INKLUSION: ES IS T NORMAL, VER SCHIEDEN ZU SEIN - BADEN ...

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Das Magazin

                         Baden-Württemberg 01|2014

Inklusion: Es ist normal, verschieden zu sein
Moleküle im Spiel: Dr. Schätzlein entwickelt ein Medikament gegen Alterskrankheiten
Von Bällen und Büchern: kicken & lesen will Jungs fürs Lesen begeistern
EMIL tut Kindern gut: Ein Projekt fördert die innere Ruhe
INKLUSION: ES IS T NORMAL, VER SCHIEDEN ZU SEIN - BADEN ...
02   Perspektive 01/2014 | impressum                                                                                                                                                                                                                           editorial | Perspektive 01/2014          03

                                          Inklusion
                                                                                                                                                                               Liebe Leserinnen und Leser,

                                       gleichberechtigung
                                                                                                                                                                               in der Soziologie steht Inklusion für das Miteinbezogensein; in der Pädagogik für
                                                                                                                                                                               eine gemeinsame Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder in Kinder­
                        Offenheit                                           Wertschätzung
                                                                                                                                                                               gärten und Schulen. Doch ist die gleichberechtigte Teilhabe an etwas, also die

                                                                            Miteinander
                                                                                                                                                                               Inklusion, tatsächlich gleichberechtigt? Wie ist es für einen erwachsenen Mann,
                                                                                                                                                                               klein zu sein? Für einen jungen Mann, schwache Muskeln zu haben? Wie fühlt
                                                                                                                                                                               sich ein Mensch mit Handicap, wenn man ihn als behindert bezeichnet? Und
                                                                                                                                                                               was muss getan werden, um von einer erfolgreichen Inklusion zu sprechen?

                                                                                                                                                                               Die Baden-Württemberg Stiftung setzt sich mit ihren

                                                                            Unterschiedlichkeit                                                                                Programmen gezielt für ein Gelingen von Inklusion ein.
                                                                                                                                                                               Gelungen ist Inklusion erst dann, wenn man davon

                        Zusammenhalt
                                                                                                                                                                               nicht mehr sprechen muss, sondern eine gleichberech-
                                                                                                                                                                               tigte Teilhabe aller selbstverständlich ist. Welche Her-
                                                                                                                                                                               ausforderungen aber noch auf uns warten, wie Inklusion

     Teilhabe           Vielfalt
                                                                                                                                                                               im Kleinen und Großen funktionieren kann, was die
                                                                                                                                                                               Politik tut – all das haben wir im Dossier „Inklusion:

                        haltung
                                                                                                                                                                               Es ist normal, verschieden zu sein“ in dieser Ausgabe
                                                                                                                                                                               (ab Seite 07) für Sie zusammengetragen.

                                                                                                                                                                               Ob in einer Schule für alle (Seite 08), als Gäste bei der
                        Toleranz                                                                                                                                               Probe des Mannheimer Jugendtheaters „Augenblick“

          un-konvention Stärke
                                                                                                                                                                               (Seite 11) oder im Gespräch mit Kultusminister
                                                                                                                                                                               Andreas Stoch und Esther Grunemann (Seite 16) –
                                                                                                                                                                               unser Dossier zeigt, wo wir im Land beim Thema              Christoph Dahl, Geschäftsführer Baden-Württemberg Stiftung
                                                                                                                                                                               Inklusion stehen.

       Menschenrecht
                                                                                                      respekt

                                                                                                                                                                               Für die Baden-Württemberg Stiftung hat das Thema Inklusion einen festen
                                                                                                                                                                               Platz, wenn es um die Realisierung von Projekten und Programmen geht. So
                                                                                                                                                                               setzt sich die Stiftung dafür ein, engagierte Menschen mit und ohne Behinde-
                                                                                                                                                                               rung als Inklusionsbegleiter oder Inklusionslotsen (Seite 34) zu gewinnen und
                                                                                                                                                                               entsprechend zu qualifizieren. Diese sollen befähigt werden, vor Ort gemeinsam
                                                                                                                                                                               mit Betroffenen und Angehörigen nach Möglichkeiten einer selbstbestimmten
                                                                                                                                                                               Gestaltung des Lebens zu suchen sowie soziale Netzwerke im örtlichen Gemein-
                                                                                                                                                                               wesen aufzubauen.

                                                                                                                                                                               Soziale Verantwortung ist eine wichtige Säule unseres Handelns. Darüber
     impressum                                                                                                                                                                 hinaus investieren wir in Forschung und Bildung, damit Baden-Württemberg
                                                                                                                                                                               ein zukunftsfähiges Land bleibt. Lesen Sie ab Seite 23, wie ein Team des Leibniz-
     herausgeberin                                          AUTOREN                                                       S. 39: Landesgartenschau Schwäbisch Gmünd 2014
     Baden-Württemberg Stiftung gGmbH                       Claudia Eberhardt-Metzger, Anette Frisch, Iris Hobler,        GmbH und gourmetreise.com/Wolfgang Hummer            Instituts für Altersforschung in Jena einen Inhibitor des Knorpelabbaus testet
     Kriegsbergstraße 42                                    Jens Karbe, Raúl Aguayo-Krauthausen, Bernd Müller,                                                                 oder wie Sarah Moll durch das Baden-Württemberg-STIPENDIUM in Chile
     70174 Stuttgart                                        Simone Richter, Baden-Württemberg Stiftung                    Gestaltungskonzept und Realisation                   zu einem bemerkenswerten Dokumentarfilm inspiriert wurde (Seite 26).
     Telefon +49 (0) 711 248476-0                                                                                         agencyteam Stuttgart GmbH
     Telefax +49 (0) 711 248476-50                          Bildmaterial
     info@bwstiftung.de                                     © Baden-Württemberg Stiftung, Dr. Sebastian Schulz,           Druck                                                Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen.
     www.bwstiftung.de                                      S. 5 oben: Viola Schütz, S. 13: Barold – Fotolia.com,         Druckerei Schefenacker GmbH & Co. KG, Deizisau
     www.facebook.com/bwstiftung                            S. 14 Bild oben: OEKOGENO e.G., Bild unten: Privat,
                                                            S. 14/15: iStock – Yuri Arcurs, S. 19: Esra Rotthoff          Hinweis
     Verantwortlich                                         2013, S. 20/21: K. Dobberke für Fraunhofer ISC, S. 22:        Bei allen Bezeichnungen, die auf Personen bezogen
     Christoph Dahl, Geschäftsführer                        Ververidis Vasilis/Shutterstock.com, S. 23: Privat,           sind, meint die gewählte Formulierung beide
     Baden-Württemberg Stiftung                             S. 24/25: Institut für Strahlwerkzeuge, S. 26–28: Privat,     Geschlechter, auch wenn aus Gründen der leichte-     Ihr Christoph Dahl
                                                            S. 29: KD Busch, S. 30: Donauschwäbische Kultur-              ren Lesbarkeit nur die männliche Form erwähnt ist.
     Konzeption und Redaktion                               stiftung des Landes Baden-Württem­b erg, S. 32:
     Christine Potnar, Henny Radicke, Anton Sendler         Alloy/Corbis, S. 34: Privat, S. 38: Rollis für Afrika e.V.,   © Juni 2014
INKLUSION: ES IS T NORMAL, VER SCHIEDEN ZU SEIN - BADEN ...
04   Perspektive 01/2014 | Inhalt                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Kurz & Knapp

                                                                                                                                                                                                                   Forschung

                                                         20                                                                                            26
                                                                                                                                                                                                                   junge erfinder gesucht!

      16Ein langer Weg
                                                            Phosphor aus dem
                                                            Klärbecken
                                                                                                                                                        Auf der Suche
                                                                                                                                                        nach Silber
                                                                                                                                                                                                                   Im Team gemeinsam tüfteln, Ideen entwickeln und experimen-
                                                                                                                                                                                                                   tieren. Auch in diesem Jahr sucht die Baden-Württemberg Stiftung
                                                                                                                                                                                                                   Schülerteams für das Programm mikromakro. Es unterstützt
                                                                                                                                                                                                                   Teams aller Schularten ab Klasse 5 aus Baden-Württemberg beim
                                                                                                                                                                                                                   Forschen, Experimentieren und Entwickeln neuer Projekte. Dank
                                                                                                                                                                                                                   finanzieller und fachlicher Unterstützung können Gruppen aus
                                                                                                                                                                                                                   mindestens vier Schülern und einem Erwachsenen für zwei Jahre
     Dossier                                          forschung                                                                                      bildung                                                       ihre Projekt­ideen verwirklichen. Gesucht werden Ideen aus den
     Inklusion: Es ist normal,                                                                                                                                                                                     Bereichen: Design und Lifestyle, Gesundheit und Soziales, Kleidung
     verschieden zu sein ................... 07       Phosphor aus dem Klärbecken                                                                    Auf der Suche nach Silber                                     und Kosmetik, Technik und Naturwissenschaft im Alltag, neue
                                                      Nanopartikel fischen Wertstoffe .. . . . . . . 20                                              Regisseurin Sarah Moll in Chile . . . . . . . . . 26          Produkte für Schule und Arbeitswelt, Energie und Umwelt sowie
     Das starke Klassenzimmer                                                                                                                                                                                      mechanische und elektronische Neuerungen. Bewerbungen sind
     Die Gebhardschule lebt Inklusion . ..... 08      Moleküle im Spiel                                                                              Von Bällen und Büchern                                        bis zum 11. November 2014 möglich. Alle Informationen dazu
                                                      Forschen gegen Arthrose .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 23                                Jungs fürs Lesen begeistern .. . . . . . . . . . . . . . 29   gibt es unter
     mehr als der Moment
     In diesem Theater spielen alle mit ...... 1 1    Falscher Freund                                                                                Filmreife Völkerverständigung                                 www.mikromakro-bw.de
                                                      Kamera zähmt Laser .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24                         Feriencamp als Sprachwerkstatt .. . . . . . . 30
     Am liebsten mittendrin
     Wohnen ohne Barriere ...................... 13
                                                                                                                                                                                                                   bildung
     Ein langer Weg
     Esther Grunemann und                                                                                                                                                                                          die zukunft der hochschule
     Andreas Stoch im Gespräch ............... 16
                                                                                                                                                                                                                   Fünf innovative Studiengänge, neun           gramms stellte die Baden-Württemberg          schaft, Wirtschaft und Hochschulpolitik
     KOLUMNE
                                                                                                                                                                         Sie                                       große und 21 kleinere Forschungsvor­         Stiftung Anfang des Jahres die Publika-       zu Wort und ent­w ickeln mögliche
     Von Raúl Aguayo-Krauthausen .......... 19                                                                                                                  Rätseln em                                         haben wurden im Rahmen des Zukunfts­         tion „Gleichartig – aber anderswertig? Zur    Zukunftsszenarien.
                                                                                                                                                                        nser
                                                                                                                                                               mit bei u piel!
                                                                                                                                                                                                                   sicherungsprogramms für Fachhoch-            künftigen Rolle der (Fach-)Hochschulen
                                                                                                                                                                                                                   schulen und Berufsakademien auf den          im deutschen Hochschulsystem“ vor.
                                                                                                                                                                 Gewinns

