INKLUSION: ES IS T NORMAL, VER SCHIEDEN ZU SEIN - BADEN ...
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Das Magazin Baden-Württemberg 01|2014 Inklusion: Es ist normal, verschieden zu sein Moleküle im Spiel: Dr. Schätzlein entwickelt ein Medikament gegen Alterskrankheiten Von Bällen und Büchern: kicken & lesen will Jungs fürs Lesen begeistern EMIL tut Kindern gut: Ein Projekt fördert die innere Ruhe
02 Perspektive 01/2014 | impressum editorial | Perspektive 01/2014 03 Inklusion Liebe Leserinnen und Leser, gleichberechtigung in der Soziologie steht Inklusion für das Miteinbezogensein; in der Pädagogik für eine gemeinsame Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder in Kinder Offenheit Wertschätzung gärten und Schulen. Doch ist die gleichberechtigte Teilhabe an etwas, also die Miteinander Inklusion, tatsächlich gleichberechtigt? Wie ist es für einen erwachsenen Mann, klein zu sein? Für einen jungen Mann, schwache Muskeln zu haben? Wie fühlt sich ein Mensch mit Handicap, wenn man ihn als behindert bezeichnet? Und was muss getan werden, um von einer erfolgreichen Inklusion zu sprechen? Die Baden-Württemberg Stiftung setzt sich mit ihren Unterschiedlichkeit Programmen gezielt für ein Gelingen von Inklusion ein. Gelungen ist Inklusion erst dann, wenn man davon Zusammenhalt nicht mehr sprechen muss, sondern eine gleichberech- tigte Teilhabe aller selbstverständlich ist. Welche Her- ausforderungen aber noch auf uns warten, wie Inklusion Teilhabe Vielfalt im Kleinen und Großen funktionieren kann, was die Politik tut – all das haben wir im Dossier „Inklusion: haltung Es ist normal, verschieden zu sein“ in dieser Ausgabe (ab Seite 07) für Sie zusammengetragen. Ob in einer Schule für alle (Seite 08), als Gäste bei der Toleranz Probe des Mannheimer Jugendtheaters „Augenblick“ un-konvention Stärke (Seite 11) oder im Gespräch mit Kultusminister Andreas Stoch und Esther Grunemann (Seite 16) – unser Dossier zeigt, wo wir im Land beim Thema Christoph Dahl, Geschäftsführer Baden-Württemberg Stiftung Inklusion stehen. Menschenrecht respekt Für die Baden-Württemberg Stiftung hat das Thema Inklusion einen festen Platz, wenn es um die Realisierung von Projekten und Programmen geht. So setzt sich die Stiftung dafür ein, engagierte Menschen mit und ohne Behinde- rung als Inklusionsbegleiter oder Inklusionslotsen (Seite 34) zu gewinnen und entsprechend zu qualifizieren. Diese sollen befähigt werden, vor Ort gemeinsam mit Betroffenen und Angehörigen nach Möglichkeiten einer selbstbestimmten Gestaltung des Lebens zu suchen sowie soziale Netzwerke im örtlichen Gemein- wesen aufzubauen. Soziale Verantwortung ist eine wichtige Säule unseres Handelns. Darüber impressum hinaus investieren wir in Forschung und Bildung, damit Baden-Württemberg ein zukunftsfähiges Land bleibt. Lesen Sie ab Seite 23, wie ein Team des Leibniz- herausgeberin AUTOREN S. 39: Landesgartenschau Schwäbisch Gmünd 2014 Baden-Württemberg Stiftung gGmbH Claudia Eberhardt-Metzger, Anette Frisch, Iris Hobler, GmbH und gourmetreise.com/Wolfgang Hummer Instituts für Altersforschung in Jena einen Inhibitor des Knorpelabbaus testet Kriegsbergstraße 42 Jens Karbe, Raúl Aguayo-Krauthausen, Bernd Müller, oder wie Sarah Moll durch das Baden-Württemberg-STIPENDIUM in Chile 70174 Stuttgart Simone Richter, Baden-Württemberg Stiftung Gestaltungskonzept und Realisation zu einem bemerkenswerten Dokumentarfilm inspiriert wurde (Seite 26). Telefon +49 (0) 711 248476-0 agencyteam Stuttgart GmbH Telefax +49 (0) 711 248476-50 Bildmaterial info@bwstiftung.de © Baden-Württemberg Stiftung, Dr. Sebastian Schulz, Druck Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen. www.bwstiftung.de S. 5 oben: Viola Schütz, S. 13: Barold – Fotolia.com, Druckerei Schefenacker GmbH & Co. KG, Deizisau www.facebook.com/bwstiftung S. 14 Bild oben: OEKOGENO e.G., Bild unten: Privat, S. 14/15: iStock – Yuri Arcurs, S. 19: Esra Rotthoff Hinweis Verantwortlich 2013, S. 20/21: K. Dobberke für Fraunhofer ISC, S. 22: Bei allen Bezeichnungen, die auf Personen bezogen Christoph Dahl, Geschäftsführer Ververidis Vasilis/Shutterstock.com, S. 23: Privat, sind, meint die gewählte Formulierung beide Baden-Württemberg Stiftung S. 24/25: Institut für Strahlwerkzeuge, S. 26–28: Privat, Geschlechter, auch wenn aus Gründen der leichte- Ihr Christoph Dahl S. 29: KD Busch, S. 30: Donauschwäbische Kultur- ren Lesbarkeit nur die männliche Form erwähnt ist. Konzeption und Redaktion stiftung des Landes Baden-Württemb erg, S. 32: Christine Potnar, Henny Radicke, Anton Sendler Alloy/Corbis, S. 34: Privat, S. 38: Rollis für Afrika e.V., © Juni 2014
04 Perspektive 01/2014 | Inhalt Kurz & Knapp Forschung 20 26 junge erfinder gesucht! 16Ein langer Weg Phosphor aus dem Klärbecken Auf der Suche nach Silber Im Team gemeinsam tüfteln, Ideen entwickeln und experimen- tieren. Auch in diesem Jahr sucht die Baden-Württemberg Stiftung Schülerteams für das Programm mikromakro. Es unterstützt Teams aller Schularten ab Klasse 5 aus Baden-Württemberg beim Forschen, Experimentieren und Entwickeln neuer Projekte. Dank finanzieller und fachlicher Unterstützung können Gruppen aus mindestens vier Schülern und einem Erwachsenen für zwei Jahre Dossier forschung bildung ihre Projektideen verwirklichen. Gesucht werden Ideen aus den Inklusion: Es ist normal, Bereichen: Design und Lifestyle, Gesundheit und Soziales, Kleidung verschieden zu sein ................... 07 Phosphor aus dem Klärbecken Auf der Suche nach Silber und Kosmetik, Technik und Naturwissenschaft im Alltag, neue Nanopartikel fischen Wertstoffe .. . . . . . . 20 Regisseurin Sarah Moll in Chile . . . . . . . . . 26 Produkte für Schule und Arbeitswelt, Energie und Umwelt sowie Das starke Klassenzimmer mechanische und elektronische Neuerungen. Bewerbungen sind Die Gebhardschule lebt Inklusion . ..... 08 Moleküle im Spiel Von Bällen und Büchern bis zum 11. November 2014 möglich. Alle Informationen dazu Forschen gegen Arthrose .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Jungs fürs Lesen begeistern .. . . . . . . . . . . . . . 29 gibt es unter mehr als der Moment In diesem Theater spielen alle mit ...... 1 1 Falscher Freund Filmreife Völkerverständigung www.mikromakro-bw.de Kamera zähmt Laser .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Feriencamp als Sprachwerkstatt .. . . . . . . 30 Am liebsten mittendrin Wohnen ohne Barriere ...................... 13 bildung Ein langer Weg Esther Grunemann und die zukunft der hochschule Andreas Stoch im Gespräch ............... 16 Fünf innovative Studiengänge, neun gramms stellte die Baden-Württemberg schaft, Wirtschaft und Hochschulpolitik KOLUMNE Sie große und 21 kleinere Forschungsvor Stiftung Anfang des Jahres die Publika- zu Wort und entw ickeln mögliche Von Raúl Aguayo-Krauthausen .......... 