Partizipation in der Gesundheitsförderung - Arbeitspapier 48 - Juni 2021

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Partizipation in der Gesundheitsförderung - Arbeitspapier 48 - Juni 2021
Juni 2021

     Arbeitspapier 48

     Partizipation in der
     Gesundheitsförderung
Partizipation in der Gesundheitsförderung - Arbeitspapier 48 - Juni 2021
Gesundheitsförderung Schweiz ist eine Stiftung, die von den Kantonen und Krankenversicherern
 getragen wird. Mit gesetzlichem Auftrag führt sie Massnahmen zur Förderung der Gesundheit
 durch (Krankenversicherungsgesetz, Art. 19). Die Stiftung unterliegt der Kontrolle des Bundes.
 Oberstes Entscheidungsorgan ist der Stiftungsrat. Das Sekretariat besteht aus Büros in Bern und
 Lausanne. Derzeit leistet jede Person in der Schweiz einen jährlichen Beitrag von CHF 4.80 an
 Gesundheitsförderung Schweiz. Dieser Betrag wird von den Krankenversicherern im Auftrag der
 Stiftung eingezogen. Weitere Informationen: www.gesundheitsfoerderung.ch

 In der Reihe «Arbeitspapier von Gesundheitsförderung Schweiz» erscheinen von Gesundheits-
 förderung Schweiz erstellte oder in Auftrag gegebene Grundlagen, welche Fachleuten in der
 Umsetzung in Gesundheitsförderung und Prävention dienen. Der Inhalt der Arbeitspapiere unter-
 liegt der redaktionellen Verantwortung der Autorinnen und Autoren. Arbeitspapiere von Gesund-
 heitsförderung Schweiz liegen in der Regel in elektronischer Form (PDF) vor.

Impressum

Herausgeberin
Gesundheitsförderung Schweiz

Autorin und Autor
Dr. Patrick Ischer und Chloé Saas, Fondation O2

Projektleitung Gesundheitsförderung Schweiz
Dr. Manon Delisle, Projektleiterin Partner Relations

Projektleitung Commission de Prévention et de Promotion de la Santé (CPPS) du GRSP
Alexia Fournier Fall, Koordinatorin CPPS

Begleitgruppe (in alphabetischer Reihenfolge)
Homa Attar-Cohen, Service du Médecin Cantonal, Genf; Martine Bouvier Gallacchi, Servizio di
promozione e valutazione sanitaria, Tessin; Laure Chiquet, Service de la santé publique, Jura;
Tania Larequi, Service de la santé publique, Waadt; Emilie Morard Gaspoz, Kantonsarztamt, Wallis;
Fabienne Plancherel, Amt für Gesundheit, Freiburg; Claude-François Robert, Service de la
santé publique, Neuenburg, Präsident der CPPS; Lysiane Ummel Mariani, Service de la santé publique,
Neuenburg

Anpassung der deutschsprachigen Fassung
Zusammen mit der Vereinigung der kantonalen Beauftragten für Gesundheitsförderung (VBGF)

Reihe und Nummer
Gesundheitsförderung Schweiz, Arbeitspapier 48

Zitierweise
Ischer, P. & Saas, C. (2019). Partizipation in der Gesundheitsförderung. Arbeitspapier 48.
Bern und Lausanne: Gesundheitsförderung Schweiz.

Fotonachweis Titelbild
iStockphoto

Auskünfte/Informationen
Gesundheitsförderung Schweiz, Wankdorfallee 5, CH-3014 Bern, Tel. +41 31 350 04 04,
office.bern@promotionsante.ch, www.gesundheitsfoerderung.ch

Originaltext
Französisch

Bestellnummer
01.0281.DE 06.2021

Diese Publikation ist auch in französischer und italienischer Sprache erhältlich
(Bestellnummer 01.0281.FR 04.2019 bzw. 01.0281.IT 04.2019).

Download PDF
www.gesundheitsfoerderung.ch/publikationen

© Gesundheitsförderung Schweiz, Juni 2021
Partizipation in der Gesundheitsförderung - Arbeitspapier 48 - Juni 2021
Partizipation in der Gesundheitsförderung 3

Editorial
Gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen sind         Durch Partizipation werden Menschen befähigt,
ein wichtiger Schwerpunkt der Gesundheitsförde-        selbstbestimmter Entscheidungen zu treffen, die
rung und eines der fünf Handlungsfelder der Ottawa-    ihre Gesundheit beeinflussen. Sie stärkt den sozia-
Charta zur Gesundheitsförderung. Handeln auf Ge-       len Zusammenhalt und gewährleistet eine gute
meinde- und Nachbarschaftsebene erfordert jedoch       Abstimmung zwischen den Projekten zur Gesund-
ein hohes Mass an Partizipation, das sich in der       heitsförderung und den Bedürfnissen der Zielgrup-
Praxis oft schwer realisieren lässt. Deshalb haben     pen. Wir freuen uns, dass ein solches Dokument
Gesundheitsförderung Schweiz und die in der Con-       entstanden ist: Es wird dazu beitragen, die Hand-
férence latine des affaires sanitaires et sociales     lungen der lateinischen und der deutschsprachigen
(CLASS) zusammengeschlossenen lateinischen Kan-        Kantone in diesem Themenbereich zu verbessern
tone entschieden, die Partizipation in der Gesund-     und zu konsolidieren.
heitsförderung durch gemeinsam entwickelte Vor-
gehensweisen und Empfehlungen zu fördern.              Prof. Dr. Thomas Mattig
Partizipative Ansätze sind eine Grundanforderung       Direktor Gesundheitsförderung Schweiz
in der Gesundheitsförderung. In der Praxis wirft
dieser Begriff jedoch viele Fragen auf. In diesem      Laurent Kurth
Dokument wird zunächst ein theoretischer Rahmen        Präsident der Conférence latine des affaires
entwickelt, der den Begriff «Partizipation» anhand     sociales et sanitaires (CLASS)
einer Literaturrecherche definiert. Es werden die      Staatsrat, Departement für Finanzen und
an einem solchen partizipativen Ansatz beteiligten     Gesundheit, Kanton Neuenburg
Akteurinnen und Akteure und der jeweilige Grad
ihrer Einbindung – von der Information über die
Konsultation und (Mit-)Gestaltung bis hin zur (Mit)-
Entscheidung – aufgezeigt und die Etappen eines
partizipativen Prozesses zusammengefasst. Dieser
theoretische Rahmen wird anschliessend der Praxis
gegenübergestellt, indem drei Best Practices bei
partizipativen Prozessen analysiert werden. Ab-
schliessend geht der Bericht auf die zu vermeiden-
den Stolpersteine ein und listet die Fragen auf, die
vor Beginn eines partizipativen Prozesses gestellt
werden sollten.
Partizipation in der Gesundheitsförderung - Arbeitspapier 48 - Juni 2021
4   Partizipation in der Gesundheitsförderung

Inhaltsverzeichnis
Management Summary                                   5

1 Einleitung                                         8

2 Methode                                           10

3 Definition der Partizipation                      11

4	Wer sind die Stakeholder?                        13

5	Wie man die Stakeholder einbindet                15

6	Etappen eines partizipativen Prozesses           19

7	Chancen und Risiken                              22

8	Welche Fragen es sich lohnt, vorher zu stellen   24

9 Literaturverzeichnis                              25

Anhang 1: Glossar                                   26

Anhang 2: Die Partizipationsleiter nach Arnstein    28
Partizipation in der Gesundheitsförderung - Arbeitspapier 48 - Juni 2021
Partizipation in der Gesundheitsförderung 5

