der Patient so oft es nur geht: «Am Anfang     erschliessen. Dabei stehen sie in einem engen
dachte ich, es sei einfach nur eine coole Abwechs-   Austausch mit anderen Therapieformen wie der
lung im Spitalalltag. Aber dann ging es mir kör-
perlich immer besser, je mehr ich trainiert habe.»
Die Fortschritte spornen ihn weiter an, und sein     «Plötzlich führen sie Bewegungen aus, die sie
randvoller Trainingsplan hilft gegen aufkom-
mende Frustgefühle in der von Corona gepräg-
                                                      am Anfang für unmöglich gehalten hätten.»
ten Anfangszeit. «Nur rumsitzen und Therapien          Anael Plebani
machen, das wäre nichts für mich», sagt Dominic
Fäs. «Man ist viel besser drauf, wenn man seinen     Physio- und der Ergotherapie. «Das interprofessi-
Körper fit hält und kräftigt, was noch geht.» Am     onelle Reha-Team bespricht gemeinsam die aktu-
Anfang standen beim Bogenschiessen die Rumpf-        ellen Ziele und wir wählen eine Sporttherapie, die
aufrichtung und die Stärkung des Rückens im          diese Ziele am besten unterstützt», sagt Anael
Vordergrund, je mehr sich sein Zustand stabili-      Plebani. Die Therapien richten sich dabei an den
sierte, desto mehr Sportarten konnte er auspro-      individuel­len Bedürfnissen und Wünschen der
bieren. Am besten gefällt ihm Rollstuhl-Rugby,       Patientinnen und Patienten für das spätere All-
die Stimmung in der Gruppe sei richtig toll.         tagsleben aus.
                                                          Beispielsweise ist ohne ausreichende Kraft
Spielerisch erreichbare Fortschritte                 im Oberkörper kein selbstständiger Transfer in
Auch beim heutigen Spieltraining wird viel           den Rollstuhl möglich. Für Menschen mit einer
gelacht, trotz der Ernsthaftigkeit, mit der beide    Querschnittlähmung ist das regelmässige Aus-
Teams den Ball in den Korb werfen wollen.            üben einer sportlichen Tätigkeit daher beson-                 Konzentriert auf den Ball
«Unsere Patientinnen und Patienten konzentrie-       ders wichtig: Es dient der Vorbeugung vor Folge-         im Korb: Patienten und Thera­
ren sich voll auf die Aufgaben im Basketball und     erkrankungen, die ihr Leben noch stärker ein-             peutinnen beim Spieltraining
vergessen dabei ihre Schmerzen», erklärt Sport-      schränken würden. Sport beeinflusst aber auch                      in der SPZ-Turnhalle.

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PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
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PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SCHWERPUNKT
                                 Lernen der richtigen
                                   Technik: Rollstuhl-
                                        Handling im
                                 SPZ-Therapiegarten.

das Herz-Kreislauf-System positiv und bringt viele
weitere gesundheitliche Vorteile. In Nottwil ver-
bessern die Patientinnen und Patienten damit auf
spielerische Art wichtige Funktionen wie Kraft,
Koordination, Stabilität, Ausdauer, Wärmetrans-
port und Atmung.

Das Gehirn lernt mit
Die herausragende Bedeutung des Sports für
Menschen mit einer Querschnittlähmung wurde
schon von Pionier Sir Ludwig Guttmann erkannt.
1944, kurz nach der Eröffnung des weltweit ersten
Paraplegiker-Zentrums in Aylesbury (GB), führte
er Sport in die Rehabilitation ein und publizierte
ein Jahr später eine Studie zu den Behandlungs-
erfolgen. Guttmanns Grundgedanken haben bis
heute Bestand. Doch die Hilfsmittel haben sich
sehr verfeinert.
     Heute weiss man, dass gerade in der Früh-
phase nach einem Unfall das menschliche Gehirn
zu erstaunlichen Lernschritten angeregt werden           Perspektiven für ein aktives Leben
kann. Daher werden in Nottwil die Betroffenen            Auch Sporttherapeutin Anael Plebani sieht soziale
von Anfang an motiviert, sich im Rahmen ihrer            Aspekte als zentralen Nebeneffekt ihrer Arbeit:
lähmungsbedingten Möglichkeiten zu bewegen,              «In unseren Sportgruppen lernen die Betroffenen
erklärt Michael Baumberger, Chefarzt für Paraple-        neue Menschen kennen, Freundschaften entste-
giologie und Rehabilitationsmedizin: «Im Sport           hen und es findet ein reger Erfahrungsaustausch
verbinden sich koordinative, motorische, psychi-         statt.» Patientinnen und Patienten, die schon län-
sche und regenerative Aspekte. Wir nutzen ihn            ger in Nottwil sind, geben Tipps an die weniger
als ein Mittel, damit Funktionen zurückkommen,           Erfahrenen weiter. Die gegenseitige Unterstüt-        Michael Baumberger
von denen die Betroffenen am meisten profitie-           zung verbindet und stärkt das Selbstvertrauen auf     Chefarzt Paraplegiologie und
ren. Ihr Körper lernt sie auf spielerische Art, ohne     dem Weg zurück in die Gesellschaft. «Erfolgser-       Rehabilitationsmedizin
dass sie es bewusst realisieren.»                        lebnisse im Sport unterstützen den Verarbeitungs-
     Die positiven Effekte des Sports werden             prozess», sagt Plebani. «Das hilft, den Rollstuhl
für alle Lähmungshöhen eingesetzt. Von hoch-             als Hilfsmittel zu akzeptieren und ihn später sogar
gelähmten Tetraplegikern, die beim Blasrohr-             als ein Sportgerät anzusehen.»
schiessen die noch vorhandene Atemmuskulatur                  Die Sporttherapeutinnen und -therapeuten
trainieren oder in der Elektrorollstuhlgruppe ihre       des SPZ motivieren die Betroffenen, an ihre Ziele
Fahrtechnik und Koordination verbessern, bis zu          zu glauben, und lenken die Aufmerksamkeit auf
Personen mit einer inkompletten Querschnittläh-          zukünftige Sport- und Freizeitmöglichkeiten. Sie
mung, die sich im Mattentraining die Grundlagen          zeigen Perspektiven für einen aktiven Lebensstil
der Fitness und Gesundheitsförderung erarbeiten.         auf, der ihre Fitness und Lebensqualität nach dem
Chefarzt Baumberger nennt als weitere Vorteile           Austritt weiter verbessert. Dazu zählen Abklärun-
psychologische und soziale Aspekte auf dem Weg           gen, ob eine gewünschte Sportart längerfristig
zur gesellschaftlichen Wiedereingliederung: Mit          geeignet ist, und die Vermittlung von Kontakten
dem Sport kommt während des monatelangen                 zur Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV) mit
Spitalaufenthalts auch ein Stück «normale» Welt          ihren 27 Rollstuhlclubs. Und dazu zählt insbeson-
zurück zu den Menschen, die ihr Leben komplett           dere das Rollstuhl-Handling, das die Grundlage
neu ausrichten müssen.                                   für alle weiteren Schritte ist.