19 Rätseln em haben wurden im Rahmen des Zukunfts tion „Gleichartig – aber anderswertig? Zur Zukunftsszenarien. nser mit bei u piel! sicherungsprogramms für Fachhoch- künftigen Rolle der (Fach-)Hochschulen schulen und Berufsakademien auf den im deutschen Hochschulsystem“ vor. Gewinns 32 38 Weg gebracht. Zum Abschluss des Pro- Darin kommen Vertreter aus Wissen- www.bwstiftung.de/publikationen Seite 39 Gesellschaft & Kultur EMIL tut rollis Kindern gut für afrika schmökern in der sonne Noch bis Oktober 2014 findet der 7. Literatursommer in Baden- gesellschaft & kultur Rubriken Württemberg statt. „Worte sind Taten – Zivilgesellschaftliches Engagement in der Literatur“ ist das Motto der diesjährigen EMIL tut Kindern gut IMPRESSUM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 02 Veranstaltungsreihe. Bei insgesamt 160 Veranstaltungen soll Emotionen regulieren lernen ............. 32 hervorgehoben werden, welche Relevanz literarische Werke für EDITORIAL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 03 politische oder gesellschaftliche Veränderungen und Entwick- Mitmacher und Mutmacher gesucht lungen haben. In 90 weiteren Veranstaltungen widmet sich der Inklusiv handeln kann jeder .............. 34 kurz & knapp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 05 Perspektive im Web: Kinder- und Jugendliteratursommer in Anlehnung an das 25-jährige Jubiläum der UN-Kinderrechtskonvention dem Thema Papa ist weit weg arbeiten VERBORGENE TALENTE .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 „Starke Kinder – Freie Menschen“. Weitere Informationen finden Einmalig: Eltern-Kind-Projekt Chance . . 36 www.perspektive-bw.de Sie unter GEWINNSPIEL .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 www.literatursommer.de
Kurz & Knapp Inklusion Forschung Ich mach was mit MINT Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik sind von Männern dominierte Bereiche. Noch. Denn immer mehr Frauen interessieren sich für die sogenannten MINT-Berufe. Einige von ihnen stellt die Baden-Württemberg Stiftung in ihrer Pub- likation „Ich mach was mit MINT“ vor. Auf 80 Seiten gibt es Inte- ressantes über Studienmöglichkeiten im MINT-Bereich oder aber Porträts erfolgreicher Wissenschaftlerinnen. Und Unentschlossene Inklusion bedeutet, dass eine Gesellschaft niemanden aufgrund können ihren MINT-Typ in einem Test herausfinden. Das Magazin „Ich mach was mit MINT“ ist kostenlos erhältlich unter seines A ndersseins ausgrenzt. „Anders“ bezieht sich nicht nur auf eine geistige oder körperliche Einschränkung, sondern auch auf www.bwstiftung.de Hautfarbe, Religion oder Lebensanschauung. In einer inklusiven Gesellschaft hat jeder Mensch die gleichen Rechte und ist voll Gesellschaft & Kultur Bildung wertiges Mitglied. Verschiedenheit ist ganz einfach normal. gesund und ausgezeichnet vielfalt Seit 2006 verwandeln sich in Baden- Dieses Engagement ist jetzt mit dem ersten der kulturen Württemberg regelmäßig Kindergärten „B. Braun Preis für Soziale Innovationen“ in Piratenschiffe. Denn dann sind die ausgezeichnet worden. Ebenfalls aus Inselpiraten Finn und Fine zu Besuch. Sie gezeichnet wurde das Singener Projekt bringen den Kindern spielerisch gesunde „Skipsy“, das sich an Kinder psychisch kran- Ernährung und die Bedeutung ausreichen- ker Eltern wendet und zwischen 2009 und der Bewegung nahe. Seit 2009 sind auch 2012 von der Stiftung Kinderland Baden- Grundschulen mit im gesunden Boot. Ziel Württemberg finanziert wurde. des Programms ist die Gesundheitsförde- das starke mehr als am liebsten ein langer weg kolumne von rung der Kinder in Baden-Württemberg. www.gesunde-kinder-bw.de klassenzimmer der moment mittendrin RaÚl AGUAYO- Krauthausen ........................... 08 ........................... 1 1 ........................... 13 ........................... 16 ........................... 19 Gesellschaft & Kultur Kulturakademie ist Bildungsidee 2014 Vom 4. bis 13. Juli 2014 findet das 9. Inter- nationale Donaufest in Ulm statt. Auch die Baden-Württemberg Stiftung wird Kreative, talentierte Schülerinnen und 52 Initiativen aus, die sich in herausragen- vom 9. bis 10. Juli auf dem Donaufest prä- Schüler, die in den Bereichen Kunst, Lite- der Weise für mehr Bildung von Kindern sent sein. Die zweitägige Veranstaltung ratur, Musik oder MINT besondere Fähig und Jugendlichen starkmachen. dient dazu, Bilanz der bisherigen Projekt- keiten haben, können seit 2010 in der aktivitäten im Donauraum zu ziehen, Kulturakademie ihre Begabungen ent- Ziel des Wettbewerbs ist es, die Vorreiter neue Ideen für weitere Projekte in den falten. Im März wurde das Programm der einer gesellschaftlichen Bewegung für Bereichen Bildung, Kultur und Zivilgesell- Stiftung Kinderland dafür als Bildungs- mehr Bildung sichtbar zu machen und schaft zu entwickeln und den Akteuren idee 2014 im Wettbewerb „Ideen für die andere zum Nachahmen zu ermutigen. In eine Plattform für weitere Vernetzung zu Bildungsrepublik“ ausgezeichnet. An die- der Kulturakademie werden genau diese bieten. Mehr Informationen zum interna- sem Wettbewerb haben bundesweit rund Anforderungen erfolgreich erfüllt. tionalen Donaufest finden Sie unter 1 000 Projekte teilgenommen. Eine unab- hängige Expertenjury wählte insgesamt www.kulturakademie-bw.de www.donaufest.de
Dossier | Perspektive 01/2014 09 Das starke D ass sich alles so schnell ändern würde, hätte sie nicht gedacht. Als Elke Großkreutz 1999 Konrektorin an der Gebhardschule in Konstanz wurde, war das für Klassenzimmer sie persönlich erst einmal Veränderung genug. Doch kaum angekommen, kamen engagierte Eltern auf die Schulleitung zu und fragten, ob sie nicht eine Grundschulklasse gründen könnten, in der Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernten. Denn schließlich hatte die gemeinsame Betreuung ja auch schon im Kindergarten geklappt – warum Die Gebhardschule in Konstanz unterrichtet seit 14 Jahren Kinder mit und sollte das in der Schule anders sein? ohne Behinderung gemeinsam. Derzeit befindet sie sich wieder mitten in Die Eltern hatten Glück, dass sie auf eine Pädagogin stießen, die einer Veränderung, die das herkömmliche Schulsystem auf den Kopf stellt. sich generell für Lernformen interessierte, die Menschen nicht einteilen. Zudem hatte Elke Großkreutz lange an Sonderschulen Reportage | Anette Frisch gearbeitet und wusste, was Schüler mit sonderpädagogischem Bildungsbedarf brauchten. Und noch ein weiterer Punkt beein- flusste die Entwicklung positiv: Das Kollegium kannte sich mit heterogenen Klassen bereits bestens aus. In Petershausen gab es Ende der 1990er-Jahre zahlreiche Übergangswohnheime, aus denen viele Kinder unterschiedlicher Kulturen die Gebhardschule besuchten und ihr im Viertel den Ruf einer „Ausländerschule“ einbrachten. „Die vermeintliche Schwäche entpuppte sich als eigentliche Stärke“, sagt Elke Großkreutz heute. „Wer mit so viel Verschiedenheit umzugehen lernt, hat eine wahnsinnige Kompetenz.