Management Summary
Dieses von den lateinischen Kantonen und Gesund-      Partizipation bietet viele Chancen:
heitsförderung Schweiz erarbeitete Dokument lie-      • Empowerment stimuliert die individuelle Unab-
fert einen theoretischen Rahmen, der den Begriff        hängigkeit und soziale Unterstützung, ermöglicht
«Partizipation» anhand einer Literaturrecherche         es den Einzelnen, mehr Kontrolle über die eigene
definiert. Dieser Rahmen wird anschliessend auf         Gesundheit auszuüben, erlaubt mehr Einfluss
seine Praxistauglichkeit geprüft, indem drei Best       auf Entscheidungen und Handlungen, die die
Practices bei partizipativen Prozessen analysiert       Gesundheit verschiedener Bevölkerungsgruppen
werden. Die deutschsprachige Fassung enthält zwei       beeinflussen
Best Practices aus der Deutschschweiz und über-       • Abstimmung auf die Bedürfnisse der Ziel-
nimmt eine aus der Westschweiz. Der französisch-        gruppen und dadurch stärkere Bindung der
sprachige Text wurde in einzelnen weiteren Punkten      Zielgruppen an die Projekte
den Bedürfnissen der VBGF angepasst.                  • Stärkung des sozialen Zusammenhalts
                                                      • Grössere Chancengleichheit – unter der Voraus-
Empfehlungen und wesentliche Elemente                   setzung, dass vulnerable Personen besondere
• Zunächst einmal ist es wichtig, sich vor Augen zu     Beachtung erhalten
  halten, dass nicht alle Massnahmen zwingend         • Stärkung sektorenübergreifender Prozesse
  einen partizipativen Ansatz erfordern. Es ist je-   • Multiplikatoreffekt
  doch wesentlich, diese Option bei der Lancierung    • Langfristige Verankerung von Programmen
  eines Projekts zur Gesundheitsförderung syste-        oder Projekten
  matisch zu prüfen.
• Es gibt verschiedene Grade der Partizipation,       Partizipation beinhaltet aber auch bestimmte Risiken
  die jedoch alle gleich wichtig sind. Daher muss     wie:
  ein partizipatives Projekt nicht zwangsläufig       • Zu starke Auslastung der Stakeholder
  eine (Mit-)Entscheidung anstreben (welche als       • Häufig erheblicher Zeitaufwand, um die Autono-
  höchster Grad der Partizipation gilt).                misierung einer Zielgruppe zu erreichen
• Es ist jedoch zwingend zu beantworten, inwieweit    • Finanzielle Belastung, die einige Behörden oder
  die Beteiligten einbezogen werden sollen. An-         Institutionen nicht übernehmen können
  schliessend sind sie klar darüber zu informieren,   • Durch den Umfang und die Grösse der betroffenen
  in welcher Form sie sich partizipativ einbringen      Personengruppe begrenzter Wirkungskreis
  können.                                               der Gesundheitsmassnahmen in der Zielgruppe
• Die Durchführung eines partizipativen Prozesses     • Mögliche Diskrepanzen zwischen individuellen
  erfordert eine klare Methodik und hohe Fach-          und kollektiven Interessen
  kompetenz auf diesem Gebiet. Daher ist eine Be-     • Potenzielle Infragestellung traditioneller
  gleitung durch Fachpersonen gewinnbringend            Gewohnheiten
  und empfehlenswert.                                 • Die Schwierigkeit, Personen mit unterschiedli-
• Partizipative Projekte haben den Vorteil, dass        chen Werten, Biografien oder soziokulturellen
  sie auf echtes Empowerment und damit auf              Hintergründen zur Zusammenarbeit zu bewegen
  Nachhaltigkeit abzielen. Um die Verankerung von
  Projekten sicherzustellen, ist jedoch zu berück-
  sichtigen, dass eine uneingeschränkte Selbst-
  ständigkeit der Stakeholder und eine unkoordi-
  nierte Selbstorganisation oft zu Schwierigkeiten
  führen, die den Erfolg von Projekten gefährden
  können.
6   Partizipation in der Gesundheitsförderung

• Die Vulnerabilität bestimmter Bevölkerungs-                     Die Evaluation eines solchen Ansatzes erfolgt
  gruppen, die eventuell unbeachtet bleiben                       hauptsächlich auf der Ebene einer Prozessevalua-
• Die Tatsache, dass einige Projektleitende Bereit-               tion. In begründeten Fällen kann jedoch eine Wir-
  schaft zur Umsetzung partizipativer Ansätze                     kungsevaluation sinnvoll sein.
  zeigen, sich aber deren optimale Durchführung
  nicht zutrauen

DIE VIER FORMEN DER PARTIZIPATION1

Form der Partizipation      Beschreibung
Information                 Die Beteiligten werden über die Herausforderungen im Zusammenhang mit einem zu lösenden
                            Problem oder einem Projekt informiert (oder informieren sich selbst). Daher ist es unerlässlich,
                            ihnen Zugang zu Informationen zu gewähren und das Stellen von Fragen zu ermöglichen, um zu
                            gewährleisten, dass alle den gleichen Wissensstand haben.
Konsultation                Den Beteiligten wird ermöglicht, Stellung zum Prozess zu nehmen, beispielsweise durch Meinungs-
                            umfragen, öffentliche Anhörungen, Gruppeninterviews.
                            Die Moderierenden hören zu. Eine solche Konsultation garantiert jedoch nicht, dass die Anliegen
                            und Ideen der betroffenen Bevölkerungsgruppen tatsächlich berücksichtigt werden.
(Mit-)Gestaltung            Die Beteiligten entwickeln den Aktionsplan, das Projekt oder die Aktivitäten mit, dürfen sie jedoch
                            nicht verabschieden. Der so entwickelte Aktionsplan kann anschliessend einem Lenkungsaus-
                            schuss vorgelegt werden, der darüber entscheidet.
(Mit-)Entscheidung          Die Beteiligten arbeiten gleichberechtigt zusammen. Die Projektleitung erfolgt im gegenseitigen
                            Einvernehmen, und bei allen Phasen des Projekts wird gemeinsam entschieden. Diese gemein-
                            same Entscheidungsfindung ist vor allem in einem überschaubaren Setting (Quartier, Schule usw.)
                            möglich.
                            Es wird zwischen folgenden zwei Entscheidungsarten unterschieden:
                            • politische Entscheidung über finanzielle, räumliche, materielle oder personelle Unterstützung,
                            • operative Entscheidungen, die von den involvierten Personen während der Umsetzung
                              getroffen werden.

1 Von der Commission de Prévention et de Promotion de la Santé (CPPS) und Gesundheitsförderung Schweiz entwickeltes
   Modell, das auf von verschiedenen Autorinnen und Autoren vorgeschlagenen Skalen basiert.
Partizipation in der Gesundheitsförderung 7

Vor der Einführung eines partizipativen Ansatzes ist
es empfehlenswert, sich eine Reihe von Fragen zu
stellen. Hier einige Vorschläge dazu2 .

LISTE DER FRAGEN, DIE ES SICH VOR BEGINN EINES PARTIZIPATIVEN PROZESSES ZU STELLEN LOHNT

Fragen
1)	Was ist der Zweck der Partizipation?
2)	Handelt es sich um einen kurz- oder längerfristigen Ansatz?
3)	Welche finanziellen und personellen Ressourcen müssen bereitgestellt werden?
4)	Wer kann sich am partizipativen Prozess beteiligen? Und wie?
    a. Wer sind die wichtigen Beteiligten?
    b. Wie werden die Beteiligten in den Prozess involviert?
    c. Welches institutionelle Partnernetzwerk kann mobilisiert werden?
    d. Wie können vulnerable Bevölkerungsgruppen einbezogen werden?
5)	Wer definiert die Gruppe von Beteiligten und grenzt sie ein?
    a. Inwieweit fühlen sich Personen zu dieser Gruppe zugehörig?
6)	Welchen Partizipationsgrad der Zielgruppe (Information, Konsultation, Mitgestaltung oder Mitentscheidung) erwartet
    der Kanton oder die Gemeinde?
7)	Welche Rolle spielen die verschiedenen beteiligten Akteurinnen und Akteure? Stellt die Zusammensetzung der
    Beteiligten sicher, dass alle wichtigen Interessen und Ansichten abgedeckt werden? Sind die Personen, die die Ziel-
    gruppe vertreten, wirklich repräsentativ?

