Praxishandbuch Psychiatrische Krisenintervention - Erste Hilfe bei psychischen Krisen aus interdisziplinärer Sicht - Amazon ...

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Michael Frey Claudia Fischer (Hrsg.)

Praxishandbuch
Psychiatrische
Krisenintervention
Erste Hilfe bei psychischen Krisen
aus interdisziplinärer Sicht
Praxishandbuch Psychiatrische Krisenintervention - Erste Hilfe bei psychischen Krisen aus interdisziplinärer Sicht - Amazon ...
Inhaltsverzeichnis
          1     Formen der Krisenintervention im                             4      Was begegnet mir? Erscheinungsformen
                Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1               psychiatrischer Krisen . . . . . . . . . . . . 59
                Astrid Bruhn, Claudia Fischer und Michael                           Claudia Fischer, Michael Frey, Jeannette
                Frey                                                                Hofmann und Ingrid Schäfer
          1.1   Krise als Phänomen. . . . . . . . . . . . . . 3              4.1    Realitätsverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
                Claudia Fischer und Michael Frey                                    Michael Frey
          1.2   Die historische Entwicklung von Formen                       4.2    Orientierungslosigkeit und
                der Krisenintervention. . . . . . . . . . . . 7                     Verwirrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
                Claudia Fischer                                                     Michael Frey
          1.3   Die internationale Perspektive . . . . . 8                   4.3    Angst und Panik . . . . . . . . . . . . . . . . 72
                Claudia Fischer                                                     Claudia Fischer
          1.4   Die gesellschaftliche Perspektive. . . . 11                  4.4    Depression und Manie . . . . . . . . . . . 75
                Astrid Bruhn                                                        Claudia Fischer
          1.5   Krisenintervention in der                                    4.5    Zwang und Horten . . . . . . . . . . . . . . 80
                Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 16                 Claudia Fischer
                Claudia Fischer                                              4.6    Essstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
                                                                                    Michael Frey
          2     Krisenintervention als                                       4.7    Emotionale Instabilität und
                „Prozess“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   23          narzisstische Verwundbarkeit . . . . . . 88
                Michael Frey                                                        Claudia Fischer
          2.1   Krisenintervention als Moment der                            4.8    Selbstschädigendes Verhalten. . . . . . 95
                Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       23          Michael Frey
          2.2   Prozessorientiertes Vorgehen in der                          4.9    Belastung und Trauma . . . . . . . . . . . 100
                Krisenintervention . . . . . . . . . . . . . . .        24          Claudia Fischer
          2.3   Ein Prozess der                                              4.10   Impulsivität und Bedrohlichkeit. . . . . 106
                Gegenseitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . .       28          Michael Frey
                                                                             4.11   Sucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
          3     Was bringe ich mit?                                                 Ingrid Schäfer
                Grundhaltung und                                             4.12   Der körperlich Kranke . . . . . . . . . . . . 120
                theoretischer Hintergrund . . . . . .                   35          Ingrid Schäfer
                Claudia Fischer und Michael Frey                             4.13   Geistige Behinderung . . . . . . . . . . . . 126
          3.1   Psychodynamische Modelle. . . . . . . .                 36          Jeannette Hofmann
                Claudia Fischer                                              4.14   Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . 134
          3.2   Lerntheoretische Überlegungen . . . .                   43          Michael Frey
                Michael Frey
          3.3   Systemische Aspekte. . . . . . . . . . . . .            49   5      Spezielle Kriseninterventionsfelder 139
                Michael Frey                                                        Claudia Fischer, Michael Frey,
          3.4   Sonstige Konzepte. . . . . . . . . . . . . . .          54          Annette Graf und Jan Reuter
                Claudia Fischer                                              5.1    Kinder und Jugendliche . . . . . . . . . . . 140
                                                                                    Michael Frey

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XII       Inhaltsverzeichnis

         5.2     Alte Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . 163        7     Wo muss man wachsam sein? . . . 213
                 Claudia Fischer                                                  Claudia Fischer, Michael Frey und Jona
         5.3     Menschen mit                                                     Kräenbring
                 Migrationshintergrund . . . . . . . . . . . 168            7.1   Nach außen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
                 Jan Reuter                                                       Claudia Fischer
         5.4     Krisenintervention bei Menschen mit                        7.2   Nach innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
                 forensischem Hintergrund . . . . . . . . . 177                   Claudia Fischer
                 Annette Graf
                                                                            8     Medizinisch-psychiatrisches
         6       Methodische Besonderheiten . . . . 185                           Grundwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
                 Claudia Fischer, Michael Frey und Ingrid                         Michael Frey und Ingrid Schäfer
                 Schäfer                                                    8.1   Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . . . . 245
         6.1     Krisenintervention am Telefon . . . . . 186                      Ingrid Schäfer
                 Claudia Fischer                                            8.2   Psychopathologischer Befund . . . . . . 256
         6.2     Krisenintervention im Team . . . . . . . 191                     Michael Frey
                 Michael Frey
         6.3     Krisenintervention vor Ort . . . . . . . . . 195           9     Rechtliche Rahmenbedingungen. .                    263
                 Michael Frey                                                     Ingrid Schäfer
         6.4     Teil- oder vollstationäre                                  9.1   Garantenstellung. . . . . . . . . . . . . . . .    263
                 Krisenintervention . . . . . . . . . . . . . . . 201       9.2   Schweigepflicht. . . . . . . . . . . . . . . . .    264
                 Ingrid Schäfer                                             9.3   Unterbringung. . . . . . . . . . . . . . . . . .   264
         6.5     Digitale Zugangswege – Online-                             9.4   Rechtfertigender Notstand . . . . . . . .          266
                 Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
                 Michael Frey                                                     Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

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62           4 Was begegnet mir? Erscheinungsformen psychiatrischer Krisen

         4.1 Realitätsverlust                                     Die Basis sozialer Kommunikation ist eine gemein-
         Michael Frey                                             same Bezugsgröße, die miteinander geteilte Realität.
                                                                  Zentrales Merkmal einer psychotischen Erkrankung
                          Zusammenfassung                         ist, dass es hier zu einem Bruch kommt. Wahn und
           • Psychotische Erkrankungen sind u. a. durch           Halluzinationen als Symptome einer psychotischen
                Realitätsverlust sowie kognitive und affektive    Störung sind dadurch gekennzeichnet, dass eben die
                Beeinträchtigungen gekennzeichnet, was sich       je spezielle Sicht- und Erlebensweise nicht mit ande-
                auf die Kommunikation mit den Betroffenen         ren geteilt werden kann, was zu Vereinsamung und
                auswirkt.                                         Verzweiflung führen kann. Die häufigste Form von
           •    Wichtige Kriseninterventionsziele sind die        Psychosen sind die aus dem schizophrenen Formen-
                akute Entlastung und ggf. die Unterstützung       kreis.
                und Beratung der Angehörigen – immer                 Bei der schizophrenen Psychose sind in erster
                auch mit Blick auf die Erarbeitung einer Be-      Linie vier Domänen des Denkens und Erlebens be-
                handlungsmotivation. Denn für eine günstige       troffen:
                Prognose ist, vor allem bei Erstmanifestatio-
                                                                  • Störungen des Realitätsbezugs (Wahn und Hallu-
 4              nen, ein möglichst frühzeitiger Behandlungs-         zinationen)
                beginn entscheidend.
                                                                  • Kognitive Beeinträchtigung (u. a. formale Denk-
           •    Die Kommunikation mit psychotischen                  störungen)
                Menschen muss dabei an die jeweils vor-
                                                                  • Negativsymptome (flacher Affekt, Alogie etc.)
                herrschende Symptomatik angepasst werden,
                                                                  • Affektive Dysregulation (z. B. Ängste, depressiver
                um verständlich zu sein und das Gefühl von           Affekt) (van Os et al. 2010)
                Sicherheit und Vertrauen zu vermitteln. Der       Dies kann sich in z. T. grob desorganisierter Sprache
                Respekt vor der „Realität“ des Gegenübers ist     bzw. desorganisiertem Verhalten bis hin zu katatoner
                die Grundlage für eine gelingende Gesprächs-      Erstarrung äußern (DSM-5: APA 2013).
                führung.                                          INFOBOX
                                                                   Als wichtige Änderung in der Klassifikation der
                                                                   schizophrenen Psychosen in der ICD-11, die diesbezüg-
                                                                   lich dem DSM-5 folgt, werden die in der ICD-10 be-
         4.1.1 Leitsyndrom, diagnostische Kri-                     schriebenen Unterformen (hebephrene Schizophrenie,
         terien                                                    Schizophrenia simplex, undifferenzierte Schizophrenie etc.)
                                                                   großenteils aufgehoben (vgl. S3-Leitlinie Schizophrenie:
         II Fallbeispiel                                           DGPPN 2019).
         Mit besorgtem Gesichtsausdruck und leiser Stimme
         teilt der junge Mann der professionellen Helferin mit,
         dass er seit Monaten von zwei seiner Nachbarn über-      4.1.2 Positivsymptome
         wacht werde. Er deutet auf die Regale und macht eine
         Geste, die das Gegenüber zur Vorsicht mahnt. Dort        Die sog. Positivsymptome sind dabei besonders
         seien Mikrofone und kleine Kameras versteckt. Im         kennzeichnend und u. a. wesentlich für die kategoriale
         nächsten Moment springt er auf und geht unruhig          diagnostische Einordnung (DSM-5: APA 2013). Sie
         auf und ab, ohne weitere Auskünfte zu geben. Er wirkt    umfassen Wahn, Halluzinationen, Ich-Störungen und
         sehr angespannt, gedankenverloren und verängstigt.       einen Teil der formalen Denkstörungen.
         Nach einigen Minuten lässt er sich wieder auf dem von
         einem Handtuch bedeckten Sofa nieder. Er berichtet,
         dass er seine Nachbarn hören könne; er könne ihre        Wahn
         Gedanken in seinem Kopf hören und wisse daher,
         dass sie jeden seiner Schritte verfolgten. Er verlasse   Die Wahnsymptomatik als Ausdruck des verlorenen
         die Wohnung nur im Dunkeln, weil er sich da etwas        Realitätsbezugs kann in unterschiedlichen Formen
         sicherer fühle; tagsüber bleibe er zu Hause. II          und Ausprägungen auftreten (› Kap. 8.2.2).