“ Um es kurz zu machen: 2000 führte die Gebhard- schule inklusive Klassen ein und war damit eine der ersten in Baden-Württemberg. Große Ideen brauchen große Wände: Schulleiterin Elke Großkreutz vor Immer in Bewegung dem Lehrerplan. Smart, cool, myself – in großen gelben Buchstaben strahlen die Worte selbstbewusst auf dem dunkelblauen T-Shirt von Marius. Nicht nur das Ambiente der Gemeinschaftsschule unterscheidet Der 12-Jährige lümmelt sich mit drei weiteren Schülern auf dem sich von dem eines gewöhnlichen Klassenzimmers. „Lerngruppen- blauen Teppichboden und übt mit ihnen Englisch. Die Gruppe raum“ korrigiert Katharina Richter. Die 29-Jährige bezeichnet hockt in einem Flur, der holzgetäfelt ist, und an die Zeit erinnert, sich auch nicht als Lehrerin, sondern als „Lernbegleiterin“. Und als die Räume noch die Büros der Telekom waren. Nun haben sich auch „Zeugnisse“ verteilt die Sonderpädagogin nicht, sondern in dem 14-stöckigen Hochhaus, das rund 20 Meter vom Hauptge- ausführlich verfasste „Lernentwicklungsberichte“. Was wie ein bäude der Gebhardschule entfernt liegt, Fünft- beziehungsweise sinnloses Feilschen um Begriffe wirkt, ist ein Hinweis darauf, Sechstklässler auf mehreren Etagen breitgemacht. dass die Gemeinschaftsschule Lehren und Lernen anders versteht als herkömmliche Schulformen. „Jedes Kind hat seine eigene Art Es ist nicht so, dass die Gebhardschule nicht genügend Platz hätte. und seinen eigenen Weg zu lernen“, sagt Katharina Richter. „Wir Aber seit anderthalb Jahren ist sie Gemeinschaftsschule und begleiten es dabei.“ Die Gemeinschaftsschule legt großen Wert damit hat sich (wieder) vieles verändert. Zum Beispiel, dass eine auf Kooperation. Dem Kollegium ist es wichtig, „ein System des Klasse mehrere Räume zum Lernen hat, dass die Türen immer Vertrauens zu schaffen, bei dem es auf die Stärkung des Selbst- offen stehen, dass leise gesprochen wird, dass der Lehrer nicht wertgefühls ankommt“, fasst Elke Großkreutz die grundlegende vorn an einer Tafel steht, vor allem aber, dass zur Klasse nicht Idee zusammen. nur Kinder mit Behinderung gehören, sondern auch solche mit unterschiedlichen „Bildungsbegabungen“. Was sich verklausu- Briefe an Maxi liert pädagogisch liest, meint ein ganz einfaches und dennoch Gemeinsam mit Florence Ferland ist Katharina Richter für die besonderes Schulkonzept: Von der 1. bis zur 10. Klasse lernen Klasse 6a verantwortlich und sie ist vor allem für die Kinder Gymnasiasten, Werkreal- und Sonderschüler gemeinsam – auf mit Förderbedarf da. So wie Felix. Er hat das Downsyndrom und ihrem persönlichen Leistungsniveau, in ihrem eigenen Tempo übt gerade mit Sina, Paula und Willi englische Vokabeln. Dabei und so eigenständig wie möglich. helfen ihm die großen weißen Blätter, die vor ihm auf dem Boden
10 Perspektive 01/2014 | Dossier liegen und auf denen kurze Antworten stehen. Wenn Sina Felix Fragt man Elke Großkreutz, was sich in den vergangenen Jahren fragt, ob er einen Computer hat, zeigt er auf das „Yes, I do“ und verändert hat, dann stellt sie fest, dass ziemlich viel zusam- spricht den Satz aus. Und wenn er nicht weiterweiß, hilft ihm menkommt. Ihr fällt beispielsweise ein, dass Schüler für ihre Sina. „Die Gemeinschaft in der Klasse ist außergewöhnlich“, Projekta rbeit häufig das Thema Behinderung wählen; dass sich sagt Katharina Richter. Das merkt die 29-Jährige auch daran, das Kollegium durch die intensive Zusammenarbeit mit der dass sie sich häufig aus dem Lernprozess herausziehen kann. nahegelegenen Sonderschule wertvolles Fachwissen aneignen „Die Schüler wissen oft selbst, was der andere braucht, um den konnte, das heute wiederum der Gemeinschaftsschule zug ute nächsten Lernschritt zu tun.“ kommt; dass es regelmäßig intensive Gespräche mit zum Teil besorgten Eltern gegeben hat. Die einen befürchteten, dass Außer Felix sind Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ihre Kinder nicht genügend lernen, die anderen, dass sie über- (ADHS/ADS), Lernbehinderung und Autismus in der 6a. Und fordert werden. „Heute ist das überhaupt kein Thema mehr“, Maxi, die körperbehindert ist und mit einem Assistenten am sagt die Rektorin. Unterricht teilnimmt. Zurzeit deutet nur die Liege im Klassen zimmer auf das Mädchen hin. Maxi befindet sich seit sechs Über den Horizont blicken Wochen im Krankenhaus. „Wir schreiben ihr Briefe“, sagt Marius. Und noch etwas fällt der Schulleiterin ein. Dass sich nämlich „Es geht ihr mal gut und mal schlecht. Wann Maxi wieder- das Verständnis von Inklusion verändert hat. Und weit mehr kommt, wissen wir nicht.“ bedeutet als der gemeinsame Unterricht behinderter und nicht- behinderter Schüler. An der Gemeinschaftsschule lernen Kinder Der Geist der Schule und Jugendliche unterschiedlicher Leistungsniveaus und unter- Mehr als der Moment Für Elke Großkreutz sind die gemischten Gruppen eine Berei- schiedlicher Bildungsbegabungen zusammen. „Noch konse- cherung für alle. „Die unterschiedlichen Schüler setzen unter- quenter und glaubwürdiger kann man Inklusion nicht leben.“ schiedliche Impulse, es entsteht Bewegung und ein Mehr an Möglichkeiten.“ Das sieht auch Petra Rietzler so. Die Mutter von Von ihrer Mensa aus, die sich im 14. Stock befindet, haben Marius Marius gründete damals die Elterninitiative, die sich für die Ent- und seine Klassenkameraden einen weiten Blick über den Boden- wicklung der Gemeinschaftsschule engagierte. Ihre drei Kinder see hinweg bis zu den Alpen. Wissenschaftler haben festgestellt, haben keine Behinderung, dennoch ist sie davon überzeugt, dass dass sich die Möglichkeit, weit zu schauen, auf das Denken über- Das Mannheimer Augenblick Theater ist eines der wenigen in Baden-Württemberg, die Entscheidung vor 14 Jahren, eine inklusive Schule zu werden, „noch heute den Geist der Gebhardschule bestimmt“. trägt – eine Fähigkeit, die die Gebhardschule seit mindestens 14 Jahren prägt. in dem Jugendliche und junge Erwachsene mit und ohne Behinderung spielen. Dass es darauf aber überhaupt nicht ankommt, zeigt der Besuch beim Ensemble. Reportage | Anette Frisch E in fensterloser Raum, künstliches Grund dafür ist, dass heute bei der Probe trum an Ideen“, sagt sie. Die Theaterpä- Licht, schwarze Vorhänge. Auf den besonders intensiv gearbeitet wird. dagogin leitet das Ensemble seit seinem ersten Blick wirkt die Probebühne Bestehen 2003. Damals hatte das landes- des Mannheimer Jugendkultur- Die Gruppe steht im Kreis und ihre Aufga- weit bekannte „Krüppeltheater Neckar zentrums FORUM wenig einla- be ist es, die Geste des Nachbarn zu imitie- gmünd“ seinen Leiter verloren. Und einige dend, wären da nicht die 16 Schauspiele- ren und an den nächsten weiterzugeben. der ehemaligen Schauspielerinnen und rinnen und Schauspieler, die dem Raum Das funktioniert so ähnlich wie Stille Post, Schauspieler sowie Interessierte aus den auf der Stelle Leben, Seele und jede Menge mit dem Unterschied, dass rein gar nichts FORUM -Workshops haben sich dann zum Magie einhauchen. still geschieht und sich die ursprüngliche Augenblick Theater zusammengefunden. Körperbewegung im Laufe der Runde ver- Das Augenblick Theater in Mannheim ist ändert. Jeder hat seinen eigenen Blickwin- Die Zuschreibung behagt ihr nicht besonders. Nicht nur, weil das Ensemble es kel und seine eigenen Möglichkeiten, auf Johannes Instinsky ist von Anfang an mit schafft, das triste Ambiente zum Leben zu das zu reagieren, was ihm sein Nebenan dabei und gehört zu den ältesten Ensem- erwecken. Sondern auch, weil es eine der vorgibt. blemitgliedern. Mit dem Schauspielen wenigen Theaterkompanien Baden-Würt- begann der 29-Jährige bereits in der The- tembergs ist, die aus Schauspielerinnen Für Birgit Thomas ist genau das die Kraft ater-AG an der Körperbehindertenschule und Schauspielern mit und ohne Behin- des Augenblick Theaters: die Unterschied- Ludwigshafen. Johannes Instinsky arbei- derung besteht. Und das bereits seit etwas lichkeit der Akteure. „Wenn eine Gruppe tet in der Telefonzentrale bei den Dürkhei- So sieht Lernen im Jahr 2014 aus: Sina, Paula, Willi und Felix üben englische Vokabeln. mehr als zehn Jahren. Was wiederum der heterogen ist, vervielfacht sich das Spek- mer Werkstätten und spielt mittlerweile