2 Gestützt auf Fragen aus Giorgis (2016) und dem Leitfaden des Zentrums öffentlicher Raum (ZORA) des Schweizerischen
   Städteverbands (2016).
8   Partizipation in der Gesundheitsförderung

1 Einleitung
Gemäss der Ottawa-Charta vom 21. November 1986                ausüben und Veränderungen in seinem Lebensall-
zielt Gesundheitsförderung darauf ab, das Individu-           tag treffen kann, die der Gesundheit zugutekommen
um zur Stärkung der eigenen Gesundheit zu befähi-             (ebd.). Deschamps zufolge bietet diese Charta tat-
gen. Die Charta definiert die Voraussetzungen, unter          sächlich eine echte Alternative zu den aktuellen poli-
denen unter anderem «alle Menschen befähigt wer-              tischen und wirtschaftlichen Trends, insofern als sie
den, ihr grösstmögliches Gesundheitspotential zu              «unsere repräsentative Demokratie durch Verfahren
verwirklichen» (WHO 1986, 2). Ausserdem legt sie              der partizipativen Demokratie ergänzt. Ein Umstand,
fünf Massnahmen zur Umsetzung dieser Anforde-                 der vor dem Hintergrund der Krise, in der sich die
rung fest (eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik            Politik befindet, und des Verlusts des Vertrauens der
entwickeln, gesundheitsförderliche Lebenswelten               Bevölkerung in ihre gewählten Vertreter nicht zu ver-
schaffen, gesundheitsbezogene Gemeinschaftsak-                nachlässigen ist» (Deschamps 2003, 320).
tionen unterstützen, persönliche Kompetenzen ent-             Die Ottawa-Charta misst dem Prinzip der Partizipa-
wickeln, die Gesundheitsdienste neu orientieren).             tion und des Empowerments grosse Bedeutung bei.
Die dritte dieser Massnahmen, «gesundheitsbezoge-             Wie andere Konzepte (gemeinschaftliche Ansätze,
ne Gemeinschaftsaktionen unterstützen» 3 , bezieht            Mobilisierung oder Massnahmen, partizipative Pro-
sich eindeutig auf die Partizipation, wie aus den             zesse oder Vorgehensweisen) widerspiegelt sie die
Ausführungen dazu hervorgeht: «Gesundheitsför-                Bereitschaft, demokratische Prozesse zu fördern
derung wird im Rahmen konkreter und wirksamer                 und die Einzelnen in den Mittelpunkt zu stellen. Ge-
Aktivitäten von Bürgern in ihrer Gemeinde reali-              mäss Mouterde et al. (2011) ist die Partizipation
siert: in der Erarbeitung von Prioritäten, der Herbei-        potenzieller Zielgruppen besonders wertvoll, wenn:
führung von Entscheidungen sowie bei der Planung              • sie berufliches Silodenken aufhebt und Intersek-
und Umsetzung von Strategien. Die Stärkung von                   toralität fördert. Gesundheitsfaktoren erscheinen
Nachbarschaften und Gemeinden baut auf den vor-                  als Dimensionen des Handelns, werden aber
handenen menschlichen und materiellen Möglich-                   gemeinsam mit anderen Dimensionen (psycholo-
keiten der grösseren öffentlichen Teilnahme und                  gisch, sozial, ökologisch usw.) berücksichtigt.
Mitbestimmung auf. Selbsthilfe und soziale Unter-             • sie das Empowerment von Menschen und Gemein-
stützung sowie flexible Möglichkeiten der grösseren              schaften ermöglicht, das heisst, sie in die Lage
öffentlichen Teilnahme und Mitbestimmung für Ge-                 versetzt, sich einzubringen und zu engagieren.
sundheitsbelange sind dabei zu unterstützen bzw.              • sie auf das Bewusstsein und die Emanzipation
neu zu entwickeln. Kontinuierlicher Zugang zu allen              der Mitglieder einer bestimmten Gruppe zielt,
Informationen, die Schaffung von gesundheitsorien-               um sie dazu zu bringen, Verantwortung zu über-
tierten Lernmöglichkeiten sowie angemessene fi-                  nehmen. In einer Zeit des zunehmenden Drucks
nanzielle Unterstützung gemeinschaftlicher Initiati-             auf die Ressourcen erscheint dies besonders
ven sind dazu notwendige Voraussetzungen» (WHO                   interessant und nützlich. Umso mehr, als die
1986, 4). Die vierte Massnahme betont die Unterstüt-             Partizipation eine bessere Regulierung der
zung, die dem Individuum gegeben werden muss, da-                öffentlichen Gesundheitsmassnahmen fördern
mit es mehr Einfluss auf seine eigene Gesundheit                 dürfte.

3 Siehe dazu folgende Definition: «Eine Gemeinschaftsaktion zur Gesundheitsförderung bezeichnet jede Initiative von
   Einzelpersonen, Gemeinschaftseinrichtungen oder (Territorial-, Interessen-, Identitäts-)Gemeinschaften, die darauf
   abzielt, eine kollektive und solidarische Lösung für ein soziales Problem oder ein gemeinsames Bedürfnis zu finden
   und so zu einer besseren Kontrolle über die Gesundheitsdeterminanten beizutragen, ihre Gesundheit zu verbessern
   und sozialbedingte Unterschiede in der Gesundheit abzubauen» (Hyppolite & Parent 2017, 180).
Partizipation in der Gesundheitsförderung 9

Bei der Erarbeitung dieses Dokuments wurden die          Ziel des vorliegenden Dokuments ist es, auf diese
Erfahrungen aus der Westschweiz und dem Tessin           praktischen Herausforderungen einzugehen, um
analysiert. Dabei zeigte sich, dass partizipative Pro-   möglichst nachhaltige Ergebnisse zu erzielen und
jekte den Vorteil haben, den tatsächlichen Bedürf-       partizipative Prozesse anzustossen, die den Bedürf-
nissen der Zielgruppen besondere Aufmerksamkeit          nissen der Bevölkerung Rechnung tragen. Deshalb
zu schenken, weil die Zielgruppen selbst Lösungen        wird im Folgenden vorgeschlagen, das Konzept der
für die von ihnen wahrgenommenen Probleme vor-           «Partizipation» zu definieren und anschliessend
schlagen können. Dadurch beteiligen sie sich am          Antworten auf die folgenden Fragen zu geben: Wer
Prozess und übernehmen Verantwortung, was in             sind die Akteurinnen und Akteure, die an einem par-
der Regel Frustration vermeidet. Darüber hinaus          tizipativen Ansatz beteiligt sind? In welchem Mass
kann die Partizipation eine langfristige Umsetzung       sind sie beteiligt? Wie können Umfang und Auswir-
von Programmen ermöglichen. Überdies können die          kungen eines Partizipationsprojekts im Rahmen der
während des Prozesses erworbenen Kompetenzen             Gesundheitsförderung überwacht und gemessen
später für andere Projekte in anderen Kontexten          werden? Welche Schritte sind zu befolgen, um ein
mobilisiert werden. Aus diesen Gründen kann davon        solches Projekt erfolgreich umzusetzen? Welche
ausgegangen werden, dass Partizipation die Wirk-         Schwierigkeiten können auftreten? Zudem wird eine
samkeit der Gesundheitsförderung verbessert.             Liste von Fragen aufgeführt, die es zu beantworten
Allerdings ist der Schritt von der Entscheidung für      gilt, bevor ein partizipativer Ansatz umgesetzt wird.
mehr Partizipation zur konkreten Umsetzung manch-        Um einige dieser Elemente zu veranschaulichen,
mal schwierig. So schreibt beispielsweise ein Co-        werden drei Projekte kurz vorgestellt. Auch wenn es
Autor von «25 ans d’histoire: les retombées de la        schwierig erscheint, diese Beispiele in einem ande-
Charte d’Ottawa pour la promotion de la santé dans       ren Kontext zu reproduzieren, so dürften sie doch
divers pays francophones» (25 Jahre später: die Aus-     ermöglichen, bestimmte Fragen im Zusammenhang
wirkungen der Ottawa-Charta auf die Gesundheits-         mit partizipativen Prozessen zu klären.
förderung in verschiedenen französischsprachigen         Die lateinischen Kantone und Gesundheitsförderung
Ländern): «Die Anerkennung der Gesundheitsförde-         Schweiz möchten, dass das Konzept der Partizipation
rung voranzutreiben, bleibt daher eine der grössten      im Rahmen der Gesundheitsförderung besser ver-
Herausforderungen für die kommenden Jahre. Die           standen wird. Deshalb haben sie einen gemeinsamen
Gesundheitsförderung scheint derzeit in vielerlei        konzeptionellen Rahmen definiert und Möglichkeiten
Hinsicht nicht auszureichen, um für Mobilisierung        für konkrete Anwendungen bei zukünftigen Strate-
und Engagement zu sorgen. Dies ist ein nicht unbe-       gien und Projekten in diesem Bereich identifiziert.
deutender Schwachpunkt, da genau dies ihrer Ziel-        Diese Vorgehensweise ist entscheidend, denn ge-
setzung entspricht» (Lorenzo 2012, 66). Diese Fest-      mäss Fournier und Potvin ist «die Charakterisierung
stellung wird auch im Fazit erwähnt: «Abgesehen          und Messung der gemeinschaftlichen Partizipation
von der Vielfalt und Komplexität der Kontexte, auf       keine reine Stilübung. In einer Zeit, in der dieser
die sich die Ottawa-Charta bezieht, gibt es weitere      Begriff einen prominenten Platz im Diskurs der
Herausforderungen, die angegangen werden müs-            Gesundheitsfachleute einnimmt, wäre es sinnvoll,
sen, um die Praxis wirklich zu verbessern. So ist es     zu präzisieren, was man unter gemeinschaftlicher
beispielsweise nötig, partizipative Ansätze, Partner-    Partizipation versteht und was man von ihr er-
schaften und die sektorenübergreifende Zusammen-         wartet. Diese Klärung würde es ermöglichen, die
arbeit zu stärken, die Verfügbarkeit von Ressourcen      auf diesem Konzept basierenden Strategien neu zu
zu erhöhen und Evaluationsinstrumente zur Verfü-         evaluieren und eine unklare Begrifflichkeit zu ver-
gung zu haben» (Lannes & Sanni Yaya 2012, 85).           meiden» (Fournier & Potvin 1995, 54).
10   Partizipation in der Gesundheitsförderung