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4.1 Realitätsverlust          63

         Dabei kann zum einen die Intensität des Wahns be-         • Gedankenausbreitung
         trachtet werden:                                          • Sonstiges Fremdbeeinflussungserleben (das Ge-
         • Wahnstimmung: Die Betroffenen haben lediglich             fühl, dass Erleben oder Verhalten von außen ge-
            das Gefühl, dass „etwas nicht stimmt“, ohne dass         steuert oder „gemacht“ wird)
            sie die Hintergründe näher benennen können.            und eher unspezifischen Ich-Störungen, die auch bei
         • Wahnwahrnehmung: Eine Sinneswahrnehmung                 anderen psychischen Erkrankungen oder Ausnahme-
            wird in ihrer Bedeutung in einen anderen Bezugs-       zuständen auftreten:
            rahmen gesetzt. So wird z. B. ein vorbeifahrendes      • Depersonalisation (Entfremdungsgefühle gegen-
            rotes Auto als Zeichen interpretiert, dass der           über sich selbst)
            Nachrichtendienst wieder aktiv ist.                    • Derealisation (Entfremdungsgefühle gegenüber
         • Wahneinfall: Ein wahnhafter Gedanke tritt unab-           der Umwelt, Raum oder Zeit) (Mehl et al. 2016).
            hängig von einer Sinneswahrnehmung auf; z. B.:
            „Mein Ehemann will mich vergiften.“
         • Systematisierter Wahn: Die Komplexität des              Formale Denkstörung
            Wahns nimmt zu, und immer mehr Wahr-
            nehmungen und Beobachtungen werden in die              Neben den Denkinhalten, die im Wahn beeinträchtigt         4
            Wahnsystematik integriert.                             sind, ist häufig auch der formale Gedankengang ver-
         Was die Wahninhalte angeht, so erleben ca. 80–90 %        ändert. Dies kann von diskreten Abweichungen bis
         der Menschen mit einer schizophrenen Psychose             hin zu völliger Unverständlichkeit des Gesprochenen
         einen Verfolgungs- bzw. Beeinträchtigungswahn. Es         führen. Die Ausformung der formalen Denkstörung
         gibt jedoch auch noch zahlreiche andere Formen wie        kann dabei sehr unterschiedlich sein: Sie kann von
         Liebes- oder Eifersuchtswahn, Größenwahn, Schuld-         einer assoziativen Lockerung bzw. Ideenflucht bis hin
         wahn etc. (Mehl et al. 2016).                             zu völliger Zerfahrenheit reichen. Es können Neologis-
                                                                   men oder Perseverationen auftreten, oder die Betrof-
                                                                   fenen erleben eine Blockierung des Denkens, um nur
         Halluzinationen                                           einige zu nennen. Immer zeigt es sich dem Gegenüber
                                                                   durch eine Beeinträchtigung in der Kommunikation;
         Die im Rahmen einer Psychose auftretenden Sinnes-         der verbale Ausdruck und ggf. das Verhalten des Be-
         täuschungen können im Grunde jede Sinnesmodali-           troffenen verweisen auf die dahinterliegende formale
         tät betreffen. Am häufigsten sind im Rahmen einer         Denkstörung (› Kap. 8.2).
         Schizophrenie akustische Halluzinationen zu be-
         obachten (ca. 50 % der Betroffenen) (Mehl et al. 2016).
         Während optische Halluzinationen bei Erwachsenen          4.1.3 Negativsymptome
         eher selten sind (ca. 15–35 %), treten sie bei Psycho-
         sen im Kindesalter häufig auf (ca. 80 %) (Resch und       Insbesondere im längeren Verlauf schizophrener
         Schimmelmann 2013).                                       Psychosen spielen Negativsymptome eine wesentli-
                                                                   che Rolle. Es treten Symptome auf, von denen einige
                                                                   auch bei depressiven Störungen zu beobachten sind.
         Ich-Störungen                                             Affektverflachung, Anhedonie, Antriebslosigkeit,
                                                                   Verlangsamung im formalen Denken und sozialer
         Hierbei verschwimmen die Grenzen zwischen dem als         Rückzug sind mögliche Ausprägungen. Manchmal
         „Ich“ Empfundenen und der Umwelt. Das, was als zu-        verarmen die Betroffenen im sprachlichen Aus-
         nächst selbstverständlich „Meinhaftiges“ erlebt wird,     drucksvermögen (Alogie) und leiden unter einer
         wird durchlässig bzw. verändert sich. Dabei kann          ausgeprägten Apathie.
         unterschieden werden zwischen für eine Psychose
         sehr spezifischen Ich-Störungen wie
         • Gedankeneingebung
         • Gedankenentzug

C0020.indd 63                                                                                                       10/09/20 2:06 PM
64        4 Was begegnet mir? Erscheinungsformen psychiatrischer Krisen