12 Perspektive 01/2014 | Dossier sagt Jan Knosalla. Die Arbeit im Ensemble hat den Mannheimer so beeinflusst, dass er 2012 mit Freunden die eigene Theater- gruppe EXIL gründete. „Die Themen sind etwas düsterer, vielleicht weniger abs- trakt als beim Augenblick Theater.“ Den- noch ist er der Kompanie treu geblieben. „Der Kontrast der beiden Gruppen gibt mir sehr viel.“ Anders als bei klassischen Produktionen arbeitet das Augenblick-Ensemble nicht mit einem bereits existierenden Theater- In der Ruhe liegt die Kraft: Jungschauspieler des Augenblick Theaters. stück und es werden auch keine Haupt- oder Nebenrollen verteilt. Die Akteure an der Abendakademie in Mannheim Nichtbehinderung bezieht. „Normal ist, entscheiden sich für ein Thema, das sie Theater. „Das Schauspiel ist mein Hobby“, dass die Gesellschaft unterschiedlich ist. interessiert und bewegt. Sie schreiben sagt er. „Ich kann dabei vom Alltag ent- Und genau das ist es, was das Spiel auf der Texte und komponieren Musik, entwi- spannen.“ Sema Braun hat schon als Kind Bühne und das Leben bereichert.“ ckeln Dialoge und Choreog rafien. Birgit an den Workshops von Birgit Thomas teil- Thomas erarbeitet auf Grundlage erster genommen. Ihre Erfahrungen im Augen- Das Ensemble ist Autor Improvisationen eine Rahmenhandlung, blick-Ensemble haben sie geprägt und ihre und Regisseur zugleich die so flexibel ist, dass immer noch neue Berufswahl beeinflusst. „Früher hatte ich Für die Jubiläumsfeier hat die Gruppe eine Ideen eingewoben werden können. Acht Angst vor der Begegnung mit behinderten Performance entw ickelt, die Schauspieler Stücke hat das Ensemble so seit seinem Menschen“, sagt sie. „Ich fürchtete, etwas und Publikum unmittelbar miteinander Bestehen auf die Bühne gebracht. Und das falsch zu machen und sie zu verletzen.“ in Kontakt bringt. Die Akteure sitzen sehr erfolgreich: Für drei Produktionen ist Ihr derzeitiges Lehramtsstudium will die unauffällig mit den Gästen an den Tischen das Augenblick Theater beim internati- 24-Jährige durch ein Aufbaustudium in im Zuschauerraum. Plötzlich stehen einige onalen Festival „Theatertage am See“ in Sonderschulpädagogik ergänzen. auf und beginnen, vor sich hinzureden, Friedrichshafen in der Kategorie „Schul- andere unterhalten sich miteinander und Jugendtheater“ jeweils mit dem Wenn man Birgit Thomas fragt, welche oder tanzen wie in Zeitlupe durch den ersten Preis ausgezeichnet worden. Seit Bedeutung es für die Theaterarbeit hat, Raum. Stimmen, Geschichten und Bewe- 2006 besteht eine Kooperation mit dem dass Menschen mit und ohne Behinde- gungen überlagern sich und dann Stille. Nationaltheater Mannheim. rung zusammenspielen, gerät sie ein Ein einheitlicher Rhythmus ertönt, die wenig in Erklärungsnot. Nicht, weil sie Akteure klopfen sich auf den Brustkorb, Nach fünf Stunden Probe sitzen die Schau- keine Antwort wüsste, sondern weil ihr was wie ein dumpfer Herzschlag klingt. spieler im Kreis. Sie diskutieren, was gut die Art der Zuschreibung nicht behagt. Dann beginnen alle zu singen: „Wenn du oder weniger gut gelaufen ist und was „Dahinter steht doch immer die Frage, was dich mal selber suchst, hör’ auf dein Herz, sie künftig ändern könnten. Auch so ein Am liebsten mittendrin wir als defizitär empfinden: den Einzelnen Boom, Boom“. Kollektivprozess, der die Kompanie von oder die Gesellschaft?“ Ihr ist bewusst, klassischen unterscheidet. Was außer- dass das, was sie auf die Beine gestellt hat, Jan Knosalla ist mit 15 Jahren zum Augen- dem besonders am Augenblick Theater ein erfolgreiches Beispiel für Inklusion ist. blick Theater gekommen und seit sieben ist? „Dass ich Sachen machen kann, ohne Dennoch ist ihr die Definition von Inklu- Jahren dabei. In der Schule war seine mir komisch dabei vorzukommen.“ „Ich sion viel zu eng gefasst. „Es gibt deutlich Behinderung oft ein Ausschlusskriterium. kann ein anderer Mensch sein und voll mehr Faktoren, die Menschen behindern, sich künstlerisch zu betätigen.“ Mitunter Heute ist das anders. Der 22-Jährige ist durch das Spiel selbstsicherer geworden. aus mir heraustreten.“ „Oft passiert etwas Unerwartetes, was den Augenblick aus- Selber entscheiden, wo, wie und mit wem man leben möchte. Trotz Krankheit hänge es davon ab, aus welchem Stadt- Er schätzt den Humor der Gruppe und, macht.“ Etwa so, als erweckte man einen oder Behinderung nicht getrennt zu wohnen. Sondern mittendrin. Drei Beispiele teil oder Elternhaus Kinder und Jugend- liche kommen. Birgit Thomas übersetzt dass es hier kein „Schubladendenken“ gibt. „Beim Theaterspielen lernt man tot geglaubten Raum zum Leben. dafür, wie es aussehen kann, das inklusive Leben. Inklusion deshalb lieber mit „Teilhabege- immer wieder spannende Menschen in Protokolle | Iris Hobler, Simone Richter rechtigkeit“, und zwar eine, die sich ein- anderen Lebenssituationen kennen, mit www.augenblick- deutig nicht nur auf Behinderung oder denen man sonst nie in Kontakt käme“, theater-mannheim.de
14 Perspektive 01/2014 | Dossier Dossier | Perspektive 01/2014 15 „Meine Kinder lernen jeder Familie. Dann hilft es mir, mit mei- Respekt vor dem Alter“ ner Ansprechpartnerin beim Verein zur Förderung einer sozialen Psychiatrie in Claudia Lackhoff, 59, hat Anna*, 77, Tübingen zu reden. in ihre Familie aufgenommen. Ich erinnere mich noch gut an den Moment, „Bevor Anna vor anderthalb Jahren zu uns als Anna mich umarmte, mir einen Kuss gekommen ist, war sie kurze Zeit in einem auf die Wange gab und „Traudele“ zu mir Altenheim. Das war überhaupt nichts für sagte. Das ist der Name ihrer allerbesten sie: die Regeln, der Eingriff ins Private. Wer Freundin aus Kindertagen. Seither nennt von uns lässt sich gerne sagen, was er sie mich so, und ich bin ein bisschen stolz anziehen soll? In unserer Familie hat sich darauf. Wir alle möchten, dass Anna bei Anna sofort wohl gefühlt – und wir uns uns bleibt. Bis zum letzten Schnapper, wie mit ihr. Wir gehen zusammen einkaufen man hier sagt.