Praxishandbuch Psychiatrische Krisenintervention - Erste Hilfe bei psychischen Krisen aus interdisziplinärer Sicht - Amazon ...
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LESEPROBE Michael Frey Claudia Fischer (Hrsg.) Praxishandbuch Psychiatrische Krisenintervention Erste Hilfe bei psychischen Krisen aus interdisziplinärer Sicht
Inhaltsverzeichnis 1 Formen der Krisenintervention im 4 Was begegnet mir? Erscheinungsformen Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 psychiatrischer Krisen . . . . . . . . . . . . 59 Astrid Bruhn, Claudia Fischer und Michael Claudia Fischer, Michael Frey, Jeannette Frey Hofmann und Ingrid Schäfer 1.1 Krise als Phänomen. . . . . . . . . . . . . . 3 4.1 Realitätsverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Claudia Fischer und Michael Frey Michael Frey 1.2 Die historische Entwicklung von Formen 4.2 Orientierungslosigkeit und der Krisenintervention. . . . . . . . . . . . 7 Verwirrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Claudia Fischer Michael Frey 1.3 Die internationale Perspektive . . . . . 8 4.3 Angst und Panik . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Claudia Fischer Claudia Fischer 1.4 Die gesellschaftliche Perspektive. . . . 11 4.4 Depression und Manie . . . . . . . . . . . 75 Astrid Bruhn Claudia Fischer 1.5 Krisenintervention in der 4.5 Zwang und Horten . . . . . . . . . . . . . . 80 Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Claudia Fischer Claudia Fischer 4.6 Essstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Michael Frey 2 Krisenintervention als 4.7 Emotionale Instabilität und „Prozess“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 narzisstische Verwundbarkeit . . . . . . 88 Michael Frey Claudia Fischer 2.1 Krisenintervention als Moment der 4.8 Selbstschädigendes Verhalten. . . . . . 95 Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Michael Frey 2.2 Prozessorientiertes Vorgehen in der 4.9 Belastung und Trauma . . . . . . . . . . . 100 Krisenintervention . . . . . . . . . . . . . . . 24 Claudia Fischer 2.3 Ein Prozess der 4.10 Impulsivität und Bedrohlichkeit. . . . . 106 Gegenseitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Michael Frey 4.11 Sucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3 Was bringe ich mit? Ingrid Schäfer Grundhaltung und 4.12 Der körperlich Kranke . . . . . . . . . . . . 120 theoretischer Hintergrund . . . . . . 35 Ingrid Schäfer Claudia Fischer und Michael Frey 4.13 Geistige Behinderung . . . . . . . . . . . . 126 3.1 Psychodynamische Modelle. . . . . . . . 36 Jeannette Hofmann Claudia Fischer 4.14 Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . 134 3.2 Lerntheoretische Überlegungen . . . . 43 Michael Frey Michael Frey 3.3 Systemische Aspekte. . . . . . . . . . . . . 49 5 Spezielle Kriseninterventionsfelder 139 Michael Frey Claudia Fischer, Michael Frey, 3.4 Sonstige Konzepte. . . . . . . . . . . . . . . 54 Annette Graf und Jan Reuter Claudia Fischer 5.1 Kinder und Jugendliche . . . . . . . . . . . 140 Michael Frey C0080.indd XI 11/09/20 4:22 PM
XII Inhaltsverzeichnis 5.2 Alte Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 7 Wo muss man wachsam sein? . . . 213 Claudia Fischer Claudia Fischer, Michael Frey und Jona 5.3 Menschen mit Kräenbring Migrationshintergrund . . . . . . . . . . . 168 7.1 Nach außen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Jan Reuter Claudia Fischer 5.4 Krisenintervention bei Menschen mit 7.2 Nach innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 forensischem Hintergrund . . . . . . . . . 177 Claudia Fischer Annette Graf 8 Medizinisch-psychiatrisches 6 Methodische Besonderheiten . . . . 185 Grundwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Claudia Fischer, Michael Frey und Ingrid Michael Frey und Ingrid Schäfer Schäfer 8.1 Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . . . . 245 6.1 Krisenintervention am Telefon . . . . . 186 Ingrid Schäfer Claudia Fischer 8.2 Psychopathologischer Befund . . . . . . 256 6.2 Krisenintervention im Team . . . . . . . 191 Michael Frey Michael Frey 6.3 Krisenintervention vor Ort . . . . . . . . . 195 9 Rechtliche Rahmenbedingungen. . 263 Michael Frey Ingrid Schäfer 6.4 Teil- oder vollstationäre 9.1 Garantenstellung. . . . . . . . . . . . . . . . 263 Krisenintervention . . . . . . . . . . . . . . . 201 9.2 Schweigepflicht. . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Ingrid Schäfer 9.3 Unterbringung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 6.5 Digitale Zugangswege – Online- 9.4 Rechtfertigender Notstand . . . . . . . . 266 Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Michael Frey Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 C0080.indd XII 11/09/20 4:22 PM
62 4 Was begegnet mir? Erscheinungsformen psychiatrischer Krisen 4.1 Realitätsverlust Die Basis sozialer Kommunikation ist eine gemein- Michael Frey same Bezugsgröße, die miteinander geteilte Realität. Zentrales Merkmal einer psychotischen Erkrankung Zusammenfassung ist, dass es hier zu einem Bruch kommt. Wahn und • Psychotische Erkrankungen sind u. a. durch Halluzinationen als Symptome einer psychotischen Realitätsverlust sowie kognitive und affektive Störung sind dadurch gekennzeichnet, dass eben die Beeinträchtigungen gekennzeichnet, was sich je spezielle Sicht- und Erlebensweise nicht mit ande- auf die Kommunikation mit den Betroffenen ren geteilt werden kann, was zu Vereinsamung und auswirkt. Verzweiflung führen kann. Die häufigste Form von • Wichtige Kriseninterventionsziele sind die Psychosen sind die aus dem schizophrenen Formen- akute Entlastung und ggf. die Unterstützung kreis. und Beratung der Angehörigen – immer Bei der schizophrenen Psychose sind in erster auch mit Blick auf die Erarbeitung einer Be- Linie vier Domänen des Denkens und Erlebens be- handlungsmotivation. Denn für eine günstige troffen: Prognose ist, vor allem bei Erstmanifestatio- • Störungen des Realitätsbezugs (Wahn und Hallu- 4 nen, ein möglichst frühzeitiger Behandlungs- zinationen) beginn entscheidend. • Kognitive Beeinträchtigung (u. a. formale Denk- • Die Kommunikation mit psychotischen störungen) Menschen muss dabei an die jeweils vor- • Negativsymptome (flacher Affekt, Alogie etc.) herrschende Symptomatik angepasst werden, • Affektive Dysregulation (z. B. Ängste, depressiver um verständlich zu sein und das Gefühl von Affekt) (van Os et al. 2010) Sicherheit und Vertrauen zu vermitteln. Der Dies kann sich in z. T. grob desorganisierter Sprache Respekt vor der „Realität“ des Gegenübers ist bzw. desorganisiertem Verhalten bis