         4.1.4 Wichtige Kriseninterventions-                     Konsistent mit diesen Überlegungen zur Entstehung
         ziele                                                   von Psychosen ist, dass annähernd 90 % aller Be-
                                                                 troffenen mit einer psychotischen Erkrankung aus
         Bei akuter Exazerbation gilt es, eine Behandlungs-      dem schizophrenen Formenkreis bereits Jahre vor der
         motivation zu erarbeiten. Ein sehr konsistenter         Erstmanifestation sog. prodromale Symptome ge-
         Befund in wissenschaftlichen Studien ist, dass die      zeigt haben (Schultze-Lutter et al. 2015). Das können
         Prognose einer psychotischen Störung sich mit der       psychoseferne Auffälligkeiten im Denken und Wahr-
         frühzeitigen medikamentösen antipsychotischen           nehmen oder in Dauer bzw. Intensität abgemilderte
         Behandlung verbessert. Jede Behandlungsverzöge-         psychotische Symptome sein. So erleben z. B. manche
         rung hingegen verschlechtert die Langzeitprognose.      Menschen sog. Gedankeninterferenzen, d. h., es treten
         Bei einer Erstmanifestation ist zudem differenzial-     Gedanken ins Bewusstsein, die nicht zum aktuellen
         diagnostisch eine organische Ursache der Erkran-        Kontext passen und als sehr befremdlich empfunden
         kung mit zu berücksichtigen und medizinisch ab-         werden. Menschen in einem prodromalen Stadium
         zuklären.                                               nehmen diese Gedanken als störend und irritierend
                                                                 wahr, verorten die Herkunft der Gedanken jedoch ein-
 4                                                               deutig bei sich. Im Rahmen einer manifesten Psychose
         4.1.5 Ätiologische Modelle                              würde die Quelle jedoch ggf. externalisiert, d. h. im
                                                                 Außen gesucht, und damit als „Gedankeneingebung“
         Hinsichtlich der Entstehung psychotischer Erkran-       erlebt, was einen Realitätsverlust kennzeichnet und
         kungen ist von einem multifaktoriellen Vulnera-         den Menschen in noch größere Verunsicherung treibt.
         bilitäts-Stress-Modell auszugehen. Zu einer poly-
         genetisch vererbten Hirnentwicklungsstörung treten
         Gen-Umwelt-Interaktionen hinzu, welche die Ent-         4.1.6 Interventionen – einen Zugang
         stehung einer psychotischen Erkrankung ermögli-         finden
         chen. Das von Keshavan (1999) formulierte 3-Hits-
         Modell rekurriert auf diese Annahme und sieht in der    In der Begegnung mit akut psychotischen Menschen
         Erstmanifestation einer psychotischen Erkrankung        gibt es einige Hürden, welche die Kommunikation
         die Kulmination einer langen Entwicklung im Vor-        erschweren können. Zunächst sind die Betroffenen
         feld (Keshavan 1999). Auf neurobiologischer Ebene       meist sehr verunsichert, misstrauisch und ängstlich,
         werden hier die Phase der Prä- und Perinatalzeit, die   denn sowohl die Wahrnehmung selbst als auch die
         Adoleszenz und die neurodegenerativen Prozesse          Interpretation des Erlebten sind massiv beeinträchtigt.
         im Rahmen einer manifesten Psychose als die drei        Eine Auswahl hilfreicher Interventionen ist › Abb.
         Momente (3 Hits) herausgestellt, in denen die Gehirn-   4.1 am Ende des Abschnitts zu entnehmen.
         entwicklung abweichend verläuft bzw. in denen es zu
         zerebralen Schäden kommt. Zusätzlich zur geneti-
         schen Veranlagung kommen als schädliche Einfluss-       Kognitive Beeinträchtigung
         faktoren u. a. Noxen (z. B. Medikamente, Drogen),
         Infektionen oder Stress infrage. Neben den Auf- und     So sind kognitive Fähigkeiten wie die Konzen-
         Umbauprozessen vor der Geburt und während der           trationsfähigkeit meist reduziert, und es kann eine
         Kindheit erfährt das Gehirn vor allem während der       Auffassungsstörung bestehen, d. h., die Fähigkeit,
         Adoleszenz (15–25 Jahre) noch einmal eine massive       Wahrnehmungen und Inhalte in ihrer Bedeutung zu
         Entwicklung und ist damit besonders vulnerabel. Im      verstehen und in einen sinnvollen Zusammenhang
         Rahmen des sog. Prunings kommt es zu einer star-        zu setzen, ist vermindert. So werden z. B. Gesprächs-
         ken Reduktion der Synapsendichte. Dabei gibt es gute    inhalte sehr konkretistisch aufgefasst und z. B. der
         Hinweise aus der Forschung, dass schizophrene Pa-       Sinn von Sprichwörtern nicht erfasst. Das formale
         tienten als Ausdruck einer abweichend verlaufenden      Denken kann assoziativ gelockert oder ideenflüchtig,
         Hirnentwicklung ein Übermaß an Pruning erleben          d. h. sehr sprunghaft oder inhaltlich nicht mehr nach-
         (Paus et al. 2008).                                     vollziehbar sein, da völlig zerfahren.

C0020.indd 64                                                                                                       10/09/20 2:06 PM
4.1 Realitätsverlust              65

                MERKE                                                 d. h. einer Nutzbarmachung im Sinne des Patienten,
           Dies erfordert im Kontakt eine einfache und konkrete       verwendet werden. Wenn der Betroffene auch fest von
           Sprache. Sprichwörter oder andere Stilmittel, die ein      der Überwachung durch die Nachbarn überzeugt ist
           starkes Abstraktionsvermögen erfordern, sollten vermie-    und das Pathologische darin in diesem Moment nicht
           den werden.
                                                                      erkennen kann, ist er – angesprochen auf seine emo-
                                                                      tionale Not – vielleicht aber dem Argument zugäng-
         Wahninhalte                                                  lich, dass seine Nachbarn an einem anderen Ort, z. B.
                                                                      in einer Klinik, keinen Zugriff auf ihn hätten. Eine
         Als weitere Hürden im Kontakt erweisen sich dann             solche „doppelte Buchführung“, d. h. das Einver-
         meist Besonderheiten im Erleben psychotischer                ständnis eines Patienten z. B. zur (teil-)stationären Be-
         Patienten, die vor allem im Wahn ihren Ausdruck              handlung vor einem anderen Interpretationshorizont,
         finden. Psychotischem Erleben ist ein sog. Subjekt-          ermöglicht nicht selten einen ersten Zugang und eine
         zentrismus eigen, d. h., in der Interpretation von           Behandlung auf freiwilliger Basis. Allgemein lässt
         Wahrnehmungen besteht eine starke Tendenz,                   sich sagen: Je aufgewühlter (z. B. aufgrund einer aus-
         Dinge auf sich zu beziehen. Gepaart mit einer re-            geprägten Wahndynamik), unübersichtlicher und
         duzierten Fähigkeit, wichtige von unwichtigen Stimuli        chaotischer eine Situation erscheint, desto direktiver            4
         zu unterscheiden, und einer vermehrten Tendenz,              muss ggf. vorgegangen werden, um einen Rahmen zu
         Dinge als bedrohlich wahrzunehmen, führt dies zu             schaffen, der eine weitere Eskalation verhindert und
         Phänomenen wie den sog. Beziehungsideen. So                  den Weg für die notwendige psychiatrische Behand-
         können Nachrichten in der Presse über Gescheh-               lung bahnt (› Kap. 2). Zudem ist bei psychotischen
         nisse am anderen Ende der Welt im psychotischen              Zuständen häufig eine ausgesprochene Ambivalenz
         Erleben zu Botschaften werden, die exklusiv für den          vorhanden, welche die Betroffenen daran hindert, eine
         Betroffenen dort platziert wurden. Aber ebenso kann          Entscheidung zu treffen.
         jede Äußerung oder Handlung während eines Ge-
         sprächs auf diese Weise interpretiert werden und zu
         Misstrauen und Verunsicherung führen.                        Affektive Beeinträchtigung

                MERKE                                                 Im Affekt erscheinen die Patienten nicht selten para-
           Das erfordert ein empathisches und wachsames               thym, d. h., die ausgedrückten Emotionen passen nicht
           Wahrnehmen des Betroffenen und ggf. ein Nach-
                                                                      zur Situation oder zu den geschilderten Denkinhalten.
           fragen, falls Irritationen im Gesprächsverlauf wahr-
           nehmbar sind. Transparenz und Klarheit, alles, was         Oft dominieren Angst und Verzweiflung sowie das be-
           Sicherheit und Orientierung vermittelt, können im          reits erwähnte Misstrauen die Interaktion, aber auch
           Gegenzug hilfreich sein. Es geht darum, im Gespräch nach   eine unpassende Unbekümmertheit und Heiterkeit
           Möglichkeit einen gemeinsamen Nenner zu finden und          können auftreten.
           den Betroffenen in seiner Not zu adressieren.
                                                                         MERKE
         Da das zentrale Kennzeichen eines Wahninhalts seine           Für einen ersten Zugang im Rahmen der Kriseninterven-
         Unkorrigierbarkeit ist, sind Diskussionen über die            tion ist es notwendig, hier nach Möglichkeit möglichst viel
         Wahninhalte selbst nicht zielführend. Spricht der Be-         Ruhe, Vertrauen und Sicherheit zu vermitteln.
         troffene z. B. von der Befürchtung, durch die Nachbarn
         überwacht zu werden, wird er sich von dieser Über-
         zeugung im Gespräch nicht lösen, ist jedoch vielleicht       Sinnestäuschungen
         in der von ihm empfundenen Angst und Verzweiflung
         erreichbar. Diese kann im Gespräch in den Blick ge-          Hinzu kommen Sinnestäuschungen, am häufigsten
         nommen werden und bietet ggf. eine Brücke, um Hilfe          in Form von akustischen Halluzinationen, die an sich
         annehmen zu können.                                          schon verunsichernd und deren Inhalte nicht selten
            Respektvoll können auch manchmal Wahninhalte              bedrohlich sind. Betroffene berichten von kom-
         selbst im Sinne einer therapeutischen Utilisation,           mentierenden, entwertenden oder gar imperativen