2 Methode
Den Auftakt zur Erstellung dieses Dokuments bil-             Ebene schwieriger und aufwendiger (aufgrund
dete eine Literaturrecherche, um Konzepte zu iden-           von politischen Visionen und Zielen, die sehr un-
tifizieren und zu definieren sowie Best Practices in         terschiedlich sein können). Dazu kommt, dass
partizipativen Prozessen kennenzulernen.                     sich die verschiedenen Behörden zwar über die
Dieser erste theoretische Rahmen wurde dann Ver-             Probleme der öffentlichen Gesundheit einig
tretenden der Commission de Prévention et de Pro-            sind, die Menschen aber möglicherweise andere
motion de la Santé (CPPS) und von Gesundheits-               Vorstellungen davon haben, wie sie gelöst wer-
förderung Schweiz zur Diskussion vorgelegt. Diese            den sollten.
trafen sich anschliessend am 8. und 9. Februar 2018        • Es stellt sich auch die Frage nach der Legitimität
in Bellinzona, um die verschiedenen Definitionen             der verschiedenen Akteurinnen und Akteure und
der gemeinschaftlichen Partizipation im Bereich der          insbesondere nach der Legitimität einer Funktion
Gesundheitsförderung zu besprechen, zu ergänzen              (z. B. Ärztin/Arzt). Daher sollte immer betont wer-
und zu präzisieren.                                          den, dass die Beiträge aller gleich wichtig sind.
Beide Tage wurden damit eröffnet, dass die Teilneh-        • Auch die Frage der Staatsebene ist wichtig: Da
menden auf eigenen Erfahrungen basierende Fest-              Prävention und Gesundheitsförderung in erster
stellungen präsentierten:                                    Linie kantonal geregelt werden, ist es nicht immer
• Das Konzept der gemeinschaftlichen Partizipation           einfach, die Gemeindeebene zu berücksichtigen.
   ist im schweizerischen Kontext schwer zu definie-       • Natürlich müssen auch die verschiedenen Bevöl-
   ren, da es keine Entsprechung auf Italienisch             kerungsgruppen in die Gesundheitsförderung
   und Deutsch gibt. Es besteht also ein Unterschied         einbezogen werden. Doch es ist gleichwohl not-
   zwischen der französischsprachigen Schweiz                wendig, sich auf das Wissen der Fachpersonen
   und den anderen Sprachregionen.                           abzustützen, die diesen Prozess unterstützen und
• Die von einigen legitimierenden Instanzen (insbe-          begleiten.
   sondere der WHO und in der Ottawa-Charta                • Die Partizipation in der Gesundheitsförderung
   aufgeführten Gremien) vorgeschlagenen Defini-             wird nach wie vor schlecht umgesetzt, worauf
   tionen sind relativ alt und können nur schwer             einige Autorinnen und Autoren bereits hingewie-
   auf den aktuellen Kontext angewendet werden.              sen haben. Hierbei handelt es sich um ein be-
• Multidisziplinarität und Interdisziplinarität funktio-     kanntes Phänomen, wobei oft eine Diskrepanz
   nieren recht gut, zum Beispiel in Projekten, an           zwischen dem angekündigten und dem effektiven
   denen Angehörige von Ingenieurberufen sowie               Partizipationsniveau beobachtet wird.
   Gesundheitsfachleute beteiligt sind. Allerdings
   kann es manchmal notwendig sein, einen Dialog           Im Anschluss wurden mit Trägerinnen und Trägern
   anzustossen und gemeinsame Probleme zwi-                von partizipativen Projekten in der Westschweiz und
   schen den Akteurinnen und Akteuren der Gesund-          im Tessin leitfadengestützte Interviews durchge-
   heitsförderung zu identifizieren. Denn dieser           führt. Ziel dieser acht Interviews war es, die Rele-
   Bereich führt sowohl Personen aus dem Bereich           vanz, Klarheit und Konsistenz dieses Dokuments
   Gesundheitsförderung als auch solche aus ande-          zu beurteilen und es mit den Erfahrungen aus der
   ren Disziplinen zusammen.                               Praxis zu ergänzen. Dieser Leitfaden fasst daher
• Während den «operativ» tätigen Akteurinnen und           die Ergebnisse einer qualitativen Recherche zusam-
   Akteuren eine Zusammenarbeit relativ gut                men, die sowohl auf Dokumenten als auch auf Inter-
   gelingt, erscheint die Kooperation auf politischer      views basiert.
Partizipation in der Gesundheitsförderung 11