hin zu katatoner die Grundlage für eine gelingende Gesprächs- Erstarrung äußern (DSM-5: APA 2013). führung. INFOBOX Als wichtige Änderung in der Klassifikation der schizophrenen Psychosen in der ICD-11, die diesbezüg- lich dem DSM-5 folgt, werden die in der ICD-10 be- 4.1.1 Leitsyndrom, diagnostische Kri- schriebenen Unterformen (hebephrene Schizophrenie, terien Schizophrenia simplex, undifferenzierte Schizophrenie etc.) großenteils aufgehoben (vgl. S3-Leitlinie Schizophrenie: II Fallbeispiel DGPPN 2019). Mit besorgtem Gesichtsausdruck und leiser Stimme teilt der junge Mann der professionellen Helferin mit, dass er seit Monaten von zwei seiner Nachbarn über- 4.1.2 Positivsymptome wacht werde. Er deutet auf die Regale und macht eine Geste, die das Gegenüber zur Vorsicht mahnt. Dort Die sog. Positivsymptome sind dabei besonders seien Mikrofone und kleine Kameras versteckt. Im kennzeichnend und u. a. wesentlich für die kategoriale nächsten Moment springt er auf und geht unruhig diagnostische Einordnung (DSM-5: APA 2013). Sie auf und ab, ohne weitere Auskünfte zu geben. Er wirkt umfassen Wahn, Halluzinationen, Ich-Störungen und sehr angespannt, gedankenverloren und verängstigt. einen Teil der formalen Denkstörungen. Nach einigen Minuten lässt er sich wieder auf dem von einem Handtuch bedeckten Sofa nieder. Er berichtet, dass er seine Nachbarn hören könne; er könne ihre Wahn Gedanken in seinem Kopf hören und wisse daher, dass sie jeden seiner Schritte verfolgten. Er verlasse Die Wahnsymptomatik als Ausdruck des verlorenen die Wohnung nur im Dunkeln, weil er sich da etwas Realitätsbezugs kann in unterschiedlichen Formen sicherer fühle; tagsüber bleibe er zu Hause. II und Ausprägungen auftreten (› Kap. 8.2.2). C0020.indd 62 10/09/20 2:06 PM
4.1 Realitätsverlust 63 Dabei kann zum einen die Intensität des Wahns be- • Gedankenausbreitung trachtet werden: • Sonstiges Fremdbeeinflussungserleben (das Ge- • Wahnstimmung: Die Betroffenen haben lediglich fühl, dass Erleben oder Verhalten von außen ge- das Gefühl, dass „etwas nicht stimmt“, ohne dass steuert oder „gemacht“ wird) sie die Hintergründe näher benennen können. und eher unspezifischen Ich-Störungen, die auch bei • Wahnwahrnehmung: Eine Sinneswahrnehmung anderen psychischen Erkrankungen oder Ausnahme- wird in ihrer Bedeutung in einen anderen Bezugs- zuständen auftreten: rahmen gesetzt. So wird z. B. ein vorbeifahrendes • Depersonalisation (Entfremdungsgefühle gegen- rotes Auto als Zeichen interpretiert, dass der über sich selbst) Nachrichtendienst wieder aktiv ist. • Derealisation (Entfremdungsgefühle gegenüber • Wahneinfall: Ein wahnhafter Gedanke tritt unab- der Umwelt, Raum oder Zeit) (Mehl et al. 2016). hängig von einer Sinneswahrnehmung auf; z. B.: „Mein Ehemann will mich vergiften.“ • Systematisierter Wahn: Die Komplexität des Formale Denkstörung Wahns nimmt zu, und immer mehr Wahr- nehmungen und Beobachtungen werden in die Neben den Denkinhalten, die im Wahn beeinträchtigt 4 Wahnsystematik integriert. sind, ist häufig auch der formale Gedankengang ver- Was die Wahninhalte angeht, so erleben ca. 80–90 % ändert. Dies kann von diskreten Abweichungen bis der Menschen mit einer schizophrenen Psychose hin zu völliger Unverständlichkeit des Gesprochenen einen Verfolgungs- bzw. Beeinträchtigungswahn. Es führen. Die Ausformung der formalen Denkstörung gibt jedoch auch noch zahlreiche andere Formen wie kann dabei sehr unterschiedlich sein: Sie kann von Liebes- oder Eifersuchtswahn, Größenwahn, Schuld- einer assoziativen Lockerung bzw. Ideenflucht bis hin wahn etc. (Mehl et al. 2016). zu völliger Zerfahrenheit reichen. Es können Neologis- men oder Perseverationen auftreten, oder die Betrof- fenen erleben eine Blockierung des Denkens, um nur Halluzinationen einige zu nennen. Immer zeigt es sich dem Gegenüber durch eine Beeinträchtigung in der Kommunikation; Die im Rahmen einer Psychose auftretenden Sinnes- der verbale Ausdruck und ggf. das Verhalten des Be- täuschungen können im Grunde jede Sinnesmodali- troffenen verweisen auf die dahinterliegende formale tät betreffen. Am häufigsten sind im Rahmen einer Denkstörung (› Kap. 8.2). Schizophrenie akustische Halluzinationen zu be- obachten (ca. 50 % der Betroffenen) (Mehl et al. 2016). Während optische Halluzinationen bei Erwachsenen 4.1.3 Negativsymptome eher selten sind (ca. 15–35 %), treten sie bei Psycho- sen im Kindesalter häufig auf (ca. 80 %) (Resch und Insbesondere im längeren Verlauf schizophrener Schimmelmann 2013). Psychosen spielen Negativsymptome eine wesentli- che Rolle. Es treten Symptome auf, von denen einige auch bei depressiven Störungen zu beobachten sind. Ich-Störungen Affektverflachung, Anhedonie, Antriebslosigkeit, Verlangsamung im formalen Denken und sozialer Hierbei verschwimmen die Grenzen zwischen dem als Rückzug sind mögliche Ausprägungen. Manchmal „Ich“ Empfundenen und der Umwelt. Das, was als zu- verarmen die Betroffenen im sprachlichen Aus- nächst selbstverständlich „Meinhaftiges“ erlebt wird, drucksvermögen (Alogie) und leiden unter einer wird durchlässig bzw. verändert sich. Dabei kann ausgeprägten Apathie. unterschieden werden zwischen für eine Psychose sehr spezifischen Ich-Störungen wie • Gedankeneingebung • Gedankenentzug C0020.indd 63 10/09/20 2:06 PM
64 4 Was begegnet mir? Erscheinungsformen psychiatrischer Krisen 4.1.4 Wichtige Kriseninterventions- Konsistent mit diesen Überlegungen zur Entstehung ziele von Psychosen ist, dass annähernd 90 % aller Be- troffenen mit einer psychotischen Erkrankung aus Bei akuter Exazerbation gilt es, eine Behandlungs- dem schizophrenen Formenkreis bereits Jahre vor der motivation zu erarbeiten. Ein sehr konsistenter Erstmanifestation sog. prodromale Symptome ge- Befund in wissenschaftlichen Studien ist, dass die zeigt haben (Schultze-Lutter et al. 2015). Das können Prognose einer psychotischen Störung sich mit der psychoseferne Auffälligkeiten im Denken und Wahr- frühzeitigen medikamentösen antipsychotischen nehmen oder in Dauer bzw. Intensität abgemilderte Behandlung verbessert. Jede Behandlungsverzöge- psychotische Symptome sein. So erleben z. B. manche rung hingegen verschlechtert die Langzeitprognose. Menschen sog. Gedankeninterferenzen, d. h., es treten Bei einer Erstmanifestation ist zudem differenzial- Gedanken ins Bewusstsein, die nicht zum aktuellen diagnostisch eine organische Ursache der Erkran- Kontext passen und als sehr befremdlich empfunden kung mit zu berücksichtigen und medizinisch ab- werden. Menschen in einem prodromalen Stadium zuklären. nehmen diese Gedanken als störend