C0020.indd 65                                                                                                                 10/09/20 2:06 PM
66          4 Was begegnet mir? Erscheinungsformen psychiatrischer Krisen

                                                       Einfache, konkrete Sprache,
              Formale Denkstörung/
                                                   keine Sprichwörter oder Metaphern,
               Auffassungsstörung
                                                          Orientierung vermitteln

                                                    Keine Diskussion mit dem Ziel,
                     Wahn                         Wahninhalte „logisch“ zu widerlegen.
                                                  Utilisation, „doppelte Buchführung“

                                                     Nachfragen, um einen Eindruck
                 Halluzinationen
                                                        vom Inhalt zu gewinnen

              Verzweiflung, Ängste,                     Sicherheit, Zuversicht und
                  Misstrauen                               Vertrauen vermitteln                Abb. 4.1 Eine auf Symptome
                                                                                               abgestimmte Auswahl hilfreicher
                                                                                               Interventionen vor dem Hinter-
                Psychomotorische                       Sicherheitsabstand halten,
                                                                                               grund der psychotischen Symp-
                    Erregung                           Talk-down, ggf. Medikation
                                                                                               tomatik
 4

         Stimmen. Wenn es gelungen ist, eine Gesprächsbasis          mehr Vertrauen zu fassen. Die Rückmeldung an ihn,
         zu finden, und die Situation es erlaubt, ist es sinnvoll    dass man selbst kein Spezialist für Abhörtechnologie
         nachzufragen, um sich nach Möglichkeit zumindest            sei, jedoch seine Not und Verzweiflung sehe, eröffnete
         ein grobes Bild zu machen, was der Betroffene erlebt.       einen Weg, um im weiteren Gespräch die Möglichkeit
         Auch Halluzinationen jeder anderen Sinnesmodalität          ärztlicher Unterstützung anzusprechen. Es gelang, den
         sind möglich, treten jedoch seltener auf.                   jungen Mann davon zu überzeugen, gemeinsam in
                                                                     eine psychiatrische Institutsambulanz zu fahren, um
                                                                     dort Möglichkeiten zur Linderung seiner Ängste und
         Erregungszustände                                           der ausgeprägten Schlafstörungen, von denen er im
                                                                     weiteren Verlauf berichtet hatte, zu besprechen. II
         Sollte sich die Situation während der Krisenintervention
         oder bereits im Vorfeld so zuspitzen, dass der Betroffene   Das Einbeziehen von Angehörigen, Freunden oder
         in einen emotionalen Erregungszustand gerät, muss           anderen Bezugspersonen, falls verfügbar, kann sehr
         zunächst auf den Selbstschutz der professionellen           hilfreich sein. Oftmals können diese vertrauten Per-
         Helfer geachtet und je nach Setting ggf. Unterstützung      sonen leichter einen Zugang zum Patienten finden
         hinzugezogen werden (› Kap. 7.1.2). In manchen              und ihn ggf. von den notwendigen nächsten Schritten
         Fällen ermöglicht ein klares, bestimmtes Auftreten eine     überzeugen. Es gibt jedoch auch den Fall, dass diese in
         Eingrenzung. Es kann versucht werden, den Patienten         die Wahnsymptomatik einbezogen sind. Dann gilt es
         durch „Talk-down“, d. h. verständnisvolles und be-          eher Abstand zu schaffen. In jedem Fall ist es hilfreich,
         gleitendes Sprechen, zu beruhigen. Nicht selten ist         wenn über die dem Patienten nahestehenden Perso-
         jedoch eine medikamentöse Intervention mit Anti-            nen fremdanamnestische Informationen eingeholt
         psychotika oder Benzodiazepinen notwendig, um die           werden können, z. B.
         akute Anspannung und eine damit ggf. einhergehende          • Verlauf der aktuellen Episode (Wie akut hat sich
         Selbst- oder Fremdgefährdung zu durchbrechen.                  die Symptomatik entwickelt?)
                                                                     • Frühere psychotische Episoden?
         II Fallbeispiel                                             • Bekannte Selbst- oder Fremdgefahr während psy-
                                                                        chotischer Episoden?
         Forts.                                                      • Hinweis auf Drogenkonsum?
         Nachdem die professionellen Helfer sich die Sorgen          • Medikation?
         und Befürchtungen des Patienten angehört und Ver-           • Somatische Erkrankungen?
         ständnis signalisiert hatten, schien dieser zunehmend       • Gibt es einen Krisenpass / -plan?

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108         4 Was begegnet mir? Erscheinungsformen psychiatrischer Krisen

         INFOBOX                                                        DGPPN – Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psycho-
          Behandlungsvereinbarung (DGPPN 2018)                            therapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (Hrsg.).
                                                                          S2k-Leitlinie Notfallpsychiatrie. AWMF-Registernummer
          Behandlungsvereinbarungen werden zwischen Betroffe-             038–023. Stand: 31.8.2019; www.awmf.org/uploads/tx_
          nen und Behandlern „ausgehandelt“ und legen Modali-             szleitlinien/038-023l_S2k_Notfallpsychiatrie_2019-05_1.
          täten für evtl. notwendige zukünftige Behandlungen fest.        pdf (letzter Zugriff: 14.3.2020).
          Inhalte können u. a. sein:                                    NICE – National Institute for Health and Care Excellence.
          • Aufnahme auf eine bestimmte Station                           Violence and aggression: short-term management in
          • Medikation, die verabreicht oder nicht verabreicht            mental health, health and community settings. NICE
             werden soll                                                  guideline [NG10]. May 2015; www.nice.org.uk/guidance/
          • Nahestehende Personen, die informiert werden sollen,          ng10 (letzter Zugriff: 14.3.2020).
             und Festlegung einer Vertrauensperson, welche die
             Interessen des Betroffenen vertritt, falls dieser seinen
             Willen nicht mehr kundtun kann
          • Vereinbarung über deeskalierende Maßnahmen, die             4.11 Sucht
             vor einer ggf. notwendigen Zwangsmaßnahme ver-             Ingrid Schäfer
             sucht werden sollen
          Es geht darum, die Bedürfnisse und Wünsche des
 4        Betroffenen so weit wie möglich auch in Situationen zu                         Zusammenfassung
          wahren, in denen er nicht ausreichend einsichts- bzw.           • Suchterkrankungen sind häufig und treten im
          steuerungsfähig ist. Behandlungsvereinbarungen können,
                                                                              Zusammenhang mit psychiatrischen Krisen
          wenn sie die formalen Voraussetzungen erfüllen (schriftlich
          in einwilligungsfähigem Zustand verfasst), den Status einer         meist komorbid oder als Auslöser einer weite-
          Patientenverfügung erhalten, die rechtlich bindend ist.             ren psychiatrischen Störung auf. In der Kri-
          Die wichtigsten Inhalte der Behandlungsvereinbarung                 senintervention kommt hinsichtlich der Häu-
          können in einem Krisenpass, den der Betroffene immer                figkeit die größte Relevanz Alkohol,
          bei sich trägt, zusammengefasst werden.                             Benzodiazepinen und Cannabis zu.
                                                                          •   Manifeste Abhängigkeitserkrankungen gehen
         Zu Interventionsmöglichkeiten bei akuter Fremd-                      häufig mit Scham- und Schuldgefühlen ein-
         gefährdung › Kap. 7.1.2.                                             her, und die Betroffenen neigen zu Bagatelli-
                                                                              sierung und Verheimlichung.
         LITERATUR
         Abderhalden C, Needham I, Dassen T, Halfens R, Haug H-J,
                                                                          •   Das Ziel der Krisenintervention unterscheidet
           Fischer JE. Structured risk assessment and violence in             sich nach dem Anlass: Bei bestehender Ab-
           acute psychiatric wards: randomised controlled trial. Br J         stinenz und einem drohenden Rückfall geht
           Psychiatry 2008; 193(1): 44–50.                                    es um akute Entlastung und Unterstützung,
         Gvion Y, Apter A. Aggression, impulsivity, and suicide be-           um einen erneuten Substanzkonsum zu ver-
           havior: a review of the literature. Arch Suicide Res 2011;
                                                                              hindern. Bei fortgesetztem Substanzkonsum
           15(2): 93–112.
         Hamza CA, Willoughby T, Heffer T. Impulsivity and nonsuici-          steht der Aufbau von Motivation für eine
           dal self-injury: a review and meta-analysis. Clin Psychol          längerfristige spezialisierte Behandlung im
           Rev 2015; 38(13–24): 13–24.                                        Vordergrund.
         Moyer KE. Kinds of aggression and their physiological basis.     •   Komorbide psychische Erkrankungen und
           Commun Behav Biol 1968; 2(2): 65–87.
                                                                              mögliche somatische Komplikationen (z. B.
         Steinert T, Whittington R. A bio-psycho-social model of
           violence related to mental health problems. Int J Law              beim Alkoholentzug) müssen berücksichtigt
           Psychiatry 2013; 36(2): 168–175.                                   und adressiert werden.