      32                                                                                                   38
                                                                                                                                                                                                                   Weg gebracht. Zum Abschluss des Pro-         Darin kommen Vertreter aus Wissen-            www.bwstiftung.de/publikationen
                                                                                                                                                                    Seite 39

                                                                                                                                                                                                                                                                                        Gesellschaft & Kultur
       EMIL tut                                                                                              rollis
       Kindern gut                                                                                           für afrika                                                                                                                                                                 schmökern in der sonne
                                                                                                                                                                                                                                                                                         Noch bis Oktober 2014 findet der 7. Literatursommer in Baden-
     gesellschaft & kultur Rubriken                                                                                                                                                                                                                                                      Württemberg statt. „Worte sind Taten – Zivilgesellschaftliches
                                                                                                                                                                                                                                                                                         Engagement in der Literatur“ ist das Motto der diesjährigen
     EMIL tut Kindern gut                             IMPRESSUM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 02                                                                                                                                         Veranstaltungsreihe. Bei insgesamt 160 Veranstaltungen soll
     Emotionen regulieren lernen ............. 32                                                                                                                                                                                                                                        hervorgehoben werden, welche Relevanz literarische Werke für
                                                      EDITORIAL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 03                                                                                                                                       politische oder gesellschaftliche Veränderungen und Entwick-
     Mitmacher und Mutmacher gesucht                                                                                                                                                                                                                                                     lungen haben. In 90 weiteren Veranstaltungen widmet sich der
     Inklusiv handeln kann jeder .............. 34    kurz & knapp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 05
                                                                                                                                                        Perspektive im Web:                                                                                                              Kinder- und Jugendliteratursommer in Anlehnung an das
                                                                                                                                                                                                                                                                                         25-jährige Jubiläum der UN-Kinderrechtskonvention dem Thema
     Papa ist weit weg arbeiten                       VERBORGENE TALENTE .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
                                                                                                                                                                                                                                                                                        „Starke Kinder – Freie Menschen“. Weitere Informationen finden
     Einmalig: Eltern-Kind-Projekt Chance . . 36                                                                                                        www.perspektive-bw.de
                                                                                                                                                                                                                                                                                         Sie unter
                                                      GEWINNSPIEL .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
                                                                                                                                                                                                                                                                                        www.literatursommer.de
INKLUSION: ES IS T NORMAL, VER SCHIEDEN ZU SEIN - BADEN ...
Kurz & Knapp

                                                                                                                                                            Inklusion
                                                                       Forschung

                                                                       Ich mach was mit MINT
                                                                       Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik sind
                                                                       von Männern dominierte Bereiche. Noch. Denn immer mehr
                                                                       Frauen interessieren sich für die sogenannten MINT-Berufe. Einige
                                                                       von ihnen stellt die Baden-Württemberg Stiftung in ihrer Pub-
                                                                       likation „Ich mach was mit MINT“ vor. Auf 80 Seiten gibt es Inte-
                                                                       ressantes über Studienmöglichkeiten im MINT-Bereich oder aber
                                                                       Porträts erfolgreicher Wissenschaftlerinnen. Und Unentschlossene                      Inklusion bedeutet, dass eine Gesellschaft niemanden aufgrund
                                                                       können ihren MINT-Typ in einem Test herausfinden. Das Magazin
                                                                      „Ich mach was mit MINT“ ist kostenlos erhältlich unter
                                                                                                                                                             seines A
                                                                                                                                                                    ­ ndersseins ausgrenzt. „Anders“ bezieht sich nicht nur auf
                                                                                                                                                             eine geistige oder körper­liche Einschränkung, sondern auch auf
                                                                       www.bwstiftung.de                                                                     Hautfarbe, Religion oder Lebensanschauung. In einer inklusiven
                                                                                                                                                             Gesellschaft hat jeder Mensch die gleichen Rechte und ist voll­
   Gesellschaft & Kultur                                                                       Bildung                                                       wertiges Mitglied. Verschiedenheit ist ganz einfach normal.
   gesund und ausgezeichnet                                                                    vielfalt
   Seit 2006 verwandeln sich in Baden- Dieses Engagement ist jetzt mit dem ersten              der kulturen
   Württemberg regelmäßig Kindergärten „B. Braun Preis für Soziale Innovationen“
   in Piratenschiffe. Denn dann sind die ausgezeichnet worden. Ebenfalls aus­
   Inselpiraten Finn und Fine zu Besuch. Sie gezeichnet wurde das Singener Projekt
   bringen den Kindern spielerisch gesunde „Skipsy“, das sich an Kinder psychisch kran-
   Ernährung und die Bedeutung ausreichen- ker Eltern wendet und zwischen 2009 und
   der Bewegung nahe. Seit 2009 sind auch 2012 von der Stiftung Kinderland Baden-
   Grundschulen mit im gesunden Boot. Ziel Württemberg finanziert wurde.
   des Programms ist die Gesundheitsförde-                                                                                                     das starke                      mehr als                         am liebsten                      ein langer weg                   kolumne von
   rung der Kinder in Baden-Württemberg. www.gesunde-kinder-bw.de                                                                              klassenzimmer                   der moment                       mittendrin                                                        RaÚl AGUAYO-
                                                                                                                                                                                                                                                                                  Krauthausen
                                                                                                                                               ........................... 08 ........................... 1 1   ........................... 13   ........................... 16   ........................... 19

   Gesellschaft & Kultur

   Kulturakademie
   ist Bildungsidee 2014
                                                                                               Vom 4. bis 13. Juli 2014 findet das 9. Inter-
                                                                                               nationale Donaufest in Ulm statt. Auch
                                                                                               die Baden-Württemberg Stiftung wird
   Kreative, talentierte Schülerinnen und       52 Initiativen aus, die sich in herausragen-   vom 9. bis 10. Juli auf dem Donaufest prä-
   Schüler, die in den Bereichen Kunst, Lite-   der Weise für mehr Bildung von Kindern         sent sein. Die zweitägige Veranstaltung
   ratur, Musik oder MINT besondere Fähig­      und Jugendlichen starkmachen.                  dient dazu, Bilanz der bisherigen Projekt-
   keiten haben, können seit 2010 in der                                                       aktivitäten im Donauraum zu ziehen,
   Kulturakademie ihre Begabungen ent-          Ziel des Wettbewerbs ist es, die Vorreiter     neue Ideen für weitere Projekte in den
   falten. Im März wurde das Programm der       einer gesellschaftlichen Bewegung für          Bereichen Bildung, Kultur und Zivilgesell-
   Stiftung Kinderland dafür als Bildungs-      mehr Bildung sichtbar zu machen und            schaft zu entwickeln und den Akteuren
   idee 2014 im Wettbewerb „Ideen für die       andere zum Nachahmen zu ermutigen. In          eine Plattform für weitere Vernetzung zu
   Bildungsrepublik“ ausgezeichnet. An die-     der Kulturakademie werden genau diese          bieten. Mehr Informationen zum interna-
   sem Wettbewerb haben bundesweit rund         Anforderungen erfolgreich erfüllt.             tionalen Donaufest finden Sie unter
   1 000 Projekte teilgenommen. Eine unab-
   hängige Expertenjury wählte insgesamt        www.kulturakademie-bw.de                       www.donaufest.de
INKLUSION: ES IS T NORMAL, VER SCHIEDEN ZU SEIN - BADEN ...
Dossier | Perspektive 01/2014       09

Das starke
                                                                                    D
                                                                                             ass sich alles so schnell ändern würde, hätte sie nicht
                                                                                             gedacht. Als Elke Großkreutz 1999 Konrektorin an
                                                                                             der Gebhardschule in Konstanz wurde, war das für

Klassenzimmer
                                                                                             sie persönlich erst einmal Veränderung genug. Doch
                                                                                             kaum angekommen, kamen engagierte Eltern auf die
                                                                                    Schulleitung zu und fragten, ob sie nicht eine Grundschulklasse
                                                                                    gründen könnten, in der Kinder mit und ohne Behinderung
                                                                                    gemeinsam lernten. Denn schließlich hatte die gemeinsame
                                                                                    Betreuung ja auch schon im Kindergarten geklappt – warum
Die Gebhardschule in Konstanz unterrichtet seit 14 Jahren Kinder mit und            sollte das in der Schule anders sein?

ohne Behinderung gemeinsam. Derzeit befindet sie sich wieder mitten in              Die Eltern hatten Glück, dass sie auf eine Pädagogin stießen, die
einer Veränderung, die das herkömmliche Schulsystem auf den Kopf stellt.            sich generell für Lernformen interessierte, die Menschen nicht
                                                                                    einteilen. Zudem hatte Elke Großkreutz lange an Sonderschulen
                                                        Reportage | Anette Frisch   gearbeitet und wusste, was Schüler mit sonderpädagogischem
                                                                                    Bildungsbedarf brauchten. Und noch ein weiterer Punkt beein-
                                                                                    flusste die Entwicklung positiv: Das Kollegium kannte sich mit
                                                                                    heterogenen Klassen bereits bestens aus. In Petershausen gab es
                                                                                    Ende der 1990er-Jahre zahlreiche Übergangswohnheime, aus
                                                                                    denen viele Kinder unterschiedlicher Kulturen die Gebhardschule
                                                                                    besuchten und ihr im Viertel den Ruf einer „Ausländerschule“
                                                                                    einbrachten. „Die vermeintliche Schwäche entpuppte sich
                                                                                    als eigentliche Stärke“, sagt Elke Großkreutz heute. „Wer mit so
                                                                                    viel Verschiedenheit umzugehen lernt, hat eine wahnsinnige
                                                                                    Kompetenz.“ Um es kurz zu machen: 2000 führte die Gebhard-
                                                                                    schule inklusive Klassen ein und war damit eine der ersten
                                                                                    in Baden-Württemberg.
                                                                                                                                                           Große Ideen brauchen große Wände: Schulleiterin Elke Großkreutz vor
                                                                                    Immer in Bewegung                                                      dem Lehrerplan.

