PLUS Magazin für eine generationensensible Pastoral - Ausgabe 10/2020 - Bistum Fulda
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Ausgabe 10/2020 PLUS Magazin für eine generationensensible Pastoral Zukunft Auf Zukunft warten Die Zukunft gestalten WerkstattTag „Zukunft“ S. 10 S. 20 S. 24
EDITORIAL Und in Zukunft … Foto: Adobe Stock Liebe Leserinnen und Leser, torikerin betrachtet, bringen uns zum Nachdenken über unseren Zukunftsopti- die Zukunft bleibt uns verschlossen. mismus. Wohin schaut die junge Frau auf Doch wir alle haben Erwartungen daran: dem Titelbild eigentlich? Wir sind nicht hoffnungsvolle, besorgte, nachdenkliche. sicher, welche Perspektive wir als Be- Und wir haben dazu Bilder vor Augen. trachtende einnehmen sollen. Uns wurde Davon erzählt unser Heft, zum Beispiel in deutlich, wie ambivalent die Zukunft ist. einem Bericht zum WerkstattTag ‚Enga- Der Schicksalsschlag, der Stefan Rein- giert, vital, verrückt‘ am 1. Oktober, der ders getroffen hat, ruft zur Nüchternheit. die Babyboomer vorstellt. Im Interview Klaus Glas gibt Tipps zum Umgang mit gibt Pfr. Thomas Renze Auskunft darü- der eigenen ungewissen Zukunft und ber, wie er sich die Zukunft der Senioren- im Bibelimpuls von Dr. Andreas Ruffing pastoral im Bistum vorstellt. Menschen geht es um den vertrauensvollen Kontakt kommen zu Wort, für die Zukunft eine zu Gott, aus dem Zukunft erwächst. Herausforderung darstellt: die Geschich- Wie immer finden Sie in dieser Ausgabe ten von Dr. Helmut Gerhold oder Mary Tipps für die Praxis. Schauen Sie doch und Harald Klee zum Beispiel zeugen mal rein! davon, wie es gelingt, sich im Alter (nie- mand würde das so sagen) einen Traum zu erfüllen und zu Neuem aufzubrechen. Mit Helga Engelke führen wir eine neue Rubrik in unser Magazin ein und stellen sie als Politprofi vor. Neu in diesem Magazin ist auch ein Satirebeitrag von Otmar Trabert. Das Titelbild von Christine Reinckens und die „Rückenansichten“, die Angela Makowski aus der Sicht der Kunsthis- Mathias Ziegler Dr. Andreas Ruffing 2 | PLUS 10/2020
INHALT Auf unsere Zukunft! Drei Babyboomer erzählen ihre Geschichten von Gegenwart und Zukunft .. .. .. .. .. .. 4 Die Babyboomer sollten auch was tun Der PLUS-Fragebogen mit Helga Engelke .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 9 Bildgedanken: Warten auf die Zukunft Zum Bild „Variationen des Wartens – Rückenansicht“ von Christine Reinckens .. .. .. 10 Zukunft der Alten – Zukunft der Kirche „Wir müssen die Seniorenpastoral neu erfinden“ – Interview mit Pfr. Thomas Renze .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 12 Unsere vier PLUS-Praxistipps zum Herausnehmen Telefonkonferenzen leicht gemacht, digitale Angebote nutzen Wortsuche-Rätsel, Seniorentreff „Hoffnung wagen“ .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 15 Hoffnung leben Warum wir neben der Angst auch Hoffnung haben dürfen .. .. .. .. .. .. .. .. .. 19 Frau Alzheimer zuwinken Ein schräger Blick auf die Babyboomer von Kabarettist Otmar Traber .. .. .. .. .. .. .. .. 20 Biblischer Impuls: Zukunft in der Wüste Gestärkt weitergehen – jeden Tag .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 22 Werkstatt-Tag: Vital+Verückt+Zukunft Ideen für eine andere kirchliche Seniorenarbeit .. .. .. .. .. .. .. .. .. 24 Wie arrangiert sich Kirche mit der nächsten Seniorengeneration? Antworten der Netzwerkpartner/innen .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 30 Impressum .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 31 Zum guten Schluss Unsere Tage zu zählen, lehre uns! .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 32 PLUS 10/2020 | 3
Titel Auf unsere Zukunft! Vollbremsung, Neues lernen und Träume verwirklichen – drei Babyboomer erzählen ihre Geschichten von Gegen- wart und Zukunft Als Babyboomer werden Menschen bezeichnet, die zwischen 1955 und 1965 geboren wurden. Sie hei- ßen Babyboomer, weil sie Kinder („Babys“) einer Zeit waren, in der die Geburtenrate in Deutschland deutlich stieg (englisch „boom“, in die Höhe schnellen). Jetzt werden die Babyboomer alt. Etwa 20 Prozent ist ihr beständiger Anteil an der deutschen Bevölkerung – eine starke gesellschaftliche Gruppe also. Wie geht es ihnen eigentlich? Was bewegt sie? Welche Fragen beschäftigen sie? Was sind ihre Wünsche? Wie sehen sie in ihre persönliche Zukunft? Davon erzählen hier zwei Männer und eine Frau: geboren 1957, 1958 und 1960. Erkennen Sie sich wieder? Kommt Ihnen das bekannt vor? Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre. Stich in den Kopf Eine Vollbremsung mit 60 Jahren und die Zeit als Geschenk Von Stefan Reinders Eine morgendliche Vorwärtsbeuge – ein Der erste Eindruck: In drei Wochen bin Stich in den Kopf – Schüttelfrost und ich wieder fit, es zieht mich zurück in die Schwitzen wechseln sich ab – etwas nicht Normalität, zurück an den Arbeitsplatz. Einzuordnendes ist passiert. Im Kranken- Erst langsam wird mir klar, wie lange das haus CT, MRT, Angiographie; die Diagno- Gehirn braucht, um sich zu reorganisie- se: Hirnblutung. Einige Tage intensivme- ren, den Schmerz abzubauen. Ich ziehe dizinische Betreuung – hochprofessionell, mich zurück – verunsichert, beobach- Sicherheit vermittelnd, gut aufgehoben te mich selber: ich bin müde, erschöpft, und versorgt. Es bleiben Bewegungsein- spüre meine Angst, dazu die schleichen- schränkungen, Kopfschmerzen. Konzen- de Sorge, nicht mehr so belastbar zu sein trations- und Belastungsstörungen, aber wie vorher. Und das als Mitarbeiter einer keine massiven neurologischen Ausfälle: Hochschule. Geht ein Zurück in meine Mein Gott, was habe ich für ein Glück ge- bisherige „Normalität“? Ich konzentriere habt. mich auf Alltägliches, ein systematisches Bewegungstraining und mein eigenes Eine Vollbremsung mit 60 – von jetzt auf Sportprogramm: Fahrradfahren, Schwim- gleich raus aus allen Alltagsroutinen. Es men, Spazierengehen. folgen fünf Wochen in der Klinik, danach eine ambulante Rehabilitation, Bewe- Mit der Zeit wächst die Erkenntnis, dass gungs- und Belastungstraining, neuro- die Beeinträchtigung sich nicht einfach psychologische Betreuung. „wegtrainieren“ lässt. Von Woche zu Wo- 4 | PLUS 10/2020