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PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SCHWERPUNKT

«Wir bieten das Rollstuhl-Handling sowohl für         das Beste daraus machen», sagt er. «Es bleibt
manuelle als auch für elektrische Rollstühle», sagt   nichts anderes übrig. Das ist sowohl für dich als
Anael Plebani. Durch das Trainieren der Mobili-       auch dein Umfeld gut.»
tät in einer nicht rollstuhlgerechten Welt sollen           Dank des Sportangebots im SPZ sei er weni-
die Patientinnen und Patienten möglichst selbst-      ger gestresst als damals, als er zwei Jobs gleich-
ständig werden – zu Hause, in der Stadt, auf dem      zeitig bewältigen musste. Im Kraftraum und im
Arbeitsweg, in den Ferien. «Am Anfang haben           Spieltraining kann er sich «auspowern», seine
alle Respekt vor dem Umkippen. Aber schon bald        Energie rauslassen. Für die Zeit nach dem Aus-
können sie eine sechs Zentimeter hohe Stufe           tritt sucht er einen Rollstuhlclub in der Nähe sei-   Dominic Fäs, Patient
befahren. Sie lernen: Mit der richtigen Technik       nes Wohnorts Bremgarten AG, um zu trainieren
funktioniert es.» Entscheidend ist auch die Tech-     und Rugby zu spielen. Den Austausch mit ande-
nik beim Antreiben des Rollstuhls. Bei Men-           ren Betroffenen und die gegenseitige Unterstüt-
schen mit Querschnittlähmung tragen die Schul-        zung möchte er nicht mehr missen.
tern die Hauptlast für die meisten Bewegungen,              Möglichst bald wird sich der Paraplegiker mit
doch diese sind von Natur aus nicht für ein Leben     einer inkompletten Querschnittlähmung in seiner
im Rollstuhl vorgesehen. So drohen bei falscher
Belastung gravierende Folgeschäden.
                                                      «Wenn man seinen Körper nicht kräftigt,
«Das Beste daraus machen …»
Patient Dominic Fäs findet das Rollstuhltraining
                                                       baut man ab und verkümmert.»
wichtig, «um draussen klar zu kommen», wie er           Dominic Fäs
es nennt. Bei seinem früheren Arbeitgeber, einer
Umzugsfirma, hat er bereits eine Stelle in Aus-       Wohnung einen Barren installieren, an dem er
sicht, für die er nach seiner Rehabilitation beruf-   die aufrechten Schritte üben kann, zu denen er
liche Massnahmen bei der ParaWork in Nottwil          schon fähig ist. «Wenn man nach der Rehabilita-
beginnen wird. Er ist froh, dass sich seine Lebens-   tion nichts mehr macht, dann baut man ab und
umstände nach dem Unfall so gut entwickelt            verkümmert», sagt er. «Ich bin noch zu jung, um
haben. «Man muss die Situation annehmen und           aufzugeben.»               (kste / baad / boa)

                                                                                                               PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1   9
PARAPLEGIE - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SCHWERPUNKT

Wo Sport und Soziales
zusammenkommen
Der Rollstuhlclub Valais Romand ist eine von 27 Sektionen der
Schweizer Paraplegiker-Vereinigung. Für den dynamischen Club aus dem
Wallis ist Breitensport ein wichtiger Bestandteil des Vereinslebens.

Serge Barman ist in seinem Element. Er schlägt den     freundschaftliche Austausch mit den Kolleginnen
Ball elegant übers Netz und gewinnt den Punkt,         und Kollegen.
sein Partner quittiert den Angriff mit einem aner-           Serge Barman und Roger Baumann sind
kennenden Kopfnicken. Im Centre des Îles ausser-       Mitglieder des Rollstuhlclubs Valais Romand, der
halb von Sion findet ein umkämpfter Tennismatch        zusammen mit 26 weiteren Sektionen der Schwei-
im Doppel statt, die zwei Duos verstehen sich          zer Paraplegiker-Vereinigung (SPV) angeschlossen
ohne grosse Worte: Jeder hat seine Rolle, ein          ist. Der Club ist wie ein typischer Verein struktu-
Blickkontakt genügt, um Klarheit zu schaffen. Mit      riert und wird von einem Vorstand mit Präsiden-
ihren Rollstühlen sind die vier auf dem Platz flink    ten geführt. Mehr als 170 Aktiv- und 90 Passiv-
unterwegs, drehen Pirouetten, beschleunigen,           mitglieder sind bei den Wallisern dabei und die
um einen Ball zu erreichen, und zeigen bemer-          Zahlen steigen ständig. Das hat auch damit zu
kenswerte Fähigkeiten mit dem Racket.                  tun, dass Valais Romand als ein innovativer und
     Mit 72 Jahren ist Serge Barman kein Jung-         dynamischer Club gilt.
spund mehr, aber technisch so versiert, dass er mit
jüngeren Gegnern problemlos mithalten kann.            Die Gruppe erleichtert vieles
Sobald der Unterwalliser auf den Court fährt, gilt     Das Bedürfnis unter den Mitgliedern ist gross,
seine Aufmerksamkeit nur dem Sport. «Dann ver-         sich in der Gruppe zu treffen und auszutauschen,
gesse ich alles rundherum», sagt er. «Beim Tennis      sei es zum Sport oder für Besuche von kulturellen
tauche ich in eine andere Welt ein.»                   Veranstaltungen. «Für viele von uns wäre es rela-
                                                       tiv schwierig und aufwändig, eigenständig etwas
Mehr als ein Freizeitvergnügen                         zu organisieren, in der Gruppe sind wir am besten
So geht es in der anderen Platzhälfte auch Roger       aufgehoben», erklärt Jérôme Bagnoud, der seit
Baumann. Für ihn bedeutet Tennis Spass, aber es
ist mehr als ein vergnüglicher Zeitvertreib. Sich
mit anderen im Training und an Turnieren zu mes-       « Je fitter ich bin, desto einfacher fällt es mir,
sen, sich kontinuierlich zu steigern, darin sieht er
die grosse Motivation. Das regelmässige Üben             mich von A nach B zu bewegen.»
stärkt seine körperliche Verfassung: «Je fitter ich      Roger Baumann
bin, desto einfacher fällt es mir, mich von A nach
B zu bewegen», sagt er.                                2013 als Präsident amtet. «Wir nehmen den Mit-
      Um Tennis spielen zu können, nimmt er eini-      gliedern einiges an Arbeit ab.»
gen Aufwand auf sich. Baumann lebt in der Nähe              Ausserdem nimmt sich der Vorstand ihrer
von Vevey, die Autofahrt nach Sion dauert eine         Anliegen an, wenn sie Unterstützung brauchen,
Stunde. Die Anreise ins Wallis bringt aber auch        beispielsweise bei der Abklärung von versiche-
willkommene Abwechslung in den Alltag und              rungstechnischen Fragen. Die Mitglieder des Roll-
ermöglicht soziale Kontakte. Denn unverzichtbar        stuhlclubs Valais Romand haben auch direkten,
ist in normalen Zeiten das, was nach dem verwer-       unkomplizierten Zugang zu den verschiedenen
teten Matchball folgt: das Zusammensein, der           Dienstleistungen der SPV, darunter Rechtsbera-