und irritierend wahr, verorten die Herkunft der Gedanken jedoch ein- 4 deutig bei sich. Im Rahmen einer manifesten Psychose 4.1.5 Ätiologische Modelle würde die Quelle jedoch ggf. externalisiert, d. h. im Außen gesucht, und damit als „Gedankeneingebung“ Hinsichtlich der Entstehung psychotischer Erkran- erlebt, was einen Realitätsverlust kennzeichnet und kungen ist von einem multifaktoriellen Vulnera- den Menschen in noch größere Verunsicherung treibt. bilitäts-Stress-Modell auszugehen. Zu einer poly- genetisch vererbten Hirnentwicklungsstörung treten Gen-Umwelt-Interaktionen hinzu, welche die Ent- 4.1.6 Interventionen – einen Zugang stehung einer psychotischen Erkrankung ermögli- finden chen. Das von Keshavan (1999) formulierte 3-Hits- Modell rekurriert auf diese Annahme und sieht in der In der Begegnung mit akut psychotischen Menschen Erstmanifestation einer psychotischen Erkrankung gibt es einige Hürden, welche die Kommunikation die Kulmination einer langen Entwicklung im Vor- erschweren können. Zunächst sind die Betroffenen feld (Keshavan 1999). Auf neurobiologischer Ebene meist sehr verunsichert, misstrauisch und ängstlich, werden hier die Phase der Prä- und Perinatalzeit, die denn sowohl die Wahrnehmung selbst als auch die Adoleszenz und die neurodegenerativen Prozesse Interpretation des Erlebten sind massiv beeinträchtigt. im Rahmen einer manifesten Psychose als die drei Eine Auswahl hilfreicher Interventionen ist › Abb. Momente (3 Hits) herausgestellt, in denen die Gehirn- 4.1 am Ende des Abschnitts zu entnehmen. entwicklung abweichend verläuft bzw. in denen es zu zerebralen Schäden kommt. Zusätzlich zur geneti- schen Veranlagung kommen als schädliche Einfluss- Kognitive Beeinträchtigung faktoren u. a. Noxen (z. B. Medikamente, Drogen), Infektionen oder Stress infrage. Neben den Auf- und So sind kognitive Fähigkeiten wie die Konzen- Umbauprozessen vor der Geburt und während der trationsfähigkeit meist reduziert, und es kann eine Kindheit erfährt das Gehirn vor allem während der Auffassungsstörung bestehen, d. h., die Fähigkeit, Adoleszenz (15–25 Jahre) noch einmal eine massive Wahrnehmungen und Inhalte in ihrer Bedeutung zu Entwicklung und ist damit besonders vulnerabel. Im verstehen und in einen sinnvollen Zusammenhang Rahmen des sog. Prunings kommt es zu einer star- zu setzen, ist vermindert. So werden z. B. Gesprächs- ken Reduktion der Synapsendichte. Dabei gibt es gute inhalte sehr konkretistisch aufgefasst und z. B. der Hinweise aus der Forschung, dass schizophrene Pa- Sinn von Sprichwörtern nicht erfasst. Das formale tienten als Ausdruck einer abweichend verlaufenden Denken kann assoziativ gelockert oder ideenflüchtig, Hirnentwicklung ein Übermaß an Pruning erleben d. h. sehr sprunghaft oder inhaltlich nicht mehr nach- (Paus et al. 2008). vollziehbar sein, da völlig zerfahren. C0020.indd 64 10/09/20 2:06 PM
4.1 Realitätsverlust 65 MERKE d. h. einer Nutzbarmachung im Sinne des Patienten, Dies erfordert im Kontakt eine einfache und konkrete verwendet werden. Wenn der Betroffene auch fest von Sprache. Sprichwörter oder andere Stilmittel, die ein der Überwachung durch die Nachbarn überzeugt ist starkes Abstraktionsvermögen erfordern, sollten vermie- und das Pathologische darin in diesem Moment nicht den werden. erkennen kann, ist er – angesprochen auf seine emo- tionale Not – vielleicht aber dem Argument zugäng- Wahninhalte lich, dass seine Nachbarn an einem anderen Ort, z. B. in einer Klinik, keinen Zugriff auf ihn hätten. Eine Als weitere Hürden im Kontakt erweisen sich dann solche „doppelte Buchführung“, d. h. das Einver- meist Besonderheiten im Erleben psychotischer ständnis eines Patienten z. B. zur (teil-)stationären Be- Patienten, die vor allem im Wahn ihren Ausdruck handlung vor einem anderen Interpretationshorizont, finden. Psychotischem Erleben ist ein sog. Subjekt- ermöglicht nicht selten einen ersten Zugang und eine zentrismus eigen, d. h., in der Interpretation von Behandlung auf freiwilliger Basis. Allgemein lässt Wahrnehmungen besteht eine starke Tendenz, sich sagen: Je aufgewühlter (z. B. aufgrund einer aus- Dinge auf sich zu beziehen. Gepaart mit einer re- geprägten Wahndynamik), unübersichtlicher und duzierten Fähigkeit, wichtige von unwichtigen Stimuli chaotischer eine Situation erscheint, desto direktiver 4 zu unterscheiden, und einer vermehrten Tendenz, muss ggf. vorgegangen werden, um einen Rahmen zu Dinge als bedrohlich wahrzunehmen, führt dies zu schaffen, der eine weitere Eskalation verhindert und Phänomenen wie den sog. Beziehungsideen. So den Weg für die notwendige psychiatrische Behand- können Nachrichten in der Presse über Gescheh- lung bahnt (› Kap. 2). Zudem ist bei psychotischen nisse am anderen Ende der Welt im psychotischen Zuständen häufig eine ausgesprochene Ambivalenz Erleben zu Botschaften werden, die exklusiv für den vorhanden, welche die Betroffenen daran hindert, eine Betroffenen dort platziert wurden. Aber ebenso kann Entscheidung zu treffen. jede Äußerung oder Handlung während eines Ge- sprächs auf diese Weise interpretiert werden und zu Misstrauen und Verunsicherung führen. Affektive Beeinträchtigung MERKE Im Affekt erscheinen die Patienten nicht selten para- Das erfordert ein empathisches und wachsames thym, d. h., die ausgedrückten Emotionen passen nicht Wahrnehmen des Betroffenen und ggf. ein Nach- zur Situation oder zu den geschilderten Denkinhalten. fragen, falls Irritationen im Gesprächsverlauf wahr- nehmbar sind. Transparenz und Klarheit, alles, was Oft dominieren Angst und Verzweiflung sowie das be- Sicherheit und Orientierung vermittelt, können im reits erwähnte Misstrauen die Interaktion, aber auch Gegenzug hilfreich sein. Es geht darum, im Gespräch nach eine unpassende Unbekümmertheit und Heiterkeit Möglichkeit einen gemeinsamen Nenner zu finden und können auftreten. den Betroffenen in seiner Not zu adressieren. MERKE Da das zentrale Kennzeichen eines Wahninhalts seine Für einen ersten Zugang im Rahmen der Kriseninterven- Unkorrigierbarkeit ist, sind Diskussionen über die tion ist es notwendig, hier nach Möglichkeit möglichst viel Wahninhalte selbst nicht zielführend. Spricht der Be- Ruhe, Vertrauen und Sicherheit zu vermitteln. troffene z. B. von der Befürchtung, durch die Nachbarn überwacht zu werden, wird er sich von dieser Über- zeugung im Gespräch nicht lösen, ist jedoch vielleicht Sinnestäuschungen in der von ihm empfundenen Angst und Verzweiflung erreichbar. Diese kann im Gespräch in den Blick ge- Hinzu kommen Sinnestäuschungen, am häufigsten nommen werden und bietet ggf. eine Brücke, um Hilfe in Form von akustischen Halluzinationen, die an sich annehmen zu können. schon verunsichernd und deren Inhalte nicht selten Respektvoll können auch manchmal Wahninhalte bedrohlich sind. Betroffene berichten von kom- selbst im Sinne einer therapeutischen Utilisation, mentierenden, entwertenden oder gar imperativen C0020.indd 65 10/09/20 2:06 PM