“ oder Eis essen, Anna hilft mir beim Kar- toffelschälen, bei schönem Wetter sitzen * Name von der Redaktion geändert. wir auf dem Bänkle und schwätzen. Ich habe gerne Menschen um mich herum, ich mag den Trubel. Und ich sehe nicht ein, warum es für ältere und psychisch kranke Gastfamilien für Senioren Menschen keine andere Möglichkeit geben soll als ein Heim. Jeder sollte sich fragen, Die Baden-Württemberg Stiftung hat das Projekt „BÄNKLE“ – Betreutes Wohnen in „Es gibt keine Alternative“ ebenerdig, ich kann die Wege passieren, wie er behandelt werden möchte, wenn Saskia Melches, 32, lebt mit Partner habe Geschäfte mit den richtigen Zugän- Familien für Ältere drei Jahre lang finan- „Hier ist immer etwas los“ Ich finde es gut, wenn mir einer von den er alt ist und krank. Mein Mann und ich ziell unterstützt. Träger ist der Verein und Hund in Ostfildern. gen. Außerdem kenne ich die Menschen Daniel Santos, 21, ist Autist und lebt in anderen beim Einkaufen hilft. Sonst ver- wissen, dass wir bestimmt nicht in ein und sie kennen mich. zur Förderung einer sozialen Psychiatrie einer Wohngemeinschaft in Freiburg. gesse ich das manchmal und der Kühl- Heim wollen. Und meine Kinder lernen so (VSP). Sein Ziel ist es, ein gemeindenahes „Im März sind wir umgezogen. Von 55 schrank ist leer. Streit gibt es nicht, nur den Respekt vor dem Alter. Unsere Tochter Wohnangebot in Gastfamilien nicht nur auf 82 Quadratmeter. Die neue Wohnung Der Bauträger und der Architekt waren „Ich wohne seit einem halben Jahr mit vier ab und zu sagt einer was, wenn ich abends Maja malt gemeinsam mit Anna oder spielt für Senioren, sondern auch für Jugend- hat Balkon, Terrasse und einen kleinen aufgeschlossen. Ich habe ja einiges an spe- Mädchen, zwei Jungen und zwei Studenten mein Computerspiel zu laut spiele. Wir mit ihr Mensch ärgere Dich nicht. Es ist liche und Erwachsene zu schaffen, die Garten. Jetzt ist für zwei Menschen, ziellen Wünschen. Wirklich kompliziert in einer Wohngemeinschaft. Wir arbeiten haben vereinbart, dass der Strom bei mir schön zu sehen, dass die beiden sich mögen. psychisch erkrankt sind und nicht allei- einen Hund, meine beiden Rollis und die war es mit den Türen. Die Muskeldystro- tagsüber oder sind in der Ausbildung oder in um 23 Uhr abgestellt wird, sonst höre ich ne wohnen können. Derzeit betreut der Therapiegeräte endlich mehr Platz. Wir phie hat meine Arme und Hände stark Werkstätten. Wir sind alle ungefähr gleich gar nicht auf mit Zocken. Am Anfang war Anna eher zurückgezogen, VSP in den Landkreisen Reutlingen und waren mehr als zwei Jahre lang auf der eingeschränkt, und ich brauche Türen, die alt, und es ist immer etwas los hier. Jeder ihre Zuckerwerte waren schlecht. Mittler- Tübingen sowie im Zollernalbkreis 106 Suche. Eigentlich wollten wir eine Woh- sich elektronisch öffnen lassen. Ich weiß hat alles für sich, Küche und Bad, aber wir Das Aufstehen finde ich schwierig, des- weile hat sich der Zucker eingependelt, die Gastfamilien; in sieben „BÄNKLE“-Fami- nung mieten, aber wir haben gemerkt, nicht mehr, wie oft ich das erklärt habe. haben auch zusammen ein Wohnzimmer halb weckt mich morgens ein Betreuer, Besuche beim Arzt sind seltener geworden. lien leben Seniorinnen und Senioren. dass das mit der Barrierefreiheit so eine Und trotzdem war einige Tage vor dem und eine Wohnküche. Wir heißen hier im und ich komme rechtzeitig in die Werk- Es ist eine schöne Bestätigung für mich Sache ist. Barrierefrei heißt nicht unbe- Umzug klar, dass man es bei der Haustüre Haus die Vanta Sechs, wie die Musikgruppe statt. Ich mache eine Ausbildung zum zu sehen, wie viel besser es Anna heute www.vsp-net.de dingt rollstuhlgerecht. Und regelmäßig vergessen hatte. Damit wäre ich tagsüber, Fanta Vier. Aber mit V, wie in Vaubanaise. Fahrradmechanikerhelfer. Mit Musikan- geht. Klar gibt es kleinere Kämpfe, wie in habe ich von Vermietern gehört, dass wenn Matthias arbeitet, in der Wohnung Wir gehen manchmal bowlen, ins Kino, lagen und Technik kenne ich mich gut aus. wir Umbauten beim Auszug wieder eingesperrt gewesen. Also ist mein Vater in die Disco oder wir gucken einen Film Leider – wenn etwas nicht funktioniert, rückgängig machen müssen. Also hat für ein paar Wochen aus dem Ruhrgebiet zusammen. Die Mädchen mögen Musicals. rufen alle immer nach mir. mein Lebensgefährte eine Bank gesucht, zu uns gekommen. die uns eine Eigentumswohnung finan- Wenn ich mit Hausputz dran bin, mache ziert. Und gefunden! Was bei einer vollen Ich habe mir im Laufe dieses Wohnungs- ich in der Küche sauber und fege das Trep- Finanzierung und nur einem Einkommen projekts viel Wissen angeeignet, mit DIN- penhaus. Meine eigenen Sachen räume nicht so einfach war. Normen kenne ich mich jetzt prima aus. Es ich immer selbst auf. Oder es erinnert war aber auch mühsam und hat mich viel mich einer von den anderen daran. Vor- Als ich dann von einem Neubauprojekt an mentaler Kraft gekostet, die gesamte her habe ich zu Hause bei meinen Eltern in unserem Viertel gehört habe, war ich Planung und Umsetzung zu begleiten. gewohnt. Aber hier ist es viel besser. sofort begeistert. Hier im Scharnhauser Trotzdem: Es gibt keine Alternative. Hier sagt mir keiner, was ich darf oder Park in Ostfildern lebt es sich mit einem Ich möchte so leben wie jeder gesunde nicht darf.“ Elektrorollstuhl wirklich gut. Es ist alles Mensch auch.“
Dossier | Perspektive 01/2014 17 immer wieder, dass vor allem Repräsentanten Zeit bis zum neuen Schulgesetz überbrücken anderzusetzen, in die sie ihr Kind eigentlich der Behindertenhilfe hauptamtlich über die wird. Es ist auf der Basis eines Berichtes aus gerne geben würden. Denn die kann die Inklusion sprechen. Menschen mit Behinde- Modellregionen entstanden … Aufnahme ablehnen. Dieses Freiwilligkeits- rungen kommen auf den Podien viel zu selten prinzip bereitet mir persönlich und vielen zu Wort – wenn, dann in ehrenamtlicher … diese fünf sogenannten Modellregionen Eltern sehr großes Unbehagen. Funktion. Und nach wie vor sitzen sie kaum hat die vorherige Regierung eingerichtet … an den Stellen, wo Entscheidungen getroffen Stoch: … um Erkenntnisse darüber zu sammeln, Stoch: Ich möchte das Verhältnis von drei zu werden. „Nichts über uns ohne uns“, das ist wie ein neues Gesetz auszusehen hat, mit eins auch ändern – mit der dabei geb otenen das alte Motto der Behindertenbewegung, dem Inklusion umgesetzt wird. In diesen Sorgfalt und gemeinsam mit allen Beteilig- von dem wir immer noch weit entfernt sind. Regionen haben die Schulämter den Auf- ten. Sie haben die Ressourcen angesprochen: Schauen Sie sich Aufsichtsräte von Unterneh- trag, Kinder inklusiv an Regelschulen zu Um Qualität zu gewährleisten, ist son- men oder Gemeinderäte an: Wie selten sieht beschulen, wenn die Eltern es wünschen. derpädagogisches Know-how zentral. Im man da einen Menschen mit Behinderung? Die wichtigste Erkenntnis aus dem Bericht kommenden Schuljahr werden wir in Baden- ist für mich, dass wir die Menschen nicht Württemberg zusätzliche Sonderpädagogen Stoch: Der Begriff der Inklusion ist immer einfach zwingen, das eine oder andere zu einstellen. Die Lehrer an den Regelschulen noch schwer verständlich. Ich denke, wir tun. Sondern dass wir mit ihren Ängsten müssen wir auf die Herausforderung, die sollten eher über die Teilhabe am ganz nor- verantwortungsvoll umgehen. inklusiver Unterricht bedeutet, viel besser malen Leben sprechen. Über die konkreten vorbereiten. Das ist ein wesentliches Ziel Barrieren im öffentlichen Raum, über die Was heißt das konkret? der Reform der Lehrerausbildung, aber auch Schwierigkeiten, geeignete Wohnungen Stoch: Wir müssen ein Wahlrecht verankern. von berufsbegleitenden Fortbildungen. Im zu finden oder eine passende Arbeitsstelle. Eltern müssen entscheiden können, ob sie Überbrückungskonzept empfehlen wir grup- Wenn wir Inklusion so übersetzen und mit konkreten Beispielen belegen, dann können Menschen besser verstehen, dass Teilhabe eben nicht selbstverständlich ist. „Eltern fürchten, Ihnen werde die Wie sieht es mit der Teilhabe an Bildung geschützte Sonderschule genommen.