10 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1
Mitglieder des Rollstuhlclubs Valais Romand
                                                                                          unterwegs im Handbike. Links: Manuel Mascarenhas,
                                                                                                                   Leiter der Abteilung Sport.

tung, Kultur und Freizeit, hindernisfreies Bauen,     Für die SPV stehen immer die Mitglieder im Zen-
Lebensberatung und Rollstuhlsport.                    trum, sagt Laurent Prince: «Unsere Aufgabe ist
                                                      es, ihnen im Rahmen unserer Möglichkeiten opti-
Andocken in Nottwil                                   mal zu helfen.» Das Konstrukt der SPV beruhe seit
Die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung mit Sitz       41 Jahren auf dem guten Zusammenspiel zwi-
in Nottwil ist die zentrale Anlaufstelle für die 27   schen den Mitgliedern, den Vorständen der Clubs
Sektionen. «Sie wissen, wo sie andocken kön-          und dem Dachverband. Je aktiver ein Club und
nen», sagt SPV-Direktor Laurent Prince. Er hebt       je umfangreicher sein Angebot, desto stärker ist
den Dialog mit den Sektionen und den Mitglie-         auch die Bindung zu seinen Mitgliedern – so wie
dern hervor, aber auch die lokale Verankerung:        im Rollstuhlclub Valais Romand, der sich mit Lei-
«Die Clubs sind in ihren Regionen präsent, für        denschaft um ein aktives Vereinsleben kümmert:
die Mitglieder greifbar und sie pflegen den Aus-      «Er ist ein ausgezeichnetes Beispiel eines funktio-
tausch mit ihnen. Wir als Dachverband stärken         nierenden Clubs.»
einerseits die Funktionäre und versuchen ande-             Bei den Wallisern zählt Jérôme Bagnoud, ein
rerseits, konkret auf die Bedürfnisse der Mitglie-    ehemaliger Sozialpädagoge, zu den treibenden
der einzugehen und ihnen entsprechende Dienst-        Kräften. «Es geht darum, unsere Interessen und
leistungen anzubieten.»                               Rechte zu verteidigen», umschreibt der 57-jährige

                                                                                                               PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1   11
SCHWERPUNKT

12 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1
SCHWERPUNKT

Stilsicher und konzentriert:                         «Spass soll der Antrieb sein»
Christophe Vuillemoz (o.l.), Serge
Barman (o.r.) und Roger Baumann (u.l.)               Roger Getzmann leitet den Bereich Rollstuhlsport Schweiz
spielen leidenschaftlich Tennis.                     bei der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV).
Präsident Jérôme Bagnoud (u.r.)
trainiert Kyusho mit Emery Richard.

Rollstuhlfahrer den Kern seines Engagements:         Roger Getzmann, welche Bedeu-
«Wenn man leben will, muss man bereit sein, zu       tung hat Sport für Menschen mit
kämpfen.» Er sensibilisiert Fussgängerinnen und      Querschnittlähmung?
Fussgänger, macht auf die Bedürfnisse von Men-       Eine sehr hohe. Es geht darum, den
schen im Rollstuhl aufmerksam und setzt alles        Organismus anzuregen, und um eine
daran, dass sein Traum eines Tages Realität wird:    möglichst gute Fitness. Das zahlt sich
«Dass die Infrastruktur im Wallis so ausgebaut       bei den Aktivitäten im Alltag aus. Für die
ist, dass man sich nicht mehr zuerst erkundigen      SPV ist der Sport ein wichtiger Bereich;
muss, ob zum Beispiel ein Restaurant eine behin-     wir stellen ein ungebrochenes Interesse
dertengerechte Toilette hat. Leider sind wir davon   fest und versuchen, mehr als nur klas-
noch weit entfernt.»                                 sische Sportarten anzubieten.