66 4 Was begegnet mir? Erscheinungsformen psychiatrischer Krisen Einfache, konkrete Sprache, Formale Denkstörung/ keine Sprichwörter oder Metaphern, Auffassungsstörung Orientierung vermitteln Keine Diskussion mit dem Ziel, Wahn Wahninhalte „logisch“ zu widerlegen. Utilisation, „doppelte Buchführung“ Nachfragen, um einen Eindruck Halluzinationen vom Inhalt zu gewinnen Verzweiflung, Ängste, Sicherheit, Zuversicht und Misstrauen Vertrauen vermitteln Abb. 4.1 Eine auf Symptome abgestimmte Auswahl hilfreicher Interventionen vor dem Hinter- Psychomotorische Sicherheitsabstand halten, grund der psychotischen Symp- Erregung Talk-down, ggf. Medikation tomatik 4 Stimmen. Wenn es gelungen ist, eine Gesprächsbasis mehr Vertrauen zu fassen. Die Rückmeldung an ihn, zu finden, und die Situation es erlaubt, ist es sinnvoll dass man selbst kein Spezialist für Abhörtechnologie nachzufragen, um sich nach Möglichkeit zumindest sei, jedoch seine Not und Verzweiflung sehe, eröffnete ein grobes Bild zu machen, was der Betroffene erlebt. einen Weg, um im weiteren Gespräch die Möglichkeit Auch Halluzinationen jeder anderen Sinnesmodalität ärztlicher Unterstützung anzusprechen. Es gelang, den sind möglich, treten jedoch seltener auf. jungen Mann davon zu überzeugen, gemeinsam in eine psychiatrische Institutsambulanz zu fahren, um dort Möglichkeiten zur Linderung seiner Ängste und Erregungszustände der ausgeprägten Schlafstörungen, von denen er im weiteren Verlauf berichtet hatte, zu besprechen. II Sollte sich die Situation während der Krisenintervention oder bereits im Vorfeld so zuspitzen, dass der Betroffene Das Einbeziehen von Angehörigen, Freunden oder in einen emotionalen Erregungszustand gerät, muss anderen Bezugspersonen, falls verfügbar, kann sehr zunächst auf den Selbstschutz der professionellen hilfreich sein. Oftmals können diese vertrauten Per- Helfer geachtet und je nach Setting ggf. Unterstützung sonen leichter einen Zugang zum Patienten finden hinzugezogen werden (› Kap. 7.1.2). In manchen und ihn ggf. von den notwendigen nächsten Schritten Fällen ermöglicht ein klares, bestimmtes Auftreten eine überzeugen. Es gibt jedoch auch den Fall, dass diese in Eingrenzung. Es kann versucht werden, den Patienten die Wahnsymptomatik einbezogen sind. Dann gilt es durch „Talk-down“, d. h. verständnisvolles und be- eher Abstand zu schaffen. In jedem Fall ist es hilfreich, gleitendes Sprechen, zu beruhigen. Nicht selten ist wenn über die dem Patienten nahestehenden Perso- jedoch eine medikamentöse Intervention mit Anti- nen fremdanamnestische Informationen eingeholt psychotika oder Benzodiazepinen notwendig, um die werden können, z. B. akute Anspannung und eine damit ggf. einhergehende • Verlauf der aktuellen Episode (Wie akut hat sich Selbst- oder Fremdgefährdung zu durchbrechen. die Symptomatik entwickelt?) • Frühere psychotische Episoden? II Fallbeispiel • Bekannte Selbst- oder Fremdgefahr während psy- chotischer Episoden? Forts. • Hinweis auf Drogenkonsum? Nachdem die professionellen Helfer sich die Sorgen • Medikation? und Befürchtungen des Patienten angehört und Ver- • Somatische Erkrankungen? ständnis signalisiert hatten, schien dieser zunehmend • Gibt es einen Krisenpass / -plan? C0020.indd 66 10/09/20 2:06 PM
108 4 Was begegnet mir? Erscheinungsformen psychiatrischer Krisen INFOBOX DGPPN – Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psycho- Behandlungsvereinbarung (DGPPN 2018) therapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (Hrsg.). S2k-Leitlinie Notfallpsychiatrie. AWMF-Registernummer Behandlungsvereinbarungen werden zwischen Betroffe- 038–023. Stand: 31.8.2019; www.awmf.org/uploads/tx_ nen und Behandlern „ausgehandelt“ und legen Modali- szleitlinien/038-023l_S2k_Notfallpsychiatrie_2019-05_1. täten für evtl. notwendige zukünftige Behandlungen fest. pdf (letzter Zugriff: 14.3.2020). Inhalte können u. a. sein: NICE – National Institute for Health and Care Excellence. • Aufnahme auf eine bestimmte Station Violence and aggression: short-term management in • Medikation, die verabreicht oder nicht verabreicht mental health, health and community settings. NICE werden soll guideline [NG10]. May 2015; www.nice.org.uk/guidance/ • Nahestehende Personen, die informiert werden sollen, ng10 (letzter Zugriff: 14.3.2020). und Festlegung einer Vertrauensperson, welche die Interessen des Betroffenen vertritt, falls dieser seinen Willen nicht mehr kundtun kann • Vereinbarung über deeskalierende Maßnahmen, die 4.11 Sucht vor einer ggf. notwendigen Zwangsmaßnahme ver- Ingrid Schäfer sucht werden sollen Es geht darum, die Bedürfnisse und Wünsche des 4 Betroffenen so weit wie möglich auch in Situationen zu Zusammenfassung wahren, in denen er nicht ausreichend einsichts- bzw. • Suchterkrankungen sind häufig und treten im steuerungsfähig ist. Behandlungsvereinbarungen können, Zusammenhang mit psychiatrischen Krisen wenn sie die formalen Voraussetzungen erfüllen (schriftlich in einwilligungsfähigem Zustand verfasst), den Status einer meist komorbid oder als Auslöser einer weite- Patientenverfügung erhalten, die rechtlich bindend ist. ren psychiatrischen Störung auf. In der Kri- Die wichtigsten Inhalte der Behandlungsvereinbarung senintervention kommt hinsichtlich der Häu- können in einem Krisenpass, den der Betroffene immer figkeit die größte Relevanz Alkohol, bei sich trägt, zusammengefasst werden. Benzodiazepinen und Cannabis zu. • Manifeste Abhängigkeitserkrankungen gehen Zu Interventionsmöglichkeiten bei akuter Fremd- häufig mit Scham- und Schuldgefühlen ein- gefährdung › Kap. 7.1.2. her, und die Betroffenen neigen zu Bagatelli- sierung und Verheimlichung. LITERATUR Abderhalden C, Needham I, Dassen T, Halfens R, Haug H-J, • Das Ziel der Krisenintervention unterscheidet Fischer JE. Structured risk assessment and violence in sich nach dem Anlass: Bei bestehender Ab- acute psychiatric wards: randomised controlled trial. Br J stinenz und einem drohenden Rückfall geht Psychiatry 2008; 193(1): 44–50. es um akute Entlastung und Unterstützung, Gvion Y, Apter A. Aggression, impulsivity, and suicide be- um einen erneuten Substanzkonsum zu ver- havior: a review of the literature. Arch Suicide Res 2011; hindern. Bei fortgesetztem Substanzkonsum 15(2): 93–112. Hamza CA, Willoughby T, Heffer T. Impulsivity and nonsuici- steht der Aufbau von Motivation für eine dal self-injury: a review and meta-analysis. Clin Psychol längerfristige spezialisierte Behandlung im Rev 2015; 38(13–24): 13–24. Vordergrund. Moyer KE. Kinds of aggression and their physiological basis. • Komorbide psychische Erkrankungen und Commun Behav Biol 1968; 2(2): 65–87. mögliche somatische Komplikationen (z. B. Steinert T, Whittington R. A bio-psycho-social model of violence related to mental health problems. Int J Law beim Alkoholentzug) müssen berücksichtigt Psychiatry 2013; 36(2): 168–175. und adressiert werden. ZITIERTE LEITLINIEN DGPPN – Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psycho- therapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (Hrsg.). 