                                                                                    Smart, cool, myself – in großen gelben Buchstaben strahlen die
                                                                                    Worte selbstbewusst auf dem dunkelblauen T-Shirt von Marius.           Nicht nur das Ambiente der Gemeinschaftsschule unterscheidet
                                                                                    Der 12-Jährige lümmelt sich mit drei weiteren Schülern auf dem         sich von dem eines gewöhnlichen Klassenzimmers. „Lerngruppen-
                                                                                    blauen Teppichboden und übt mit ihnen Englisch. Die Gruppe             raum“ korrigiert Katharina Richter. Die 29-Jährige bezeichnet
                                                                                    hockt in einem Flur, der holzgetäfelt ist, und an die Zeit erinnert,   sich auch nicht als Lehrerin, sondern als „Lernbegleiterin“. Und
                                                                                    als die Räume noch die Büros der Telekom waren. Nun haben sich         auch „Zeugnisse“ verteilt die Sonderpädagogin nicht, sondern
                                                                                    in dem 14-stöckigen Hochhaus, das rund 20 Meter vom Hauptge-           ausführlich verfasste „Lernentwicklungsberichte“. Was wie ein
                                                                                    bäude der Gebhardschule entfernt liegt, Fünft- beziehungsweise         sinnloses Feilschen um Begriffe wirkt, ist ein Hinweis darauf,
                                                                                    Sechstklässler auf mehreren Etagen breitgemacht.                       dass die Gemeinschaftsschule Lehren und Lernen anders versteht
                                                                                                                                                           als herkömmliche Schulformen. „Jedes Kind hat seine eigene Art
                                                                                    Es ist nicht so, dass die Gebhardschule nicht genügend Platz hätte.    und seinen eigenen Weg zu lernen“, sagt Katharina Richter. „Wir
                                                                                    Aber seit anderthalb Jahren ist sie Gemeinschaftsschule und            begleiten es dabei.“ Die Gemeinschaftsschule legt großen Wert
                                                                                    damit hat sich (wieder) vieles verändert. Zum Beispiel, dass eine      auf Kooperation. Dem Kollegium ist es wichtig, „ein System des
                                                                                    Klasse mehrere Räume zum Lernen hat, dass die Türen immer              Vertrauens zu schaffen, bei dem es auf die Stärkung des Selbst-
                                                                                    offen stehen, dass leise gesprochen wird, dass der Lehrer nicht        wertgefühls ankommt“, fasst Elke Großkreutz die grundlegende
                                                                                    vorn an einer Tafel steht, vor allem aber, dass zur Klasse nicht       Idee zusammen.
                                                                                    nur Kinder mit Behinderung gehören, sondern auch solche mit
                                                                                    unterschiedlichen „Bildungsbegabungen“. Was sich verklausu-            Briefe an Maxi
                                                                                    liert pädagogisch liest, meint ein ganz einfaches und dennoch          Gemeinsam mit Florence Ferland ist Katharina Richter für die
                                                                                    besonderes Schulkonzept: Von der 1. bis zur 10. Klasse lernen          Klasse 6a verantwortlich und sie ist vor allem für die Kinder
                                                                                    Gymnasiasten, Werkreal- und Sonderschüler gemeinsam – auf              mit Förderbedarf da. So wie Felix. Er hat das Downsyndrom und
                                                                                    ihrem persönlichen Leistungsniveau, in ihrem eigenen Tempo             übt gerade mit Sina, Paula und Willi englische Vokabeln. Dabei
                                                                                    und so eigenständig wie möglich.                                       helfen ihm die großen weißen Blätter, die vor ihm auf dem Boden
INKLUSION: ES IS T NORMAL, VER SCHIEDEN ZU SEIN - BADEN ...
10   Perspektive 01/2014 | Dossier

     liegen und auf denen kurze Antworten stehen. Wenn Sina Felix                    Fragt man Elke Großkreutz, was sich in den vergangenen Jahren
     fragt, ob er einen Computer hat, zeigt er auf das „Yes, I do“ und               verändert hat, dann stellt sie fest, dass ziemlich viel zusam-
     spricht den Satz aus. Und wenn er nicht weiterweiß, hilft ihm                   menkommt. Ihr fällt beispielsweise ein, dass Schüler für ihre
     Sina. „Die Gemeinschaft in der Klasse ist außergewöhnlich“,                     Projekt­a rbeit häufig das Thema Behinderung wählen; dass sich
     sagt Katharina Richter. Das merkt die 29-Jährige auch daran,                    das Kollegium durch die intensive Zusammenarbeit mit der
     dass sie sich häufig aus dem Lernprozess herausziehen kann.                     nahegelegenen Sonderschule wertvolles Fachwissen aneignen
     „Die Schüler wissen oft selbst, was der andere braucht, um den                  konnte, das heute wiederum der Gemeinschaftsschule zu­g ute
     nächsten Lernschritt zu tun.“                                                   kommt; dass es regelmäßig intensive Gespräche mit zum Teil
                                                                                     besorgten Eltern gegeben hat. Die einen befürchteten, dass
     Außer Felix sind Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom                       ihre Kinder nicht genügend lernen, die anderen, dass sie über-
     (ADHS/ADS), Lernbehinderung und Autismus in der 6a. Und                         fordert werden. „Heute ist das überhaupt kein Thema mehr“,
     Maxi, die körperbehindert ist und mit einem Assistenten am                      sagt die Rektorin.
     Unterricht teilnimmt. Zurzeit deutet nur die Liege im Klassen­
     zimmer auf das Mädchen hin. Maxi befindet sich seit sechs                       Über den Horizont blicken
     Wochen im Krankenhaus. „Wir schreiben ihr Briefe“, sagt Marius.                 Und noch etwas fällt der Schulleiterin ein. Dass sich nämlich
     „Es geht ihr mal gut und mal schlecht. Wann Maxi wieder-                        das Verständnis von Inklusion verändert hat. Und weit mehr
     kommt, wissen wir nicht.“                                                       bedeutet als der gemeinsame Unterricht behinderter und nicht-
                                                                                     behinderter Schüler. An der Gemeinschaftsschule lernen Kinder
     Der Geist der Schule                                                            und Jugendliche unterschiedlicher Leistungsniveaus und unter-

                                                                                                                                                         Mehr als der Moment
     Für Elke Großkreutz sind die gemischten Gruppen eine Berei-                     schiedlicher Bildungsbegabungen zusammen. „Noch konse-
     cherung für alle. „Die unterschiedlichen Schüler setzen unter-                  quenter und glaubwürdiger kann man Inklusion nicht leben.“
     schiedliche Impulse, es entsteht Bewegung und ein Mehr an
     Möglichkeiten.“ Das sieht auch Petra Rietzler so. Die Mutter von                Von ihrer Mensa aus, die sich im 14. Stock befindet, haben Marius
     Marius gründete damals die Elterninitiative, die sich für die Ent-              und seine Klassenkameraden einen weiten Blick über den Boden-
     wicklung der Gemeinschaftsschule engagierte. Ihre drei Kinder                   see hinweg bis zu den Alpen. Wissenschaftler haben festgestellt,
     haben keine Behinderung, dennoch ist sie davon überzeugt, dass                  dass sich die Möglichkeit, weit zu schauen, auf das Denken über-    Das Mannheimer Augenblick Theater ist eines der wenigen in Baden-Württemberg,
     die Entscheidung vor 14 Jahren, eine inklusive Schule zu werden,
     „noch heute den Geist der Gebhardschule bestimmt“.
                                                                                     trägt – eine Fähigkeit, die die Gebhardschule seit mindestens
                                                                                     14 Jahren prägt.
                                                                                                                                                         in dem Jugendliche und junge Erwachsene mit und ohne Behinderung spielen.
                                                                                                                                                         Dass es darauf aber überhaupt nicht ankommt, zeigt der Besuch beim Ensemble.
                                                                                                                                                                                                                                                                    Reportage | Anette Frisch

                                                                                                                                                         E
                                                                                                                                                                 in fensterloser Raum, künstliches    Grund dafür ist, dass heute bei der Probe      trum an Ideen“, sagt sie. Die Theaterpä-
                                                                                                                                                                 Licht, schwarze Vorhänge. Auf den    besonders intensiv gearbeitet wird.            dagogin leitet das Ensemble seit seinem
                                                                                                                                                                 ersten Blick wirkt die Probebühne                                                   Bestehen 2003. Damals hatte das landes-
                                                                                                                                                                 des Mannheimer Jugendkultur-         Die Gruppe steht im Kreis und ihre Aufga-      weit bekannte „Krüppeltheater Neckar­
                                                                                                                                                                 zentrums FORUM wenig einla-          be ist es, die Geste des Nachbarn zu imitie-   gmünd“ seinen Leiter verloren. Und einige
                                                                                                                                                         dend, wären da nicht die 16 Schauspiele-     ren und an den nächsten weiterzugeben.         der ehemaligen Schauspielerinnen und
                                                                                                                                                         rinnen und Schauspieler, die dem Raum        Das funktioniert so ähnlich wie Stille Post,   Schauspieler sowie Interessierte aus den
                                                                                                                                                         auf der Stelle Leben, Seele und jede Menge   mit dem Unterschied, dass rein gar nichts      FORUM -Workshops haben sich dann zum
                                                                                                                                                         Magie einhauchen.                            still geschieht und sich die ursprüngliche     Augenblick Theater zusammengefunden.
                                                                                                                                                                                                      Körperbewegung im Laufe der Runde ver-
                                                                                                                                                         Das Augenblick Theater in Mannheim ist       ändert. Jeder hat seinen eigenen Blickwin-     Die Zuschreibung behagt ihr nicht
                                                                                                                                                         besonders. Nicht nur, weil das Ensemble es   kel und seine eigenen Möglichkeiten, auf       Johannes Instinsky ist von Anfang an mit
                                                                                                                                                         schafft, das triste Ambiente zum Leben zu    das zu reagieren, was ihm sein Nebenan         dabei und gehört zu den ältesten Ensem-
                                                                                                                                                         erwecken. Sondern auch, weil es eine der     vorgibt.                                       blemitgliedern. Mit dem Schauspielen
                                                                                                                                                         wenigen Theaterkompanien Baden-Würt-                                                        begann der 29-Jährige bereits in der The-
                                                                                                                                                         tembergs ist, die aus Schauspielerinnen      Für Birgit Thomas ist genau das die Kraft      ater-AG an der Körper­behindertenschule
                                                                                                                                                         und Schauspielern mit und ohne Behin-        des Augenblick Thea­ters: die Unterschied-     Ludwigshafen. Johannes Instinsky arbei-
                                                                                                                                                         derung besteht. Und das bereits seit etwas   lichkeit der Akteure. „Wenn eine Gruppe        tet in der Telefonzentrale bei den Dürkhei-
     So sieht Lernen im Jahr 2014 aus: Sina, Paula, Willi und Felix üben englische Vokabeln.                                                             mehr als zehn Jahren. Was wiederum der       heterogen ist, vervielfacht sich das Spek-     mer Werkstätten und spielt mittlerweile
INKLUSION: ES IS T NORMAL, VER SCHIEDEN ZU SEIN - BADEN ...
12   Perspektive 01/2014 | Dossier