         ZITIERTE LEITLINIEN
         DGPPN – Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psycho-
           therapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (Hrsg.).         4.11.1 Grundlagen
           S3-Leitlinie „Verhinderung von Zwang: Prävention und
           Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen“.
           AWMF-Registernummer 038–002. Stand: 10.9.2018;
                                                                        Suchtmittel sind weltweit verbreitet. Ihnen allen ge-
           www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-022.html (letzter      meinsam ist eine Wirkung über das Belohnungssys-
           Zugriff: 14.3.2020).                                         tem im Gehirn, das durch körpereigene Morphine

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4.11 Sucht         109

         (die Endorphine) moduliert wird. Die Aktivierung         4.11.2 Einteilung substanzbedingter
         des Belohnungssystems unterhält den wiederholten         Störungen
         Konsum der Substanz.
            Inwieweit sich aus einem einmaligen Probierkon-       In der ICD-10 sind Kategorien vorgesehen, um das
         sum ein riskantes Konsumverhalten oder gar eine          Ausmaß des Missbrauchs bzw. der psychischen und
         Abhängigkeit entwickelt, hängt von individuellen         körperlichen Beeinträchtigung durch Drogen zu be-
         Faktoren (Genetik, Lern- und Konditionierungspro-        schreiben. Es wird zwischen akuten Intoxikationen,
         zesse, Modell im Elternhaus, Erfahrung angenehmer        schädlichem Gebrauch, Abhängigkeit und Entzugs-
         Auswirkungen auf Leistungsfähigkeit, Anspannung,         syndromen unterschieden. Bei Substanzen, die keine
         Ängste, Depression, Impulskontrollstörung und            körperliche Abhängigkeit zur Folge haben können, ist
         Stress, Einsamkeit, Kontaktschwierigkeiten, Lange-       nur ein Missbrauch möglich. Die ICD-11 behält die
         weile und Schmerzen) und gesellschaftlichen Fak-         Unterscheidung von Missbrauch und Abhängigkeit
         toren (Kultur, aktuelle Trends, Verfügbarkeit, Kosten,   bei. Zusätzlich werden die spezifischen Schädigungs-
         gesellschaftliche Akzeptanz oder Ächtung, Gesetz-        muster durch Substanzmissbrauch weiter differen-
         gebung, suchtnaher Arbeitsplatz) und von der Sub-        ziert, vor allem hinsichtlich ihrer Frequenz (einmalig,
         stanz und deren Einnahme (oral, nasal, intravenös)       episodisch, kontinuierlich) (Saunders et al. 2019).         4
         ab.                                                      Auch Begleiterscheinungen wie z. B. eine psychotische
            Eine Substanz, die rasch ins Gehirn übertritt (in-    Symptomatik, die während bzw. unmittelbar nach der
         travenöser und nasaler Konsum) und dort ihre Wir-        Substanzeinnahme auftritt, können in der ICD-11
         kung entfalten kann, führt zu einer berauschenden        kodiert werden.
         Wirkung und einer schnelleren Abhängigkeitsent-             Eine Abhängigkeit ist anhand folgender Kriterien
         wicklung. Bei anderen Substanzen entsteht bei ent-       definiert; dabei müssen drei oder mehr Kriterien wäh-
         sprechend längerer Einnahmezeit eine körperliche         rend der letzten 12 Monate gleichzeitig vorhanden
         und / oder psychische Abhängigkeit.                      gewesen sein:
            Die Rezeptoren der Botenstoffe im zentralen Ner-      • Starkes, als unwiderstehlich empfundenes Ver-
         vensystem gewöhnen sich an die Effekte der Sucht-           langen nach der Substanz (Craving)
         mittel, woraus eine Toleranzentwicklung, eine            • Verminderte Kontrollfähigkeit bzgl. Beginn,
         Dosissteigerung und bei Beendigung des Konsums              Beendigung und Menge des Konsums
         Entzugssymptome folgen.                                  • Körperliches Entzugssyndrom, nachgewiesen
            Menschen greifen aus unterschiedlichsten Gründen         durch substanzspezifische Entzugssymptome
         zu potenziell abhängig machenden Substanzen: aus            oder die Aufnahme der gleichen oder einer nahe
         fröhlichem gesellschaftlichem Anlass, um zusammen           verwandten Substanz, um die Entzugssymptome
         zu feiern, aus ganz persönlichen Gründen, um zu ent-        zu mindern oder zu vermeiden
         spannen, sich etwas Gutes zu tun; bei Heranwachsen-      • Toleranzentwicklung (Wirkverlust) bzw. Dosis-
         den insbesondere, um die Anerkennung Gleichaltriger         steigerung
         zu erhalten, aber auch in Krisensituationen, um Er-      • Fortschreitende Vernachlässigung anderer
         leichterung in unerträglich erscheinenden emotiona-         Vergnügungen oder Interessen zugunsten des
         len Zuständen zu erlangen. Hierbei kann es sich um          Substanzkonsums; erhöhter Zeitaufwand, um die
         die Reduktion von Anspannung, Ängsten, Schlaf-              Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich
         störungen oder Schmerzen handeln. Ebenso gehören            von den Folgen zu erholen
         auch Stress- und Angsterleben sowie eine geringe         • Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweises
         Emotions- und Impulskontrolle dazu. Mehr als die            eindeutiger schädlicher Folgen
         Hälfte der Personen mit Substanzmissbrauch weist         Als Substanzen, die zu einer Abhängigkeit führen
         eine weitere psychische Störung auf, bei Frauen sind     können, sind in der ICD-10 aufgeführt:
         dies vor allem Angststörungen, depressive Syndrome       • Alkohol
         und Persönlichkeitsstörungen, bei Männern an erster      • Opioide
         Stelle depressive Störungen, aber auch Angst- und        • Cannabinoide
         Persönlichkeitsstörungen.                                • Sedativa und Hypnotika

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110        4 Was begegnet mir? Erscheinungsformen psychiatrischer Krisen