Persönlich che wird deutlicher, dass mein Gehirn ei- Von Woche zu Woche ändert sich der ner Eigenzeit folgt, mich in die Passivität Blick auf das, was vorher normal, selbst- zwingt. Ich lerne, dass das Schlafen der verständlich war. Unterbrechung mit 60: Erholung des Gehirns dient. den Blick auf die nächsten Berufsjahre richten: nicht zurück in alte Routinen, ei- Ich bin langsamer, schnell müde und er- gene Grenzen und eigene Lebenswünsche schöpft, kann mich nicht gut konzentrie- prüfen. Ja, alt werden wollen und spüren, ren, brauche Bewegung, suche die Ruhe, wie sich Kräfte ändern, schwächer wer- gehe Gruppenkontakten aus dem Weg, den. Dem Älter-werden zustimmen, mein suche das Allein-sein, beobachte die Blät- eigenes Tempo akzeptieren, nicht nur als ter, die vom Baum fallen. Ein Wechselbad „Diktat“ hinnehmen. von besorgter Selbstbeobachtung („wie war noch der Name?“, Wortfindungsstö- Bald werde ich mich wieder in den Ar- rungen, lückenhafte Erinnerungen, einge- beitsprozess integrieren. Ich freue mich schränkte Konzentration) und dem Gefühl, darauf, will wissen, was geht und fürchte mit jedem Tag beschenkt zu sein. Die Zeit, den Nachweis, allem nicht mehr wie vor- die bleibt, ist geschenkte Zeit, ist endliche her gewachsen zu sein. Ich weiß nicht, ob Zeit. Mit dem Schrecken leben: es kann ich die Zeit optimal „genutzt“ habe, ob ich von jetzt auf sofort ganz anders sein. Eine zielstrebiger, entschiedener, anders mit Ader platzt an der falschen Stelle, nicht der Zeit hätte umgehen sollen. Ich weiß Nasenbluten wie so oft vorher, sondern aber, dass meine Zeit „geschenkte Zeit“ Hirnbluten und alles ist anders. ist, jeden Tag. Die Entlastung von allen beruflichen Ver- Foto: privat pflichtungen, die freie, unverplante Zeit schärfen meinen Blick dafür, dass im All- tag sich das offenbart, was ist. Die Un- terbrechung hat etwas von einem „Ent- zug“. Die Alltagsroutine, meine täglichen Gewohnheiten sind unterbrochen. Ich bin mir selber auf neue Art und Weise aus- gesetzt, nehme wahr, was mich bewegt, was ich tue, wenn ich nichts mehr tun muss. Dies ist eine „Lebenserfahrung“, die ich nie mehr missen möchte: ein wirkli- ches Geschenk, Gnade und Offenbarung. Wahrnehmen was ist, nicht was sein soll, sein müsste, sondern das, was ist: Ich bin! Eine Herausforderung für mich: Was tue ich, wenn nichts zu tun ist? Wer bin ich ohne Arbeit? Gehöre ich zum „alten Ei- sen“, wenn ich nichts „machen“ kann? PLUS 10/2020 | 5
TITEL Foto: privat Start-up im Alter einige Jahre zuvor darüber nachgedacht hatte, was er in einem solchen Fall gern tun Helmut Gerhold gibt sich nicht damit zu- würde: mehr und entspanntere Zeit mit der frieden, was er einmal gelernt hat Familie verbringen, zukünftig mit Freude Aufgezeichnet von Christoph Baumanns auch seinen Freundeskreis pflegen, sich um Haus und Garten kümmern, die Sammlung „Über Dinge, die ich nicht beeinflussen mit selbst präparierten Säugetier-Schädeln kann, ärgere ich mich nicht“, sagt Helmut erweitern, seinem Hobby „Fahrrad fahren“ Gerhold. Aber man merkt im Gespräch mit frönen und vor allem: Gästeführer in Fulda ihm sofort, dass er die ‚Dinge‘ gern selbst werden. beeinflusst und gestaltet. Für ihn heißt das: sich rechtzeitig Gedanken machen, struktu- „Es gibt viele interessante Themen, aber riert planen, realistisch bleiben: „Wenn ich mein Thema ist die Geschichte, ganz be- was mache, dann möchte ich auch einen sonders die Stadtgeschichte Fuldas.“ Seit Nutzen davon haben. Ich will Dinge tun, 20 Jahren leben Helmut Gerhold und seine mit denen mich ein persönlicher Bezug ver- Frau Andrea, die zwei erwachsenen Kinder bindet, die ich mich traue umzusetzen und haben, in Künzell nahe Fulda. Die osthessi- die mir auch im Alter etwas bringen.“ Hel- sche Barockstadt hat es ihm ‚historisch‘ sehr mut Gerhold nennt das seine „Philosophie“. angetan. Und so nutzte der promovierte Diplom-Biologe, der eigentlich Lehrer wer- Gedacht, getan. 30 Jahre hat Gerhold als den wollte, die Umstrukturierungen seines Naturwissenschaftler in der Chemischen In- Arbeitgebers dazu, das eigene Leben umzu- dustrie gearbeitet. Dann kündigte das Un- strukturieren. Die viermonatige Gästefüh- ternehmen „Umstrukturierungen“ an. Was rer-Ausbildung startete im September 2018. für manche vielleicht wie ein unabänderli- Er hat sie als „ambitioniert“ erlebt; von 24 ches Schicksal klingt, verstand der damals Interessenten haben es 12 geschafft. „Wir 60jährige als Chance, genau zu überlegen, sind mittlerweile gut befreundet und teilen was er jetzt gerne machen würde. Er nutzte unser Wissen.“ Das macht Spaß und hilft die Möglichkeit, die ihm die Pensionskasse bei den Gesprächen mit den Stadt-Gästen. ab 60 bot und ging in den Ruhestand. Aber „Es erweitert den Horizont, das eigene Wis- was für einen Ruhestand? In dieser Situati- sen mit dem Wissen der Anderen zu vernet- on empfand er es als hilfreich, dass er schon zen“, ist Gerhold überzeugt. Zu seinen Lieb- 6 | PLUS 10/2020
Persönlich lingsplätzen gehört deshalb die Bibliothek Wenn Kinder ausziehen – und Eltern auch des Priesterseminars, „eine wahre Fund- grube für alle, die neues Wissen entdecken und die eigenen Themen mit neuen Themen Mary und Harald Klee verwirklichen ih- verbinden wollen“. Eine prägende Erfah- ren Traum vom Leben auf dem Land rung aus seinem Berufsleben spielt auch bei Aufgezeichnet von Christoph Baumanns seiner Tätigkeit als Gästeführer eine große Rolle: „Es ist immer wichtig, das Fachliche Das Haus in der Fuldaer Goerdelerstra- mit dem Emotionalen zu verbinden. Das be- ße Nr. 115 ist groß. Es ist das Elternhaus fördert in besonderer Weise unser Wahrneh- von Mary Klee, 62 Jahre alt. Sie verließ men und Lernen.“ es 18jährig, als sie heiratete. Sie zog 1981 mit ihren zwei Kindern wieder ein, um Etwa 100 Führungen á 1-2 Stunden waren später einmal ihre Eltern zu pflegen. Das es 2019, 60 bis 70 werden es coronabedingt dritte Kind wurde in der Goerdelerstraße in diesem Jahr. Besonders gerne führt Hel- geboren. Die Klees sind, salopp gesagt, mut Gerhold durch das Schloss: „Die Leute eine ganz besondere Pflegefamilie. Mary staunen über die Ausstattung des Fuldaer Klee war in ihrem ersten Beruf Kranken- Stadtschlosses. Man kann die Uhr danach schwester. Ihre Kinder – 1977, 1979 und stellen, wann die ersten überraschten Aus- 1983 geboren – entschieden sich eben- rufe zu hören sind.“ Aber auch das Barock- falls für Berufe im Pflegebereich. „Bei viertel mit Domplatz, die Michaelskirche, der Pflege meiner Eltern haben die Kin- deren Krypta einer der ältesten Kirchenräu- der wie selbstverständlich mitgeholfen. me Deutschlands ist, und der Alte Städti- Auch lebte eine Zeit lang ein Pflegekind sche Friedhof („Franzosenwäldchen“) sind bei uns.“ Als sie ihren zweiten Mann Ha- beeindruckende Sehenswürdigkeiten, an die rald kennenlernte, war klar, dass die bei- Gerhold seine Gäste sehr gerne führt. den nicht allzu oft zu zweit sein würden. Doch auch er zog in dieses Haus, das sich Nach seinem Berufsleben hat der jetzt in den kommenden Jahren von einem 63jährige noch etwas Anderes aufgegriffen, Haus der Pflege in ein Haus der Klänge das er als Kind angefangen, aber nicht hatte verwandelte. Denn Mary Klee war zu- weiterentwickeln können: das Akkordeon- nehmend unzufrieden, wie sich das Be- Spiel. Vor einigen Jahren begann er, auto- rufsbild der Krankenschwester mit den didaktisch zu üben, fand dann einen Lehrer, Umstrukturierungen der Krankenhäuser der ihn auch einlud, im Akkordeonorchester veränderte. „Da für unser Familienleben mit zu musizieren. „Das bereitet mir sehr und unsere Lebensfreude das Musizieren viel Freude und gibt mir das Gefühl, ganz in eine große Rolle spielte, hat mein Mann der Musik zu sein.“ mich darin bestärkt, Musikpädagogik und Musiktherapie zu studieren.“ Klee unter- Zu Helmut Gerholds Prinzipen gehört: „Wer richtete nach dem Studium einige Zeit in nicht selber plant, wird verplant.“ Mit dieser öffentlichen Musikschulen, wollte dann Grundhaltung in die Zukunft zu sehen und aber ihren eigenen Unterrichtsstil in klei- sie zu gestalten – davon kann Helmut Ger- neren Gruppen umsetzen. Das war die Ge- hold viele gute Geschichten erzählen. burtsstunde für die Musikschule Klee in PLUS 10/2020 | 7