3 Definition der Partizipation
Mehrere Autorinnen und Autoren – insbesondere                   veröffentlichten Glossar zur Gesundheitsförderung
Zask (2011) – unterscheiden zwischen den beiden                 erwähnt, «ist die Partizipation der Bevölkerung an
Bedeutungsebenen, die mit dem Begriff «Partizipa-               jeder Massnahme zur Gesundheitsförderung un-
tion» verbunden sind: «Teil sein von» oder «teilneh-            erlässlich. [...] Aktive Beteiligung (Partizipation) ist
men an». Gemäss der Broschüre «La participation                 essentiell, um Gesundheitsförderungsaktivitäten zu
communautaire en matière de santé» (Die gemein-                 erhalten» (WHO 1999, 2).
schaftliche Partizipation im Gesundheitsbereich)
steht «‹Teil sein von› für eine passive Partizipation
und impliziert nicht unbedingt eine Aktivität inner-            Partizipativer Prozess
halb einer Gruppe, der man angehört (Stadt, Quar-
tier, Verein …). ‹Teilnehmen an› impliziert hingegen            Es sei auch darauf hingewiesen, dass Partizipation
ein Engagement bzw. eine aktive Rolle innerhalb                 ein Prozess mit verschiedenen erheblichen Auswir-
einer Gruppe» (Bantuelle et al. 2000, 10). Die Auto-            kungen ist, die sich nicht unbedingt vorab einplanen
rinnen und Autoren weisen darauf hin, dass in der               lassen. Übergeordnetes Ziel bleibt jedoch die Ge-
Gesundheitsförderung die letztere Bedeutungs-                   sundheitsförderung. In diesem Sinne ist Partizipa-
ebene vorherrscht, da sie für eine aktive, ja sogar             tion vor allem eine professionelle Methode oder Hal-
interaktive Sichtweise steht 4 . Das Wesentliche ist,           tung, die idealerweise immer in Betracht gezogen
dass die Einzelnen «die Möglichkeit erhalten, die               werden sollte. Sie ist jedoch kein Selbstzweck und
Kontrolle über eine Entscheidung oder die Erbrin-               kann gegebenenfalls beendet werden. In diesem
gung einer Dienstleistung, die sie betrifft, zu erlan-          Fall ist es jedoch wichtig, zu begründen, weshalb es
gen» (ebd., 10).                                                zu einer solchen Entscheidung kam. Ferner muss es
Wenn wir über Partizipation sprechen, ist es wichtig            dank einer angemessenen Begleitung mit Partizipa-
zu betonen, dass wir die Probleme einer Zielgruppe              tion möglich sein, die Bevölkerung für ihre Bedürf-
nicht lösen können, ohne sie an der Analyse, Formu-             nisse zu sensibilisieren. Darüber hinaus kann sie
lierung und Lösung der Probleme zu beteiligen. Da-              einen Multiplikatoreffekt haben, da es wahrschein-
her rührt der von Bantuelle zitierte Ausspruch von              lich ist, dass die Teilnehmenden den Prozess in ei-
Freire, der gerne daran erinnerte, dass wir «mit                nem anderen Kontext oder für eine andere Proble-
ihnen, nicht für sie handeln» und somit die Horizon-            matik reproduzieren. Dieses Phänomen generiert
talität fördern müssen (ebd., 10). Dieselben Autoren            einen erheblichen Mehrwert für die Gesundheit in
bestehen auf der Idee, die Aussagen der Einzelnen               einer Zielgruppe. Der Begriff «gemeinschaftliche
bestmöglich zu erfassen. Denn der Begriff der Ge-               Partizipation» hat sich zwar seit den 1960er-Jahren
sundheit werde «von den Bewohnerinnen und Be-                   weitgehend durchgesetzt und wird in der Ottawa-
wohnern eines Krisenviertels nicht in der gleichen              Charta erwähnt, der Terminus «gemeinschaftlich»
Weise wahrgenommen wie beispielsweise von Fach-                 wird aber kaum noch verwendet. Zudem wird er
leuten oder lokalen Mandatsträgern. Das Lebens-                 von keiner und keinem der befragten Projektleiten-
umfeld, die Bildung, die Religion und viele andere              den benutzt. Deshalb ist es ratsam, von einem par-
Elemente führen zu diesen vielfältigen Aussagen»                tizipativen Ansatz oder Prozess zu sprechen.
(ebd., 19). Letztendlich, und wie im von der WHO

4 Es ist zu beachten, dass von den befragten Projektleitenden diese zweite Auslegung ebenfalls systematisch bevorzugt wird.
12   Partizipation in der Gesundheitsförderung

Bedeutung von Gemeinschaft                                    nen, die eine Gruppe repräsentieren, kann daher
                                                              komplex sein. Dies umso mehr, als es sich dabei
Die Bedeutung des Begriffs «Gemeinschaft» kann                um Menschen handeln kann, die mehr Privilegien
ebenfalls verwirrend sein, weil er ein Zugehörig-             geniessen als die Zielgruppe insgesamt und die in
keitsgefühl impliziert, das Einzelpersonen nicht un-          Bezug auf die soziale Stellung und den Zugang zu
bedingt teilen. So können diese von Fachleuten als            Ressourcen nicht immer die Gruppe als Ganzes
Teil einer Gemeinschaft betrachtet werden, obwohl             repräsentieren. Ebenso können die Erwartungen
dies nicht der Fall ist. Darüber hinaus, und wie im           und Entscheidungen der Mitglieder der Gruppe im
WHO-Glossar erwähnt, gehören «in vielen Gesell-               Widerspruch zu Gleichheit und sozialer Gerechtig-
schaften, besonders in denen wirtschaftlich ent-              keit stehen.
wickelter Länder, Individuen nicht zu einer einzigen,
begrenzten Gemeinschaft, sondern sind auf der
Grundlage von verschiedenen Merkmalen wie Geo-                Definition von Partizipation im Bereich
grafie, Beruf, sozialen oder Freizeitinteressen Mit-          Gesundheitsförderung
glied einer Reihe von Gemeinschaften» (WHO 1999,
6). Zudem schliessen sich einige Personen nur vor-            Angelehnt an Rifkin et al. (1988) lautet die hier ver-
übergehend oder teilweise einer Gemeinschaft an.              wendete Definition der Partizipation im Bereich der
Doch obwohl beschlossen wurde, den Begriff «Ge-               Gesundheitsförderung wie folgt: «Sozialer Prozess,
meinschaft» aufzugeben und den neutraleren Be-                an dem eine Gruppe von Individuen teilnimmt,
griff «Gruppe» 5 zu bevorzugen, können bestimmte              1) u
                                                                  m ihre Bedürfnisse zu identifizieren,
Definitionselemente des Begriffs «Gemeinschaft»               2) um an den Entscheidungsprozessen teilzuhaben,
problemlos beibehalten werden. Um «Gruppe» opti-                  und
mal zu umschreiben, ist es also durchaus möglich,             3) um Mechanismen zu schaffen, die ihren Bedürf-
sich auf die drei von Hyppolite und Parent vorge-                 nissen gerecht werden».
schlagenen Typen von Gemeinschaften zu stützen,
nämlich:                                                      In diesem Sinne kann die Partizipation das Empower-
• «Geografische Gemeinschaften, die ein Terri-                ment der Einzelnen fördern. Letzteres wird als «der
  torium teilen, das soziale Zugehörigkeit schafft            Prozess betrachtet, der darauf abzielt, die persön-
  (Quartier, Stadt, Region).                                  lichen Ressourcen der Einzelnen oder einer Ziel-
• Interessengemeinschaften, die gemeinsame so-                gruppe zu erhöhen, damit sie stets eine fundierte
  ziale Probleme haben (Arbeitslose, Mieterinnen,             Entscheidung und Wahl zugunsten der eigenen Ge-
  Mieter, Sozialhilfeempfangende usw.).                       sundheit treffen können». Dieses Konzept selbst be-
• Identitäts- und Affinitätsgemeinschaften, die               zieht sich auf den Begriff der Befähigung und fusst
  eine erarbeitete oder gewünschte Identität teilen           auf der Idee der «Befähigung zu selbstbestimmtem
  (junge Frauen, kulturelle Minderheiten, Homo-               Handeln für Gesundheit», das heisst auf dem «Pro-
  sexuelle, Drogenkonsumierende usw.)» (Hyppolite             zess, durch den die Einzelnen eine grössere Kontrol-
  & Parent 2017, 182–183).                                    le über Entscheidungen und Handlungen haben, die
                                                              ihre Gesundheit betreffen» (WHO 1999, 7)6 . Nach An-
Schliesslich ist im Hinblick auf die Herausforderun-          sicht der Befragten führt Partizipation zu Empower-
gen anzumerken, dass die Gruppen nicht homogen                ment, da die Zielgruppen dadurch ein Projekt mittra-
sind und sich aus Menschen mit unterschiedlichen              gen und verinnerlichen und durch diese Erfahrung
Werten und Perspektiven zusammensetzen (Hyppo-                Handlungsfähigkeit erwerben und Kompetenzen
lite & Parent 2017). Die Identifizierung von Perso-           (technisch oder sozial) entwickeln können.