                                                                                                        sagt Jan Knosalla. Die Arbeit im Ensemble
                                                                                                        hat den Mannheimer so beeinflusst, dass
                                                                                                        er 2012 mit Freunden die eigene Theater-
                                                                                                        gruppe EXIL gründete. „Die Themen sind
                                                                                                        etwas düsterer, vielleicht weniger abs-
                                                                                                        trakt als beim Augenblick Theater.“ Den-
                                                                                                        noch ist er der Kompanie treu geblieben.
                                                                                                        „Der Kontrast der beiden Gruppen gibt mir
                                                                                                        sehr viel.“

                                                                                                        Anders als bei klassischen Produktionen
                                                                                                        arbeitet das Augenblick-Ensemble nicht
                                                                                                        mit einem bereits existierenden Theater-
     In der Ruhe liegt die Kraft: Jungschauspieler des Augenblick Theaters.                             stück und es werden auch keine Haupt-
                                                                                                        oder Nebenrollen verteilt. Die Akteure
     an der Abendakademie in Mannheim                     Nichtbehinderung bezieht. „Normal ist,        entscheiden sich für ein Thema, das sie
     Theater. „Das Schauspiel ist mein Hobby“,            dass die Gesellschaft unterschiedlich ist.    interessiert und bewegt. Sie schreiben
     sagt er. „Ich kann dabei vom Alltag ent-             Und genau das ist es, was das Spiel auf der   Texte und komponieren Musik, entwi-
     spannen.“ Sema Braun hat schon als Kind              Bühne und das Leben bereichert.“              ckeln Dialoge und Choreo­g rafien. Birgit
     an den Workshops von Birgit Thomas teil-                                                           Thomas erarbeitet auf Grundlage erster
     genommen. Ihre Erfahrungen im Augen-                 Das Ensemble ist Autor                        Improvisationen eine Rahmenhandlung,
     blick-Ensemble haben sie geprägt und ihre            und Regisseur zugleich                        die so flexibel ist, dass immer noch neue
     Berufswahl beeinflusst. „Früher hatte ich            Für die Jubiläumsfeier hat die Gruppe eine    Ideen eingewoben werden können. Acht
     Angst vor der Begegnung mit behinderten              Performance ent­w ickelt, die Schauspieler    Stücke hat das Ensemble so seit seinem
     Menschen“, sagt sie. „Ich fürchtete, etwas           und Publikum unmittelbar miteinander          Bestehen auf die Bühne gebracht. Und das
     falsch zu machen und sie zu verletzen.“              in Kontakt bringt. Die Akteure sitzen         sehr erfolgreich: Für drei Produktionen ist
     Ihr derzeitiges Lehramtsstudium will die             unauffällig mit den Gästen an den Tischen     das Augenblick Theater beim internati-
     24-Jährige durch ein Aufbaustudium in                im Zuschauerraum. Plötzlich stehen einige     onalen Festival „Theatertage am See“ in
     Sonderschulpädagogik ergänzen.                       auf und beginnen, vor sich hinzureden,        Friedrichshafen in der Kategorie „Schul-
                                                          andere unterhalten sich miteinander           und Jugendtheater“ jeweils mit dem
     Wenn man Birgit Thomas fragt, welche                 oder tanzen wie in Zeitlupe durch den         ersten Preis ausgezeichnet worden. Seit
     Bedeutung es für die Theaterarbeit hat,              Raum. Stimmen, Geschichten und Bewe-          2006 besteht eine Kooperation mit dem
     dass Menschen mit und ohne Behinde-                  gungen überlagern sich und dann Stille.       Nationaltheater Mannheim.
     rung zusammenspielen, gerät sie ein                  Ein einheitlicher Rhythmus ertönt, die
     wenig in Erklärungsnot. Nicht, weil sie              Akteure klopfen sich auf den Brustkorb,       Nach fünf Stunden Probe sitzen die Schau-
     keine Antwort wüsste, sondern weil ihr               was wie ein dumpfer Herzschlag klingt.        spieler im Kreis. Sie diskutieren, was gut
     die Art der Zuschreibung nicht behagt.               Dann beginnen alle zu singen: „Wenn du        oder weniger gut gelaufen ist und was
     „Dahinter steht doch immer die Frage, was            dich mal selber suchst, hör’ auf dein Herz,   sie künftig ändern könnten. Auch so ein

                                                                                                                                                      Am liebsten mittendrin
     wir als defizitär empfinden: den Einzelnen           Boom, Boom“.                                  Kollektivprozess, der die Kompanie von
     oder die Gesellschaft?“ Ihr ist bewusst,                                                           klassischen unterscheidet. Was außer-
     dass das, was sie auf die Beine gestellt hat,        Jan Knosalla ist mit 15 Jahren zum Augen-     dem besonders am Augenblick Theater
     ein erfolgreiches Beispiel für Inklusion ist.        blick Theater gekommen und seit sieben        ist? „Dass ich Sachen machen kann, ohne
     Dennoch ist ihr die Definition von Inklu-            Jahren dabei. In der Schule war seine         mir komisch dabei vorzukommen.“ „Ich
     sion viel zu eng gefasst. „Es gibt deutlich          Behinderung oft ein Ausschlusskriterium.      kann ein anderer Mensch sein und voll
     mehr Faktoren, die Menschen behindern,
     sich künstlerisch zu betätigen.“ Mitunter
                                                          Heute ist das anders. Der 22-Jährige ist
                                                          durch das Spiel selbstsicherer geworden.
                                                                                                        aus mir heraustreten.“ „Oft passiert etwas
                                                                                                        Unerwartetes, was den Augenblick aus-
                                                                                                                                                      Selber entscheiden, wo, wie und mit wem man leben möchte. Trotz Krankheit
     hänge es davon ab, aus welchem Stadt-                Er schätzt den Humor der Gruppe und,          macht.“ Etwa so, als er­weckte man einen      oder Behinderung nicht getrennt zu wohnen. Sondern mittendrin. Drei Beispiele
     teil oder Elternhaus Kinder und Jugend-
     liche kommen. Birgit Thomas übersetzt
                                                          dass es hier kein „Schubladendenken“
                                                          gibt. „Beim Theaterspielen lernt man
                                                                                                        tot geglaubten Raum zum Leben.
                                                                                                                                                      dafür, wie es aussehen kann, das inklusive Leben.
     Inklusion deshalb lieber mit „Teilhabege-            immer wieder spannende Menschen in
                                                                                                                                                                                                           Protokolle | Iris Hobler, Simone Richter
     rechtigkeit“, und zwar eine, die sich ein-           anderen Lebenssituationen kennen, mit         www.augenblick-
     deutig nicht nur auf Behinderung oder                denen man sonst nie in Kontakt käme“,         theater-mannheim.de
INKLUSION: ES IS T NORMAL, VER SCHIEDEN ZU SEIN - BADEN ...
14      Perspektive 01/2014 | Dossier                                                                                                                                                                                                                 Dossier | Perspektive 01/2014           15

                                                                                                  „Meine Kinder lernen                             jeder Familie. Dann hilft es mir, mit mei-

                                                                                                   Respekt vor dem Alter“                          ner Ansprechpartnerin beim Verein zur
                                                                                                                                                   Förderung einer sozialen Psychiatrie in
                                                                                                  Claudia Lackhoff, 59, hat Anna*, 77,             Tübingen zu reden.
                                                                                                  in ihre Familie aufgenommen.
                                                                                                                                                   Ich erinnere mich noch gut an den Moment,
                                                                                                  „Bevor Anna vor anderthalb Jahren zu uns
                                                                                                                                                   als Anna mich umarmte, mir einen Kuss
                                                                                                  gekommen ist, war sie kurze Zeit in einem
                                                                                                                                                   auf die Wange gab und „Traudele“ zu mir
                                                                                                  Altenheim. Das war überhaupt nichts für
                                                                                                                                                   sagte. Das ist der Name ihrer allerbesten
                                                                                                  sie: die Regeln, der Eingriff ins Private. Wer
                                                                                                                                                   Freundin aus Kindertagen. Seither nennt
                                                                                                  von uns lässt sich gerne sagen, was er
                                                                                                                                                   sie mich so, und ich bin ein bisschen stolz
                                                                                                  anziehen soll? In unserer Familie hat sich
                                                                                                                                                   darauf. Wir alle möchten, dass Anna bei
                                                                                                  Anna sofort wohl gefühlt – und wir uns
                                                                                                                                                   uns bleibt. Bis zum letzten Schnapper, wie
                                                                                                  mit ihr. Wir gehen zusammen einkaufen
                                                                                                                                                   man hier sagt.“
                                                                                                  oder Eis essen, Anna hilft mir beim Kar-
                                                                                                  toffelschälen, bei schönem Wetter sitzen
                                                                                                                                                   * Name von der Redaktion geändert.
                                                                                                  wir auf dem Bänkle und schwätzen.