TITEL der Goerdelerstraße 115. Im Keller starte- serem Häuschen zu fahren. Es gibt noch ten die ersten Klassen. Heute sind es viele einiges daran umzubauen, aber hier ha- hundert Schülerinnen und Schüler. ben wir unsere Heimat gefunden.“ In der Zeit, in der die Musikschule wuchs, Und die Zukunft? „Wir sind gesund. Al- veränderte sich auch Mary Klees Familie. ter und Pflege sind weit weg.“ Dennoch Die Kinder zogen wegen Ausbildung und wird Mary Klee beim Thema Pflege nach- Studium aus und kamen zwischenzeitlich denklich: Viele der Babyboomer sind ihrer wieder zurück. Dann zogen sie wieder Ansicht nach anders geprägt als die nach- aus und gründeten ihre eigenen Famili- folgenden Generationen. „Wir geben die en. Mary Klee hat sieben Enkelkinder. Ein Eltern, die zu pflegen sind, nicht weg.“ ist Mal in der Woche gibt es seit Jahren ei- so ein starkes Gefühl. „Aber meinen Kin- nen „Oma-Tag“, an dem alle Enkelkinder dern und Schwiegerkindern würde ich das bei „Oma Mary“ sind. Sie freut sich über nicht zumuten. Sie müssen länger arbei- das gute Verhältnis zueinander und das ten und wenn sie einen gewissen Lebens- weiterhin enge Familienleben, denn alle standard erreichen wollen, müssen auch wohnen nahe beieinander. „Ich brauche beide Ehepartner arbeiten. Wie können sie die Nähe meiner Kinder.“ weiß Mary Klee. da die Pflege bewerkstelligen? Denn Pfle- ge – das weiß in unserer Familie jeder – Was blieb war das große Haus und dar- ist sehr anstrengend.“ Mary Klee und ihr in die Musikschule. „Als die Kinder end- Mann denken zwischendurch schon mal gültig ausgezogen waren, damit ein sehr an Alternativen, vielleicht eine Wohnge- großer Teil des Haushaltsarbeit wegfiel meinschaft mit Freunden, die sich gegen- und mir meine Selbstständigkeit neue or- seitig unterstützen und betreuen. ganisatorische Freiheiten schenkte, wur- de der Kopf frei für ein starkes Gefühl: „Aber wie gesagt: Wir sind gesund, Alter dieses Haus als Wohnhaus zu verlassen.“ und Pflege sind weit weg. Und wir haben erzählt Mary Klee. „Ich wollte die alten noch andere Träume!“ sagt Mary Klee und Geschichten, die mit meinem Elternhaus lacht, „zum Beispiel mit dem Wohnmobil verbunden waren, endgültig hinter mir durch Europa reisen.“ lassen. Mein Mann und ich hatten Sehn- sucht, noch etwas Neues anzufangen, et- was ganz für uns beide, eben leben so wie wir es wollen.“ Als Marys Mann vor fünf Jahren in Ren- te gehen konnte, war die Zeit reif, diesen Traum zu verwirklichen: Die Klees kauf- ten sich ein Häuschen in Kleinsassen – mit zwei Islandpferden, Hühnern, Hund und Katzen, „unser kleines Bullerbü“, schmunzelt Mary Klee, „es ist eine große Lebensfreude, aus der Stadt heraus zu un- Foto: privat 8 | PLUS 10/2020
PLUS-Fragebogen Die Babyboomer sollten auch was tun PLUS fragt, Helga Engelke antwortet Helga Engelke, 79, ist Vorsitzende des Seniorenbeirats der Stadt Kassel und 1. Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der 16 Landesseniorenvertretungen. Sie kennt sich in der Politik von und für Senioren/innen bestens aus – genau die richtige also für den ersten PLUS-Fragebogen, mit dem wir Überzeugungen und Überlegungen von Menschen ins Gespräch bringen, die durch ihren Werdegang, ihre Lebenserfahrung und ihr Engagement in besonderer Weise inspirieren. Foto: Privat Was motiviert Sie, sich auch im hohen Alter können. Aber das reicht meines Erachtens nicht. politisch für die Belange älterer Menschen zu Wir brauchen neue Ideen! Haben Sie welche? engagieren? Schon in jungen Jahren wollte ich mich politisch Wie sehen Sie die Beziehung zwischen Kirche engagieren, aber das passte für meinen Mann nicht und älteren Menschen? zu unserer Firma, mit der wir in der Öffentlichkeit Ich bedaure sehr, dass nur die alten Menschen in standen. Zwei Jahre nach dem Tod meines Man- die Kirche gehen. Es müsste mehr für die Jungen nes – das ist jetzt 16 Jahre her – habe ich wieder getan werden – und nicht nur Weihnachtsspiele. Kontakt zu unserem Tanzclub aufgenommen. Und Es wäre schön, wenn es mehr Begegnungsmög- dann hieß es, Helga, Du kannst so gut organisie- lichkeiten zwischen Jung und Alt gäbe, bei denen ren, und dann war ich plötzlich Präsidentin des man sich über Glauben und Kirche austauschen Tanzklubs. Und dann hieß es, Helga, du kümmerst könnte. dich so gut um deine Seniorinnen, willst du nicht in den Seniorenbeirat, tja und dann, aber ich will Was erhoffen Sie von den Babyboomern, der mich nicht wiederholen (lacht), wurde ich auch kommenden Generation Senioren/innen? noch Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Dass sie in unserem Sinne weitermachen! Es wird der Landesseniorenvertretungen. auch in der Babyboomer-Generation Menschen geben, die Hilfe brauchen. Wenn ich krank würde, Für welches politische Ziel setzen Sie sich erwarte ich eigentlich, dass diese Generation die gerade besonders ein? Verantwortung übernimmt. Die Babyboomer soll- Dass die oft großen und motorisierten Fahrräder ten auch was tun! Aber im Moment sehe ich eher, kennzeichnungspflichtig werden! Ohne geht es dass der Nachwuchs fehlt. nicht mehr im heutigen Stadtverkehr. Anlass dafür war ein Unfall mit Todesfolge in meinem Bekann- Wie blicken Sie in die Zukunft? tenkreis. Auch der Schutz älterer Menschen vor Ich gehe grundsätzlich positiv in die Zukunft, aber kriminellen Machenschaften ist mir ein wichtiges ich habe auch Angst, ich sehe ja, wie viele Exis- politisches Anliegen. Und dann das große Problem tenzen durch die Coronavirus-Pandemie in Ge- „Einsamkeit“! Wir schaffen schon Gelegenheiten, fahr geraten. Ich bin ein Kriegskind. Ich weiß, was wo sich ältere Menschen treffen und austauschen Rückschläge bedeuten. PLUS 10/2020 | 9