4.11.1 Grundlagen S3-Leitlinie „Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen“. AWMF-Registernummer 038–002. Stand: 10.9.2018; Suchtmittel sind weltweit verbreitet. Ihnen allen ge- www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-022.html (letzter meinsam ist eine Wirkung über das Belohnungssys- Zugriff: 14.3.2020). tem im Gehirn, das durch körpereigene Morphine C0020.indd 108 10/09/20 2:06 PM
4.11 Sucht 109 (die Endorphine) moduliert wird. Die Aktivierung 4.11.2 Einteilung substanzbedingter des Belohnungssystems unterhält den wiederholten Störungen Konsum der Substanz. Inwieweit sich aus einem einmaligen Probierkon- In der ICD-10 sind Kategorien vorgesehen, um das sum ein riskantes Konsumverhalten oder gar eine Ausmaß des Missbrauchs bzw. der psychischen und Abhängigkeit entwickelt, hängt von individuellen körperlichen Beeinträchtigung durch Drogen zu be- Faktoren (Genetik, Lern- und Konditionierungspro- schreiben. Es wird zwischen akuten Intoxikationen, zesse, Modell im Elternhaus, Erfahrung angenehmer schädlichem Gebrauch, Abhängigkeit und Entzugs- Auswirkungen auf Leistungsfähigkeit, Anspannung, syndromen unterschieden. Bei Substanzen, die keine Ängste, Depression, Impulskontrollstörung und körperliche Abhängigkeit zur Folge haben können, ist Stress, Einsamkeit, Kontaktschwierigkeiten, Lange- nur ein Missbrauch möglich. Die ICD-11 behält die weile und Schmerzen) und gesellschaftlichen Fak- Unterscheidung von Missbrauch und Abhängigkeit toren (Kultur, aktuelle Trends, Verfügbarkeit, Kosten, bei. Zusätzlich werden die spezifischen Schädigungs- gesellschaftliche Akzeptanz oder Ächtung, Gesetz- muster durch Substanzmissbrauch weiter differen- gebung, suchtnaher Arbeitsplatz) und von der Sub- ziert, vor allem hinsichtlich ihrer Frequenz (einmalig, stanz und deren Einnahme (oral, nasal, intravenös) episodisch, kontinuierlich) (Saunders et al. 2019). 4 ab. Auch Begleiterscheinungen wie z. B. eine psychotische Eine Substanz, die rasch ins Gehirn übertritt (in- Symptomatik, die während bzw. unmittelbar nach der travenöser und nasaler Konsum) und dort ihre Wir- Substanzeinnahme auftritt, können in der ICD-11 kung entfalten kann, führt zu einer berauschenden kodiert werden. Wirkung und einer schnelleren Abhängigkeitsent- Eine Abhängigkeit ist anhand folgender Kriterien wicklung. Bei anderen Substanzen entsteht bei ent- definiert; dabei müssen drei oder mehr Kriterien wäh- sprechend längerer Einnahmezeit eine körperliche rend der letzten 12 Monate gleichzeitig vorhanden und / oder psychische Abhängigkeit. gewesen sein: Die Rezeptoren der Botenstoffe im zentralen Ner- • Starkes, als unwiderstehlich empfundenes Ver- vensystem gewöhnen sich an die Effekte der Sucht- langen nach der Substanz (Craving) mittel, woraus eine Toleranzentwicklung, eine • Verminderte Kontrollfähigkeit bzgl. Beginn, Dosissteigerung und bei Beendigung des Konsums Beendigung und Menge des Konsums Entzugssymptome folgen. • Körperliches Entzugssyndrom, nachgewiesen Menschen greifen aus unterschiedlichsten Gründen durch substanzspezifische Entzugssymptome zu potenziell abhängig machenden Substanzen: aus oder die Aufnahme der gleichen oder einer nahe fröhlichem gesellschaftlichem Anlass, um zusammen verwandten Substanz, um die Entzugssymptome zu feiern, aus ganz persönlichen Gründen, um zu ent- zu mindern oder zu vermeiden spannen, sich etwas Gutes zu tun; bei Heranwachsen- • Toleranzentwicklung (Wirkverlust) bzw. Dosis- den insbesondere, um die Anerkennung Gleichaltriger steigerung zu erhalten, aber auch in Krisensituationen, um Er- • Fortschreitende Vernachlässigung anderer leichterung in unerträglich erscheinenden emotiona- Vergnügungen oder Interessen zugunsten des len Zuständen zu erlangen. Hierbei kann es sich um Substanzkonsums; erhöhter Zeitaufwand, um die die Reduktion von Anspannung, Ängsten, Schlaf- Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich störungen oder Schmerzen handeln. Ebenso gehören von den Folgen zu erholen auch Stress- und Angsterleben sowie eine geringe • Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweises Emotions- und Impulskontrolle dazu. Mehr als die eindeutiger schädlicher Folgen Hälfte der Personen mit Substanzmissbrauch weist Als Substanzen, die zu einer Abhängigkeit führen eine weitere psychische Störung auf, bei Frauen sind können, sind in der ICD-10 aufgeführt: dies vor allem Angststörungen, depressive Syndrome • Alkohol und Persönlichkeitsstörungen, bei Männern an erster • Opioide Stelle depressive Störungen, aber auch Angst- und • Cannabinoide Persönlichkeitsstörungen. • Sedativa und Hypnotika C0020.indd 109 10/09/20 2:06 PM
110 4 Was begegnet mir? Erscheinungsformen psychiatrischer Krisen • Kokain II Fallbeispiel • Sonstige Stimulanzien inkl. Koffein • Halluzinogene Fall 1 • Tabak Mitarbeiter des Jobcenters rufen den Krisendienst zu • Flüchtige Lösungsmittel Hilfe. Ein schon länger arbeitsloser Mann (42) mit In der ICD-11 werden die Substanzklassen erweitert Alkoholproblemen habe geäußert, dass „es jetzt ja (z. B. um synthetische Cannabinoide und Cathinone). eh keinen Sinn mehr“ mache. Jetzt sei auch noch die Frau mit den beiden Kindern zu ihren Eltern gezogen. Bei Eintreffen der Krisendienstmitarbeiter im Job- 4.11.3 Krisen und Substanzkonsum center ist Herr S. sichtlich alkoholisiert (Fahne, lallen- de Sprache). Er brauche keine Hilfe, die „Maus vom Der Suchtmittelkonsum kann ein Bewältigungsver- Amt“ übertreibe, Alkoholprobleme habe er keine, er such sein, der jedoch keine Lösung bietet, sondern bei brauche das Jobcenter nicht, finde selbst wieder eine regelmäßigem Konsum oftmals zusätzlich zu vielfälti- Arbeit, auch die Familie werde wieder zurückkom- gen Problemen führt. Im Zusammenhang mit