                                                                                                  Ich habe gerne Menschen um mich herum,
                                                                                                  ich mag den Trubel. Und ich sehe nicht ein,
                                                                                                  warum es für ältere und psychisch kranke
                                                                                                                                                     Gastfamilien für Senioren
                                                                                                  Menschen keine andere Möglichkeit geben
                                                                                                  soll als ein Heim. Jeder sollte sich fragen,
                                                                                                                                                     Die Baden-Württemberg Stiftung hat das
                                                                                                                                                     Projekt „BÄNKLE“ – Betreutes Wohnen in
                                                                                                                                                                                                  „Es gibt keine Alternative“                   ebenerdig, ich kann die Wege passieren,
                                                                                                  wie er behandelt werden möchte, wenn                                                            Saskia Melches, 32, lebt mit Partner          habe Geschäfte mit den richtigen Zugän-
                                                                                                                                                     Familien für Ältere drei Jahre lang finan-
     „Hier ist immer etwas los“                     Ich finde es gut, wenn mir einer von den      er alt ist und krank. Mein Mann und ich
                                                                                                                                                     ziell unterstützt. Träger ist der Verein     und Hund in Ostfildern.                       gen. Außerdem kenne ich die Menschen
     Daniel Santos, 21, ist Autist und lebt in      anderen beim Einkaufen hilft. Sonst ver-      wissen, dass wir bestimmt nicht in ein                                                                                                        und sie kennen mich.
                                                                                                                                                     zur Förderung einer sozialen Psychiatrie
     einer Wohngemeinschaft in Freiburg.            gesse ich das manchmal und der Kühl-          Heim wollen. Und meine Kinder lernen so            (VSP). Sein Ziel ist es, ein gemeindenahes
                                                                                                                                                                                                  „Im März sind wir umgezogen. Von 55
                                                    schrank ist leer. Streit gibt es nicht, nur   den Respekt vor dem Alter. Unsere Tochter          Wohnangebot in Gastfamilien nicht nur        auf 82 Quadratmeter. Die neue Wohnung         Der Bauträger und der Architekt waren
     „Ich wohne seit einem halben Jahr mit vier     ab und zu sagt einer was, wenn ich abends     Maja malt gemeinsam mit Anna oder spielt           für Senioren, sondern auch für Jugend-       hat Balkon, Terrasse und einen kleinen        aufgeschlossen. Ich habe ja einiges an spe-
     Mädchen, zwei Jungen und zwei Studenten        mein Computerspiel zu laut spiele. Wir        mit ihr Mensch ärgere Dich nicht. Es ist           liche und Erwachsene zu schaffen, die        Garten. Jetzt ist für zwei Menschen,          ziellen Wünschen. Wirklich kompliziert
     in einer Wohngemeinschaft. Wir arbeiten        haben vereinbart, dass der Strom bei mir      schön zu sehen, dass die beiden sich mögen.        psychisch erkrankt sind und nicht allei-     einen Hund, meine beiden Rollis und die       war es mit den Türen. Die Muskeldystro-
     tagsüber oder sind in der Ausbildung oder in   um 23 Uhr abgestellt wird, sonst höre ich                                                        ne wohnen können. Derzeit betreut der        Therapiegeräte endlich mehr Platz. Wir        phie hat meine Arme und Hände stark
     Werkstätten. Wir sind alle ungefähr gleich     gar nicht auf mit Zocken.                     Am Anfang war Anna eher zurückgezogen,             VSP in den Landkreisen Reutlingen und        waren mehr als zwei Jahre lang auf der        eingeschränkt, und ich brauche Türen, die
     alt, und es ist immer etwas los hier. Jeder                                                  ihre Zuckerwerte waren schlecht. Mittler-          Tübingen sowie im Zollernalbkreis 106        Suche. Eigentlich wollten wir eine Woh-       sich elektronisch öffnen lassen. Ich weiß
     hat alles für sich, Küche und Bad, aber wir    Das Aufstehen finde ich schwierig, des-       weile hat sich der Zucker eingependelt, die        Gastfamilien; in sieben „BÄNKLE“-Fami-       nung mieten, aber wir haben gemerkt,          nicht mehr, wie oft ich das erklärt habe.
     haben auch zusammen ein Wohnzimmer             halb weckt mich morgens ein Betreuer,         Besuche beim Arzt sind seltener geworden.          lien leben Seniorinnen und Senioren.         dass das mit der Barrierefreiheit so eine     Und trotzdem war einige Tage vor dem
     und eine Wohnküche. Wir heißen hier im         und ich komme rechtzeitig in die Werk-        Es ist eine schöne Bestätigung für mich                                                         Sache ist. Barrierefrei heißt nicht unbe-     Umzug klar, dass man es bei der Haustüre
     Haus die Vanta Sechs, wie die Musikgruppe      statt. Ich mache eine Ausbildung zum          zu sehen, wie viel besser es Anna heute            www.vsp-net.de                               dingt rollstuhlgerecht. Und regelmäßig        vergessen hatte. Damit wäre ich tagsüber,
     Fanta Vier. Aber mit V, wie in Vaubanaise.     Fahrradmechanikerhelfer. Mit Musikan-         geht. Klar gibt es kleinere Kämpfe, wie in                                                      habe ich von Vermietern gehört, dass          wenn Matthias arbeitet, in der Wohnung
     Wir gehen manchmal bowlen, ins Kino,           lagen und Technik kenne ich mich gut aus.                                                                                                     wir Umbauten beim Auszug wieder               eingesperrt gewesen. Also ist mein Vater
     in die Disco oder wir gucken einen Film        Leider – wenn etwas nicht funktioniert,                                                                                                       rückgängig machen müssen. Also hat            für ein paar Wochen aus dem Ruhrgebiet
     zusammen. Die Mädchen mögen Musicals.          rufen alle immer nach mir.                                                                                                                    mein Lebensgefährte eine Bank gesucht,        zu uns gekommen.
                                                                                                                                                                                                  die uns eine Eigentumswohnung finan-
                                                    Wenn ich mit Hausputz dran bin, mache                                                                                                         ziert. Und gefunden! Was bei einer vollen     Ich habe mir im Laufe dieses Wohnungs-
                                                    ich in der Küche sauber und fege das Trep-                                                                                                    Finanzierung und nur einem Einkommen          projekts viel Wissen angeeignet, mit DIN-
                                                    penhaus. Meine eigenen Sachen räume                                                                                                           nicht so einfach war.                         Normen kenne ich mich jetzt prima aus. Es
                                                    ich immer selbst auf. Oder es erinnert                                                                                                                                                      war aber auch mühsam und hat mich viel
                                                    mich einer von den anderen daran. Vor-                                                                                                        Als ich dann von einem Neubauprojekt          an mentaler Kraft gekostet, die gesamte
                                                    her habe ich zu Hause bei meinen Eltern                                                                                                       in unserem Viertel gehört habe, war ich       Planung und Umsetzung zu begleiten.
                                                    gewohnt. Aber hier ist es viel besser.                                                                                                        sofort begeistert. Hier im Scharnhauser       Trotzdem: Es gibt keine Alternative.
                                                    Hier sagt mir keiner, was ich darf oder                                                                                                       Park in Ostfildern lebt es sich mit einem     Ich möchte so leben wie jeder gesunde
                                                    nicht darf.“                                                                                                                                  Elektrorollstuhl wirklich gut. Es ist alles   Mensch auch.“
INKLUSION: ES IS T NORMAL, VER SCHIEDEN ZU SEIN - BADEN ...
Dossier | Perspektive 01/2014         17

                                                                                                                                                 immer wieder, dass vor allem Repräsentanten     Zeit bis zum neuen Schulgesetz überbrücken       anderzusetzen, in die sie ihr Kind eigentlich
                                                                                                                                                 der Behindertenhilfe hauptamtlich über die      wird. Es ist auf der Basis eines Berichtes aus   gerne geben würden. Denn die kann die
                                                                                                                                                 Inklusion sprechen. Menschen mit Behinde-       Modellregionen entstanden …                      Aufnahme ablehnen. Dieses Freiwilligkeits-
                                                                                                                                                 rungen kommen auf den Podien viel zu selten                                                      prinzip bereitet mir persönlich und vielen
                                                                                                                                                 zu Wort – wenn, dann in ehrenamtlicher          … diese fünf sogenannten Modell­regionen         Eltern sehr großes Unbehagen.
                                                                                                                                                 Funktion. Und nach wie vor sitzen sie kaum      hat die vorherige Regierung eingerichtet …
                                                                                                                                                 an den Stellen, wo Entscheidungen getroffen     Stoch: … um Erkenntnisse darüber zu sammeln,     Stoch: Ich möchte das Verhältnis von drei zu
                                                                                                                                                 werden. „Nichts über uns ohne uns“, das ist     wie ein neues Gesetz auszusehen hat, mit         eins auch ändern – mit der dabei ge­b otenen
                                                                                                                                                 das alte Motto der Behindertenbewegung,         dem Inklusion umgesetzt wird. In diesen          Sorgfalt und gemeinsam mit allen Beteilig-
                                                                                                                                                 von dem wir immer noch weit entfernt sind.      Regionen haben die Schulämter den Auf-           ten. Sie haben die Ressourcen angesprochen:
                                                                                                                                                 Schauen Sie sich Aufsichtsräte von Unterneh-    trag, Kinder inklusiv an Regelschulen zu         Um Qualität zu gewährleisten, ist son-
                                                                                                                                                 men oder Gemeinderäte an: Wie selten sieht      beschulen, wenn die Eltern es wünschen.          derpädagogisches Know-how zentral. Im
                                                                                                                                                 man da einen Menschen mit Behinderung?          Die wichtigste Erkenntnis aus dem Bericht        kommenden Schuljahr werden wir in Baden-
                                                                                                                                                                                                 ist für mich, dass wir die Menschen nicht        Württemberg zusätzliche Sonderpädagogen
                                                                                                                                                 Stoch: Der Begriff der Inklusion ist immer      einfach zwingen, das eine oder andere zu         einstellen. Die Lehrer an den Regelschulen
                                                                                                                                                 noch schwer verständlich. Ich denke, wir        tun. Sondern dass wir mit ihren Ängsten          müssen wir auf die Herausforderung, die
                                                                                                                                                 sollten eher über die Teilhabe am ganz nor-     verantwortungsvoll umgehen.                      inklusiver Unterricht bedeutet, viel besser
                                                                                                                                                 malen Leben sprechen. Über die konkreten                                                         vorbereiten. Das ist ein wesentliches Ziel
                                                                                                                                                 Barrieren im öffentlichen Raum, über die        Was heißt das konkret?                           der Reform der Lehrerausbildung, aber auch
                                                                                                                                                 Schwierigkeiten, geeignete Wohnungen            Stoch: Wir müssen ein Wahlrecht verankern.       von berufsbegleitenden Fortbildungen. Im
                                                                                                                                                 zu finden oder eine passende Arbeitsstelle.     Eltern müssen entscheiden können, ob sie         Überbrückungskonzept empfehlen wir grup-
                                                                                                                                                 Wenn wir Inklusion so übersetzen und mit
                                                                                                                                                 konkreten Beispielen belegen, dann können
                                                                                                                                                 Menschen besser verstehen, dass Teilhabe
                                                                                                                                                 eben nicht selbstverständlich ist.                         „Eltern fürchten, Ihnen werde die
                                                                                                                                                 Wie sieht es mit der Teilhabe an Bildung                    geschützte Sonderschule genommen.“