Bildgedanken „Variationen des Wartens – Rückenansicht“ von Christine Reinckens. 1962 geboren in Hannover; ab 1982 Studium Freie Kunst/Malerei an der Kunsthochschule Kassel; künstlerische Arbeitsaufenthalte in Frankreich, Italien, England. Lebt und arbeitet in Kassel Warten auf die Zukunft Z ukunft ist, was noch nicht eingetre- ten ist – etwas auf uns Zukommen- des, das wir herbeisehnen oder befürch- Das ganze Leben ist ein Warten Diese stillstehende Zeit kennt viele For- men; eine davon hat die Malerin Christi- ten, eine ambivalente Zeitform, die offen ne Reinckens ins Bild gesetzt. „Das ganze ist, sich aber aus Vergangenheit und Leben ist ein Warten“, sagt sie und hat im Gegenwart bildet. Eben dieses noch nicht Prozess der Erarbeitung eines vielfiguri- Eingetroffene, aber Erwartete, macht die gen Frieses zu diesem Thema zahlreiche Substanz des Wartens aus. Solcher Blick Skizzen angefertigt. Eine trägt im Titel, in einen noch leeren Zeitraum ist ein be- was sie zeigt: „Variationen des Wartens merkenswerter Zustand: In unserem von – Rückenansicht“. Sie zeigt im Alltag er- Effektivität geprägten Kulturkreis wartet fasste Personen, mit dem Rücken zu uns selten jemand freiwillig, und aus Unge- gekehrt. Die Rückenansicht ist zwar ein duld und Unlust erwachsen zahlreiche altes Motiv der Malerei, aber eines, das Strategien des Zeitvertreibs, der Ver- erst errungen werden musste. Denn eine nichtung des überflüssigen Zeitaufkom- Zumutung zunächst, eine soziale Despek- mens. Davon ab hebt sich im christlichen tierlichkeit, gar ein Skandal war es, je- Zusammenhang die Zeit der Erwartung, mandem den Rücken zuzukehren. der Ankunft, zumeist froh gestimmt, während der Alltag oft zu bangem War- In dieselbe Richtung ten Anlass gibt. Christine Reinckens schreckt vor dieser Ungebührlichkeit nicht zurück. Bei ihr schauen Bildbetrachtende und gemalte 10 | PLUS 10/2020
Betrachter in dieselbe Richtung. Aber Jede und jeder wartet für sich unser Blick ist vordergründig bereits am Situation und Atmosphäre, die die Ma- Ziel, sobald wir die Figuren von hinten lerin hier skizziert, wirken entspannt; erblicken. Die ihrerseits haben etwas vor Zahl, Proportionen und Farben konzipiert Augen, was uns verborgen bleibt. Zwar Christine Reinckens im Sinne einer „Ge- kommen wir den Abgebildeten sehr nahe, samtmelodie“: „Wir sind eine Gruppe, wir beinahe sind sie uns ganz gegenwärtig, haben Zeit, es gibt eine – gemeinsam – doch ihre Gegenwart kommt ohne uns gestaltbare Zukunft für uns“, so ihr Ton- aus. Die Zwölf, die dort mit- und aufein- fall. Doch dem Zusammensein zum Trotz ander bezogen sind, erzählen uns nichts: ist Warten eine solistische Angelegenheit: weder von dem, was sie sehen, noch Jede und jeder wartet für sich selbst, er- von dem, was sie sind; all dies ist aus- schließt sich wartend eine eigene Zukunft. schließlich unserer Deutung überlassen: Wann aber werden sie aufhören zu war- Alter, Geschlecht, materielle oder soziale ten, wann endlich werden sich die Figu- Stellung. Woher sind sie gekommen? Wo ren zu uns umdrehen? Dann erst werden stehen sie eng nebeneinander, im Gebir- sie zu Individuen, und unsere Zukunft mit ge, am Wasser, hoch über einer Stadt, an den, die uns voraus sind, wird beginnen. einer Grenze? Sind sie zufällig dort zu- sammengetroffen? Sind sie wegen einer Angela Makowski Idee oder gemeinsamen Aufgabe überein- Angela.makowski@arcor.de gekommen? Welcher Zukunft sehen sie Kunsthistorikerin, Kassel entgegen? PLUS 10/2020 | 11
Interview Zukunft der Alten – Zukunft der Kirche „Für die Babyboomer müssen wir die Seniorenpastoral neu erfinden.“ Thomas Renze leitet die Abteilung Seelsorge im Bischöflichen Generalvikariat Fulda. In dieser Funktion ist er verantwortlich für die Seniorenpastoral, ‚altdeutsch‘ Altenseelsorge. Bald sind die Babyboomer „die Alten“. Wie sich das zukünftig auf die Seelsorge auswirkt, hat das PLUS-Magazin Thomas Renze gefragt. len wahrnehmen, was heute die Nöte sind. Thomas Renze Dem wollen wir in der Seelsorge gerecht 1979 in Fulda geboren wächst werden, das ist unsere Herausforderung – Thomas Renze im katholischen auch mit Blick auf die künftige Senioren- Milieu auf. Er ist Messdiener, pastoral. leitet Jugendgruppen, macht Küsterdienste. 2007 weiht ihn PLUS: Was sind die Nöte der Menschen, Altbischof Algermissen zum die heute Senioren sind oder morgen Se- Priester. Nach einigen Stationen nioren werden? als Kaplan wird er 2012 Diöze- RENZE: Zuerst ist hier Altersarmut zu sanjugendpfarrer des Bistums nennen. Sie begegnet mir immer wieder, Foto: Wolfgang Uffelmann Fulda. 2017 folgt die Ernennung verbunden oft mit der Frage der Elternge- zum Leiter der Abteilung Seelsorge. Mit 41 Jahren neration: „Will und darf ich meinen Kin- gehört Thomas Renze zu den beiden jüngsten auf dieser dern zur Last fallen?“ Da würde ich dann Position in den deutschen Bistümern. gerne den Satz hören: „Ja, ich darf meinen Kindern zur Last fallen. Sie sind mir auch zu Last gefallen.“ Wir wollen den Genera- PLUS: Was kommt auf die Kirche, auf ihre tionenausgleich im positiven Sinn stärken, Seniorenpastoral in Zukunft zu? das heißt die Familien ermutigen und un- THOMAS RENZE: Meine Antwort darauf terstützen, in der die verschiedenen Gene- ist von einer Erfahrung geprägt, die ich rationen füreinander da sind. Das sehe ich in vielerlei Hinsicht als typisch für meine als eine Aufgabe für die Zukunft. Generation empfinde: Die Zukunft ist un- verfügbar. Das macht gerade die Corona- PLUS: Was kann die Seelsorge dafür tun? virus-Pandemie besonders deutlich. Wir RENZE: Im Bereich Altersarmut ist es können Dinge planen, das ist auch unser wichtig, in den Gemeinden eine bestän- Auftrag. Aber wir brauchen die grund- dige Aufmerksamkeit dafür zu entwickeln, sätzliche Bereitschaft, unsere Pläne im- die Altersarmut vor Ort auch wirklich mer wieder zu verändern und anzupassen. wahrzunehmen und zusammen mit den Wir fahren auf Sicht. Das heißt, wir wol- kirchlichen Hilfsdiensten – hier ist vor 12 | PLUS 10/2020