“ Ein langer Weg aus, die Ihr Thema als Kultusminister ist? Esther Grunemann Stoch: Inklusion polarisiert stark. Für die einen birgt sie ganz viel Hoffnung, andere werten sie als Angriff, vor allem auf die Sonderpädagogik. Seit ich im Amt bin, ver- ihr Kind an einer Sonderschule oder einer penbezogene Lösungen, also mehrere Kinder, suche ich immer wieder klarzumachen, dass Regelschule unterrichten lassen wollen. die inklusiv beschult werden. Um da gute Wie weit ist die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung Inklusion nicht das Bestehende bedroht, Und damit das kein scheinbares Wahlrecht Lösungen zu finden, müssen Eltern, Schul- vorangekommen? Was wünschen sich Betroffene? Was plant die Politik im Bereich sondern dass sie eine Chance ist, die gesamte Bildungslandschaft weiterzuentwickeln. wird, müssen alle Schulen gleichermaßen gut und qualitätsvoll ausgestattet sein. Es ämter und Schulen kooperieren. der Bildung? Wir sprachen im April mit Esther Grunemann, Beauftragte für gibt von Behindertenverbänden die Forde- In Walldorf hat kürzlich die Gesamtlehrer- Menschen mit Behinderung der Stadt Freiburg, und Andreas Stoch, Kultusminister Grunemann: Mich sprechen viele Eltern an, deren Kinder auf der Sonderschule sind rung, die Sonderschulen qua Gesetz kom- plett abz uschaffen und die Regelschule zur konferenz eines Gymnasiums entschieden, einen Jungen mit Downsyndrom nicht des Landes Baden-Württemberg. und die befürchten, ihnen werde dieser Normalität zu machen. Meiner Auffassung aufzunehmen, der vier Jahre lang die ganz geschützte Bereich genommen. Und eben- nach würden wir den Ängsten der Eltern normale Grundschule besucht hatte. Ein Interview | Iris Hobler so Eltern, die ihr Kind unbedingt inklusiv nicht gerecht, wenn wir so vorgingen. Beispiel für misslungene Kooperation? beschulen wollen und denen es nicht schnell Wir wissen aus den Modellregionen, dass Grunemann: Auf jeden Fall ein Beispiel, genug geht. Sie hoffen auf das Schulgesetz, sich bisher von vier Elternpaaren drei für das zeigt: Es gibt noch keine Konzepte für Auf einer Skala von null bis hundert: Wo Esther Grunemann: Keine leichte Frage. Ganz gesamten Zug schon reserviert sind. Und das schon längst hätte kommen sollen. Und die Sonderschule entscheiden, eins für die die Inklusion an weiterführenden Schulen. liegt Baden-Württemberg bei der Umsetzung spontan bin ich nicht allzu weit weg davon. auch in meiner Funktion als Behinderten- sie vermissen Handlungsempfehlungen für inklusive Beschulung. Und ein Beispiel dafür, wie hoch die Wogen der Inklusion? 20 bis 25. Inklusion, das ist ja eine Vision und beauftragte der Stadt Freiburg sehe ich, dass die Schulen, bis das Gesetz 2015/16 hoffent- in der Diskussion schlagen können und wie Andreas Stoch: Ich sage mal, bei 30. Es ist ein Weg. Als Betroffene erlebe ich allerdings es noch sehr viel zu tun gibt. lich in Kraft tritt. Grunemann: Hinter diesen Zahlen stecken ja sich Haltungen zeigen. Keine Schule kann schon einiges angestoßen, aber die Haupt- täglich, wo die Hindernisse der Teilhabe lie- Motivationen. Vielleicht entscheiden Eltern sagen: Inklusion geht mich nichts an. In strecke des Weges liegt noch vor uns, in gen. Etwa wenn ich eine Fahrkarte für den Wo drückt es besonders? Stoch: Genau solche Empfehlungen umfasst sich für die Sonderschule, weil diese bessere einem Schulbezirk muss mindestens eine Baden-Württemberg ebenso wie in allen ICE von Freiburg nach Stuttgart buchen Grunemann: Ich bin auf vielen Veranstaltun- das Konzept, das voraussichtlich in den kom- Ressourcen hat. Oder weil sie es sich nicht Realschule oder ein Gymnasium bereit sein, anderen Ländern und auf Bundesebene. möchte und die zwei Plätze für Rollis im gen und Tagungen. Und ich wundere mich menden Wochen ins Kabinett geht und die zutrauen, sich mit der Regelschule ausein- Behinderte aufzunehmen.
18 Perspektive 01/2014 | Dossier kolumne Bitte nicht fesseln! Inklusion scheitern zu lassen, wäre es, die Kinder mit und ohne Behinderung Regelschulen dafür nicht gut auszustatten. gemeinsam unterrichten? Grunemann: Inklusiver Unterricht bricht mit Grunemann: Mich interessiert, wie Sie diese dem Verständnis des Lehrers als Einzelkämp- Investitionen bei rückläufigen Schülerzahlen fer. Er wird zusammen mit dem Sonderpäda- Man sagt ja so gerne: „Kindermund tut Wahrheit kund“, und das liebe Bild stimmt realisieren wollen? Denn mit denen wird gogen und der Assistenz, die viele Kinder mit auch oft. Fast täglich darf ich das auf der Straße erfahren. Denn dadurch, dass ich ja gerade die Streichung von Lehrerstellen Behinderung benötigen, ein Team. Gemein- im Rollstuhl sitze und einen Meter groß bin, aber trotzdem einen Bart trage, werde begründet. Das ist ein Widerspruch. sam haben sie die Verantwortung fürs Ganze. ich von Kindern gerne mal als „Mini-Mann“ bezeichnet. Diese Assoziationskette Das ist ein gründlicher Wandel der Haltung. finde ich bei Kindern ganz witzig und muss öfters darüber schmunzeln. Aber das Stoch: Weniger Schüler bedeuten lediglich Weniger zu separieren, mehr zu kooperieren … Lächeln vergeht mir, wenn ich ähnliche Assoziationen in medialen Kontexten erlebe. in der Theorie weniger Lehrer. Wir sind noch weit entfernt von einem inklusiven Ideal- Stoch: … wir sind Weltmeister im Separieren Natürlich werde ich von Erwachsenen nicht als „Mini-Mann“ beschrieben, sondern zustand an den Schulen und daher müssen und haben für fast alles eine Schublade … werde in der Berichterstattung zu einer Art Held, der „trotz seiner Behinderung die wir investieren. Wir stellen zurzeit den ganzen Projekte erfunden hat“. Und das, obwohl ich an „Glasknochen leide“ oder Für Esther Grunemann dürfte die Inklusion in Baden-Württemberg deutlich mehr Fahrt aufnehmen. Landeshaushalt 2015/16 auf und da mache Grunemann: … und diese Schubladen sind an den „Rollstuhl gefesselt“ bin. Der eine oder andere Leser wird jetzt vielleicht den ich sehr deutlich, dass wir ohne zusätzliche wenig durchlässig. Das Sondersystem ist in Kopf schütteln, aber glauben Sie mir (oder googeln Sie) – es stimmt! Stoch: Der Unterricht in Gymnasien ist Lassen Sie uns noch einen Blick auf die Mittel mit der Inklusion nicht weit kommen Baden-Württemberg sehr etabliert. Wohl- zielgleich angelegt, wie es im Fachjargon finanziellen Ressourcen werfen. Baden- werden, auch nicht bei anderen wichtigen fahrtsverbände und kirchliche Träger haben Menschen mit Behinderungen werden in Medien gerne zu einem Helden oder Opfer heißt, also mit der Ausrichtung auf einen Württemberg will seinen Landeshaushalt schulischen Anliegen wie dem Ausbau von die separierenden Systeme mit gut laufen- stilisiert und dabei ist das eigentlich nie böse gemeint. Es fehlen oft die Erfahrungen Schulabschluss, das Abitur. Das ist anders bis 2020 schuldenfrei gestalten. Inklusion Ganztagsangeboten. Klar ist jedoch auch, den Einrichtungen etabliert und da etwas zu im Umgang mit Menschen mit Behinderungen, weil man selbst vielleicht wenig in den Gemeinschaftsschulen, von denen hingegen bedeutet Investition, oder? dass die Einnahmequellen beim Bund liegen. ändern, geht sehr langsam. Ich frage mich, bis gar keinen Kontakt zu Rollstuhlfahrern, Menschen mit Sehbeeinträchtigungen wir momentan 129 in Baden-Württemberg warum wir generell Vielfalt so schnell als und Lernschwierigkeiten oder Schwerhörigen hat. In vielen Fällen hat das mit einem haben. Da ist der Unterricht zieldifferent – Bedrohung wahrnehmen? Das zeigt ja die Dis- exklusiven Schul- und Arbeitssystem zu tun, das noch aus einer anderen politischen also direkt auf mehrere Abschlüsse aus- kussion über die gleichgeschlechtliche Liebe. Zeit stammt, die ich gerne als die „Ära der Fürsorge“ bezeichne. gerichtet. Aber natürlich ist Inklusion die „Inklusion kann nie ein Sparmodell sein.