Ein langer Weg
                                                                                                                                                 aus, die Ihr Thema als Kultusminister ist?                  Esther Grunemann
                                                                                                                                                 Stoch: Inklusion polarisiert stark. Für die
                                                                                                                                                 einen birgt sie ganz viel Hoffnung, andere
                                                                                                                                                 werten sie als Angriff, vor allem auf die
                                                                                                                                                 Sonderpädagogik. Seit ich im Amt bin, ver-      ihr Kind an einer Sonderschule oder einer        penbezogene Lösungen, also mehrere Kinder,
                                                                                                                                                 suche ich immer wieder klarzumachen, dass       Regelschule unterrichten lassen wollen.          die inklusiv beschult werden. Um da gute
Wie weit ist die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung                                                                         Inklusion nicht das Bestehende bedroht,         Und damit das kein scheinbares Wahlrecht         Lösungen zu finden, müssen Eltern, Schul-

vorangekommen? Was wünschen sich Betroffene? Was plant die Politik im Bereich                                                                    sondern dass sie eine Chance ist, die gesamte
                                                                                                                                                 Bildungslandschaft weiterzuentwickeln.
                                                                                                                                                                                                 wird, müssen alle Schulen gleichermaßen
                                                                                                                                                                                                 gut und qualitätsvoll ausgestattet sein. Es
                                                                                                                                                                                                                                                  ämter und Schulen kooperieren.

der Bildung? Wir sprachen im April mit Esther Grunemann, Beauftragte für                                                                                                                         gibt von Behindertenverbänden die Forde-         In Walldorf hat kürzlich die Gesamtlehrer-

Menschen mit Behinderung der Stadt Freiburg, und Andreas Stoch, Kultusminister                                                                   Grunemann: Mich sprechen viele Eltern
                                                                                                                                                 an, deren Kinder auf der Sonderschule sind
                                                                                                                                                                                                 rung, die Sonderschulen qua Gesetz kom-
                                                                                                                                                                                                 plett ab­z uschaffen und die Regelschule zur
                                                                                                                                                                                                                                                  konferenz eines Gymnasiums entschieden,
                                                                                                                                                                                                                                                  einen Jungen mit Downsyndrom nicht
des Landes Baden-Württemberg.                                                                                                                    und die befürchten, ihnen werde dieser          Normalität zu machen. Meiner Auffassung          aufzunehmen, der vier Jahre lang die ganz
                                                                                                                                                 geschützte Bereich genommen. Und eben-          nach würden wir den Ängsten der Eltern           normale Grundschule besucht hatte. Ein
                                                                                                                     Interview | Iris Hobler     so Eltern, die ihr Kind unbedingt inklusiv      nicht gerecht, wenn wir so vorgingen.            Beispiel für misslungene Kooperation?
                                                                                                                                                 beschulen wollen und denen es nicht schnell     Wir wissen aus den Modellregionen, dass          Grunemann: Auf jeden Fall ein Beispiel,
                                                                                                                                                 genug geht. Sie hoffen auf das Schulgesetz,     sich bisher von vier Elternpaaren drei für       das zeigt: Es gibt noch keine Konzepte für
Auf einer Skala von null bis hundert: Wo      Esther Grunemann: Keine leichte Frage. Ganz        gesamten Zug schon reserviert sind. Und         das schon längst hätte kommen sollen. Und       die Sonderschule entscheiden, eins für die       die Inklusion an weiterführenden Schulen.
liegt Baden-Württemberg bei der Umsetzung     spontan bin ich nicht allzu weit weg davon.        auch in meiner Funktion als Behinderten-        sie vermissen Handlungsempfehlungen für         inklusive Beschulung.                            Und ein Beispiel dafür, wie hoch die Wogen
der Inklusion?                                20 bis 25. Inklusion, das ist ja eine Vision und   beauftragte der Stadt Freiburg sehe ich, dass   die Schulen, bis das Gesetz 2015/16 hoffent-                                                     in der Diskussion schlagen können und wie
Andreas Stoch: Ich sage mal, bei 30. Es ist   ein Weg. Als Betroffene erlebe ich allerdings      es noch sehr viel zu tun gibt.                  lich in Kraft tritt.                            Grunemann: Hinter diesen Zahlen stecken ja       sich Haltungen zeigen. Keine Schule kann
schon einiges angestoßen, aber die Haupt-     täglich, wo die Hindernisse der Teilhabe lie-                                                                                                      Motivationen. Vielleicht entscheiden Eltern      sagen: Inklusion geht mich nichts an. In
strecke des Weges liegt noch vor uns, in      gen. Etwa wenn ich eine Fahrkarte für den          Wo drückt es besonders?                         Stoch: Genau solche Empfehlungen umfasst        sich für die Sonderschule, weil diese bessere    einem Schulbezirk muss mindestens eine
Baden-Württemberg ebenso wie in allen         ICE von Freiburg nach Stuttgart buchen             Grunemann: Ich bin auf vielen Veranstaltun-     das Konzept, das voraussichtlich in den kom-    Ressourcen hat. Oder weil sie es sich nicht      Realschule oder ein Gymnasium bereit sein,
anderen Ländern und auf Bundesebene.          möchte und die zwei Plätze für Rollis im           gen und Tagungen. Und ich wundere mich          menden Wochen ins Kabinett geht und die         zutrauen, sich mit der Regelschule ausein-       Behinderte aufzunehmen.
INKLUSION: ES IS T NORMAL, VER SCHIEDEN ZU SEIN - BADEN ...
18   Perspektive 01/2014 | Dossier
                                                                                                                                                                                                                                                                                kolumne