Zukunft der Seniorenpastoral a llem die Caritas zu nennen – unterstüt- deren Dramatik erleben als ich mit meinen zend und beratend tätig zu werden. Zu un- 41 Jahren. Diese Menschen haben noch die serer Grundlagenarbeit gehört hier, dass Volkskirche erlebt, die ich eigentlich nur wir Christen dafür sensibel bleiben, Hilfe aus den Medien kenne. Da war es selbst- nicht nur als Aufgabe einer verbandlichen verständlich, sonntags zusammen in den und institutionellen Organisation zu be- Gottesdienst zu gehen, mit über 50 Pro- trachten, sondern dass ich da, wo ich als zent Gottesdienstbesuchern/innen. Heute einzelner Mensch mich für andere in Not sind wir bei etwas über 10 Prozent und einsetze, meine Berufung als Christ ver- die alte Generation muss teilweise erleben, wirkliche. wie ihre Kinder aus der Kirche austreten. Es gibt aber auch zunehmend ältere Men- PLUS: Welche Ideen für ‚christliche Auf- schen, die es ihren Kindern gleichtun. An träge‘ gehen Ihnen noch durch den Sinn? manchen Stellen bricht das kirchliche Le- RENZE: Wir schaffen Gelegenheiten, bei ben weg. Das wegzudiskutieren, ist Au- denen Familien über die Generationen genwischerei. Dieser Prozess hinterlässt hinweg zusammenkommen können, gera- Schmerzen. de auch dann, wenn die einzelnen Mit- glieder weit voneinander entfernt woh- PLUS: Die Kirche – eine einzige Abbruch- nen. In der Gemeinde Gelnhausen-Höchst, geschichte? in der ich als Kaplan gearbeitet habe, gibt RENZE: Das glaube ich nicht, dass wir in es zum Beispiel das jährliche Wendelinus- einer einzigen Abbruchgeschichte leben. Fest, zu dem traditionell die ganze Fami- Es gibt immer Dinge, die neu entstehen. lie zusammenkommt, also auch die Kin- Es kommt darauf an, die Trauer über das, der, die an anderen Orten Deutschlands was verloren geht, miteinander auszuhal- oder wo auch immer wohnen. Noch eine ten, und die Kirche im Hier und Jetzt und andere Idee: Dass ältere Menschen die Di- für die Zukunft zu gestalten. gitalisierung unserer Gesellschaft besser nutzen können, sprich Smartphones und Videotelefonie, gerade für die Situationen, in denen ein Kontakt vor Ort nicht mög- lich ist, wie jetzt so oft in der Pandemie. Solche technische Unterstützung könnte auch von Gemeindemitgliedern organi- siert werden. PLUS: Viele alte Menschen erleben auf besonders drastische Weise den aktuellen Umbruch der katholischen Kirche. Man- che verlieren sogar den Bezug zu ihrer Gemeinde, weil sie mit anderen Gemein- den zusammengeführt wird oder keinen Priester mehr bekommt. RENZE: Ich glaube, dass alte Menschen den Umbruch unserer Kirche in einer an- Mittagsgebet WerkstattTag 2020. Foto: Dr. Arnulf Müller PLUS 10/2020 | 13
Interview PLUS: Die Babyboomer sind die zukünfti- gen Senioren, die weder bei der Bedienung von Smartphones Unterstützung brauchen noch als ausgewiesene Fans von Kaffee- und-Kuchen-Nachmittagen bekannt sind. Was hat die Seelsorge denn für die Baby- boomer in petto? Regionalforum Eiterfeld, 2019. Foto: Mathias Ziegler RENZE: Für die Babyboomer müssen wir die Seniorenpastoral neu erfinden. Das ist dass in den Gemeinden unseres Bistums die Herausforderung, vor der wir stehen. ein neues Bewusstsein für zentrale Verän- Die Babyboomer sind die erste Generation derungen entsteht, und das heißt für die in Westdeutschland, die durch und durch Seniorenpastoral, dass wir mit den Baby- in der Demokratie großgeworden ist und boomern eine neue Art von ‚älteren Men- viele gesellschaftliche Fortschritte mit- schen‘ in unseren Blick nehmen. erlebt hat, zum Beispiel die Stellung der Frau. Die Babyboomer sind es gewohnt, PLUS: Wie kann dieses Bewusstsein ent- sich einzubringen, mitzudiskutieren und stehen? mitzubestimmen. Für diese Generation RENZE: Zum Beispiel durch dieses Inter- brauchen wir in unserer Seniorenpastoral view (lacht), natürlich durch entsprechen- einen anderen Zugang als wir für die Ge- de Fortbildungsangebote und auch durch neration der Kriegskinder aufgebaut und den WerkstattTag „Ideen für die kirchli- Jahrzehnte lang praktiziert haben. che Seniorenarbeit in der Zukunft“ am 1. Oktober. Hier spielt das Seniorennetz- PLUS: Wie soll das mit dem „Erfinden“ werk eine starke Rolle, weil es durch die gehen? WerkstattTage und auch durch das PLUS- RENZE: Uns muss bewusst werden, auch Magazin wichtige Themen wie Zukunft, bei den pastoralen Mitarbeiterinnen und Tabus im Alltag, Wertschätzung zwischen Mitarbeitern und in den Gemeinden, dass Haupt- und Ehrenamtlichen setzt. Entsteht eine neue Art von Senioren mit anderen das Bewusstsein für die Veränderungen in Wünschen und Bedürfnissen die Senio- der Seniorenpastoral, dürfen wir der Kre- renarbeit der Zukunft prägen wird. Senio- ativität vor Ort Vertrauen schenken – ich ren sollen Träger der Seniorenarbeit sein. tue das auch. Denn die Zeit, in der wir Das passiert jetzt auch schon, aber diese von oben alles vorkauen, ist vorbei. Linie wollen wir deutlich verstärken. PLUS: Wenn Sie die künftige Gestalt der PLUS: Wie will die Abteilung Seelsorge Seniorenpastoral auf den Punkt bringen, das organisieren? Reichen dafür die Res- dann … sourcen? RENZE: … dann machen wir nicht mehr per RENZE: Ich habe mir abgewöhnt, über Zeitungsartikel oder Gemeindeaushang auf mangelnde Ressourcen zu jammern. Un- den Seniorenkaffee mit Andacht aufmerk- sere Ressourcen sind immer knapper als sam, sondern wir lernen, dass die nächste das, was wir an Ideen und kreativen Mög- Generation der Senioren stärker und per- lichkeiten haben. Wir wollen mit dem, sönlicher gerufen sein will. Wir sprechen was uns zur Verfügung steht, Impulse die Menschen konkret an und laden sie zu für neue Projekte setzen. Uns ist wichtig, uns ein, etwas gemeinsam zu gestalten. 14 | PLUS 10/2020
Sehen geht nicht, PLUS-praxistipp aber sprechen und hören Telefonkonferenzen leicht organisieren Hochauflösende Smartphone- oder Tabletkameras und -Mikrofone oder entsprechende separate Zusatzausrüstung für den heimischen Computer, wie man sie für eine der gerade angesagten Videokonferenzen braucht – das haben nur einige Senioren. Aber egal ob die ganz alte schwarze bzw. graue Wählscheibenvariante, ein weinrotes, lindgrünes oder quietschoranges Tastengerät mit oder sogar ohne Schnur, ein abgelegtes Handy vom (Ur-)Enkel oder die vorletzte Generation Smartphone – irgendein Telefon hat auch in dieser Altersgruppe wirklich so gut wie jede/r. Und manche der Älteren sind sogar hochmodern und auf dem letzten Stand der Technik dabei. So funktioniert eine Telefonkonferenz: • Eine Telefonkonferenz muss man anmelden. Dafür gibt’s verschiedene, teilweise auch kostenlose Anbieter im Internet (z.B. Deutsche Telefonkonferenz u.a.). Die Bestätigung dieser Anmeldung erhält man per E-Mail. • Diese Anmeldedaten schickt man den Personen, mit denen man gemeinsam telefonieren will. • Wer sich mit den technischen Vorarbeiten schwer tut, findet bestimmt jemanden, der ihn dabei unterstützt. • Und schon kann die ganze Familie, der komplette gewohnte Gemeindekreis oder der halbe Verein gleichzeitig miteinander reden. Einfach die Festnetznummer des Anbieters anrufen (bei den meisten Verträgen ohne Zusatzkosten), nach Aufforderung einen PIN- Code wie am Bankautomaten eingeben und schon wird man freundlich im gemeinsamen Hör- und Sprechraum begrüßt. Ausreden lassen PLUS-Praxistipp 1 | Sehen geht nicht, aber sprechen und hören Vom Kaffeeklatsch über Problemlöse-Strategien bis zum Streitgespräch und zur gepfleg- ten Diskussion ist bei einer Telefonkonferenz alles drin. Die dafür nötige Disziplin (ausreden lassen und immer schön einer nach der anderen!) muss man allerdings oft erst noch ein wenig einüben. Vis-a-vis ist natürlich schöner. Doch so geht es auch. Telefonkette Und auch die gute alte Telefonkette erlebt derzeit eine Wiederbelebung: Von einem zur nächsten wird zu einer verabredeten Zeit eine Telefonliste abgearbeitet. Und am Ende wissen alle, wie gut es allen geht und haben zumindest ein persönliches Gespräch am Tag geführt. Und gibt es „Löcher“, kann sich jemand drum kümmern. Meine Erfahrung mit Telefonkonferenzen und Telefonketten: Funktioniert beides und über- fordert niemand. Gerd Pfahl Gemeindepädagoge in der Erwachsenen- und Seniorenbildung in den Evangelischen Kirchengemeinden Frankfurt-Nied, -Niederrad und -Griesheim, E-Mail: 55plus@gmx.net PLUS PLUS03/2017 7/2019 | 15