Krisen men. Man solle ihn in Ruhe lassen, er gehe jetzt heim. 4 sind Alkohol, Benzodiazepine und Tetrahydrocan- Beim Aufstehen stürzt er, bleibt liegen, krümmt sich nabinol (THC) die relevantesten potenziell abhängig heulend: Er könne nicht mehr. II machenden Substanzen. Alkohol ist allerorten verfügbar, für jeden Voll- Auch die Einnahme von Benzodiazepinen inkl. jährigen (Bier und Wein bereits ab 16 Jahren) frei Benzodiazepin-Analoga (Z-Substanzen) ist im Zu- käuflich und mit überschaubaren Kosten verbunden. sammenhang mit Krisen weit verbreitet. Es handelt Erwerb und Konsum sind gesellschaftlich akzeptiert sich zwar um verschreibungspflichtige Arzneimittel, und werden häufig sogar begrüßt. aber die Verfügbarkeit auf dem Schwarzmarkt ist groß. Die meisten Menschen haben aus gesellschaftlichen Benzodiazepine gehören zu den meistverordneten Anlässen bereits Alkohol konsumiert und vermut- Psychopharmaka. Der Segen der Benzodiazepine (ra- lich bei mäßigen Mengen dessen angenehm positive scher Wirkungseintritt, relativ wenige Nebenwirkun- Wirkung verspürt: mit einer gewissen Anregung ver- gen, breite Anwendungsindikation, vergleichsweise bundene Entspannung, Kontaktaufnahme und Reden wenige Verordnungseinschränkungen und Arzneimit- fallen leichter, die Stimmung bessert sich, und die telwechselwirkungen) ist gleichzeitig auch ihr Fluch. letztlich müde machende Wirkung erleichtert häufig In Notfallsituationen ist die Verabreichung recht das Einschlafen. sicher, die Wirkung in der Regel vorhersehbar. Auch Nachdem wir Menschen aufgrund unserer Fähig- wenn die große Mehrheit der verordnenden Ärzte das keit, zu lernen und Wissen abzuspeichern, uns bei neu potenzielle Abhängigkeitsrisiko der Benzodiazepine si- auftretenden Herausforderungen an frühere Erfah- cher berücksichtigt, kommt es in der Alltagsrealität mit rungen erinnern und auf bereits erworbene Strategien knapp bemessenen zeitlichen Ressourcen im Hinblick zurückgreifen können, liegt in äußerst belastenden auf Gespräche für Motivationsarbeit, um qualifizierte Krisensituationen ein Selbstberuhigungs- oder Selbst- Hilfe in Anspruch zu nehmen, und Schwierigkeiten, heilungsversuch mit Alkohol nahe. Der einer Krise angemessene spezifische Behandlung zeitnah zu immanente hohe Leidensdruck, verbunden mit der organisieren, häufig zu einer Verordnung über längere ebenfalls für Krisen typischen hohen Beeinflussbar- Zeiträume. Das führt zu zahlreichen iatrogenen (durch keit (man greift nach jedem Strohhalm), verleitet den Arzt verursachten) Abhängigkeitserkrankungen. dazu, sich an im Gedächtnis abgespeicherte positive Cannabiskonsum ist gerade bei jungen Erwachse- Strategien zu erinnern und diese als vermeintlich nen und Jugendlichen recht verbreitet. Rund 15 % der hilfreiche Taktik zu nutzen. Der dann durch z. B. Al- 18- bis 25-Jährigen haben in den letzten 12 Monaten koholgenuss rasch eintretende subjektiv zunächst ein- Cannabis konsumiert, Männer (20 %) doppelt so häufig mal positive Effekt öffnet die Tür zu einem potenziell wie Frauen (10 %) (BzgA-Infoblatt Cannabis; Meier schädlichen Kreislauf mit suchtcharakteristischer et al. 2012). Das Einstiegsalter für den Cannabiskon- Toleranzentwicklung, Dosissteigerung etc. sum liegt meist zwischen dem 15. und 16. Lebensjahr. C0020.indd 110 10/09/20 2:06 PM
4.11 Sucht 111 THC zu legalisieren und damit zur weit verbreiteten beim Wegfall der Substanz sind. Entsprechend treten individuellen Nutzung freizugeben, sollte sehr kritisch körperliche und psychische Entzugssymptome auf. betrachtet werden. Im Kontext der Krisenintervention Entzüge werden von den Betroffenen als sehr unan- spielt Cannabis vor allem als Auslöser von psychoti- genehm erlebt; die Symptomatik ist substanzabhängig. schen Störungen eine Rolle. Dabei ist eine sog. Into- In der überwiegenden Zahl der Fälle sind Entzüge xikationspsychose, die ca. 48 h andauert, von einer keine medizinischen Notfälle. Ein besonderes Risiko durch Cannabis ausgelösten anderweitigen psychoti- für lebensbedrohliche Komplikationen (Delire und schen Störung zu unterscheiden. Durch regelmäßigen Krampfanfälle) stellen jedoch Alkohol und Benzo- Cannabiskonsum ist das Risiko, irgendeine Form diazepine dar (DGPPN 2019). Wichtige Symptome einer psychotischen Störung zu entwickeln, um das häufiger Drogen werden weiter unten aufgeführt. 4-Fache erhöht (Di Forti et al. 2019; Thomasisus 2017). MERKE 4.11.6 Drohender Rückfall Zu den Notfällen im Zusammenhang mit Substanzkon- sum zählen vor allem: Eine Suchterkrankung wird als chronisch verlaufende • Intoxikationen und Rauschzustände Erkrankung mit Rückfällen betrachtet. Im Erkran- 4 • Entzugserscheinungen, ggf. mit komplizieren- dem Delir kungsverlauf geht es weniger um die vermeintlich • Krisensituationen mit drohendem Rückfall „positiven“ Wirkungen (Euphorie, Stimmungsbes- • Emotionale Ausnahme- und Erregungszustände serung) der Substanz als um negative Verstärkungen mit sozial unangemessenem Verhalten (Aggressivität, (z. B. Reduktion von Anspannung). Rückfälle ereignen Straftaten) unter Substanzeinfluss sich am ehesten unter Stress im Sinne einer Selbst- medikation zur Beendigung schwer aushaltbarer see- lischer Zustände. Unter sich anhäufenden vielfältigen 4.11.4 Intoxikationen und Rauschzu- Belastungen (privat, beruflich, sozial) kann ein aktuell stände Abstinenter – auch nach erfolgreicher Entgiftung und Entwöhnung – derart unter Druck geraten, dass sich Dabei handelt es sich um vorübergehende Zustände, die das „altvertraute“ Bewältigungsmuster (Substanz- durch die eingenommene Substanz ausgelöst werden. Es konsum) wieder in den Vordergrund drängt. Meist besteht meist eine Beeinträchtigung der kognitiven Fä- liegt eine Kombination verschiedener Faktoren vor, higkeiten, der Wahrnehmung, des Affekts und Verhal- die nicht aufmerksam wahrgenommen wurden. Ein- tens bis hin zu Bewusstseinsstörungen. Intoxikationen zelne innere und äußere Auslöser bewirken verschie- können abhängig von Substanz, Dosis, individuellen dene Reaktionen auf gedanklicher, körperlicher und Faktoren (z. B. Vorerkrankungen) oder Wechselwirkung emotionaler Ebene und führen dann in den Konsum. mit anderen Substanzen zu lebensbedrohlichen Kom- In einer Therapie erworbene konstruktive Bewälti- plikationen (z. B. Delir, Koma, Aspiration etc.) führen. gungsstrategien greifen dann evtl. nicht mehr ausrei- Bei Intoxikationen mit mehreren Substanzen können chend oder nicht schnell genug. Ausgeprägter Stress mehrgipfelige Verläufe auftreten. Eine medizinische führt zu dem großen Wunsch, die unerträgliche Situ- Abklärung ist dann dringend erforderlich (s. auch ation möglichst schnell zu beendigen. Wenn mehrere › Kap. 7.1.4, somatische Notfälle) (DGPPN 2019). Faktoren und widrige Umstände zusammenkommen, der Betroffene in eine Situation gerät, in der er mit suchtmitteltypischen Verknüpfungen konfrontiert 4.11.5 Entzugserscheinungen ist und dann eine auch nur sehr geringe Menge zu sich nimmt, führt dies über (unbewusste, im Gehirn Entzugserscheinungen können bei Reduktion der stattfindende) Bahnungseffekte in der Regel direkt Substanz oder völligem Verzicht auf die Droge ent- in den Rückfall. Der ist dann meist mit Scham- und stehen. Durch den regelmäßigen Substanzkonsum Schuldgefühlen verbunden, was das ohnehin krisen- treten körperliche und psychische Gewöhnungseffekte hafte Erleben noch mehr verstärkt. Die Einsicht, alko- ein, welche die Grundlage für die Entzugssymptome hol- und / oder drogenabhängig zu sein, und die Aus- C0020.indd 111 10/09/20 2:06 PM