5 Diese Wahl wurde auch nach den Interviews begründet. Zum Beispiel sagte eine Projektleiterin: «Wenn wir von
   Gemeinschaft sprechen, sind auf Französisch oft Migrantengemeinschaften gemeint. Um Verwirrung zu vermeiden:
   Wir sprechen von einer Gruppe von Menschen, die sich über ihnen eigene Merkmale identifizieren, die Interessen
   teilen, die Teil eines Netzwerks und miteinander verbunden sind.»
6 Die vollständige von der WHO vorgeschlagene Definition von «Befähigung zu selbstbestimmtem Handeln für Gesundheit»
   ist im Glossar des vorliegenden Dokuments enthalten.
Partizipation in der Gesundheitsförderung 13

4	Wer sind die Stakeholder?
Die Stakeholder eines partizipativen Prozesses las-        2.	
                                                              Lokale Akteurinnen und Akteure (Fachleute
sen sich im Allgemeinen in drei Typen unterteilen:            oder Laien) sind eine Gruppe, die sich zusam-
von der Problematik betroffene Personen (Zielgrup-            mensetzt aus Fachleuten, die den Prozess leiten
pen), lokale Akteurinnen und Akteure (Fachleute               und koordinieren, Multiplikatorinnen und Multi-
oder Laien) und Entscheidungsgremien.                         plikatoren sowie Expertinnen und Experten. Sie
                                                              haben folgende Rollen:
1.	Personen, die von der Problematik betroffen sind          I.	Fachleute, die den Prozess leiten und koor-
    (oder Leaderinnen und Leader von Zielgruppen,                  dinieren, sind Moderierende, Koordinierende
    die über ausreichende Legitimität verfügen, um                 und Referierende. Sie sind dafür verantwort-
    sie zu repräsentieren). Diese Zielgruppen können               lich, den betroffenen Menschen eine Akteurs-
    sehr heterogen sein und sich in Situationen be-                rolle zu vermitteln und die Dynamik des Pro-
    finden, die entweder «eine spontane Partizipation              zesses zu gewährleisten. Sie sollten daher in
    oder eine Ablehnung und Misstrauen gegenüber                   die Zielgruppe eingebettet sein oder zumindest
    [partizipativen Prozessen] begründen» (Bantuelle               deren Werte, Codes, Wahrnehmungen, Aus-
    et al. 2000, 32). Diese Gruppen können sich a priori           sagen usw. kennen. Zudem sollten sie über
    als Gemeinschaften konstituieren, das heisst, es               grosse Kompetenzen in der Durchführung
    kann sich um Personen handeln, die sich spontan                von partizipativen Prozessen verfügen.
    organisieren, um ein gemeinsames Interesse zu             II.	Multiplikatorinnen und Multiplikatoren (Ärz-
    verteidigen (z. B. Act Up). In diesem Fall muss man            tinnen und Ärzte, Lehrpersonen, Kranken-
    sich bewusst sein, dass diese Zielgruppe Erwar-                pflegepersonal, Sozialarbeitende, Streetwor-
    tungen haben kann, die schwer zu erfüllen sind.                kerinnen und Streetworker, Freiwillige, Mit-
    Daher ist es wichtig, zu definieren und zu spezifi-            glieder von Verbänden, Schlüsselpersonen in
    zieren, welche ihrer Bedürfnisse berücksichtigt                verschiedenen Bevölkerungsgruppen, Vertre-
    werden können. Eine Gemeinschaft kann auch                     tende von APH oder Pfarreien, Eltern von
    von aussen initiiert werden, das heisst a posteriori           Schülerinnen und Schülern, Kaufleute, Poli-
    und nach der Identifizierung des Problems, das                 zistinnen und Polizisten usw.). Ihre Praktiken,
    sie verbindet und das von anderen in den Partizi-              ihr technisches und psychologisches Wissen
    pationsprozess involvierten Akteurinnen und Ak-                und ihre Beziehungen zu den Bewohnerinnen
    teuren identifiziert wurde. In diesem Fall ist Ge-             und Bewohnern sind eine wichtige Wissens-
    duld gefragt, bis das Gefühl der Zugehörigkeit von             quelle. Gleichzeitig können sie manchmal von
    allen geteilt wird. Es ist manchmal schwierig, die             bestimmten Realitäten vor Ort abgeschnitten
    Zielgruppen eindeutig zu identifizieren (z. B. «Kin-           sein und unterhalten nicht immer Beziehun-
    der»). Daher kann es je nach Inhalt und Zweck                  gen untereinander.
    eines Projekts sinnvoll sein, Personen einzube-
    ziehen, die sie vertreten können (Eltern, Lehrper-
    sonen, Jugendarbeitende usw.).
14    Partizipation in der Gesundheitsförderung

     III.	Expertinnen und Experten (Gutachtende, Spe-      3.	Die Entscheidungsgremien werden vertreten
           zialistinnen und Spezialisten). Aufgrund ihrer       durch:
           Distanz garantieren sie Neutralität und kön-         I. Politische Vertretende.
           nen bei Bedarf «eine vermittelnde Rolle zwi-         II.	Geldgebende (privat oder öffentlich). Dies
           schen den Akteurinnen und Akteuren wahr-                  können Bund, Kantone, Gemeinden, Stiftun-
           nehmen, vorausgesetzt, dass sie zu allen den              gen, Verbände oder Privatunternehmen sein.
           gleichen Abstand halten» (Bantuelle et al.           III.	
                                                                     Administrative oder andere Verwaltungs-
           2000, 38–39). Diese Fachpersonen können                   stellen.
           Mitarbeitende von Universitäten, Fachhoch-
           schulen oder Kompetenzzentren der Gesund-
           heitsförderung sein.
Partizipation in der Gesundheitsförderung 15

5	Wie man die Stakeholder einbindet
Die Partizipation an einem Projekt kann unter-                  nellen und finanziellen Ressourcen und/oder dem
schiedlich stark ausgeprägt sein; dementsprechend               Profil der Beteiligten ist es für einige Akteurinnen
gibt es unterschiedliche Partizipationsformen. Wie              und Akteure schwierig, wenn nicht gar unmöglich, in
Hyppolite und Parent betonen, «entsteht aus der                 alle Phasen des Prozesses intensiv einbezogen zu
Präsenz von Einzelpersonen, Gruppen oder Vertre-                werden und zu allen Entscheidungen beizutragen.
terinnen und Vertretern von Gemeinschaften nicht                Eine der befragten Projektleiterinnen sagte dazu:
zwangsläufig eine sinnvolle Partizipation. Anders               «Partizipation sollte nicht als Selbstzweck erfolgen:
ausgedrückt: Man kann anwesend sein und sich                    Manchmal sind schon Informationen ausreichend.
sogar beteiligen, ohne Einfluss zu nehmen oder Ent-             Die erwartete Form der Partizipation muss an die
scheide zu treffen» (Hyppolite & Parent 2017, 187).             Bedürfnisse der verschiedenen Stakeholder ange-
Darüber hinaus erfordern auf Ebene der Prävention               passt werden.»
und Gesundheitsförderung nicht alle Massnahmen                  Vor diesem Hintergrund ist bei jedem Projekt zu
notwendigerweise einen partizipativen Ansatz und                eruieren, inwieweit die Akteurinnen und Akteure
nicht alle partizipativen Projekte sollten notwendi-            einbezogen werden sollen. Anschliessend sind sie
gerweise Mitentscheidung (die als hoher Grad der                transparent darüber zu informieren, in welcher
Partizipation betrachtet werden kann) vorsehen. Je              Form sie sich beteiligen können. Basierend auf den
nach Inhalt des Programms, den verfügbaren perso-               von verschiedenen Autorinnen und Autoren (u. a.

TABELLE 1

Die vier Formen der Partizipation

Form der Partizipation    Beschreibung
Information               Die Beteiligten werden über die Herausforderungen im Zusammenhang mit einem zu lösenden
                          Problem oder einem Projekt informiert (oder informieren sich selbst). Daher ist es unerlässlich,
                          ihnen Zugang zu Informationen zu gewähren und das Stellen von Fragen zu ermöglichen, um zu
                          gewährleisten, dass alle den gleichen Wissensstand haben.
Konsultation              Den Beteiligten wird ermöglicht, Stellung zum Prozess zu nehmen, beispielsweise durch Meinungs-
                          umfragen, öffentliche Anhörungen, Gruppeninterviews.
                          Die Moderierenden hören zu. Eine solche Konsultation garantiert jedoch nicht, dass die Anliegen
                          und Ideen der betroffenen Bevölkerungsgruppen tatsächlich berücksichtigt werden.
(Mit-)Gestaltung          Die Beteiligten entwickeln den Aktionsplan, das Projekt oder die Aktivitäten mit, dürfen sie jedoch
                          nicht verabschieden. Der so entwickelte Aktionsplan kann anschliessend einem Lenkungsaus-
                          schuss vorgelegt werden, der darüber entscheidet.
(Mit-)Entscheidung        Die Beteiligten arbeiten gleichberechtigt zusammen. Die Projektleitung erfolgt im gegenseitigen
                          Einvernehmen, und bei allen Phasen des Projekts wird gemeinsam entschieden. Diese gemein-
                          same Entscheidungsfindung ist vor allem in einem überschaubaren Setting (Quartier, Schule usw.)
                          möglich.
                          Es wird zwischen folgenden zwei Entscheidungsarten unterschieden:
                          • politische Entscheidung über finanzielle, räumliche, materielle oder personelle Unterstützung,
                          • operative Entscheidungen, die von den involvierten Personen während der Umsetzung
                            getroffen werden.
16   Partizipation in der Gesundheitsförderung