Digitale Angebote nutzen PLUS-PRAXISTIPP Der Verein „Wege aus der Einsamkeit“ bietet Lernvideos für die Generation 65+ Die Digitalisierung hält seit Jahren Einzug in immer mehr Lebensbereiche. Die aktuelle Corona- Krise verstärkt diesen Trend und wirkt als Beschleuniger des digitalen Fortschrittes sowohl in der Berufswelt als auch in anderen Bereichen des Alltags: Zoom-Meetings, WhatsApp-Video-Calls, die Corona-Warn-App, Online-Anmeldungen für Freizeit- und Kulturangebote – dies sind nur beispiel- hafte digitale Anwendungen, mit denen wir uns alle in den letzten Monaten verstärkt beschäftigen und auch auseinandersetzen. Doch was ist mit älteren Menschen, die nicht digital aufgewachsen sind? Wie nehmen wir die Generation 65+ bei diesen Entwicklungen und Trends mit? Der Verein „Wege aus der Einsamkeit“ setzt sich für die gesellschaftliche und digitale Teilhabe von Seniorinnen und Senioren ein. Er hat sich auf die Agenda geschrieben, dem Alter ein positives Image zu verleihen. Digitalisierung spielt dabei eine besondere Rolle. Dagmar Hirche und ihre Mitstreiter/innen fordern, dass digitale Bildung nicht vor Älteren Halt macht und Menschen jenseits der 65 einen Zugang zur digitalen Welt erhalten. • Auf seinem youtube-Kanal bietet der Verein vielfältige Erklär-Video-Reihen, die Senioren/innen den Umgang mit Smartphones, Tablets & Co. erklären. • www.youtube.com/c/WegeausdereinsamkeitDe ins Adressfeld des Internetbrowers eingeben oder auf youtube.com „Wege aus der Einsamkeit e.V.“ suchen • Sowohl in der „Übersicht“ als auch in der „Playlist“ finden sich zahlreiche Erklär-Videos zu digitalen Themen wie Zoom-Konferenzen, Bezahldienste, Unterhaltungsangebote und technische Schwierigkeiten. • Angeboten werden auch digitale, kostenfreie ZOOM-Konferenzen. Sie heißen „Versilberer Runden“ und beschäftigen sich mit Schulungs-Themen wie beispielsweise Onlineeinkaufen, Onlinebanking, YouTube, Mediatheken, Audiotheken und Fahrkarten online erwerben. Auch Unterhaltung und Information kommt mit Lesungen, Vorträgen, Sitz Yoga, Sport und auch den „Versilberer Partys“ nicht zu kurz. Schwierig ist die Beteiligung von älteren Menschen, die zwar Interesse, aber noch keinerlei Er- fahrungen mit digitalen Anwendungen haben oder denen die technische Ausstattung fehlt. Menschen, die aus finanziellen Gründen kein WLAN, keinen Laptop und kein Smartphone haben, PLUS-Praxistipp 2 | Digitale Angebote nutzen können die digitalen Angebote nicht nutzen, auch wenn sie eigentlich gern teilnehmen würden. Und es gibt natürlich auch Ältere, die gar kein Interesse haben und sich in gewisser Weise aus der digitalen Welt ausgrenzen. Kontakt: Verein Wege aus der Einsamkeit Telefon 040 - 422 36 223 200 E-Mail: info@wegeausdereinsamkeit.de
Dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen PLUS-PRAXISTIPP Ein Wortsuche-Rätsel Um das Denken und Erinnern zu trainieren, gibt es persönliche Haltungen und Aktivitäten, die das unterstützen: komplexes Denken schulen; sich selbst fordern und auf Neues einlassen; Neugier auf Unbekanntes wecken; sich immer wieder aus dem Routinealltag zurückziehen und Pausen einle- gen; Meditation und Ruheübungen praktizieren; Kontakt mit anderen Menschen pflegen; Verant- wortung übernehmen; neue Wege einschlagen; Kurse und Seminare besuchen; sich mit dem Sinn des Lebens beschäftigen und den Glauben für sich neu definieren; Gebetsleben pflegen; tägliche Bewegung. Diese Wörter sind versteckt: SINNSUCHE ABENTEUERLUST ARBEITSTIER KARRIERE BABYBOOMER PROFI FAEHIGKEIT GLEICHGESINNTE KULTUR SELBSTFINDUNG AUFSCHWUNG LEBENSSTIL GENERATION ERFAHRUNG AUFBRUCH NEUES MEDITATION POTENZIAL GEWINN SEHNSUCHT URLAUB TALENT WUENSCHE PLUS-Praxistipp 3 | Ein Wortsuche-Rätsel ZUKUNFT WOHLSTAND EMANZIPATION MONDLANDUNG RUECKZUGSORT BILDUNGSEXPLOSION WIRTSCHAFTSWUNDER Viel Vergnügen bei der Wortsuche! Roswitha Barfoot Sprecherin AG Ehrenamt im Seniorennetzwerk E-Mail r.barfoot@t-online.de
Hoffnung wagen PLUS-PRAXISTIPP Gespräch im Seniorentreff Für das Gespräch ist eine Gruppengröße von maximal 8 bis 12 Personen möglich. Die Dauer des Treffens sollte etwa 90 Minuten betragen. Erforderlich sind zwei kopierte Arbeits- / Liedblätter „Hoffnung wagen“ und „Kleines Senfkorn Hoffnung“ (T: Alois Albrecht; M: Ludger Edelkötter). I. Einsteigen • kurze Vorstellungsrunde • Die Leiter/in teilt das Arbeitsblatt „Hoffnung wagen“ aus und bittet, die Satzanfänge zu ergänzen. (Einzelarbeit in Stille oder mit meditativer Musik) ARBEITSBLATT „Hoffnung wagen“ 1. „Immer wenn Du meinst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“ Das habe ich erfahren, als … 2. Ich konnte selber jemandem Hoffnung zusprechen. Beispielsweise habe ich ... 3. Ich blicke hoffnungsvoll in die Zukunft, weil ... 4. Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute ... 5. Wenn ich das Wort Jesu auf mich wirken lasse: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Matthäus 28,20), dann gibt mir das Hoffnung, weil... II. In die Tiefe gehen • R eihum trägt jede/r vor, was er oder sie bei Frage 1 geschrieben hat. (Anmerkung: Erfahrungsgemäß kann hier Tiefe erreicht werden, die darin zum Ausdruck kommt, dass Teilnehmer/innen emotional berührt werden.) • In die Runde wird gefragt, wer einem Angehörigen oder Bekannten schon einmal Hoffnung spenden konnte. (Anmerkung: Hier muss nicht jede/r etwas sagen. Man kann auch nur als Zuhörer/in teilnehmen.) • R eihum trägt jede/r vor, was er oder sie zu Frage 4 geschrieben hat. (Anmerkung: Wenn jemand auf das bekannte Luther-Zitat verweist, wird bestätigt, dass dieser Pate für diese Frage stand.) • W enn noch Zeit übrig ist: Welche positiven Wirkungen hat Hoffnung? PLUS-Praxistipp 4 | Hoffnung wagen (Anmerkung: für den Einzelnen, für die Gemeinschaft, zum Beispiel Familie oder Kirche.) III. In den Alltag eintauchen: Was nehme ich mit? • L eiter/in teilt das Liedblatt „Kleines Senfkorn Hoffnung“. Je nach Räumlichkeit (Corona-Maßnahmen) wird das Lied gesungen oder als Gebet gesprochen. • S chlussrunde: ,,Was möchten Sie in den nächsten zwei Wochen Hoffnungsvolles für sich selbst oder für jemand anderen tun?“ Klaus Glas Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis E-Mail: praxis.glas@arcor.de