112 4 Was begegnet mir? Erscheinungsformen psychiatrischer Krisen einandersetzung mit durch die Drogenproblematik 4.11.7 Emotionale Ausnahme- und verpassten Lebenschancen, ungelösten Konflikten Erregungszustände und nicht mehr zu ändernden Ereignissen sind schwer auszuhalten. Sich die Abhängigkeit in dieser Situation Je nach Wirkung der eingenommenen Substanz kann offen und ehrlich einzugestehen fällt den Betroffenen es zu psychischen Ausnahmezuständen kommen. Es extrem schwer. können eher sedierende (z. B. Opioide) von aktivie- rend wirkenden Substanzen (z. B. Amphetaminen) II Fallbeispiel unterschieden werden. Viele Drogen zeigen zudem noch eine halluzinogene Komponente (z. B. LSD). Fall 2 Solche Zustände können mit eigen- und fremdge- Die ehemals langjährig drogenabhängige alleinerzie- fährdendem Verhalten einhergehen. Je nach Leitsyn- hende Mutter (31) eines 3-jährigen Sohnes wird im drom entspricht das Prozedere zunächst den in den Kindergarten darauf hingewiesen, dass ihr Sohn sich entsprechenden Kapiteln beschriebenen Vorgehens- immer wieder auffällig verhalte und oftmals unge- weisen (Erregungszustand und Fremdgefährdung pflegt wirke. Er zeige sehr aggressive Verhaltensweisen › Kap. 7.1.2, Realitätsverlust › Kap. 4.1). Zudem 4 und wirke aber auch oft traurig. Sie solle ihn bei einem besteht aufgrund der Intoxikation eine Indikation für Kinder- und Jugendpsychiater vorstellen, sonst könne eine somatische Abklärung (› Kap. 7.1.4). man ihn nicht in der Gruppe belassen und müsse evtl. auch das Jugendamt informieren. Man habe den Ein- druck, sie sei mit der Erziehung derzeit überfordert. 4.11.8 Intervention – einen Zugang Daraufhin wendet sie sich verzweifelt an eine Freun- finden din. Sie stehe massiv unter Druck, hetze morgens ihren Sohn, damit sie pünktlich zur Arbeit komme, Wichtig ist die Professionalität im Umgang mit dem abends habe sie vor Erschöpfung kaum mehr Geduld Substanzkonsum. Die Betroffenen erleben nach dem für ihn. Sie fühle sich tatsächlich überfordert und habe Rausch meist Schuld- und Schamgefühle, die nicht Angst, dass er ihr weggenommen werde. noch durch Stigmatisierung verstärkt werden sollten. Sie habe erstmals nach Jahren wieder massiven Sucht- Dennoch bedarf es einer klaren Haltung, die einer- druck verspürt. Sie habe gedacht, „es geschafft zu ha- seits die Not des Betroffenen anerkennt und anderer- ben“, aber offenbar sei alles sinnlos, sie „habe ja noch seits andere Lösungsstrategien als den selbstschädi- nie etwas zustande gebracht“, sei „ja eh nichts wert“. genden Suchtmittelkonsum betont. Es sollten keine Sie habe sich einfach mal wieder „einen Joint und ein langen Gespräche während des Rauschzustands ge- paar Pillen gegönnt“. II führt werden. Diese sind zum einen nicht zielführend und können zum anderen auch zur Verstärkung des In solch einer Situation benötigen Betroffene rasche Problemverhaltens beitragen. Es sollte ein zeitnaher Hilfe, um nicht in einen fatalen Teufelskreis „ab- Folgetermin bzw. eine Vermittlung an eine spezia- zustürzen“. Bei einem Rückfall ist eine sofortige lisierte Beratungsstelle o. Ä. erfolgen. Der Betroffene Beendigung des Substanzkonsums erforderlich, im muss in seiner Eigenverantwortung gesehen und ge- zweiten Schritt die Auseinandersetzung damit, was stärkt werden. zum Rückfall geführt hat. Ziel ist, die Achtsamkeit Ziel der Krisenintervention ist ein Benennen der gegenüber inneren und äußeren Auslösern zu schulen Suchtproblematik, ein vorsichtiges Thematisieren, und damit eine Verbesserung der emotionalen Re- dass der aktuelle Suchtmittelkonsum als mögliche gulation zu erreichen. Lösungsstrategie nicht sinnvoll ist. Im günstigsten Fall kann eine Motivation für eine weiterführende Unter- MERKE stützung, Entzugs- bzw. Entwöhnungsbehandlung etc. Wichtig ist das Vermeiden von Schlüsselsituationen, die erarbeitet werden. Identifizierung vertrauter Glaubenssätze („Wenn ich Subs- tanz ABC konsumiere, dann gelingt mir XYZ besser“), deren Unwahrheit zu benennen und zu korrigieren. C0020.indd 112 10/09/20 2:06 PM
4.11 Sucht 113 II Fallbeispiel II Fallbeispiel Fall 1 (Forts.) Fall 2 (Forts.) Im Gespräch am Folgetag berichtet Herr S., dass es Die Freundin ruft einen Krisendienst hinzu. Zwei Mit- ihm schon wieder besser gehe, es sei ihm alles zu viel arbeiter kommen zu Frau A. nach Hause, bedanken geworden. Er freue sich, dass er mit jemand reden sich, dass sie gerufen wurden und dass Frau A. ihr könne, dass man ihm zuhöre. Auf vorsichtige Nach- bislang fremde Personen in ihre Wohnung lässt. frage räumt er ein, dass er in letzter Zeit häufig de- Ein Mitarbeiter beschäftigt sich mit dem Sohn, die primiert gewesen sei und immer wieder Alkohol ge- zweite Mitarbeiterin kocht nach Einverständnis von trunken habe – vielleicht doch mehr, als ihm guttue. Frau A. Tee, setzt sich zu Frau A. und lässt sie ausführ- Nachdem seine Frau mit den Kindern ausgezogen lich berichten, was sie aktuell belaste, ihre Befürch- sei, habe er auch keinen Grund mehr gesehen, auf- tungen und Ängste. Sie erhält Anerkennung für ihre zupassen. schöne Wohnung, für das, was sie als Alleinerziehende Herrn S. wird vermittelt, dass er eine schwierige Le- leistet, dass sie es geschafft habe, aus der Abhängigkeit benssituation zu bewältigen habe. Man verstehe, dass herauszukommen. Frau A. wirkt sichtlich entlastet er nach Möglichkeiten der Erleichterung suche, dass durch die Rückmeldung, dass es vielen bei diesen 4 gerade Alkohol eine kurzfristige Lösung sei, die aber Belastungen zu viel werden würde. Sie berichtet, dass längerfristig immense Probleme mit sich bringe. Der sie seit Jahren nur