Selbstverteidigung im Rollstuhl                      Gibt es dabei Grenzen?
Auch für Jérôme Bagnoud hat der Sport im Roll-       Fast keine. Jedes Mitglied muss für sich
stuhlclub eine hohe Bedeutung. Es geht nicht nur     entscheiden, welcher Sport infrage
um die physische, sondern auch um die psychi-        kommt, und wir engagieren uns, alles
sche Fitness. Zusammen mit der Vorstandscrew         möglich zu machen, was im Rahmen der
sorgt er dafür, den Mitgliedern eine möglichst       Sicherheitskriterien liegt. Wir möchten
breite Palette an Sportarten zu offerieren; da-      unseren Mitgliedern ein breites Ange-        wir im Breitensport möglichst viele
runter Tennis, Handbike, Basketball, Curling –       bot, immer wieder Neues und attraktive       Menschen dazu animieren, sich zu
oder Kyusho. Einmal im Monat bringt der Trainer      Kurse anbieten – ohne den Mahnfinger         bewegen. Zum anderen denken wir
Emery Richard den Interessierten diese Form der      zu heben: Ihr müsst Sport machen. Der        auch an die Spitze der Pyramide. Wir
Kampfkunst näher. Er lehrt gutes Atmen und ein-      Spass soll der Antrieb sein. Wenn ich        wollen Talente früh erkennen, ihnen
fache, effiziente Handtechniken, die der Selbst-     von Neuem rede, meine ich zum Bei-           Wege in den Spitzensport aufzeigen
verteidigung dienen.                                 spiel den «Giro Suisse»: 2020 fand er        und sie auch entsprechend fördern.
     Die Abteilung Sport im Club Valais Romand       erstmals statt und soll mithelfen, dass      Wer den Willen und ein gewisses Talent
leitet Manuel Mascarenhas. Der 37-Jährige ist        noch mehr Rollstuhlfahrer zum Hand-          als Grundlagen mitbringt, erhält von
seit einem Verkehrsunfall Tetraplegiker und spielt   biken finden.                                uns Unterstützung. Als kleines Land
mit Leidenschaft Rugby. Der Sportverantwortli-                                                    verfügt die Schweiz nicht über eine
che weiss um die Vorteile, wenn sich Menschen        Es bieten also nicht nur die                 grosse Anzahl an Spitzensportlerinnen
mit einer körperlichen Behinderung regelmäs-         27 Rollstuhlclubs Sportmöglich-              und -sportlern.
sig bewegen. Er sagt: «Wenn sich nur schon die       keiten, sondern auch die SPV?
Situation eines einzelnen Menschen verbessern        Ja, wir organisieren immer wieder            Wie viele sind es konkret?
lässt, lohnt sich jeder Aufwand, den wir in unse-    Kurse für jede und jeden, die Lust           In den verschiedenen Nationalkadern
rem Club betreiben.»                                 haben. Das kann Skifahren, Langlauf,         sind es achtzig Athletinnen und Ath-
     Am Tag unseres Besuchs in Sion fährt eine       Golf oder Wasserskifahren sein, um nur       leten, verteilt auf sechzehn Sportar-
Gruppe des Rollstuhlclubs Valais Romand mit          vier Beispiele zu nennen. Unser Breiten­     ten, wobei wir in den beiden Sparten
Handbikes der Rhone entlang. Zur gleichen Zeit       sportteam erstellt Angebote für alle         Leichtathletik und Handbike an gros-
übt Präsident Bagnoud mit Trainer Richard in         Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhl­          sen Wettkämpfen die meisten Medail-
einem Park Selbstverteidigung und in der Tennis-     fahrer. Eine Sportkoordinatorin für die      len gewinnen. Rund die Hälfte dieser
halle ist gerade der Doppelmatch zu Ende gegan-      Westschweiz sowie ein Sportkoordi-           Angehörigen des Nationalkaders ent-
gen. Aber Serge Barman und Roger Baumann             nator für die Deutschschweiz und das         fällt auf die Teamsportarten Rugby,
wollen noch in eine Verlängerung gehen: «Ener-       Tessin besuchen die Clubs vor Ort, um        Basketball, Curling und Powerchair-
gie für dieses Spiel hat man immer!» Doch bevor      ihnen bei der Ausarbeitung solcher           Hockey. Aktuell zählen wir insgesamt
Barman zurück auf den Court fährt, zeigt er seine    Pro­gramme behilflich zu sein.               rund 550 Lizenzierte. Wer eine Lizenz
Dankbarkeit: «Ich ziehe den Hut vor der Arbeit,                                                   besitzt, hat bei der Anschaffung eines
die der Vorstand unseres Clubs und die SPV für       Und beim Spitzensport?                       Sportgerätes Anrecht auf finanzielle
uns leisten.»                                        Die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung       Unterstützung durch die Schweizer
                                 (pmb / baad)       verfolgt zwei Ziele: Zum einen wollen        Paraplegiker-Stiftung.

                                                                                                           PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1   13
SCHWERPUNKT

Sport bestimmt
ihren Alltag
Badmintonspielerin Cynthia Mathez und Tischtennisspieler Silvio Keller
trainieren bis zu fünfzehn Stunden pro Woche. Ihr grosses Ziel 2021:
die Paralympics in Tokio.

                                                            Noch einmal zeigt sie ihr Kämpferherz. Der
                                                            Shuttle, das Spielgerät, fliegt in ihre Platz-
                                                            hälfte, ein Punktverlust droht. Es ist nur Trai-
                                                            ning, aber das tut nichts zur Sache: Wenn
                                                            Cynthia Mathez Badminton spielt, mobili-
                                                            siert sie ungeahnte Energien. Dynamisch
                                                            treibt sie den Rollstuhl an und spielt den
                                                            Shuttle noch übers Netz. Starke Aktion. Die
                                                            Kollegin nickt anerkennend.
                                                                 Dem Badminton ordnet Mathez alles
                                                            unter, auch das Sozialleben. «Trainieren,
                                                            schla­fen, essen, trinken – so sieht mein All-
                                                            tag aus», sagt sie, «für anderes ist kaum
                                                            Platz.» Sie liebt ihren Sport und hat den
                                                            Ehrgeiz, sich mit den Weltbesten zu mes-
                                                            sen. 2021 stehen in Tokio zwei Grossanlässe
                                                            an: die Paralympics, an denen Badminton
                                                            erstmals auf dem Programm steht, und die
                                                            Weltmeisterschaften Ende Oktober.

                                                            Erfindergeist im Lockdown
                                                            Darauf arbeitet Cynthia Mathez hin, obwohl
                                                            wegen der Corona-Pandemie ungewiss ist,
                                                            ob die Events tatsächlich durchgeführt wer-
                                                            den. Manchmal braucht sie Erfindergeist,
                                                            um zu trainieren. Als während des Lock-
                                                            downs die Sporthallen geschlossen blieben,
                                                            suchte sie Alternativen in einer Tiefgarage.
                                                            Mit Kreide zeichnete sie ein Badmintonfeld
                                                            auf den Boden, absolvierte Fahrtrainings
                                                            innerhalb der Linien oder schlug Shuttles
                                                            gegen die Wand.
                                                                 Sport spielt im Leben der Frau aus Tra-
Cynthia Mathez «Mein Körper ist                             melan im Berner Jura eine wichtige Rolle. Sie
zwar nicht mehr stark, aber der Kopf                        macht Judo, spielt Rugby, fährt Autorennen.
ist es.»                                                    Als sie 2009 auf einmal ihre Kraft und ihre
                                                            koordinativen Fähigkeiten verliert, lässt sie

14 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1
SCHWERPUNKT

                                                                                                               Silvio Keller «Wenn es mit Tokio
                                                                                                        nicht klappt, geht die Welt nicht unter.»