Stadtplanerin Sherry Arnstein, siehe Tabelle 3, An-            Ein weiteres, von Santé Canada (2000) vorgeschla-
hang 2) oder Organisationen (l’Institut du Nouveau             genes Schema stellt fünf Ebenen der Partizipation
Monde) vorgeschlagenen Skalen haben die CPPS                   grafisch dar (siehe Abbildung 1). Obwohl die verwen-
und Gesundheitsförderung Schweiz ein Modell ent-               deten Begriffe von den bisher genannten abweichen,
wickelt, das zur Anwendung vorgeschlagen wird                  hat diese Illustration den Vorteil, die Wechselwir-
(siehe Tabelle 1, Seite 15).                                   kungen zwischen den Beteiligten darzustellen (die
Basierend auf diesem Modell ist es möglich, die                betroffenen Personen werden durch die kleinen
Form der gewünschten und/oder bereits bestehen-                Kreise und die lokalen Akteurinnen und Akteure so-
den Partizipation aller Stakeholder aufeinander ab-            wie die Entscheidungsgremien durch die grossen
zustimmen und den Zeitpunkt ihrer Integration in               Kreise repräsentiert).
das Projekt festzulegen.

ABBILDUNG 1

Von Santé Canada verwendete Ebenen der gemeinschaftlichen Partizipation

 Ebene 1                   Ebene 2               Ebene 3                  Ebene 4               Ebene 5

 Geringer Grad der                               Mittlerer Grad der                             Hoher Grad der
 Partizipation und                               Partizipation und                              Partizipation und
 des Einflusses der                              des Einflusses der                             des Einflusses
 Öffentlichkeit                                  Öffentlichkeit                                 der Öffentlichkeit

 Informieren und           Informationen         Diskutieren              Engagieren            Partnerschaften
 sensibilisieren           sammeln                                                              aufbauen

 Kommunikation

                           Zuhören

                                                 Konsultation

                                                                          Engagement

                                                                                                Partnerschaft

Quelle: Santé Canada (2000)
Partizipation in der Gesundheitsförderung 17

Jugendgerechte Anpassung der 10 Schritte für psychische Gesundheit im Kanton Zug

Dieses Beispiel zeigt, wie Jugendliche die psychische   geleitet von einer Fachperson und einem Peer-
Gesundheit Gleichaltriger erforscht und daraus eine     Educator (Mittelstufenschüler_innen).
Kampagne sowie einen Workshop für Schulen ziel-         Die Hochschule Luzern für Soziale Arbeit, welche
gruppengerecht erstellt haben. Die förderlichen und     dieses partizipative Vorgehen wissenschaftlich
die hinderlichen Aspekte eines solchen partizipativen   begleitet hat, hielt fest:
Vorgehens wurden analysiert.                            • Förderlich sind genügend finanzielle, personelle
                                                          und zeitliche Ressourcen, der Einbezug externer
Das ganze Projekt umfasste vier Schritte, bei denen       Fachpersonen und eine gute Verankerung und
die Jugendlichen als gleichrangige Mitglieder des         Vernetzung im entsprechenden Praxisfeld.
Projektteams dabei waren:                               • Hinderlich sind zu eng gesetzte Zeit- und Ablauf-
1.	Partizipative Forschung mit den Jugendlichen          pläne und ein Festhalten an gängigen, alther-
    (Jugendforschende)                                    gebrachten Steuerungs- und Prozesslogiken von
2.	Analyse der 10 Schritte für psychische Gesund-        Ämtern (Pfister et al. 2021).
    heit und Ableitung/Entwicklung der 4 Tipps
    (Inhalt, Bild- und Textbotschaften)
3.	Basierend auf den 4 Tipps Entwicklung der           ABBILDUNG 2
    Kampagne durch Advery: www.kennsch-es.ch
4.	Entwicklung des Workshops für Schulen der           Vier konkrete Tipps, wie Jugendliche ihre Alltagssorgen
    3. Oberstufe und des 1. Lehrjahrs                   und -probleme bewältigen können

Jugendforschungsprojekt zur psychischen Gesund-
heit: 2018–2019 ging das Amt für Gesundheit des
Kantons Zug zusammen mit 14- bis 18-jährigen
Jugendforschenden der Frage nach, was Jugend-
liche zur Förderung und Erhaltung ihrer psychi-
schen Gesundheit tun. Das Forschungsteam wollte
herausfinden, welche Situationen und Gründe es
gibt, die Jugendlichen gut respektive nicht gut tun,
und welche Strategien sie anwenden, um psychisch
gesund zu sein oder zu bleiben.
In einem viermonatigen Prozess konnten ver-
schiedene Themenfelder herausgearbeitet
werden, welche die Jugendlichen aktuell beson-
ders beschäftigen.
Danach entwickelten die Jugendforschenden vier
konkrete Tipps, die Jugendliche bei der Bewäl-
tigung ihrer Probleme unterstützen sollen, damit
sie psychisch gesund bleiben. Zusammen mit
der Agentur ADVERY, welche selbst Jugendliche
mit psychischen Schwierigkeiten zu Grafiker_innen
und Mediamatiker_innen ausbildet, wurde auf-
bauend auf die 4 Tipps eine Sensibilisierungs-
kampagne zur psychischen Gesundheit durchge-
führt. Der Workshop in Schulen wird zu zweit
18   Partizipation in der Gesundheitsförderung