“ Ich wünsche mir, dass Menschen Vielfalt als Aufgabe aller Schularten, nicht nur der Bereicherung erleben. Das müssen Lehrpläne Wenn man mit dem (medialen) Bild eines „sorgenvollen, leidenden Behinderten“ Gemeinschaftsschulen. Das Kultusminis- Andreas Stoch abbilden, das müssen Lehrer verkörpern. aufwächst, dann ist es schwer, sich vorzustellen, dass die Menschen mehr als terium hat sich in die Debatte in Walldorf diese Eigenschaft besitzen und sehr gerne am gesellschaftlichen, schulischen und eingeklinkt, um mit allen Beteiligten eine Stoch: Da sind wir ganz generell bei der Frage: Arbeitsleben teilhaben wollen. Wenn mich Journalisten fragen, wie sie denn nun tragfähige Lösung zu finden. Aber unabhän- Wie gehen wir mit Fremdem um? Kann „richtig“ über Menschen mit Behinderungen schreiben können, dann frage ich oft gig von diesem konkreten Fall ist es eine ganz Stoch: Definitiv. Inklusion kann nie ein Spar- In den Ländern haben wir kaum entspre- unsere Gesellschaft es sich leisten, auf das zurück: „Würden Sie bei Angela Merkel schreiben: ‚Trotz ihrer Frisur ist Angela Merkel wichtige gesellschaftliche Diskussion, die modell sein. Auf diese Idee könnte man ja chende Stellschrauben. Unbekannte abweisend zu reagieren? Ich Bundeskanzlerin‘?“ Natürlich nicht. Ich wünsche mir, dass Journalisten häufiger dort stattfindet. Die mir auch zeigt: Men- kommen: Kinder mit besonderem Bedarf las- habe in den vergangenen Monaten viele solche Fragen stellen. Denn in Medien und Politik wird sehr oft über Menschen schen sind nicht unbedingt bereit, Ideale sen sich in Regelschulen günstiger beschulen. Frau Grunemann, Sie sind selbst Lehrerin. inklusive Einrichtungen im vorschulischen mit Behinderungen, aber nicht mit ihnen gesprochen – und vielleicht würden sich auch zu realisieren. Das ist völlig falsch. Und der sicherste Weg, Was kommt auf die Pädagogen zu, die Bereich besucht. Da erlebe ich besonders dadurch schon viele Fragen klären und Unsicherheiten auflösen. eindrucksvoll, dass Teilhabe eine Bereiche- rung für alle ist. Egal, was den Unterschied Diesen Dialog möchte ich wie viele andere Menschen mit Behinderungen gerne Neues Terrain betreten ausmacht: Behinderung, Migration, religiöse suchen. Es gibt Behinderungen. Aber die warten am Eingang eines Cafés, das ich Überzeugung oder das Lebensmodell. Das ist wegen einer Stufe nicht betreten kann. Und daran möchte ich arbeiten: Barrieren Wie können ältere Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung ihren Ruhestand möglichst selbstbestimmt gestalten? es, was wir Kindern als Teil unserer Norma- abbauen, Inklusion fördern und einen gefesselten Rollstuhlfahrer am besten Das war die Ausgangsfrage eines Programms der Baden-Württemberg Stiftung, auf die in 13 Modellprojekten drei Jahre lang unter- lität mitgeben sollten. losbinden. Manchmal kann die Lösung von Problemen ganz kindlich naiv sein. schiedliche Antworten entwickelt wurden. Jetzt liegt die Evaluation vor, die ein Team der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster unter Federführung von Professor Helmut Mair durchgeführt hat. „Wir betreten mit unserer Untersuchung neues Terrain“, Grunemann: Gleichzeitig darf das Ideal von sagt Helmut Mair, „denn in der Geschichte der deutschen Behindertenhilfe erreicht erstmals ein größerer Teil der älteren Generation Vielfalt nicht zur Gleichmacherei führen. Ja, das Ruhestandsalter. Und damit stellen sich völlig neue Herausforderungen.“ Die Wissenschaftler haben vier Orientierungspunkte Inklusion ist ein Anspruch an und für alle – Raúl Aguayo-Krauthausen dafür erarbeitet, wie ältere Menschen mit Behinderung an gesellschaftlichen Prozessen beteiligt bleiben und ihr Leben selbstständig und dennoch braucht es für die Belange von ist in Lima geboren und in Berlin aufgewachsen. Er ist Autor, gestalten können. Einer davon ist die grundsätzliche Öffnung der Einrichtungen der Behindertenhilfe. Helmut Mair: „Diese Einrich- Menschen mit Behinderung starke Vertrete- Aktivist und unter anderem Mitgründer des Vereins SOZIAL- tungen müssen sich selbst in unterschiedliche soziale Szenen vor Ort inkludieren.“ Die Ergebnisse der Evaluation liegen ab Juli 2014 rinnen und Vertreter. Und uns geht es halt HELDEN und der Plattform wheelmap.org. Für seinen Taten- auf der Website der Stiftung im Bereich Publikationen, Gesellschaft und Kultur zum Download bereit. nicht schnell genug. drang erhielt der 33-Jährige 2013 das Bundesverdienstkreuz am Bande; 2014 erschien die Autobiografie „Dachdecker wollte www.bwstiftung.de/publikationen Frau Grunemann, Herr Stoch, vielen Dank ich eh nicht werden“. für das Gespräch.
Forschung Forschung | Perspektive 01/2014 21 Phosphor aus dem Klärbecken Abwasser enthält begehrte Stoffe, zum Beispiel Phosphor, das für Düngemittel gebraucht wird. Wissenschaftler der Universität Stuttgart haben ein Verfahren entwickelt, MIT DEM das begehrte Element aus dem Abwasser RECYCELT WERDEN KANN. I st die Wurst bio, welche Vitamine enthält der Fruchtsaft? Was wir zu uns nehmen, überlegen wir uns genau. Was von der verdauten Nahrung übrig bleibt und was die Klospülung in die Kanalisation befördert, interessiert uns dagegen überhaupt nicht. Aus den Augen, aus dem Sinn. Dabei stecken darin jede Menge interessanter Stoffe. „Was wir früher als Abfall bezeichnet haben, betrachten wir heute zunehmend als Wertstoff“, sagt Carsten Meyer, Abteilungsleiter am Institut für Siedlungswasser- bau, Wassergüte- und Abfallwirtschaft der Universität Stuttgart. Das ISWA betreibt im Stuttgarter Stadtteil Büsnau das größte Forschungsklärwerk Europas. Dort untersuchen Ingenieure und Naturwissenschaftler, wie man Abwasser reinigt und neuerdings auch, wie man daraus wertvolle Stoffe recyceln kann. Besonders ein Element hat das Interesse der Forscher geweckt: Phosphor. Es ist in jedem Düngemittel enthalten und steckt des- halb auch in vielen pflanzlichen Nahrungsmitteln – und damit folglich auch in dem, was wir ausscheiden. Weil Phosphor im Dünger nicht zu ersetzen ist und die Lagerstätten des Minerals – vor allem in Marokko und in der Westsahara – endlich sind, über- legen die ISWA-Experten, wie sie den Phosphor aus dem Abwasser Magnetische Abtrennung der Kompositpartikel. zurückgewinnen und den Kreislauf zur Landwirtschaft schließen Chemiker des Fraunhofer ISC können. Das hat man früher schon versucht. Damals haben Land- designen im Labor Nanopartikel, die gleichzeitig magnetisch sind wirte Klärschlamm aus den Kläranlagen zum Düngen verwendet. und Phosphat anziehen. So verteilten sie den Phosphor erneut auf ihren Feldern, leider aber auch große Mengen von Schwermetallen und organischen Stoffen, die im Nahrungskreislauf nichts zu suchen haben. Einige Bundesländer – darunter auch Baden-Württemberg – haben des- halb den Einsatz von Klärschlamm zur Düngung stark einge- schränkt. Er wird heute überwiegend verbrannt.