sich untersuchen. Die Diagnose: Multiple         «Wenn die Moral nicht gut ist, wirkt sich das      «Sport tut meinem Körper gut»
Sklerose. Die Autoimmunkrankheit schränkt        rasch auf meinen Körper aus.»                      Silvio Keller spielte früher Fussball. Nach sei-
sie kontinuierlich ein und zwingt sie 2015                                                          nem Badeunfall 2002 findet er zum Tisch-
in den Rollstuhl. Im Internet sucht sie nach     Der Wettkampftyp                                   tennis. Anfänglich ist es ein Krampf, den
Möglichkeiten, um ihren Bewegungsdrang           Ortswechsel, Wallbach AG. Ein Blick zum            Ball überhaupt zu treffen, aber er steigert
weiterhin ausleben zu können – und stösst        Gegner, ein Gruss vor dem ersten Ballwech-         sich rasch und erweist sich als Talent. 2005
auf Badminton.                                   sel. Silvio Keller hat sich vor der Tischtennis-   bestreitet er sein erstes Turnier. Inzwischen
     Cynthia Mathez ist rasch begeistert.        platte positioniert und stabilisiert seinen        investiert der 38-jährige Aargauer zwölf
Badminton hilft ihr, ihre Gliederschmerzen       Oberkörper, indem er den linken Arm hin-           bis fünfzehn Stunden pro Woche – für die
besser zu ertragen. An den Händen hat sie        ter den Rollstuhlgriff klemmt und die Hand         Technik am Tisch und fürs Kraft- und Aus-
kein Gefühl mehr, die Schmerzen kommen           ans Rad presst. Seine rechte Hand hat er mit       dauertraining. Einmal pro Woche übt er
ihr vor wie eine Dauergrippe. Sie hat sich       einer Bandage um den Schlägergriff gewi-           rund sechs Stunden unter Anleitung seines
damit abgefunden, dass sie nicht mehr            ckelt, nur der Zeigefinger schaut hervor.          Trainers Fabrice Descloux, der eigens aus
gehen kann und keinen stabilen Rumpf hat.        Ohne Fixierung würde ihm der Schläger              Freiburg anreist. Manchmal duelliert er sich
Mehr zu schaffen macht ihr die krankheits­       aus der Hand fallen, seine Fingerfunktio-          auch mit Fussgängern.
bedingte Müdigkeit. Zwölf bis fünfzehn           nen sind nicht mehr intakt. Die Räder des                Der grosse Aufwand lohnt sich: «Allein
Stunden Schlaf benötigt sie pro Tag.             Rollstuhls sind so arretiert, dass er nur noch     schon deshalb, weil das Tischtennis mei-
                                                 vor- und rückwärts fährt.                          nem Körper guttut», sagt Keller. Sport auf
3000 Kilometer im Auto                                 Ein erster Punktgewinn nach klugem           diesem Niveau bringt Kosten, aber als Mit-
Aus dem Hobby wurde die Hauptbeschäf-            Angriff, ein vermeidbarer Fehler, ein kurzes       glied des Nationalkaders muss er wenigs-
tigung. Die 35-Jährige gewinnt 2018 mit          Kopfschütteln. Silvio Keller befindet sich an      tens nicht mehr selber drauflegen. Vier
ihrer Doppelpartnerin Karin Suter-Ehrat die      einem aussergewöhnlichen Ort: Er darf im           halbe Tage arbeitet er im Treuhandbüro
Europameisterschaft, 2020 wird sie Schwei-       Gemeindesaal seines Wohnorts im Frick-             seines Vaters in Möhlin.
zer Meisterin im Einzel. Pro Woche trainiert     tal trainieren, dort, wo in normalen Zeiten              Die besondere Atmosphäre von Para-
sie dreizehn Stunden, mindestens. Dafür          öffentliche Anlässe stattfinden und ihm            lympischen Spielen erlebte Silvio Keller
nimmt sie monatlich bis 3000 Kilometer mit       nach den Paralympics 2012 ein grosser              schon zweimal, in London 2012 und 2016
dem Auto in Kauf: nach Luzern, Birrhard,         Empfang bereitet worden ist.                       in Rio de Janeiro. 2019 wird er Dritter an
Nottwil oder Allschwil. «Wer hohe Ziele                Um als Tetraplegiker Sport auf die­sem       den Europameisterschaften. Im September
erreichen will, darf sich nicht zurücklehnen»,   Niveau betreiben zu können, benötigt               möchte er in Tokio dabei sein. Allerdings
sagt sie. «Mein Körper ist zwar nicht mehr       Silvio Keller ein ausgeprägtes Ballgefühl. Er      muss er sich den Startplatz zuerst an einem
stark, aber der Kopf ist es.»                    beweist es mit raffinierten Services, Stopp-       Turnier in Slowenien erkämpfen. Er ist gedul-
     Die Kauffrau schätzt sich glücklich, dass   bällen, Finten und präzisen Returns. Für           dig, beharrlich und nervenstark. Er liebe
sie sich dank Sponsoren und Gönnerinnen          Laien mag das leicht aussehen, es erfordert        den Wettkampf und lasse sich von Nieder-
und Gönnern ein Saisonbudget von rund            aber neben einer hohen Konzentrationsfä-           lagen nicht demoralisieren, sagt er: «Natür-
30 000 Franken leisten kann. Ihren Lebens-       higkeit auch eine ganz spezielle Technik.          lich strebe ich den maximalen Erfolg an.
unterhalt bestreitet sie mit einer Invaliden-    «Mir fehlen ja wichtige Muskeln wie der            Aber wenn es nicht klappt, geht die Welt
rente. Der Sport motiviert Cynthia Mathez:       Trizeps», erklärt er.                              nicht unter.»                (pmb / d. plüss)

                                                                                                                   PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1   15
«Keiner von uns wird je eine
Antwort darauf bekommen,
warum es passiert ist»
                                  Silvano Beltrametti war Skirennfahrer, Ronny Keller Eishockey-
                                  ­spieler – bis Unfälle im Wett­kampf sie zu Paraplegikern
                                   machten. Die früheren Profisportler tauschen sich darüber
                                   aus, was der Sport ihnen heute gibt.

16 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1
Silvano Beltrametti (l.) mit Ronny Keller
in seinem Hotel in Lenzerheide GR:
«Wichtig ist, dass man sich nicht versteckt
und offen ist für Neues.»

        Silvano Beltrametti, Ronny Keller:
        Querschnittgelähmt zu sein nach
        einem Sturz und einem Check in die
        Bande, wie verarbeitet man das?
        Beltrametti (B): Man muss lernen, loszulas-
        sen vom alten Leben und bereit sein für ein
        neues. Mir war bewusst, dass ich nie mehr
        würde Ski fahren können wie bis anhin, und
        dass die Träume von einem Weltmeistertitel
        und Olympiasieg zerstört sind. Wichtig ist
        es, neue Ziele zu haben. Aber der Prozess
        kann lange dauern.
        Keller (K): Auch ich merkte schnell: So wie
        vorher wird es nie mehr. Für mich stellte sich
        die Frage, ob ich das annehmen will.

        Das heisst?
        K: Ob ich weiterleben will oder nicht. Es gab
        Momente, da hatte ich das Gefühl, die Kraft
        nicht zu haben und gehen zu wollen. Mit
        meiner Frau sprach ich offen darüber. Mit
        etwas Abstand erschrak ich dann über diese
        Gedanken. Andere Menschen im Rollstuhl
        erzählten mir, dass es ihnen ähnlich ergan-
        gen sei. Irgendwann sagte ich mir: Doch,
        das Leben bleibt lebenswert, ich will das
        Beste daraus machen – go for it.