                                                                                                                                                                                                        Bitte nicht fesseln!
                                                                                                       Inklusion scheitern zu lassen, wäre es, die    Kinder mit und ohne Behinderung
                                                                                                       Regelschulen dafür nicht gut auszustatten.     gemeinsam unterrichten?
                                                                                                                                                      Grunemann: Inklusiver Unterricht bricht mit
                                                                                                       Grunemann: Mich interessiert, wie Sie diese    dem Verständnis des Lehrers als Einzelkämp-
                                                                                                       Investitionen bei rückläufigen Schülerzahlen   fer. Er wird zusammen mit dem Sonderpäda-         Man sagt ja so gerne: „Kindermund tut Wahrheit kund“, und das liebe Bild stimmt
                                                                                                       realisieren wollen? Denn mit denen wird        gogen und der Assistenz, die viele Kinder mit     auch oft. Fast täglich darf ich das auf der Straße erfahren. Denn dadurch, dass ich
                                                                                                       ja gerade die Streichung von Lehrerstellen     Behinderung benötigen, ein Team. Gemein-          im Rollstuhl sitze und einen Meter groß bin, aber trotzdem einen Bart trage, werde
                                                                                                       begründet. Das ist ein Widerspruch.            sam haben sie die Verantwortung fürs Ganze.       ich von Kindern gerne mal als „Mini-Mann“ bezeichnet. Diese Assoziationskette
                                                                                                                                                      Das ist ein gründlicher Wandel der Haltung.       finde ich bei Kindern ganz witzig und muss öfters darüber schmunzeln. Aber das
                                                                                                       Stoch: Weniger Schüler bedeuten lediglich      Weniger zu separieren, mehr zu kooperieren …      Lächeln vergeht mir, wenn ich ähnliche Assoziationen in medialen Kontexten erlebe.
                                                                                                       in der Theorie weniger Lehrer. Wir sind noch
                                                                                                       weit entfernt von einem inklusiven Ideal-      Stoch: … wir sind Weltmeister im Separieren       Natürlich werde ich von Erwachsenen nicht als „Mini-Mann“ beschrieben, sondern
                                                                                                       zustand an den Schulen und daher müssen        und haben für fast alles eine Schublade …         werde in der Berichterstattung zu einer Art Held, der „trotz seiner Behinderung die
                                                                                                       wir investieren. Wir stellen zurzeit den                                                         ganzen Projekte erfunden hat“. Und das, obwohl ich an „Glasknochen leide“ oder
     Für Esther Grunemann dürfte die Inklusion in Baden-Württemberg deutlich mehr Fahrt aufnehmen.     Landeshaushalt 2015/16 auf und da mache        Grunemann: … und diese Schubladen sind            an den „Rollstuhl gefesselt“ bin. Der eine oder andere Leser wird jetzt vielleicht den
                                                                                                       ich sehr deutlich, dass wir ohne zusätzliche   wenig durchlässig. Das Sondersystem ist in        Kopf schütteln, aber glauben Sie mir (oder googeln Sie) – es stimmt!
     Stoch: Der Unterricht in Gymnasien ist           Lassen Sie uns noch einen Blick auf die          Mittel mit der Inklusion nicht weit kommen     Baden-Württemberg sehr etabliert. Wohl-
     zielgleich angelegt, wie es im Fachjargon        finanziellen Ressourcen werfen. Baden-           werden, auch nicht bei anderen wichtigen       fahrtsverbände und kirchliche Träger haben        Menschen mit Behinderungen werden in Medien gerne zu einem Helden oder Opfer
     heißt, also mit der Ausrichtung auf einen        Württemberg will seinen Landeshaushalt           schulischen Anliegen wie dem Ausbau von        die separierenden Systeme mit gut laufen-         stilisiert und dabei ist das eigentlich nie böse gemeint. Es fehlen oft die Erfahrungen
     Schulabschluss, das Abitur. Das ist anders       bis 2020 schuldenfrei gestalten. Inklusion       Ganztagsangeboten. Klar ist jedoch auch,       den Einrichtungen etabliert und da etwas zu       im Umgang mit Menschen mit Behinderungen, weil man selbst vielleicht wenig
     in den Gemeinschaftsschulen, von denen           hingegen bedeutet Investition, oder?             dass die Einnahmequellen beim Bund liegen.     ändern, geht sehr langsam. Ich frage mich,        bis gar keinen Kontakt zu Rollstuhlfahrern, Menschen mit Sehbeeinträchtigungen
     wir momentan 129 in Baden-Württemberg                                                                                                            warum wir generell Vielfalt so schnell als        und Lernschwierigkeiten oder Schwerhörigen hat. In vielen Fällen hat das mit einem
     haben. Da ist der Unterricht zieldifferent –                                                                                                     Bedrohung wahrnehmen? Das zeigt ja die Dis-       exklusiven Schul- und Arbeitssystem zu tun, das noch aus einer anderen politischen
     also direkt auf mehrere Abschlüsse aus-                                                                                                          kussion über die gleichgeschlechtliche Liebe.     Zeit stammt, die ich gerne als die „Ära der Fürsorge“ bezeichne.
     gerichtet. Aber natürlich ist Inklusion die
                                                                 „Inklusion kann nie ein Sparmodell sein.“                                            Ich wünsche mir, dass Menschen Vielfalt als
     Aufgabe aller Schularten, nicht nur der                                                                                                          Bereicherung erleben. Das müssen Lehrpläne        Wenn man mit dem (medialen) Bild eines „sorgenvollen, leidenden Behinderten“
     Gemeinschaftsschulen. Das Kultusminis-                       Andreas Stoch                                                                       abbilden, das müssen Lehrer verkörpern.           aufwächst, dann ist es schwer, sich vorzustellen, dass die Menschen mehr als
     terium hat sich in die Debatte in Walldorf                                                                                                                                                         diese Eigenschaft besitzen und sehr gerne am gesellschaftlichen, schulischen und
     eingeklinkt, um mit allen Beteiligten eine                                                                                                       Stoch: Da sind wir ganz generell bei der Frage:   Arbeitsleben teilhaben wollen. Wenn mich Journalisten fragen, wie sie denn nun
     tragfähige Lösung zu finden. Aber unabhän-                                                                                                       Wie gehen wir mit Fremdem um? Kann                „richtig“ über Menschen mit Behinderungen schreiben können, dann frage ich oft
     gig von diesem konkreten Fall ist es eine ganz   Stoch: Definitiv. Inklusion kann nie ein Spar-   In den Ländern haben wir kaum entspre-         unsere Gesellschaft es sich leisten, auf das      zurück: „Würden Sie bei Angela Merkel schreiben: ‚Trotz ihrer Frisur ist Angela Merkel
     wichtige gesellschaftliche Diskussion, die       modell sein. Auf diese Idee könnte man ja        chende Stellschrauben.                         Unbekannte abweisend zu reagieren? Ich            Bundeskanzlerin‘?“ Natürlich nicht. Ich wünsche mir, dass Journalisten häufiger
     dort stattfindet. Die mir auch zeigt: Men-       kommen: Kinder mit besonderem Bedarf las-                                                       habe in den vergangenen Monaten viele             solche Fragen stellen. Denn in Medien und Politik wird sehr oft über Menschen
     schen sind nicht unbedingt bereit, Ideale        sen sich in Regelschulen günstiger beschulen.    Frau Grunemann, Sie sind selbst Lehrerin.      inklusive Einrichtungen im vorschulischen         mit Behinderungen, aber nicht mit ihnen gesprochen – und vielleicht würden sich
     auch zu realisieren.                             Das ist völlig falsch. Und der sicherste Weg,    Was kommt auf die Pädagogen zu, die            Bereich besucht. Da erlebe ich besonders          dadurch schon viele Fragen klären und Unsicherheiten auflösen.
                                                                                                                                                      eindrucksvoll, dass Teilhabe eine Bereiche-
                                                                                                                                                      rung für alle ist. Egal, was den Unterschied      Diesen Dialog möchte ich wie viele andere Menschen mit Behinderungen gerne
       Neues Terrain betreten                                                                                                                         ausmacht: Behinderung, Migration, religiöse       suchen. Es gibt Behinderungen. Aber die warten am Eingang eines Cafés, das ich
                                                                                                                                                      Überzeugung oder das Lebensmodell. Das ist        wegen einer Stufe nicht betreten kann. Und daran möchte ich arbeiten: Barrieren
       Wie können ältere Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung ihren Ruhestand möglichst selbstbestimmt gestalten?                     es, was wir Kindern als Teil unserer Norma-       abbauen, Inklusion fördern und einen gefesselten Rollstuhlfahrer am besten
       Das war die Ausgangsfrage eines Programms der Baden-Württemberg Stiftung, auf die in 13 Modellprojekten drei Jahre lang unter-                 lität mitgeben sollten.                           losbinden. Manchmal kann die Lösung von Problemen ganz kindlich naiv sein.
       schiedliche Antworten entwickelt wurden. Jetzt liegt die Evaluation vor, die ein Team der Westfälischen Wilhelms-Universität
       Münster unter Federführung von Professor Helmut Mair durchgeführt hat. „Wir betreten mit unserer Untersuchung neues Terrain“,                  Grunemann: Gleichzeitig darf das Ideal von
       sagt Helmut Mair, „denn in der Geschichte der deutschen Behindertenhilfe erreicht erstmals ein größerer Teil der älteren Generation            Vielfalt nicht zur Gleichmacherei führen. Ja,
       das Ruhestandsalter. Und damit stellen sich völlig neue Herausforderungen.“ Die Wissenschaftler haben vier Orientierungspunkte                 Inklusion ist ein Anspruch an und für alle –        Raúl Aguayo-Krauthausen
       dafür erarbeitet, wie ältere Menschen mit Behinderung an gesellschaftlichen Prozessen beteiligt bleiben und ihr Leben selbstständig            und dennoch braucht es für die Belange von          ist in Lima geboren und in Berlin aufgewachsen. Er ist Autor,
       gestalten können. Einer davon ist die grundsätzliche Öffnung der Einrichtungen der Behindertenhilfe. Helmut Mair: „Diese Einrich-              Menschen mit Behinderung starke Vertrete-           Aktivist und unter anderem Mitgründer des Vereins SOZIAL-
       tungen müssen sich selbst in unterschiedliche soziale Szenen vor Ort inkludieren.“ Die Ergebnisse der Evaluation liegen ab Juli 2014           rinnen und Vertreter. Und uns geht es halt          HELDEN und der Plattform wheelmap.org. Für seinen Taten-
       auf der Website der Stiftung im Bereich Publikationen, Gesellschaft und Kultur zum Download bereit.                                            nicht schnell genug.                                drang erhielt der 33-Jährige 2013 das Bundesverdienstkreuz
                                                                                                                                                                                                          am Bande; 2014 erschien die Autobiografie „Dachdecker wollte
       www.bwstiftung.de/publikationen                                                                                                                Frau Grunemann, Herr Stoch, vielen Dank             ich eh nicht werden“.
                                                                                                                                                      für das Gespräch.
Forschung                                                                                                                     Forschung | Perspektive 01/2014     21

                                               Phosphor aus
                                               dem Klärbecken
                                               Abwasser enthält begehrte Stoffe, zum Beispiel Phosphor, das
                                               für Düngemittel gebraucht wird. Wissenschaftler der Universität
                                               Stuttgart haben ein Verfahren entwickelt, MIT DEM das begehrte
                                               Element aus dem Abwasser RECYCELT WERDEN KANN.

                                               I
                                                  st die Wurst bio, welche Vitamine enthält der Fruchtsaft? Was
                                                  wir zu uns nehmen, überlegen wir uns genau. Was von der
                                                  verdauten Nahrung übrig bleibt und was die Klospülung in die
                                                  Kanalisation befördert, interessiert uns dagegen überhaupt
                                                  nicht. Aus den Augen, aus dem Sinn. Dabei stecken darin jede
                                               Menge interessanter Stoffe. „Was wir früher als Abfall bezeichnet
                                               haben, betrachten wir heute zunehmend als Wertstoff“, sagt
                                               Carsten Meyer, Abteilungsleiter am Institut für Siedlungswasser-
                                               bau, Wassergüte- und Abfallwirtschaft der Universität Stuttgart.
                                               Das ISWA betreibt im Stuttgarter Stadtteil Büsnau das größte
                                               Forschungsklärwerk Europas. Dort untersuchen Ingenieure und
                                               Naturwissenschaftler, wie man Abwasser reinigt und neuerdings
                                               auch, wie man daraus wertvolle Stoffe recyceln kann.