         •  Kokain                                                II Fallbeispiel
         •  Sonstige Stimulanzien inkl. Koffein
         •  Halluzinogene                                         Fall 1
         •  Tabak                                                 Mitarbeiter des Jobcenters rufen den Krisendienst zu
         •  Flüchtige Lösungsmittel                               Hilfe. Ein schon länger arbeitsloser Mann (42) mit
         In der ICD-11 werden die Substanzklassen erweitert       Alkoholproblemen habe geäußert, dass „es jetzt ja
         (z. B. um synthetische Cannabinoide und Cathinone).      eh keinen Sinn mehr“ mache. Jetzt sei auch noch die
                                                                  Frau mit den beiden Kindern zu ihren Eltern gezogen.
                                                                  Bei Eintreffen der Krisendienstmitarbeiter im Job-
         4.11.3 Krisen und Substanzkonsum                         center ist Herr S. sichtlich alkoholisiert (Fahne, lallen-
                                                                  de Sprache). Er brauche keine Hilfe, die „Maus vom
         Der Suchtmittelkonsum kann ein Bewältigungsver-          Amt“ übertreibe, Alkoholprobleme habe er keine, er
         such sein, der jedoch keine Lösung bietet, sondern bei   brauche das Jobcenter nicht, finde selbst wieder eine
         regelmäßigem Konsum oftmals zusätzlich zu vielfälti-     Arbeit, auch die Familie werde wieder zurückkom-
         gen Problemen führt. Im Zusammenhang mit Krisen          men. Man solle ihn in Ruhe lassen, er gehe jetzt heim.
 4       sind Alkohol, Benzodiazepine und Tetrahydrocan-          Beim Aufstehen stürzt er, bleibt liegen, krümmt sich
         nabinol (THC) die relevantesten potenziell abhängig      heulend: Er könne nicht mehr. II
         machenden Substanzen.
            Alkohol ist allerorten verfügbar, für jeden Voll-     Auch die Einnahme von Benzodiazepinen inkl.
         jährigen (Bier und Wein bereits ab 16 Jahren) frei       Benzodiazepin-Analoga (Z-Substanzen) ist im Zu-
         käuflich und mit überschaubaren Kosten verbunden.        sammenhang mit Krisen weit verbreitet. Es handelt
         Erwerb und Konsum sind gesellschaftlich akzeptiert       sich zwar um verschreibungspflichtige Arzneimittel,
         und werden häufig sogar begrüßt.                         aber die Verfügbarkeit auf dem Schwarzmarkt ist groß.
            Die meisten Menschen haben aus gesellschaftlichen     Benzodiazepine gehören zu den meistverordneten
         Anlässen bereits Alkohol konsumiert und vermut-          Psychopharmaka. Der Segen der Benzodiazepine (ra-
         lich bei mäßigen Mengen dessen angenehm positive         scher Wirkungseintritt, relativ wenige Nebenwirkun-
         Wirkung verspürt: mit einer gewissen Anregung ver-       gen, breite Anwendungsindikation, vergleichsweise
         bundene Entspannung, Kontaktaufnahme und Reden           wenige Verordnungseinschränkungen und Arzneimit-
         fallen leichter, die Stimmung bessert sich, und die      telwechselwirkungen) ist gleichzeitig auch ihr Fluch.
         letztlich müde machende Wirkung erleichtert häufig          In Notfallsituationen ist die Verabreichung recht
         das Einschlafen.                                         sicher, die Wirkung in der Regel vorhersehbar. Auch
            Nachdem wir Menschen aufgrund unserer Fähig-          wenn die große Mehrheit der verordnenden Ärzte das
         keit, zu lernen und Wissen abzuspeichern, uns bei neu    potenzielle Abhängigkeitsrisiko der Benzodiazepine si-
         auftretenden Herausforderungen an frühere Erfah-         cher berücksichtigt, kommt es in der Alltagsrealität mit
         rungen erinnern und auf bereits erworbene Strategien     knapp bemessenen zeitlichen Ressourcen im Hinblick
         zurückgreifen können, liegt in äußerst belastenden       auf Gespräche für Motivationsarbeit, um qualifizierte
         Krisensituationen ein Selbstberuhigungs- oder Selbst-    Hilfe in Anspruch zu nehmen, und Schwierigkeiten,
         heilungsversuch mit Alkohol nahe. Der einer Krise        angemessene spezifische Behandlung zeitnah zu
         immanente hohe Leidensdruck, verbunden mit der           organisieren, häufig zu einer Verordnung über längere
         ebenfalls für Krisen typischen hohen Beeinflussbar-      Zeiträume. Das führt zu zahlreichen iatrogenen (durch
         keit (man greift nach jedem Strohhalm), verleitet        den Arzt verursachten) Abhängigkeitserkrankungen.
         dazu, sich an im Gedächtnis abgespeicherte positive         Cannabiskonsum ist gerade bei jungen Erwachse-
         Strategien zu erinnern und diese als vermeintlich        nen und Jugendlichen recht verbreitet. Rund 15 % der
         hilfreiche Taktik zu nutzen. Der dann durch z. B. Al-    18- bis 25-Jährigen haben in den letzten 12 Monaten
         koholgenuss rasch eintretende subjektiv zunächst ein-    Cannabis konsumiert, Männer (20 %) doppelt so häufig
         mal positive Effekt öffnet die Tür zu einem potenziell   wie Frauen (10 %) (BzgA-Infoblatt Cannabis; Meier
         schädlichen Kreislauf mit suchtcharakteristischer        et al. 2012). Das Einstiegsalter für den Cannabiskon-
         Toleranzentwicklung, Dosissteigerung etc.                sum liegt meist zwischen dem 15. und 16. Lebensjahr.

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4.11 Sucht         111

         THC zu legalisieren und damit zur weit verbreiteten        beim Wegfall der Substanz sind. Entsprechend treten
         individuellen Nutzung freizugeben, sollte sehr kritisch    körperliche und psychische Entzugssymptome auf.
         betrachtet werden. Im Kontext der Krisenintervention       Entzüge werden von den Betroffenen als sehr unan-
         spielt Cannabis vor allem als Auslöser von psychoti-       genehm erlebt; die Symptomatik ist substanzabhängig.
         schen Störungen eine Rolle. Dabei ist eine sog. Into-      In der überwiegenden Zahl der Fälle sind Entzüge
         xikationspsychose, die ca. 48 h andauert, von einer        keine medizinischen Notfälle. Ein besonderes Risiko
         durch Cannabis ausgelösten anderweitigen psychoti-         für lebensbedrohliche Komplikationen (Delire und
         schen Störung zu unterscheiden. Durch regelmäßigen         Krampfanfälle) stellen jedoch Alkohol und Benzo-
         Cannabiskonsum ist das Risiko, irgendeine Form             diazepine dar (DGPPN 2019). Wichtige Symptome
         einer psychotischen Störung zu entwickeln, um das          häufiger Drogen werden weiter unten aufgeführt.
         4-Fache erhöht (Di Forti et al. 2019; Thomasisus 2017).

             MERKE                                                  4.11.6 Drohender Rückfall
           Zu den Notfällen im Zusammenhang mit Substanzkon-
           sum zählen vor allem:                                    Eine Suchterkrankung wird als chronisch verlaufende
           • Intoxikationen und Rauschzustände
                                                                    Erkrankung mit Rückfällen betrachtet. Im Erkran-             4
           • Entzugserscheinungen, ggf. mit komplizieren-
             dem Delir
                                                                    kungsverlauf geht es weniger um die vermeintlich
           • Krisensituationen mit drohendem Rückfall               „positiven“ Wirkungen (Euphorie, Stimmungsbes-
           • Emotionale Ausnahme- und Erregungszustände             serung) der Substanz als um negative Verstärkungen
             mit sozial unangemessenem Verhalten (Aggressivität,    (z. B. Reduktion von Anspannung). Rückfälle ereignen
             Straftaten) unter Substanzeinfluss                      sich am ehesten unter Stress im Sinne einer Selbst-
                                                                    medikation zur Beendigung schwer aushaltbarer see-
                                                                    lischer Zustände. Unter sich anhäufenden vielfältigen
         4.11.4 Intoxikationen und Rauschzu-                        Belastungen (privat, beruflich, sozial) kann ein aktuell
         stände                                                     Abstinenter – auch nach erfolgreicher Entgiftung und
                                                                    Entwöhnung – derart unter Druck geraten, dass sich
         Dabei handelt es sich um vorübergehende Zustände, die      das „altvertraute“ Bewältigungsmuster (Substanz-
         durch die eingenommene Substanz ausgelöst werden. Es       konsum) wieder in den Vordergrund drängt. Meist
         besteht meist eine Beeinträchtigung der kognitiven Fä-     liegt eine Kombination verschiedener Faktoren vor,
         higkeiten, der Wahrnehmung, des Affekts und Verhal-        die nicht aufmerksam wahrgenommen wurden. Ein-
         tens bis hin zu Bewusstseinsstörungen. Intoxikationen      zelne innere und äußere Auslöser bewirken verschie-
         können abhängig von Substanz, Dosis, individuellen         dene Reaktionen auf gedanklicher, körperlicher und
         Faktoren (z. B. Vorerkrankungen) oder Wechselwirkung       emotionaler Ebene und führen dann in den Konsum.
         mit anderen Substanzen zu lebensbedrohlichen Kom-             In einer Therapie erworbene konstruktive Bewälti-
         plikationen (z. B. Delir, Koma, Aspiration etc.) führen.   gungsstrategien greifen dann evtl. nicht mehr ausrei-
         Bei Intoxikationen mit mehreren Substanzen können          chend oder nicht schnell genug. Ausgeprägter Stress
         mehrgipfelige Verläufe auftreten. Eine medizinische        führt zu dem großen Wunsch, die unerträgliche Situ-
         Abklärung ist dann dringend erforderlich (s. auch          ation möglichst schnell zu beendigen. Wenn mehrere
         › Kap. 7.1.4, somatische Notfälle) (DGPPN 2019).           Faktoren und widrige Umstände zusammenkommen,
                                                                    der Betroffene in eine Situation gerät, in der er mit
                                                                    suchtmitteltypischen Verknüpfungen konfrontiert
         4.11.5 Entzugserscheinungen                                ist und dann eine auch nur sehr geringe Menge zu
                                                                    sich nimmt, führt dies über (unbewusste, im Gehirn
         Entzugserscheinungen können bei Reduktion der              stattfindende) Bahnungseffekte in der Regel direkt
         Substanz oder völligem Verzicht auf die Droge ent-         in den Rückfall. Der ist dann meist mit Scham- und
         stehen. Durch den regelmäßigen Substanzkonsum              Schuldgefühlen verbunden, was das ohnehin krisen-
         treten körperliche und psychische Gewöhnungseffekte        hafte Erleben noch mehr verstärkt. Die Einsicht, alko-
         ein, welche die Grundlage für die Entzugssymptome          hol- und / oder drogenabhängig zu sein, und die Aus-