        War es belastend, dass eure Schick-
        sale ein öffentliches Thema waren?
        K: Mir half es, weil ich mich dem stellen und
        darüber sprechen musste, was passiert war.
        Sonst hätte ich vielleicht alles in mich hinein-
        gefressen. Nach dem Unfall drehte sich so
        viel um mich wie noch nie.
        B: Am Anfang war es motivierend, dass die
        Leute hinter mir standen und mir das Gefühl
        gaben: Silvano, gib nicht auf. Daran dachte
        ich nie. Schon an der Unfallstelle kämpfte ich
        ums Überleben, ich wollte, dass es weiter-
        geht. Hätte ich die Augen zugemacht ... es
        wäre wohl kritisch geworden.

        Habt ihr damals geahnt, dass es
        euch schlimm erwischt hat?
        B: Der Gedanke an Querschnittlähmung und
        Rollstuhl war da. Ich hatte starke Rücken-
        schmerzen und gab den Beinen den Befehl,
        sich zu bewegen. Aber der Befehl kam nicht

                        PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1   17
SCHWERPUNKT

an. Zwei Stunden später bekam ich im Spi-          K: Zu Beginn stellte ich mir täglich die Frage   B: Klar ist das Risiko höher als in einem
tal von Grenoble die Diagnose. Ich finde es        nach dem Warum – erst recht, wenn ich im         Bürojob, aber als Athlet blendet man das
wichtig, dass einem die Wahrheit ehrlich ins       Alltag wieder vor einer Hürde stand. Aber        aus. Ich fühlte mich immer sicher. Zudem
Gesicht gesagt wird, sonst klammert man            irgendwann hat man viele Situationen ge­         fährt man eine Abfahrt wie in Kitzbühel
sich an falsche Hoffnungen. Der Teamarzt           meistert. Man darf nicht ständig zurück-         ja nicht gleich am ersten Skitag, sondern
sagte: «Silvano, dir hat es das Rückenmark         schauen. Früher war ich oft traurig, heute       bereitet sich gezielt darauf vor.
komplett durchtrennt, du wirst den Rest            bin ich es vielleicht noch zweimal im Jahr.      K: Blessuren gehören dazu, das Knie, die
deines Lebens im Rollstuhl sitzen.» Das war                                                         Schulter ... was auch immer. Mit 33 Jahren
eine harte Ohrfeige, aber Fakt und bereits         Silvano Beltrametti, Sie sagten nach             war für mich klar: Bei der nächsten grös­
der Anfang der Neuorientierung.                    dem Sturz, es war ein Fahrfehler.                seren Verletzung höre ich auf. Dass meine
K: Ich redete mir ein, dass ich das wieder         B: Ja, der kleine Fehler war da, aber dann       Karriere auf diese Weise enden würde,
hinbekomme, wenn ich mich so verhalte,             brauchte es eine ganze Reihe unglücklicher       hatte ich natürlich nicht im Kopf.
wie die Ärzte es sagen. Es war eine Erlö-          Umstände, dass es mich derart traf. Kurz: Es
sung, als ich hörte, dass ich nun operiert         war Pech. Obwohl die Auslöser für unsere         Habt ihr euch mit anderen Sportlern
werde: Danke, jetzt kann ich schlafen –            Unfälle unterschiedlich sind, wird keiner        im Rollstuhl ausgetauscht?
und ob ich wieder aufwache ... schauen wir         von uns je eine Antwort darauf bekommen,         K: Für mich waren vor allem die Peer Coun-
mal. Drei, vier Tage später erklärten mir die      warum es passiert ist. In diesen Momenten        selors in Nottwil meine Ansprechpersonen,
Ärzte, was Sache ist. Sie sagten auch: «Herr       fehlte einfach das Glück.                        ich löcherte sie mit Fragen.
Keller, Sie werden ein lebenswertes Leben                                                           B: In der Rehabilitation gab es einen regen
haben, teilweise sogar schöner als vorher.»        Ronny Keller, Ihrem Sturz ging der               Austausch, aber nicht nur mit Sportlern.
Das kam mir schräg rein.                           Check eines Gegenspielers voraus.                Am Anfang weiss man ja nicht einmal, wie
B: Natürlich geht dir durch den Kopf: «Der         Konnten Sie ihm verzeihen?                       man ein T-Shirt oder eine Hose selbststän-
kann das gut sagen.» Aber fünf, zehn Jahre         K: Verzeihen ... Ich weiss nicht. Von mir gab    dig anziehen kann. Wenn du siehst, wozu
später schaut man mit anderen Augen                es nie ein Wort in diese Richtung. Es ist,       Leute wieder in der Lage sind, die schon
zurück. Das Leben ist trotz der Behinderung        wie es ist. Der Gegner wollte sicher nicht,      länger im Rollstuhl sitzen, motiviert das.
sehr lebenswert. Ich hätte nie geglaubt,           dass es so herauskam. Es lief einfach blöd.      Und manchmal gibt es lustige Zufälle.
noch so viel machen zu können.                     Für mich war die Angelegenheit mit einem
K: Ja. Trotzdem würde ich nicht sagen, dass        abschliessenden SMS an ihn erledigt.             Zum Beispiel?
es schöner ist, sondern anders. Ich würde                                                           B: Zwei Jahre vor meinem Unfall testete ich
es nicht vergleichen. Ich empfinde Glück           Half euch in der Rehabilitation der              im Kaunertal Ski und sah auf dem Parkplatz,
anders als vorher und lebe gut.                    typische Ehrgeiz eines Sportlers?                wie behände ein Mann im Rollstuhl seinen
B: Wichtig ist, dass man sich nicht versteckt      K: Extrem. Als ich mich entschieden hatte,       Monoskibob im Auto verstaute. Ich war be-
und offen ist für Neues. Ob das etwas Sport-       leben zu wollen, setzte ich mir zum Ziel,        eindruckt. Wir kamen ins Gespräch, und ich
liches oder Kulturelles ist, spielt keine Rolle,   die Rehabilitation optimal und möglichst         sagte ihm: «Du bist ein wilder Kerl.» Nach
Hauptsache, es bereitet Freude.                    schnell zu absolvieren, heimzugehen und          dem Unfall meldete er sich: «Ich bringe dir
                                                   das neue Leben anzufangen. Es war wie            das Monoskibobfahren bei.» Solche Impul-
Habt ihr die Verarbeitung heute                    ein Wettkampf, ich griff auf Erfahrungen         se waren ungemein wertvoll. Der Kontakt
abgeschlossen?                                     aus dem Sport zurück.                            hält bis heute.
B: Ganz abschliessen kann man wohl nie.            B: Auch mir half es enorm. Im Spitzensport
Aber nach drei, vier Jahren war ich wieder         lernst du, mit Rückschlägen umzugehen,           Seid ihr auch Vorbilder?
zufrieden, glücklich und selbstständig; da-        dich aufzulehnen – mit einem neuen Ren-          B: Das müssen andere beurteilen. Ich glau­-
rauf hatte ich hingearbeitet. Nach der Rück-       nen, einem neuen Spiel. Wer zuoberst aufs        be, dass wir Menschen im Rollstuhl auf-
kehr aus Nottwil ins Bündnerland musste            Podest will, muss knallhart trainieren, ziel-    zeigen können: Es funktioniert. Wenn sich
ich mich beruflich neu orientieren, mich           strebig sein und Biss haben. Durch Sport         die Chance ergibt, dass wir dank unseren
umschulen, die Freizeit neu gestalten und          wirst du mental stärker.                         Namen für Querschnittgelähmte etwas
Sportarten wie Handbike oder Monoski-              K: Diese Qualität baut man sich über Jahre       tun können, nutzen wir sie. Ronny und ich
bob von Grund auf lernen. Heute denke ich          hinweg auf.                                      werden vermutlich eher gehört, wenn wir
nicht mehr mit negativen Gefühlen an den                                                            darauf hinweisen, dass irgendwo bauliche
Tag des Unfalls.                                   War euch das Risiko bewusst?                     Massnahmen notwendig sind.