22 Perspektive 01/2014 | Forschung Forschung | Perspektive 01/2014 23 Magnet fängt Phosphat Becken im Klärwerk ist? Und wie muss der Magnet beschaffen Wissenschaftler vom Fraunhofer-Institut für Silicatforschung sein, damit er die Partikel möglichst schnell wieder einfängt? in Bronnbach haben ein Verfahren entwickelt, das Phosphor als Ungeklärt ist auch, wie man den Phosphor aus der Waschlösung reines Phosphat aus dem Abwasser holt. Das kann zu Dünger holt. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten, wobei die momentan Moleküle im spiel weiterverarbeitet werden. Carsten Meyer vom ISWA demons- eingesetzte Variante mit konzentrierter Natronlauge nicht triert das Prinzip im Labor: Er füllt einen Glaszylinder mit besonders umweltfreundlich ist. Eine Alternative wäre, dass Abwasser, mischt ein graues Pulver hinein und mixt alles durch man den Phosphor gebunden in einem Salz, etwa als Magnesium- Schütteln. Dabei heftet sich Phosphat aus dem Abwasser an das Ammonium-Phosphat, gewinnt, das direkt als Dünger verwertbar Pulver. Meyer hält einen Magneten außen an das Glas und sofort ist und von Pflanzen gut aufgenommen wird. Im Moment laufen ballt sich innen das Pulver in der Flüssigkeit unter der Magnet- Planungen, diese Fragen in einem Folgeprojekt aufzugreifen. kraft zusammen. Er gießt das Abwasser ab und wäscht das Pulver Das Altern aufhalten kann man (noch) nicht – aber vielleicht die eine oder andere in konzentrierter Natronlauge für den nächsten Einsatz. In der Wird sich der ganze Aufwand jemals lohnen? „Abwasser Natronlauge bleibt Phosphat zurück. reinigung lohnt sich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten Alterskrankheit vermeiden. Dr. Sonja Schätzlein, Biologin am Leibniz-Institut nie“, lautet Carsten Meyers verblüffende Antwort. Die Frage sei für Altersforschung in Jena, über den aktuellen Stand ihrer Forschung. Das graue Pulver verdankt seine Existenz der Förderung durch viel mehr, was uns saubere Felder und Seen Wert seien. Eine die Baden-Württemberg Stiftung. Diese engagiert sich seit Jahren Antwort, die auch Betriebswirte zufriedenstellt, sucht das im Bereich der Umwelttechnologieforschung und finanziert Pro- Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement Frau Dr. Schätzlein, Sie und Ihre Kollegen wollen das Programms Adulte Stammzellen II unsere Forschungs- jekte, die einen signifikanten Beitrag zum Klima- und Ressourcen- der Universität Stuttgart. Das IAT hat potenzielle Nutzer des Molekül „p21“ nutzen, um ein Medikament gegen arbeiten, die von Professor Lenhard Rudolph geleitet schutz leisten. Die einzelnen Partikel des Pulvers sind kleiner als recycelten Phosphors befragt. Demnach besteht in der Dünge- Arthrose zu entwickeln. Was verbirgt sich hinter dem werden. Insgesamt fließen in das fünfjährige Vorhaben 20 Nanometer (20 millionstel Millimeter) und mit dem bloßen mittelindustrie großes Interesse, aus der Lebensmittelindustrie, geheimnisvollen Kürzel? etwa 838 950 Euro. Auge nicht zu sehen. Innen bestehen sie aus einem Gemisch aus die Phosphor ebenfalls einsetzt, kam ein klares Nein. Lebens- Sonja Schätzlein: Das ist wenig geheimnisvoll und Silizium- und Eisenoxiden, das von einem Magneten angezogen mittelzusätze aus Fäkalien, das lasse sich den Kunden nicht schnell erklärt. Der Buchstabe steht für Protein und Wie ließe sich so ein p21-Hemmstoff künftig medi- wird. Auf ihrer Hülle tragen sie einen Überzug, der Phosphor vermitteln, obwohl es chemisch gesehen egal ist, aus welcher die Zahl für 21 Kilodalton – so schwer ist das Molekül. zinisch nutzen? einfängt. „Das kann man sich wie ein Rosinenbrötchen mit Quelle der Phosphor stammt. Ein Beispiel ist der Verschleiß der Gelenke, der häufig Zuckerglasur vorstellen“, beschreibt Meyer. Die „Glasur“ ist gerade Warum ist es für Sie und das Team so interessant? im Alter vorkommt. Unsere Hoffnung ist, die Arthro- so beschaffen, dass Phosphatmoleküle dort hängen bleiben. Mit Keine Lösung für Versorgungsengpässe Es findet sich in alternden menschlichen Zellen in se aufhalten zu können. Ein weiteres Beispiel ist die einer anderen Glasur könnte man auch andere Stoffe aus dem Ein vollständig geschlossener Phosphorkreislauf ist ohnehin eine vielen unterschiedlichen Organen, etwa der Haut, der Dr. Sonja Schätzlein, Leibniz- Wundheilung. Im Alter funktioniert sie weniger gut Abwasser fischen, zum Beispiel Kupfer oder seltene Metalle wie Illusion. Jeder Mensch scheidet pro Tag 1,8 Gramm Phosphor aus, Muskulatur, der Leber oder des Darms. Allen diesen Institut für Altersforschung. und p21 hat daran vermutlich einen gehörigen Anteil. Neodym oder Lithium, die unter anderem in Abwässern der insgesamt 62 000 Tonnen fließen jedes Jahr durch die deutschen Zellen ist gemeinsam, dass sie sich im Organismus Wenn es gelänge, das Molekül gezielt auszuschalten, Mikrochipindustrie vorkommen. Kläranlagen, etwa 40 000 Tonnen davon würden sich theoretisch naturgemäß häufig teilen beziehungsweise ihre Regenerationsfä- könnte auch die Wundheilungskraft der Haut verbessert werden. mit den Nanopartikeln herausfischen lassen. Die Düngemittel- higkeit ein Leben lang beibehalten. Wenn sich die Zellen nicht mehr Klärbecken statt Reagenzglas industrie benötigt 180 000 Tonnen pro Jahr. Das ISWA-Verfahren teilen, vermindert sich die Regenerationskraft, und die betroffenen Können Sie beschreiben, auf welche Weise Arthrose aufgehalten Die erste Projektphase ging 2013 zu Ende. Doch viele Fragen sind würde also einen merklichen Anteil zur Rohstoffversorgung Gewebe oder Organe altern. Dafür ist p21 mitverantwortlich. Wo es werden kann? noch offen: Wie mischt man die Nanopartikel mit dem Abwasser, beisteuern – eine endgültige Lösung für Versorgungsengpässe auftaucht, stoppt die Zellteilung. Das Knorpelgewebe in den Gelenken wird von vergleichsweise wenn der Behälter nicht nur ein Reagenzglas, sondern ein großes der Zukunft ist es aber nicht. wenigen Zellen gebildet. Sie produzieren eine umfangreiche prote- Das heißt, Gewebe und Organe erhalten ihre Jugendfrische zurück, inreiche Stützsubstanz. Wenn die Knorpelzellen altern, vermindert sobald man das Molekül ausschaltet? sich diese Substanz. Die Gleitfunktion des Knorpels im Gelenk wird Ja, so könnte man das sagen. Wir denken, dass die Hemmung von dadurch zunehmend beeinträchtigt. Im schlimmsten Fall reibt p21 ein vielversprechender Ansatz ist, um eine molekulare Regene- Knochen an Knochen. Die Betroffenen haben starke Schmerzen rationstherapie zu entwickeln. und letztlich bleibt nur noch der operative Gelenkersatz. Die Idee ist, p21 in alternden Knorpelzellen medikamentös auszuschalten Und was brauchen Sie für eine derartige Verjüngungstherapie? und den zerstörerischen Prozess aufzuhalten. Das Gelenk bliebe Chemische Moleküle, die in der Zelle gezielt die Aktivierung von länger funktionsfähig und so manche Operation ließe sich ver- p21 unterbinden. Wir sprechen dabei von Inhibition, was so viel meiden oder hinauszögern. wie Hemmung bedeutet, und nennen unsere Substanzen deshalb p21-Inhibitoren. Wie ist der derzeitige Stand der Dinge? Wir sind gerade dabei, unsere Entwicklungssubstanz zu optimieren. Sie haben also bereits welche entdeckt? Intensiv arbeiten wir auch daran, den molekularen Wirkmecha- Ja, es ist uns gelungen, mehrere chemische Substanzen zu iden- nismus aufzuklären. Aus den bisherigen Untersuchungen wissen tifizieren. Wir testen sie gerade in unserem Labor in Jena. Die wir, dass unser p21-Hemmstoff grundsätzlich die erwünschten Baden-Württemberg Stiftung hält ein Patent auf diese Gruppe von Effekte zeigt. Jetzt gilt es, im Detail zu verstehen, in welcher Art Klärwerk als Bergwerk: Zigtausende Tonnen wertvoller Rohstoffe fließen ungenutzt durch die Klärbecken. Ein neue Technologie kann diesen Schatz heben. Substanzen. Seit Juli 2010 unterstützt die Stiftung im Rahmen des und Weise er das tut.
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