Interview Hoffnungsvoll leben Warum wir neben der Angst auch Hoffnung haben dürfen „Dem Glauben an den Anbruch einer großartigen Zukunft steht das Grauen vor dem Abgrund, aus dem keine Rettung mehr ist, entgegen.“ Man hat den Eindruck, dieser Satz könnte während der Corona-Krise formuliert worden sein. Dabei findet sich diese Textzeile in einem 70 Jahre alten Buch des Psychiaters Karl Jaspers. Der Apostel Paulus ist dagegen überzeugt: „Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ (Römer 5, 5) Hoffnung dürfen wir Christinnen und Christen allein schon deshalb haben, weil Gott in uns lebt: „Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ (Apostelgeschichte 17, 28) Foto: Adobe Stock Akzeptieren und Ändern Wie Dankbarkeit Hoffnung fördert Wir sind mit einer Vielzahl von Situa- Dankbarkeit steht mit einer hoffnungs- tionen konfrontiert, wo zu entscheiden vollen Sicht der Zukunft in Beziehung, ist, ob wir diese ändern können oder ak- was wiederum mit einem höheren Glücks- zeptieren müssen. Den Verlust eines lie- gefühl einhergeht. Es lohnt sich deswegen, ben Menschen, eine Trennung oder eine regelmäßig die Tugend der Dankbarkeit chronische Krankheit muss ich annehmen zu pflegen. Das geht einfacher als man lernen. Andere Ereignisse, wie eine be- vermuten würde. Führen Sie ein „Dank- vorstehende Prüfung, eine eheliche Part- barkeits-Tagebuch“! Im Buchhandel kann nerschaft oder den Ruhestand können man etwa „Das 6-Minuten-Tagebuch“ er- wir beeinflussen und gestalten. Hoffnung werben. Auch ein Notizbuch im DIN A5- brauchen wir für beides. Ich muss darauf Format tut es. Schreiben Sie jeden Abend vertrauen, dass ich unabwendbares Leid drei Erlebnisse auf, für die Sie Gott dank- tragen kann, und ich brauche die Zuver- bar sind. Das Verschriftlichen in der fol- sicht, dass ich aufgrund meiner Charak- genden Form hilft dabei, dass die Erfah- ter-Stärken Dinge anpacken und verän- rungen positive Wirkungen in der Seele dern kann. entfalten können: „Guter Gott, ich dan- ke Dir für …, weil ...“ Glauben Sie nicht? Modul für positive Gefühle Probieren Sie's doch einfach aus! Im menschlichen Gehirn gibt es – verein- facht ausgedrückt – ein Modul für Angst Klaus Glas und ein Modul für Hoffnung. Diese In- Psychologischer Psychotherapeut in formation ist wichtig, weil dadurch klar eigener Praxis wird, dass ich nicht erst Angst wegräu- E-Mail: praxis.glas@arcor.de men muss, um auf den grünen Zweig der Hoffnung zu stoßen. Stattdessen kann ich das Schwere im Leben annehmen und gleichzeitig Dinge tun, welche die Hoff- nung nähren. PLUS 10/2020 | 19
O du fröhliche Auf der „stairway to heaven“ stehen und Frau Alzheimer zuwinken Ein satirischer Blick auf die Babyboomer von Kabarettist Otmar Traber Wenn die Babyboomer-Generation in den fast schon im Paradies. Komisch, ich hab‘ Ruhestand gehen wird mit ihren Wohn- mir das Paradies immer anders vorgestellt. mobilträumen, ihrer immerwährenden Zu dritt verbringen ich, meine Tante und Gesundheit und der Hoffnung auf ewiges ihre neue Lebensabschnittspartnerin einen Leben … wenn die Erstgeborenen der Kon- vergnüglichen Nachmittag im Pflegeheim. sumgesellschaft hoffen, das Altwerden und Wir spielen „Bäumchen wechsel dich“ und Sterben bei Netflix beiseitelegen zu kön- „Ich sehe was, was du nicht siehst“. nen, dann müsste der Staat aus Wahrheits- liebe verordnen, dass alle Babyboomer Und jedes Mal wenn ich um 16.30 Uhr monatlich einen Nachmittag im Pflege- meine Tante in den Speisesaal schiebe, weil heim verbringen, damit jeder und jede sich um 16.45 Uhr das Abendessen auf dem Ta- ungeschminkt ein Bild von der eigenen gesplan steht, damit dann aber auch die Zukunft machen können. Alten spätestens um 18 Uhr geputzt und gewickelt in ihrer Arrestzelle liegen, dann Ich mache das, geh einmal im Monat auf heul‘ ich auf dem Heimweg immerzu: „Ich Pflegeheimtour und besuche meine 92-jäh- möchte mal ein eigenes Verfallsdatum ha- rige Erbtante in „Maria Hilf“. Vorgestern ben, jeder Joghurt hat das Recht auf ein war’s wieder soweit. Verfallsdatum." rau Alzheimer war auch wieder da. Frü- F Wenn nämlich der Mensch sein Verfalls her ist sie nur ab und zu gekommen, jetzt datum vergisst, dann zeigen ihm die Alz ist sie ständig anwesend. Meine Tante ist heimers, wer Herr im Haus ist. Dann ganz verrückt nach ihr. Mittlerweile sind funktioniert vielleicht noch der Herz- die beiden ein Herz und eine Seele. Die schrittmacher oder das implantierte Hüft- Mediziner sagen zwar, wenn es soweit ist, gelenk, aber im Hirn hat die Humusbildung dass die Leute friedlich mit Frau Alzheimer schon längst begonnen und der noch funk- im Bett liegen, dann wären das die glück- tionierende Rest wird dann für 4000 € im lichsten Menschen. Eigentlich wären die Pflegeheim der Caritas zwischengelagert. 20 | PLUS 10/2020
Luftgitarre Meine Altersvorsorge heißt schon seit Jah- ren nicht mehr Riesterrente oder Rürup. Ich hab‘ mir fest vorgenommen an dem Tag - und ich weiß irgendwann einmal im November wird er kommen, wenn die erste Einladung zur Senioren-Weihnachts- feier von der Kirchengemeinde in meinem Briefkasten liegt, dann werde ich mich bei „Dignitas“ anmelden. Das ist die schwei- zerische Alternative zum deutschen Pfle- geheim. Anschließend werde ich trotzdem ins Ge- meindehaus gehen zu dieser Weihnachts- feier, aus Protest und mit einem Che Gue- vara-T-Shirt und einem MP3-Player. Und wenn dann ein Erstklässler aus der Ju- gendmusikschule mit seiner Geige „Oh du fröhliche“ anstimmt und die Alten mitsin- gen müssen, dann werd‘ ich mir Led Zep- pelin oder Jimmy Hendrix reinziehen, auf dem Tisch stehen und Luftgitarre spielen. Otmar Traber aus dem Kabarett Programm „SURVIVALTRAINING – das Weniger wird immer Mehr“ traber@otmar-traber.de Foto: Otmar Traber PLUS 10/2020 | 21