18 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1
Silvano Beltrametti (42) war Skirenn­fahrer. Als Junior                         Ronny Keller (41) war Eishockeyspieler. Er fing als 19-Jähriger
 gewann er zweimal WM-Silber und galt im Skiweltcup als                          bei den ZSC Lions an, mit denen er 2000 Schweizer Meister
 grösste Schweizer Abfahrtshoffnung. Ein Sturz in Val d’Isère                    wurde. 2013 spielte er als Verteidiger für den EHC Olten, als er
 nach schnellster Zwischenzeit machte ihn 2001 zum Para­                         nach dem Check eines Gegenspielers kopfvoran in die Bande
 plegiker. Der gelernte Zimmermann führt mit seiner Frau                         prallte. Seither ist er querschnittgelähmt. Der gelernte Kauf-
 Edwina seit 2008 das Berghotel Tgantieni in Lenzerheide GR.                     mann ist seit 2017 Partner eines Treuhandbüros in Uster.

K: Diese Verantwortung übernehmen wir.          war stark, ich hatte ein Sixpack. Auf einmal      Salt Lake City war für mich das grosse Ziel,
Ich werde oft von Schulklassen für Vorträge     ist das alles weg, man schafft es kaum, sich      dafür vergoss ich viel Schweiss im Training.
angefragt. Da bin ich gerne dabei.              aufzurichten oder eine fünf Zentimeter hohe       Dann kam der Unfall. Ich hätte es nicht
                                                Schwelle zu überwinden.                           geschafft, zuzuschauen. Aber man kriegt
Nottwil bietet eine breite Auswahl                                                                relativ schnell Distanz. Ein Jahr danach
an Sportarten. Habt ihr das genutzt?            Was gibt euch der Sport?                          konnte ich wieder Rennen verfolgen.
K: Das Angebot ist super. Ich habe Verschie-    B: Wahnsinnig viel. Biken zum Beispiel: Sich
denes ausprobiert und wollte etwas finden,      fordern und dabei die Natur geniessen –           Was für Zukunftspläne habt ihr?
das mich körperlich fordert. Jetzt spiele ich   das erfüllt mich mit Glück. Es ist Lebensqua-     B: Ich möchte den Familienbetrieb weiter-
vor allem Tennis, aber der Wettkampf steht      lität. Man entflieht dem Stress, kann den         entwickeln und so positionieren, dass wir
nicht mehr im Vordergrund. Ich bin ehrgei-      Kopf lüften, und ich eigne mir eine Fitness       erfolgreich bleiben. Und mit meinen Freun-
zig auf tiefem Niveau.                          an, die positiven Einfluss auf meinen beruf-      den möchte ich ganz viel im Sportbereich
B: Ich nahm die Gelegenheit für den Wie-        lichen Alltag hat.                                erleben, zum Beispiel eine Skitour. Mein
deraufbau der körperlichen Fitness wahr.        K: Das trifft es exakt. Es erleichtert vieles,    Leben ist ziemlich ausgefüllt.
Wenn ich einen Skitag verbringe, möchte         wenn man fit ist. Sport bedeutet auch Spass       K: Ich habe eigentlich keine «Bucket List».
ich schöne Schwünge zeigen und elegant          und ermöglicht soziale Kontakte.                  Ich möchte mit meinen zwei Geschäfts-
über eine Welle fahren; eine gewisse Quali-                                                       partnern unsere Treundhandfirma weiter
tät soll das Ganze haben. Aber ich will mich    Mit welchen Augen schaut ihr heute                voranbringen.
nicht mehr mit anderen duellieren.              Skirennen und Eishockeyspiele an?
                                                B: Als Fan, der mitfiebert und sich in die Ath-   Was vermisst ihr?
Wie habt ihr euch bei den ersten                leten hineinversetzen kann. Ich weiss, was        K: Ohne Tabu gesprochen: die Sexualität
Sporteinheiten im Rollstuhl gefühlt?            in ihnen vor dem Start eines WM-Rennens           von früher.
K: Behindert. [schmunzelt] Einige Dinge         vorgeht. Oder du, Ronny, du weisst, was in        B: Die uneingeschränkte Bewegungsfrei-
frustrierten, weil sie nicht sofort klappten.   der Kabine abgeht, wenn eine Mannschaft           heit. Das Joggen an einem Strand zum Bei-
Oder die erste Lektion, um mich samt Roll-      im Play-off in Rücklage geraten ist.              spiel, das Eintauchen ins Meer. Mit solchen
stuhl ins Auto zu transferieren: Wie lange      K: Definitiv. Ich schaute schon auf der In­       Limiten muss man umgehen.
das dauerte ... Heute gehts im Nu.              tensivstation wieder Hockeyspiele. Das tat        K: Es macht aber nicht mehr traurig, oder?
B: Ich zweifelte nicht, weil genügend Bei-      zwar weh, aber ich liebe diesen Sport und         B: Nein, aber zwischendurch vermisse ich
spiele zeigten, dass es machbar ist. Aber       wollte einfach zuschauen.                         die Einfachheit, die Fussgängerinnen und
die Anfänge waren hart. Athletisch war ich      B: Es gab Anlässe, da konnte ich vor dem          Fussgänger haben.
mit 22 Jahren topfit, die Rumpfmuskulatur       Fernseher nicht zusehen. Olympia 2002 in                                     (pmb / baad)

                                                                                                                  PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1   19
SCHWERPUNKT

Sport ohne Grenzen
Viele Sportarten können unproblematisch gemeinsam ausgeübt werden.