C0020.indd 111                                                                                                         10/09/20 2:06 PM
112        4 Was begegnet mir? Erscheinungsformen psychiatrischer Krisen

         einandersetzung mit durch die Drogenproblematik             4.11.7 Emotionale Ausnahme- und
         verpassten Lebenschancen, ungelösten Konflikten             Erregungszustände
         und nicht mehr zu ändernden Ereignissen sind schwer
         auszuhalten. Sich die Abhängigkeit in dieser Situation      Je nach Wirkung der eingenommenen Substanz kann
         offen und ehrlich einzugestehen fällt den Betroffenen       es zu psychischen Ausnahmezuständen kommen. Es
         extrem schwer.                                              können eher sedierende (z. B. Opioide) von aktivie-
                                                                     rend wirkenden Substanzen (z. B. Amphetaminen)
         II Fallbeispiel                                             unterschieden werden. Viele Drogen zeigen zudem
                                                                     noch eine halluzinogene Komponente (z. B. LSD).
         Fall 2                                                      Solche Zustände können mit eigen- und fremdge-
         Die ehemals langjährig drogenabhängige alleinerzie-         fährdendem Verhalten einhergehen. Je nach Leitsyn-
         hende Mutter (31) eines 3-jährigen Sohnes wird im           drom entspricht das Prozedere zunächst den in den
         Kindergarten darauf hingewiesen, dass ihr Sohn sich         entsprechenden Kapiteln beschriebenen Vorgehens-
         immer wieder auffällig verhalte und oftmals unge-           weisen (Erregungszustand und Fremdgefährdung
         pflegt wirke. Er zeige sehr aggressive Verhaltensweisen     › Kap. 7.1.2, Realitätsverlust › Kap. 4.1). Zudem
 4       und wirke aber auch oft traurig. Sie solle ihn bei einem    besteht aufgrund der Intoxikation eine Indikation für
         Kinder- und Jugendpsychiater vorstellen, sonst könne        eine somatische Abklärung (› Kap. 7.1.4).
         man ihn nicht in der Gruppe belassen und müsse evtl.
         auch das Jugendamt informieren. Man habe den Ein-
         druck, sie sei mit der Erziehung derzeit überfordert.       4.11.8 Intervention – einen Zugang
         Daraufhin wendet sie sich verzweifelt an eine Freun-        finden
         din. Sie stehe massiv unter Druck, hetze morgens
         ihren Sohn, damit sie pünktlich zur Arbeit komme,           Wichtig ist die Professionalität im Umgang mit dem
         abends habe sie vor Erschöpfung kaum mehr Geduld            Substanzkonsum. Die Betroffenen erleben nach dem
         für ihn. Sie fühle sich tatsächlich überfordert und habe    Rausch meist Schuld- und Schamgefühle, die nicht
         Angst, dass er ihr weggenommen werde.                       noch durch Stigmatisierung verstärkt werden sollten.
         Sie habe erstmals nach Jahren wieder massiven Sucht-        Dennoch bedarf es einer klaren Haltung, die einer-
         druck verspürt. Sie habe gedacht, „es geschafft zu ha-      seits die Not des Betroffenen anerkennt und anderer-
         ben“, aber offenbar sei alles sinnlos, sie „habe ja noch    seits andere Lösungsstrategien als den selbstschädi-
         nie etwas zustande gebracht“, sei „ja eh nichts wert“.      genden Suchtmittelkonsum betont. Es sollten keine
         Sie habe sich einfach mal wieder „einen Joint und ein       langen Gespräche während des Rauschzustands ge-
         paar Pillen gegönnt“. II                                    führt werden. Diese sind zum einen nicht zielführend
                                                                     und können zum anderen auch zur Verstärkung des
         In solch einer Situation benötigen Betroffene rasche        Problemverhaltens beitragen. Es sollte ein zeitnaher
         Hilfe, um nicht in einen fatalen Teufelskreis „ab-          Folgetermin bzw. eine Vermittlung an eine spezia-
         zustürzen“. Bei einem Rückfall ist eine sofortige           lisierte Beratungsstelle o. Ä. erfolgen. Der Betroffene
         Beendigung des Substanzkonsums erforderlich, im             muss in seiner Eigenverantwortung gesehen und ge-
         zweiten Schritt die Auseinandersetzung damit, was           stärkt werden.
         zum Rückfall geführt hat. Ziel ist, die Achtsamkeit            Ziel der Krisenintervention ist ein Benennen der
         gegenüber inneren und äußeren Auslösern zu schulen          Suchtproblematik, ein vorsichtiges Thematisieren,
         und damit eine Verbesserung der emotionalen Re-             dass der aktuelle Suchtmittelkonsum als mögliche
         gulation zu erreichen.                                      Lösungsstrategie nicht sinnvoll ist. Im günstigsten Fall
                                                                     kann eine Motivation für eine weiterführende Unter-
            MERKE                                                    stützung, Entzugs- bzw. Entwöhnungsbehandlung etc.
          Wichtig ist das Vermeiden von Schlüsselsituationen, die    erarbeitet werden.
          Identifizierung vertrauter Glaubenssätze („Wenn ich Subs-
          tanz ABC konsumiere, dann gelingt mir XYZ besser“),
          deren Unwahrheit zu benennen und zu korrigieren.

C0020.indd 112                                                                                                           10/09/20 2:06 PM
4.11 Sucht          113