biblisch Zukunft in der Wüste Gestärkt weitergehen – jeden Tag A ls die Söhne und Töchter Israels aus den Arbeitslagern des ägyptischen Pharao entkommen und sich als freie Menschen auf dem Weg ins Gelobte Land machen, werden sie mit einer harten Realität konfrontiert: Der anstrengende Weg zerrt an allen Kräften. Die oft lebensfeindliche Wüste birgt Gefahren für Leib und Leben. Hunger und Durst sind ständige Begleiter. Wann das Ziel erreicht ist, bleibt ungewiss. Und niemand weiß, was der nächste Tag bringen wird. Nicht allwissend Bohrende Fragen In Zeiten der Corona-Pandemie machen Auch unter den Israeliten in der Wüste wir mehr und mehr die schmerzhafte wachsen Ängste, Zweifel und bohren- Erfahrung: Trotz allen Wissens sind wir de Fragen. Zwei Alternativen stehen im nicht allwissend. Trotz aller Sicherungs- Raum: Weitergehen auf das Ziel zu, das maßnahmen und Gesundheitsstandards noch in der Zukunft liegt und vielleicht sind wir nicht unverletzlich. Trotz al- in der eigenen Lebenszeit nicht erreicht ler Planungen und Prognosen können wird? Oder Zurückkehren zu den „Fleisch- wir nicht die Zukunft beherrschen. Viele töpfen Ägyptens“ in die Unfreiheit, in der Menschen erleben zurzeit aus wirtschaft- er es sich zwar nicht besonders gut, aber lichen und gesundheitlichen Gründen, immerhin leben lässt. wegen Kontakteinschränkungen und zu- Gott hört davon, erzählt die Bibel. Doch er nehmender Einsamkeit ganz existentiell reagiert nicht mit anklagenden Vorwürfen ihren Weg durch die Wüste mit Zweifeln und auch nicht mit platten Durchhaltepa- und Ängsten. Und die Fragen stehen im rolen. Stattdessen verheißt er durch Mose Raum: Gibt es für mich, gibt es für uns „Brot vom Himmel“. Und tatsächlich – so eine gute Zukunft? Und: Was gibt Kraft hören wir im Buch Exodus, Kapitel 16 – und Zuversicht weiterzumachen? liegt am nächsten Morgen das berühmte Foto: Adobe Stock 22 | PLUS 10/2020
hungrig Manna auf dem Boden, zum Einsammeln gespeist, das du nicht kanntest und das und Essen. So übersteht das Volk den auch deine Väter nicht kannten. Er woll- Hunger in der Wüste. Eine wunder-volle te dich erkennen lassen, dass der Mensch Geschichte! nicht nur vom Brot lebt, sondern dass der Mensch von allem lebt, was der Mund des Genug für einen Tag HERRN spricht.“ (Dtn 8,3) Das Wunder besteht allerdings nicht da- rin, dass das Manna vom Himmel fällt. Es ist eine banale Wahrheit: Menschen Dafür gibt es sogar eine im wahrsten Sin- brauchen zum Leben Nahrung wie das ne des Wortes lausige Erklärung: Auf der sprichwörtlich „tägliche Brot“. Es ist Nah- Halbinsel Sinai leben Schildläuse, die zur rung, die wir selbst produzieren können. Ernährung ihrer Larven aus einer Wüs- Die Wüstengeschichte erinnert im Bild des tenpflanze Saft saugen. Den Überschuss Mannas an das lebensnotwendige Brot, des nicht gebrauchten Saftes sondern sie das uns Gott gibt: umsonst, so wie wir es als Tropfen ab, die als kleine, weißlich- brauchen und ebenfalls jeden Tag neu, an gelbliche Kugeln auf den Boden fallen. den sechs Tagen und für den siebten Tag. Die Kügelchen werden von den Beduinen Auch dies ist ein Brot, das stärkt und kräf- am Morgen aufgesammelt und als Honig tigt. Damit lässt sich weitergehen, gerade ersatz gegessen. dann, wenn es schwerfällt und die Zu- Das Wunder besteht vielmehr darin, dass kunft im Dunkeln liegt. Nach biblischem jeder und jede, so viel oder so wenig er Verständnis ist die Heilige Schrift als Wort sammelt, genug für seine Bedürfnisse hat. Gottes selbst dieses „Brot von Himmel“. Und dass das Gesammelte genau für einen Und im Johannesevangelium spricht Je- Tag reicht. Denn aufbewahren lässt sich sus von sich als dem „Himmelsbrot“ (Jo- das schnell verderbliche Manna nicht. hannes 6,33-35) Damit kann man mit ihm auch keine Ge- schäfte machen. Es entzieht sich Kosten- Angst überwinden Nutzen-Überlegungen. Eine Ausnahme Einer, der zutiefst von der stärkenden gibt es allerdings: Am Vortag gesammel- Kraft des „Himmelsbrotes“ überzeugt war tes Manna verdirbt am Sabbat nicht, die- und dies in den dunkelsten Stunden seines ses Manna reicht für zwei Tage. Lebens bekannt hat, war Dietrich Bon- hoeffer. In seinem berühmten Glaubens- Ein Lehrstück bekenntnis aus dem Jahr 1943 schreibt er Die Geschichte ist ein Lehrstück. Es erzählt aus der Haft: seinen Leserinnen und Lesern davon, dass Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage Gott sein Volk in der Wüste „wundervoll“ soviel Widerstandskraft geben wird, wie begleitet, dass er sich um die Menschen wir brauchen. Aber er gibt sie uns nicht sorgt, sie stärkt in schwierigen Zeiten und im voraus, damit wir uns nicht auf uns für den anstrengenden Weg. Das Lehr- selbst, sondern allein auf ihn verlassen. stück spricht davon, dass Gottes sorgende In solchem Glauben müsste alle Angst vor Begleitung lebensnotwendig ist. Das Buch der Zukunft überwunden sein.“ Deuteronomium sagt es so: „Durch Hunger hat er dich gefügig ge- Dr. Andreas Ruffing macht und hat dich dann mit dem Manna andreas.ruffing@bistum-fulda.de PLUS 10/2020 | 23
Reportage Alle Fotos: Dr. Arnulf Müller Vital + Verrückt + Zukunft = Ideen für eine andere kirchliche Seniorenarbeit An den Tischen der Seniorennachmittage sitzen bei Kaffee und Kuchen die „Kriegskinder“. Sie freuen sich, dass sie – fast alle hochbetagt – noch zusammenkommen können. Sie haben vorher Eucharistie gefeiert und lassen sich gerne mit heißen Getränken und gutem Backwerk verwöhnen. Sie fühlen sich wohl miteinander. Der Priester sitzt auch mit dabei. Gleich gibt es noch Programm, ein Vortrag über Igor Strawinskys Ballettmusik „Der Feuervogel“ oder wie man Unfälle im Haus- halt vermeidet. Gute alte Zeit! Aber sie geht zu Ende. Und was machen wir dann? Und was machen wir jetzt? Nur sehr wenige der Teilnehmenden am tation mit Händen greifbar wird: „Wir reden WerkstattTag 2020 des Seniorennetzwerks hier nicht über andere, sondern über uns im Bistum Fulda gehören zur Generation selbst“, wie es Pfarrerin Annegret Zander der Kriegskinder. Die meisten sind jünger, von der Fachstelle Zweite Lebenshälfte der viele davon sogenannte „Babyboomer“ aus Evangelischen Kirche von Kurhessen-Wal- den geburtenstarken Jahrgängen 1955 bis deck treffend auf den Punkt brachte. Die 1965. Alle engagieren sich in der Senioren- Babyboomer sind die nächste Generation arbeit, ob hauptamtlich oder ehrenamtlich, an Seniorinnen und Senioren. und alle haben einen guten Blick für ‚die Älteren‘. Bei diesem Blick in die Runde der Stille, Atem, Einfädeln Teilnehmer/innen entstanden während des Am Anfang des WerkstattTages war nicht WerkstattTags Momente, in denen die Irri- das Wort, sondern die Stille. Und in die Stille hinein hörten die Teilnehmenden ein Atmen, dann das Geräusch von Händen, Die Ausgangsfrage die etwas tun. Ohne Worte beginnt Kunst- „Heute wollen wir Ihnen die Generation der Baby- therapeutin Martina Fuchs, eine Fahrrad- boomer vorstellen und fragen, wie sich die kirchli- felge mit unterschiedlich farbigen Fäden zu che Seniorenarbeit in Bezug auf die nächste Gene- umwickeln, manchmal wirkt es zielstrebig, ration dieser Seniorinnen und Senioren entwickeln manchmal verzweifelt, nahezu musikalisch sollte.“ unterlegt mit Fuchs‘ Atemgeräuschen und Roswitha Barfoot, Sprecherin AG Ehrenamt, ihrem zeitweiligen Vor-sich-her-Summen. in ihrer Begrüßung Die Melodie „Stairway to heaven“ ist zu erkennen; das tun vor allem die Babyboo- 24 | PLUS 10/2020
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