Kann man gegen eine Rollstuhlfahrerin Ping-
pong spielen? Oder mit einem Menschen
mit Querschnittlähmung zum Biken gehen?
Selbstverständlich. Viele Disziplinen im Brei-
tensport können unproblematisch gemein-
sam ausgeübt werden. Im Rollstuhlbasket-
ball dürfen Fussgänger mitspielen – und
sitzen im Rollstuhl. In den Skateparks sind
Menschen mit und ohne Rollstuhl gleicher-
massen anzutreffen. Und im Spitzensport
hat mit Martin Imboden (Bild o. r.) sogar
ein Rollstuhlfahrer den Schweizer Meister-
titel im Bogenschiessen gegen Fussgänger
errungen. Für den gemeinsamen Sport gibt
es also (fast) keine Hürden.

                                                               Die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung
                                                               (SPV) bietet schweizweit über 120 Sport­
                                                               angebote in 27 Rollstuhlclubs.

                                                                    Direktlink zu
                                                                    Rollstuhlsport
                                                                    Schweiz (SPV)

20 PARAPLEGIE | J U N I 2 0 2 1
K O SME M
                                                                   I TUE N IBKL AI CT KI O N

Der Lohn ist die Wertschätzung
Ohne freiwillige Betreuer wie Jens Katzer sind Höchstleistungen unmöglich.

«In solchen Situationen muss man sich
etwas einfallen lassen», sagt Jens Katzer.
Er begleitete als Freiwilliger ein Trainings-
lager auf Zypern. Am dritten Tag setzte ein
so starker Regen ein, dass er den dreck-
verspritzten Handbiker kaum erkannte, der
zum Hotel zurück fuhr. Etwas erstaunt war
er über die Bitte des Athleten, ihn direkt auf
den Duschrollstuhl zu transferieren – samt
Sportkleidern. Erst nachdem der gröbste
Schmutz abgespült war, konnten die Klei-
der entfernt werden.
     Der 58-jährige erzählt die Geschichte
mit einem Schmunzeln: «Als Athletenbe-
treuer erlebt man einiges. Aber das war das
Speziellste.» Eigentlich meistern Sportlerin-
nen und Sportler mit einer Querschnittläh-
mung ihren Alltag selbstständig. Doch im
Trainingslager und an Wettkämpfen benö-
tigen vor allem Tetraplegiker Hilfe für den
Transfer in den engen Rennrollstuhl. Freiwil-
lige wie Jens Katzer unterstützen sie dabei.
Sie platzieren und fixieren sie und achten
mit auf Druckstellen. «Wichtig ist, dass sie
sich wohlfühlen, damit sie ihre Leistung         dem Rennrad, macht Handreichungen oder          Frage im Bereich des Behindertensports.
erbringen können», sagt der Betreuer, der        regelt den Verkehr, wenn sie im tiefliegen-     Als Hauptantriebskräfte identifiziert sie die
auch beruflich Menschen mit Querschnitt-         den Rennrollstuhl auf eine unübersichtliche     sinnhafte Tätigkeit in einem gesellschaftlich
lähmung versorgt – als Pflegefachmann am         Kreuzung zufahren.                              wichtigen Bereich sowie die Wertschätzung,
Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ).                 Für seine Einsätze im Trainingslager       die von den Athletinnen und Athleten zu-
                                                 nimmt der Pflegefachmann in Abstimmung          rückkommt. «Auch der Spassfaktor spielt
Gegenseitige Bereicherung                        mit dem SPZ unbezahlt frei. Der Betreuer        eine wichtige Rolle», sagt Marlis Gander
Die Kombination von beruflicher Erfahrung        erhält neben Kost und Logis nur eine kleine     «die Freude am gemeinsamen Helfen in
und freiwilligem Einsatz ist für die Betreuten   Aufwandsentschädigung. «Ich bin dafür           einem coolen Umfeld.»
ein Glücksfall: Jens Katzer muss nicht jeder     da, dass der Athlet ein optimales Programm           Jens Katzer hofft, weitere Freiwillige für
Handgriff erklärt werden. Er erkennt heikle      absolvieren kann», sagt er. «Der Lohn ist,      die Athletenbetreuung begeistern zu kön-
Punkte, bevor sie zum Problem werden,            dass man etwas Gutes tut. Gleichzeitig erle-    nen. Eine pflegerische Ausbildung sei keine
und er übernimmt auch pflegerische Aufga-        ben Athleten und Staff eine tolle Zeit an       Voraussetzung, aber man sollte Grundlagen
ben, wenn er mit einem Athleten das Hotel-       einem schönen Ort.»                             der Querschnittlähmung kennen – Work-
zimmer teilt. Da muss die Chemie stimmen.                                                        shops der Schweizer Paraplegiker-Vereini-
«Man kommt sich schon recht nahe, aber           Sinnhaftigkeit mit Spassfaktor                  gung vermitteln das nötige Rüstzeug.
das ist gegenseitig auch eine Bereicherung.      Ohne freiwillige Helferinnen und Helfer                                         (kste / rob)
Zudem habe ich zwischendurch etwas Zeit          geht im Sport nichts. Viele Hände werden
für mich – die Athleten wollen ja auch mal       in der Vorbereitung und an Wettkämpfen
                                                                                                  Interessieren Sie sich für die
Ruhe vor mir haben.»                             gebraucht – vom Vereinsanlass bis zu Olym-
                                                                                                  Freiwilligenarbeit für Menschen
     Der Betreuer ist selber sportlich. Im       pischen Spielen. In der Schweiz engagieren
                                                                                                  mit Querschnittlähmung?
Trainingslager engagiert er sich auch als        sich rund 450 000 Freiwillige in Sportverei-
                                                                                                  Schreiben Sie uns:
Guide für die Tetraplegiker, die im Hand-        nen. Was motiviert sie?
bike weniger schnell unterwegs sind als               Für ihre Masterarbeit an der Universität           redaktion@paraplegie.ch
die Paraplegikergruppe. Er begleitet sie auf     von Luzern untersuchte Marlis Gander die

                                                                                                         PARAPLEGIE
                                                                                                              PARAPLEGIE
                                                                                                                    | DEZEM
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