noch funktioniere; außer Kind, vermehrte Alkoholkonsum wird als ein Bewältigungs- Haushalt und Arbeit gebe es nichts mehr. Die Krisen- versuch im Rahmen der Krise betrachtet. Herrn S. dienst-Mitarbeiterin spricht offen darüber, dass Sucht- werden Adressen von Suchtberatungsstellen und Psy- druck und Rückfälle zur Sucht gehören, keine Ka- chotherapieangeboten übergeben; auch auf Hilfe für tastrophe sein müssen, der erfolgreiche Umgang mit Angehörige und die Möglichkeit der Paarberatung dem Suchtdruck aber immer wieder herausfordert. Sie wird hingewiesen. wird über die Möglichkeit der Unterstützung durch Vereinbart wird, dass er noch vorrätige Alkoholika zu die Erziehungsberatungsstelle informiert – auch ano- Hause entsorgt, in der Wohnung Ordnung schafft, sau- nym. Betont wird der Auftrag der Jugendämter, Eltern ber macht und kleine Aktivitäten mit einem Freund zu unterstützen, nicht die Kinder wegzunehmen. unternimmt, und es wird ihm mitgeteilt, wohin er Das Angebot der anwesenden Freundin, den Sohn sich im Falle eines Stimmungseinbruchs und / oder am Wochenende auch einmal bei ihr übernachten zu eines erneuten Auftretens von Gedanken an Alkohol- lassen, kann sie erstmals annehmen. Auch erinnert sie konsum wenden kann. sich an eine sehr freundliche Sozialpädagogin in der Ihm wird empfohlen, sich vom Hausarzt untersuchen Suchtberatungsstelle, die ihr vor Jahren sehr gehol- zu lassen, ob er körperlich gesund sei (insbesondere fen habe und zu der sie sich vorstellen könne, wieder im Hinblick auf Alkoholfolgeschäden). Kontakt aufzunehmen. Sollte sich die Symptomatik als Abhängigkeit dar- Auf Wunsch von Frau A. und in ihrem Beisein infor- stellen, wird bei einem Entgiftungswunsch konkrete miert die Mitarbeiterin des Krisendienstes telefonisch Unterstützung zur stationären Aufnahme angeboten, den Kindergarten, dass Frau A. sich Unterstützung bei Ambivalenz Kontaktaufnahme zu Suchtberatungs- geholt habe. stellen, Selbsthilfegruppen etc. II Für die Folgewoche (im Notfall jederzeit) wird ein erneutes Telefonat vereinbart. Frau A. berichtet, dass Im Fallbeispiel wird versucht, Herrn S. Akzeptanz und sie Kontakt zu ihrer früheren Sozialarbeiterin auf- Wertschätzung entgegenzubringen. Ein vorsichtiges genommen und auch mit der Erziehungsberatungs- Infragestellen des problematischen Problemlösungs- stelle ein Gespräch vereinbart habe. II verhaltens soll dazu beitragen, ihn für die angebote- nen konkreten nächsten Schritte zu motivieren. In diesem Fallbeispiel liegt einer der Schwerpunkte auf einer raschen Entlastung. Für Frau A. geht es darum, Belastungsfaktoren wahrzunehmen und sich die eige- nen Bedürfnisse und Grenzen einzugestehen. Zugleich C0020.indd 113 10/09/20 2:06 PM
114 4 Was begegnet mir? Erscheinungsformen psychiatrischer Krisen ist es wichtig, Selbstwirksamkeitserleben zu fördern abhängigen unterzieht sich einer Behandlung. Rund. (Suchtdruck gehört zur Sucht, man ist aber nicht aus- 74.000 Personen versterben jedes Jahr durch alkohol- geliefert) und nach Möglichkeit positive Erfahrungen bedingte Erkrankungen. mit Unterstützungsangeboten (Freundin, Suchthilfe, Sowohl ein hoher kurz- als auch ein langfristiger Jugendamt) zu verstärken. Alkoholkonsum können grundsätzlich mit einem er- höhten Risiko für die Entwicklung von akuten und CAVE chronischen psychischen und körperlichen Erkran- Bei Rauschzuständen ist es essenziell, die akute Ge- kungen und sozialen Problemen verbunden sein. fährdung abzuschätzen. Hier ist es relevant, sowohl die psychische als auch die somatische Seite in den Blick zu INFOBOX nehmen. Psychisch ist eine Einschätzung hinsichtlich aku- Häufigste alkoholbedingte Krankheiten und ter Selbst- bzw. Fremdgefährdung notwendig. Gerade im Symptome Zusammenhang mit Alkoholabusus und -abhängigkeit spielt Suizidalität eine wichtige Rolle. Die Suizidhäufigkeit • Fettleber, Leberzirrhose bei Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit liegt 60- • Schädigung des Gehirns: Konzentrations- und Ge- bis 120-mal höher als bei Gesunden. Etwa jeder zehnte dächtnisstörungen, Intelligenzminderung 4 Alkoholiker verstirbt irgendwann durch Suizid. Außerdem • Herzmuskelerkrankungen wird auch unabhängig von einer Alkoholabhängigkeit ca. • Bluthochdruck ein Drittel aller Suizide unter Alkoholeinfluss begangen • Krebserkrankungen, insbesondere von Leber, Mund- (DGPPN 2019). höhle, Rachenraum und Speiseröhre, Enddarm und Zu berücksichtigen ist auch, dass unter Drogeneinfluss in (weiblicher) Brustdrüse der Regel die Fahrtauglichkeit beeinträchtigt ist! • Impotenz • Pankreatitis, Gastritis, Magen- und Duodenalulzera • Übergewicht („Bierbauch“), aber auch Appetitverlust Mögliche somatische Komplikationen hängen von und Gewichtsabnahme • Allgemeine Symptome: der eingenommenen Substanz ab. Im Zweifelsfall soll- – Verschlechterung des Allgemeinzustands, beinbe- te auf eine ärztliche Einschätzung hingewirkt werden. tonter Muskelverlust, Schwitzen – Gerötete Gesichtshaut, Spider naevi, Teleangieekta- sien 4.11.9 Alkohol – Magen-Darm-Beschwerden (Durchfall, Erbrechen) • Psychische Symptome: – Ängste, dysphorische und depressive Stimmung, „Es ist leider…ganz Deutschland mit Saufen geplagt. Stimmungsschwankungen Wir predigen…und schreiben darüber, es hilft aber – Reduziertes Selbstwertgefühl leider nicht viel.“ – Interessenminderung Martin Luther (1541) – Innere Unruhe, Schlafstörungen – Reizbarkeit, erniedrigte Frustrationstoleranz In Deutschland werden pro Kopf und Jahr 10,75 l rei- – Gleichgültigkeit, Kritikminderung ner Alkohol konsumiert. Ein tendenzieller Rückgang – Alkoholische Wesensänderung (Stimmungslabilität, zeichnet sich ab, dennoch besteht im internationalen Egoismus, Rücksichtslosigkeit, intellektuelle Beein- trächtigungen) Vergleich immer noch ein sehr hoher Konsum. Alko- • Typisches alkoholassoziiertes Verhalten: holabhängigkeit und missbräuchlicher Alkoholkon- – Verheimlichen, Lügen, Bagatellisieren, Dissimulieren sum gehören zu den am häufigsten diagnostizierten – Veränderung des Sozialverhaltens mit negativen psychischen Störungen. Deutlich mehr Männer als Konsequenzen auf bestehende zwischenmensch- Frauen sind betroffen. Angehörige Alkoholkranker liche Beziehungen haben ein drei- bis vierfach erhöhtes Risiko, selbst eine Alkoholstörung zu entwickeln. (› Abb. 4.5) Schätzungsweise sind in Deutschland ca. 1,6– 1,8 Mio. Menschen alkoholabhängig; etwa 6–7 Mio. konsumieren Alkohol in riskanter Weise bzw. in ge- sundheitsschädlichem Ausmaß. Nur 1 % der Alkohol- C0020.indd 114 10/09/20 2:06 PM
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