                                               Besonders ein Element hat das Interesse der Forscher geweckt:
                                               Phosphor. Es ist in jedem Düngemittel enthalten und steckt des-
                                               halb auch in vielen pflanzlichen Nahrungsmitteln – und damit
                                               folglich auch in dem, was wir ausscheiden. Weil Phosphor im
                                               Dünger nicht zu ersetzen ist und die Lagerstätten des Minerals –
                                               vor allem in Marokko und in der Westsahara – endlich sind, über-
                                               legen die ISWA-Experten, wie sie den Phosphor aus dem Abwasser      Magnetische Abtrennung der Kompositpartikel.
                                               zurückgewinnen und den Kreislauf zur Landwirtschaft schließen
            Chemiker des Fraunhofer ISC
                                               können. Das hat man früher schon versucht. Damals haben Land-
            designen im Labor Nanopartikel,
            die gleichzeitig magnetisch sind   wirte Klärschlamm aus den Kläranlagen zum Düngen verwendet.
            und Phosphat anziehen.             So verteilten sie den Phosphor erneut auf ihren Feldern, leider
                                               aber auch große Mengen von Schwermetallen und organischen
                                               Stoffen, die im Nahrungskreislauf nichts zu suchen haben. Einige
                                               Bundesländer – darunter auch Baden-Württemberg – haben des-
                                               halb den Einsatz von Klärschlamm zur Düngung stark einge-
                                               schränkt. Er wird heute überwiegend verbrannt.
22   Perspektive 01/2014 | Forschung                                                                                                                                                                                                                                          Forschung | Perspektive 01/2014        23

     Magnet fängt Phosphat                                                                  Becken im Klärwerk ist? Und wie muss der Magnet beschaffen
     Wissenschaftler vom Fraunhofer-Institut für Silicatforschung                           sein, damit er die Partikel möglichst schnell wieder einfängt?
     in Bronnbach haben ein Verfahren entwickelt, das Phosphor als                          Ungeklärt ist auch, wie man den Phosphor aus der Waschlösung
     reines Phosphat aus dem Abwasser holt. Das kann zu Dünger                              holt. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten, wobei die momentan

                                                                                                                                                                Moleküle im spiel
     weiterverarbeitet werden. Carsten Meyer vom ISWA demons-                               eingesetzte Variante mit konzentrierter Natronlauge nicht
     triert das Prinzip im Labor: Er füllt einen Glaszylinder mit                           besonders umweltfreundlich ist. Eine Alternative wäre, dass
     Abwasser, mischt ein graues Pulver hinein und mixt alles durch                         man den Phosphor gebunden in einem Salz, etwa als Magnesium-
     Schütteln. Dabei heftet sich Phosphat aus dem Abwasser an das                          Ammonium-Phosphat, gewinnt, das direkt als Dünger verwertbar
     Pulver. Meyer hält einen Magneten außen an das Glas und sofort                         ist und von Pflanzen gut aufgenommen wird. Im Moment laufen
     ballt sich innen das Pulver in der Flüssigkeit unter der Magnet-                       Planungen, diese Fragen in einem Folgeprojekt aufzugreifen.
     kraft zusammen. Er gießt das Abwasser ab und wäscht das Pulver                                                                                             Das Altern aufhalten kann man (noch) nicht – aber vielleicht die eine oder andere
     in konzentrierter Natronlauge für den nächsten Einsatz. In der                         Wird sich der ganze Aufwand jemals lohnen? „Abwasser­
     Natron­lauge bleibt Phosphat zurück.                                                   reinigung lohnt sich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten
                                                                                                                                                                Alterskrankheit vermeiden. Dr. Sonja Schätzlein, Biologin am Leibniz-Institut
                                                                                            nie“, lautet Carsten Meyers verblüffende Antwort. Die Frage sei     für Altersforschung in Jena, über den aktuellen Stand ihrer Forschung.
     Das graue Pulver verdankt seine Existenz der Förderung durch                           viel mehr, was uns saubere Felder und Seen Wert seien. Eine
     die Baden-Württemberg Stiftung. Diese engagiert sich seit Jahren                       Antwort, die auch Betriebswirte zufriedenstellt, sucht das
     im Bereich der Umwelttechnologieforschung und finanziert Pro-                          Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement          Frau Dr. Schätzlein, Sie und Ihre Kollegen wollen das                                      Programms Adulte Stammzellen II unsere Forschungs-
     jekte, die einen signifikanten Beitrag zum Klima- und Ressourcen-                      der Universität Stuttgart. Das IAT hat potenzielle Nutzer des       Molekül „p21“ nutzen, um ein Medikament gegen                                              arbeiten, die von Professor Lenhard Rudolph geleitet
     schutz leisten. Die einzelnen Partikel des Pulvers sind kleiner als                    recycelten Phosphors befragt. Demnach besteht in der Dünge-         Arthrose zu entwickeln. Was verbirgt sich hinter dem                                       werden. Insgesamt fließen in das fünfjährige Vorhaben
     20 Nanometer (20 millionstel Millimeter) und mit dem bloßen                            mittelindustrie großes Interesse, aus der Lebensmittelindustrie,    geheimnisvollen Kürzel?                                                                    etwa 838 950 Euro.
     Auge nicht zu sehen. Innen bestehen sie aus einem Gemisch aus                          die Phosphor ebenfalls einsetzt, kam ein klares Nein. Lebens-       Sonja Schätzlein: Das ist wenig geheimnisvoll und
     Silizium- und Eisenoxiden, das von einem Magneten angezogen                            mittelzusätze aus Fäkalien, das lasse sich den Kunden nicht         schnell erklärt. Der Buchstabe steht für Protein und                                       Wie ließe sich so ein p21-Hemmstoff künftig medi-
     wird. Auf ihrer Hülle tragen sie einen Überzug, der Phosphor                           vermitteln, obwohl es chemisch gesehen egal ist, aus welcher        die Zahl für 21 Kilodalton – so schwer ist das Molekül.                                    zinisch nutzen?
     einfängt. „Das kann man sich wie ein Rosinenbrötchen mit                               Quelle der Phosphor stammt.                                                                                                                                    Ein Beispiel ist der Verschleiß der Gelenke, der häufig
     Zuckerglasur vorstellen“, beschreibt Meyer. Die „Glasur“ ist gerade                                                                                        Warum ist es für Sie und das Team so interessant?                                          im Alter vorkommt. Unsere Hoffnung ist, die Arthro-
     so beschaffen, dass Phosphatmoleküle dort hängen bleiben. Mit                           Keine Lösung für Versorgungsengpässe                               Es findet sich in alternden menschlichen Zellen in                                         se aufhalten zu können. Ein weiteres Beispiel ist die
     einer anderen Glasur könnte man auch andere Stoffe aus dem                              Ein vollständig geschlossener Phosphorkreislauf ist ohnehin eine   vielen unterschiedlichen Organen, etwa der Haut, der      Dr. Sonja Schätzlein, Leibniz-   Wundheilung. Im Alter funktioniert sie weniger gut
     Abwasser fischen, zum Beispiel Kupfer oder seltene Metalle wie                          Illusion. Jeder Mensch scheidet pro Tag 1,8 Gramm Phosphor aus,    Muskulatur, der Leber oder des Darms. Allen diesen        Institut für Altersforschung.    und p21 hat daran vermutlich einen gehörigen Anteil.
     Neodym oder Lithium, die unter anderem in Abwässern der                                 insgesamt 62 000 Tonnen fließen jedes Jahr durch die deutschen     Zellen ist gemeinsam, dass sie sich im Organismus                                          Wenn es gelänge, das Molekül gezielt auszuschalten,
     Mikrochipindustrie vorkommen.                                                           Kläranlagen, etwa 40 000 Tonnen davon würden sich theoretisch      naturgemäß häufig teilen beziehungsweise ihre Regenerationsfä-               könnte auch die Wundheilungskraft der Haut verbessert werden.
                                                                                             mit den Nanopartikeln herausfischen lassen. Die Düngemittel-       higkeit ein Leben lang beibehalten. Wenn sich die Zellen nicht mehr
     Klärbecken statt Reagenzglas                                                            industrie benötigt 180 000 Tonnen pro Jahr. Das ISWA-Verfahren     teilen, vermindert sich die Regenerationskraft, und die betroffenen          Können Sie beschreiben, auf welche Weise Arthrose aufgehalten
     Die erste Projektphase ging 2013 zu Ende. Doch viele Fragen sind                        würde also einen merklichen Anteil zur Rohstoffversorgung          Gewebe oder Organe altern. Dafür ist p21 mitverantwortlich. Wo es            werden kann?
     noch offen: Wie mischt man die Nanopartikel mit dem Abwasser,                           beisteuern – eine endgültige Lösung für Versorgungsengpässe        auftaucht, stoppt die Zellteilung.                                           Das Knorpelgewebe in den Gelenken wird von vergleichsweise
     wenn der Behälter nicht nur ein Reagenzglas, sondern ein großes                         der Zukunft ist es aber nicht.                                                                                                                  wenigen Zellen gebildet. Sie produzieren eine umfangreiche prote-
                                                                                                                                                                Das heißt, Gewebe und Organe erhalten ihre Jugendfrische zurück,             inreiche Stützsubstanz. Wenn die Knorpelzellen altern, vermindert
                                                                                                                                                                sobald man das Molekül ausschaltet?                                          sich diese Substanz. Die Gleitfunktion des Knorpels im Gelenk wird
                                                                                                                                                                Ja, so könnte man das sagen. Wir denken, dass die Hemmung von                dadurch zunehmend beeinträchtigt. Im schlimmsten Fall reibt
                                                                                                                                                                p21 ein vielversprechender Ansatz ist, um eine molekulare Regene-            Knochen an Knochen. Die Betroffenen haben starke Schmerzen
                                                                                                                                                                rationstherapie zu entwickeln.                                               und letztlich bleibt nur noch der operative Gelenkersatz. Die Idee
                                                                                                                                                                                                                                             ist, p21 in alternden Knorpelzellen medikamentös auszuschalten
                                                                                                                                                                Und was brauchen Sie für eine derartige Verjüngungstherapie?                 und den zerstörerischen Prozess aufzuhalten. Das Gelenk bliebe
                                                                                                                                                                Chemische Moleküle, die in der Zelle gezielt die Aktivierung von             länger funktionsfähig und so manche Operation ließe sich ver-
                                                                                                                                                                p21 unterbinden. Wir sprechen dabei von Inhibition, was so viel              meiden oder hinauszögern.
                                                                                                                                                                wie Hemmung bedeutet, und nennen unsere Substanzen deshalb
                                                                                                                                                                p21-Inhibitoren.                                                             Wie ist der derzeitige Stand der Dinge?
                                                                                                                                                                                                                                             Wir sind gerade dabei, unsere Entwicklungssubstanz zu optimieren.
                                                                                                                                                                Sie haben also bereits welche entdeckt?                                      Intensiv arbeiten wir auch daran, den molekularen Wirkmecha-
                                                                                                                                                                Ja, es ist uns gelungen, mehrere chemische Substanzen zu iden-               nismus aufzuklären. Aus den bisherigen Untersuchungen wissen
                                                                                                                                                                tifizieren. Wir testen sie gerade in unserem Labor in Jena. Die              wir, dass unser p21-Hemmstoff grundsätzlich die erwünschten
                                                                                                                                                                Baden-Württemberg Stiftung hält ein Patent auf diese Gruppe von              Effekte zeigt. Jetzt gilt es, im Detail zu verstehen, in welcher Art
     Klärwerk als Bergwerk: Zigtausende Tonnen wertvoller Rohstoffe fließen ungenutzt durch die Klärbecken. Ein neue Technologie kann diesen Schatz heben.      Substanzen. Seit Juli 2010 unterstützt die Stiftung im Rahmen des            und Weise er das tut.
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