         II Fallbeispiel                                          II Fallbeispiel

         Fall 1 (Forts.)                                          Fall 2 (Forts.)
         Im Gespräch am Folgetag berichtet Herr S., dass es       Die Freundin ruft einen Krisendienst hinzu. Zwei Mit-
         ihm schon wieder besser gehe, es sei ihm alles zu viel   arbeiter kommen zu Frau A. nach Hause, bedanken
         geworden. Er freue sich, dass er mit jemand reden        sich, dass sie gerufen wurden und dass Frau A. ihr
         könne, dass man ihm zuhöre. Auf vorsichtige Nach-        bislang fremde Personen in ihre Wohnung lässt.
         frage räumt er ein, dass er in letzter Zeit häufig de-   Ein Mitarbeiter beschäftigt sich mit dem Sohn, die
         primiert gewesen sei und immer wieder Alkohol ge-        zweite Mitarbeiterin kocht nach Einverständnis von
         trunken habe – vielleicht doch mehr, als ihm guttue.     Frau A. Tee, setzt sich zu Frau A. und lässt sie ausführ-
         Nachdem seine Frau mit den Kindern ausgezogen            lich berichten, was sie aktuell belaste, ihre Befürch-
         sei, habe er auch keinen Grund mehr gesehen, auf-        tungen und Ängste. Sie erhält Anerkennung für ihre
         zupassen.                                                schöne Wohnung, für das, was sie als Alleinerziehende
         Herrn S. wird vermittelt, dass er eine schwierige Le-    leistet, dass sie es geschafft habe, aus der Abhängigkeit
         benssituation zu bewältigen habe. Man verstehe, dass     herauszukommen. Frau A. wirkt sichtlich entlastet
         er nach Möglichkeiten der Erleichterung suche, dass      durch die Rückmeldung, dass es vielen bei diesen              4
         gerade Alkohol eine kurzfristige Lösung sei, die aber    Belastungen zu viel werden würde. Sie berichtet, dass
         längerfristig immense Probleme mit sich bringe. Der      sie seit Jahren nur noch funktioniere; außer Kind,
         vermehrte Alkoholkonsum wird als ein Bewältigungs-       Haushalt und Arbeit gebe es nichts mehr. Die Krisen-
         versuch im Rahmen der Krise betrachtet. Herrn S.         dienst-Mitarbeiterin spricht offen darüber, dass Sucht-
         werden Adressen von Suchtberatungsstellen und Psy-       druck und Rückfälle zur Sucht gehören, keine Ka-
         chotherapieangeboten übergeben; auch auf Hilfe für       tastrophe sein müssen, der erfolgreiche Umgang mit
         Angehörige und die Möglichkeit der Paarberatung          dem Suchtdruck aber immer wieder herausfordert. Sie
         wird hingewiesen.                                        wird über die Möglichkeit der Unterstützung durch
         Vereinbart wird, dass er noch vorrätige Alkoholika zu    die Erziehungsberatungsstelle informiert – auch ano-
         Hause entsorgt, in der Wohnung Ordnung schafft, sau-     nym. Betont wird der Auftrag der Jugendämter, Eltern
         ber macht und kleine Aktivitäten mit einem Freund        zu unterstützen, nicht die Kinder wegzunehmen.
         unternimmt, und es wird ihm mitgeteilt, wohin er         Das Angebot der anwesenden Freundin, den Sohn
         sich im Falle eines Stimmungseinbruchs und / oder        am Wochenende auch einmal bei ihr übernachten zu
         eines erneuten Auftretens von Gedanken an Alkohol-       lassen, kann sie erstmals annehmen. Auch erinnert sie
         konsum wenden kann.                                      sich an eine sehr freundliche Sozialpädagogin in der
         Ihm wird empfohlen, sich vom Hausarzt untersuchen        Suchtberatungsstelle, die ihr vor Jahren sehr gehol-
         zu lassen, ob er körperlich gesund sei (insbesondere     fen habe und zu der sie sich vorstellen könne, wieder
         im Hinblick auf Alkoholfolgeschäden).                    Kontakt aufzunehmen.
         Sollte sich die Symptomatik als Abhängigkeit dar-        Auf Wunsch von Frau A. und in ihrem Beisein infor-
         stellen, wird bei einem Entgiftungswunsch konkrete       miert die Mitarbeiterin des Krisendienstes telefonisch
         Unterstützung zur stationären Aufnahme angeboten,        den Kindergarten, dass Frau A. sich Unterstützung
         bei Ambivalenz Kontaktaufnahme zu Suchtberatungs-        geholt habe.
         stellen, Selbsthilfegruppen etc. II                      Für die Folgewoche (im Notfall jederzeit) wird ein
                                                                  erneutes Telefonat vereinbart. Frau A. berichtet, dass
         Im Fallbeispiel wird versucht, Herrn S. Akzeptanz und    sie Kontakt zu ihrer früheren Sozialarbeiterin auf-
         Wertschätzung entgegenzubringen. Ein vorsichtiges        genommen und auch mit der Erziehungsberatungs-
         Infragestellen des problematischen Problemlösungs-       stelle ein Gespräch vereinbart habe. II
         verhaltens soll dazu beitragen, ihn für die angebote-
         nen konkreten nächsten Schritte zu motivieren.           In diesem Fallbeispiel liegt einer der Schwerpunkte auf
                                                                  einer raschen Entlastung. Für Frau A. geht es darum,
                                                                  Belastungsfaktoren wahrzunehmen und sich die eige-
                                                                  nen Bedürfnisse und Grenzen einzugestehen. Zugleich

C0020.indd 113                                                                                                        10/09/20 2:06 PM
114         4 Was begegnet mir? Erscheinungsformen psychiatrischer Krisen

         ist es wichtig, Selbstwirksamkeitserleben zu fördern            abhängigen unterzieht sich einer Behandlung. Rund.
         (Suchtdruck gehört zur Sucht, man ist aber nicht aus-           74.000 Personen versterben jedes Jahr durch alkohol-
         geliefert) und nach Möglichkeit positive Erfahrungen            bedingte Erkrankungen.
         mit Unterstützungsangeboten (Freundin, Suchthilfe,                Sowohl ein hoher kurz- als auch ein langfristiger
         Jugendamt) zu verstärken.                                       Alkoholkonsum können grundsätzlich mit einem er-
                                                                         höhten Risiko für die Entwicklung von akuten und
            CAVE                                                         chronischen psychischen und körperlichen Erkran-
          Bei Rauschzuständen ist es essenziell, die akute Ge-           kungen und sozialen Problemen verbunden sein.
          fährdung abzuschätzen. Hier ist es relevant, sowohl die
          psychische als auch die somatische Seite in den Blick zu       INFOBOX
          nehmen. Psychisch ist eine Einschätzung hinsichtlich aku-       Häufigste alkoholbedingte Krankheiten und
          ter Selbst- bzw. Fremdgefährdung notwendig. Gerade im           Symptome
          Zusammenhang mit Alkoholabusus und -abhängigkeit
          spielt Suizidalität eine wichtige Rolle. Die Suizidhäufigkeit    •   Fettleber, Leberzirrhose
          bei Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit liegt 60-            •   Schädigung des Gehirns: Konzentrations- und Ge-
          bis 120-mal höher als bei Gesunden. Etwa jeder zehnte               dächtnisstörungen, Intelligenzminderung
 4        Alkoholiker verstirbt irgendwann durch Suizid. Außerdem         •   Herzmuskelerkrankungen
          wird auch unabhängig von einer Alkoholabhängigkeit ca.          •   Bluthochdruck
          ein Drittel aller Suizide unter Alkoholeinfluss begangen         •   Krebserkrankungen, insbesondere von Leber, Mund-
          (DGPPN 2019).                                                       höhle, Rachenraum und Speiseröhre, Enddarm und
          Zu berücksichtigen ist auch, dass unter Drogeneinfluss in            (weiblicher) Brustdrüse
          der Regel die Fahrtauglichkeit beeinträchtigt ist!              •   Impotenz
                                                                          •   Pankreatitis, Gastritis, Magen- und Duodenalulzera
                                                                          •   Übergewicht („Bierbauch“), aber auch Appetitverlust
         Mögliche somatische Komplikationen hängen von                        und Gewichtsabnahme
                                                                          •   Allgemeine Symptome:
         der eingenommenen Substanz ab. Im Zweifelsfall soll-                 – Verschlechterung des Allgemeinzustands, beinbe-
         te auf eine ärztliche Einschätzung hingewirkt werden.                  tonter Muskelverlust, Schwitzen
                                                                              – Gerötete Gesichtshaut, Spider naevi, Teleangieekta-
                                                                                sien
         4.11.9 Alkohol                                                       – Magen-Darm-Beschwerden (Durchfall, Erbrechen)
                                                                          •   Psychische Symptome:
                                                                              – Ängste, dysphorische und depressive Stimmung,
         „Es ist leider…ganz Deutschland mit Saufen geplagt.                    Stimmungsschwankungen
         Wir predigen…und schreiben darüber, es hilft aber                    – Reduziertes Selbstwertgefühl
         leider nicht viel.“                                                  – Interessenminderung
                                                Martin Luther (1541)          – Innere Unruhe, Schlafstörungen
                                                                              – Reizbarkeit, erniedrigte Frustrationstoleranz
         In Deutschland werden pro Kopf und Jahr 10,75 l rei-                 – Gleichgültigkeit, Kritikminderung
         ner Alkohol konsumiert. Ein tendenzieller Rückgang                   – Alkoholische Wesensänderung (Stimmungslabilität,
         zeichnet sich ab, dennoch besteht im internationalen                   Egoismus, Rücksichtslosigkeit, intellektuelle Beein-
                                                                                trächtigungen)
         Vergleich immer noch ein sehr hoher Konsum. Alko-                •   Typisches alkoholassoziiertes Verhalten:
         holabhängigkeit und missbräuchlicher Alkoholkon-                     – Verheimlichen, Lügen, Bagatellisieren, Dissimulieren
         sum gehören zu den am häufigsten diagnostizierten                    – Veränderung des Sozialverhaltens mit negativen
         psychischen Störungen. Deutlich mehr Männer als                        Konsequenzen auf bestehende zwischenmensch-
         Frauen sind betroffen. Angehörige Alkoholkranker                       liche Beziehungen
         haben ein drei- bis vierfach erhöhtes Risiko, selbst
         eine Alkoholstörung zu entwickeln.                              (› Abb. 4.5)
            Schätzungsweise sind in Deutschland ca. 1,6–
         1,8 Mio. Menschen alkoholabhängig; etwa 6–7 Mio.
         konsumieren Alkohol in riskanter Weise bzw. in ge-
         sundheitsschädlichem Ausmaß. Nur 1 % der Alkohol-

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