 «Solidarische Quartiere» von Pro Senectute Vaud

 Anhand dieses Beispiels sollen die verschiedenen           weise hat eine Bewohnergruppe im Hinblick
 Etappen eines partizipativen Projekts für ältere           auf die erwähnte Einsamkeitsproblematik in der
 Menschen aufgezeigt werden.                                Gemeinde – insbesondere am Sonntag – die
 Vor über 15 Jahren hat Pro Senectute Vaud be-              Schaffung eines Kaffeetreffs am Sonntagnach-
 schlossen, ein Programm zur Förderung der                  mittag vorgeschlagen.
 Integration älterer Menschen ins Leben zu rufen.       3.	Startphase: Im dritten Jahr wird mit der kon-
 Dazu wurde ein partizipativer Prozess entwickelt           kreten Umsetzung der Aktivitäten begonnen.
 mit dem Ziel, die Bedürfnisse dieser Bevölke-              Das Projekt läuft an, die Aktivitäten werden
 rungsgruppe zu ermitteln und sie zu befähigen,             regelmässig durchgeführt.
 entsprechende Lösungen auszuarbeiten. Das              4.	Umsetzungsphase: Im vierten Jahr konzentrie-
 Projekt beruht auf einer Methodik, welche die fol-         ren sich die Trägerinnen und Träger sowie
 genden Projektetappen vorsieht:                            die Begünstigten auf die Verstärkung der bereits
 0.	Vorläufige Analyse: Kontaktaufnahme mit Be-            getroffenen Massnahmen. In diesem Stadium
     rufsverbänden und Vereinsorganisationen,               funktioniert das Projekt und die Organisation
     die in der Gemeinde tätig sind, um Möglichkeiten       der Gruppe steht.
     der Zusammenarbeit abzuklären und bereits          5.	Autonomisierungsphase: Das Projekt kommt
     bestehende Dienstleistungsangebote zu erfas-           zum Abschluss; die oder der für das Projekt
     sen. Parallel dazu wird eine erste Umfrage             verantwortliche Moderierende zieht sich allmäh-
     bei einigen älteren Personen durchgeführt, um          lich zurück und es wird eine Organisation ge-
     das potenzielle Interesse an einem solchen             bildet (in der Regel in Form eines Vereins), um
     Projekt zu evaluieren.                                 es den älteren Menschen zu ermöglichen, die
 1.	Bestandesaufnahme: Ist der Entscheid für die           Aktivitäten fortan eigenständig zu organisieren.
     Durchführung des Projekts gefallen, wird über          Eine feierliche Übergabezeremonie mit der
     einen Zeitraum von einem Jahr eine Bestandes-          örtlichen Gemeinde markiert symbolisch die
     aufnahme durchgeführt, um eine Lagebeurtei-            Autonomisierung des Projekts.
     lung in Bezug auf die Lebensqualität der älteren   6.	Follow-up des Projekts: Seit 2016 subventio-
     Menschen im betreffenden Quartier, in der Stadt        niert der Kanton eine Stelle für die Begleitung
     oder im Dorf zu erstellen. In den ersten Mona-         autonomer Projekte. Pro Senectute steht der
     ten machen sich die Moderierenden mit der Ge-          Projektorganisation somit weiterhin als
     meinde vertraut und knüpfen erste Kontakte             Ansprechpartnerin zur Verfügung, wenn diese
     mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Danach            auf Probleme stösst, insbesondere in Bezug
     schickt die Gemeinde den älteren Menschen eine         auf die Vereinsorganisation (Rollenverteilung,
     persönliche Einladung für eine Informations-           Finanzen, Beziehung zu anderen Institutionen
     veranstaltung. Im Rahmen dieser Veranstaltung          innerhalb der Gemeinde usw.). Die eigentli-
     können sich die engagiertesten Vertretenden            chen Aktivitäten hingegen werden ausschliess-
     an der Bewohnergruppe beteiligen, deren Aufga-         lich von den älteren Menschen durchgeführt.
     be es ist, einen Fragebogen zu erstellen, Inter-   7.	Evaluation der Auswirkungen des Projekts an-
     views mit den anderen älteren Menschen zu füh-         hand einer Reihe von Indikatoren: Über die
     ren und das Forum zu organisieren, an dem die          gesamte Projektlaufzeit hinweg werden standar-
     Resultate präsentiert und diskutiert werden. Auf       disierte Ziele formuliert, die sich nach der
     Basis der gesammelten Informationen wird ein           gewählten Methodik richten, sowie zusätzlich
     Bericht erstellt und der Gemeinde vorgelegt. Auf       spezifische Ziele unter Berücksichtigung der
     Grundlage dieses Berichts werden auch die älte-        Rahmenbedingungen vor Ort und der Beteiligten.
     ren Menschen eingeladen, im Rahmen von Ar-             Anhand dieser Leistungskennzahlen können
     beitsgruppen gemeinsam Lösungen zu finden, die         der Fortschritt eines Projekts (Outputs) und
     den ermittelten Bedürfnissen Rechnung tragen.          nach Möglichkeit auch die Auswirkungen auf die
 2.	Aufbauphase: Im zweiten Projektjahr werden die         Zielgruppe (Outcomes) und die Gesellschafts-
     Lösungen und Aktivitäten umgesetzt. Beispiels-         struktur allgemein (Impact) gemessen werden.
Partizipation in der Gesundheitsförderung 19

6	Etappen eines partizipativen
   Prozesses
Die Umsetzung eines partizipativen Prozesses kann         d)	Erfassung der Aussagen der Beteiligten, damit
mehrere Formen annehmen (abhängig vom Profil der              alle dieselbe Sprache sprechen und ihre Eindrü-
verschiedenen Stakeholder, vom Zweck, vom geo-                cke teilen. In diesem Sinne ist ein partizipativer
grafischen und soziokulturellen Kontext usw.). Es             Ansatz zu verfolgen, der auf Empowerment ba-
ist jedoch wichtig, bestimmte Schritte zu befolgen.           siert. Dabei sind die betroffenen Akteurinnen und
Basierend auf den vom Gesundheitsministerium des              Akteure zu mobilisieren und ihre Standpunkte
Königreichs Marokko (2013) und von Hyppolite und              zum Thema durch Mechanismen zu eruieren, die
Parent (2017) erstellten Dokumenten sowie semi-               Raum für Austausch, Diskussion und Verhand-
direktiven Interviews werden die folgenden Phasen             lung bieten. So können sich alle Akteurinnen und
empfohlen:                                                    Akteure auf künftige Schritte einigen und Ent-
                                                              scheidungen, die sie betreffen, beeinflussen. An
                                                              dieser Stelle sind auch formelle und informelle
Vorbereitungsphase                                            Führungspersonen zu identifizieren und zu mobi-
                                                              lisieren. Letztere müssen die Mobilisierung des
a)	Identifikation des Problems durch die von der             Projektteams und der Partnerinnen und Partner
   Problematik betroffenen Personen, die lokalen              unterstützen. Sie müssen über spezifische tech-
   Akteurinnen und Akteure oder die Entscheidungs-            nische, kommunikative und zwischenmensch-
   gremien.                                                   liche Kompetenzen verfügen, am Projekt interes-
b)	
   Identifikation von freiwilligen und motivierten            siert und davon überzeugt sein.
   Partnerinnen und Partnern und Definition der           e)	Vertiefung der Bedürfnisse, Wünsche oder Prob-
   betroffenen Personengruppe, unabhängig davon,              leme, die von den Beteiligten geäussert wurden,
   ob diese Gruppe bereits vor dem Prozess existiert          und Überprüfung, wie die Situation von den ande-
   hat oder sich erst in dessen Verlauf bildet. Identi-       ren Mitgliedern der Zielgruppe wahrgenommen
   fikation derjenigen Partnerinnen und Partner, die          wird.
   für das Projekt entscheidend sind und ohne die es      f)	Anwendung quantitativer und qualitativer Ansätze,
   nicht stattfinden könnte.                                  um auf der Grundlage epidemiologischer und sta-
c)	Versammlung der Beteiligten und Präzisierung              tistischer Daten sowie der Wahrnehmungen und
   des Projektumfangs, der Rollen und der Verant-             Aussagen der beteiligten Personen eine Proble-
   wortlichkeiten aller Beteiligten sowie der Rah-            matik oder eine betroffene Gruppe zu beschrei-
   menbedingungen und Einschränkungen des par-                ben. Es geht also darum, wissenschaftliches,
   tizipativen Prozesses.                                     praktisches und Erfahrungswissen zu einem Ge-
                                                              samtbild zu verbinden.
                                                          g)	Identifikation der Auswirkungen der Partner-
                                                              schaft und möglicher Rechtsfragen.
                                                          h)	Bestimmung der notwendigen Ressourcen und
                                                              der Art ihrer Beschaffung.
20   Partizipation in der Gesundheitsförderung

Umsetzungsphase                                           Follow-up- und Evaluationsphase

a)	Planung der Massnahmen und Strategien. In die-        a)	Gewährleistung des Follow-up und der Evalua-
    ser Phase werden die Ziele und geeignete Mass-            tion des Prozesses und der Aktivitäten der Part-
    nahmen festgelegt. Dies hängt von folgenden Ele-          nerschaft. Mit anderen Worten: Es ist notwendig,
    menten ab: der Einsatzbereitschaft und -fähigkeit         den seit Beginn der Intervention zurückgelegten
    der Gruppe, den erwarteten Ergebnissen der                Weg und die erzielten Veränderungen zu evaluie-
    Massnahmen, der aktuellen Unterstützung inner-            ren. Dies erfordert einen kritischen Blick auf den
    halb der Gruppe, der Verfügbarkeit finanzieller           durchgeführten Prozess, die Stärken und Schwä-
    Ressourcen, dem zeitlichen Rahmen sowie dem               chen der Massnahmen und die möglichen Anpas-
    sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontext.       sungen. Es ist wichtig, zu Beginn des Prozesses
b)	Festlegung, wer was tun wird (Rollen und Ver-             Evaluationsindikatoren zu definieren, um die Wir-
    antwortlichkeiten). Dabei ist zu berücksichtigen,         kungen des Projekts messen zu können und über
    dass der Erfolg und die Nachhaltigkeit eines              validierte Parameter zu verfügen, welche die Re-
    partizipativen Ansatzes durch die Begleitung der          produktion des Prozesses in anderen Kontexten
    Teams auf verschiedenen Ebenen gewährleis-                ermöglichen.
    tet werden können (Sensibilisierung, Follow-up-       b)	Bestimmung der nächsten Schritte (künftige Aus-
    Meetings und Überwachungsbesuche).                        richtungen).
c)	Befähigung der Beteiligten, damit sie «teilneh-       c)	Festlegung, wie die Partnerschaft angepasst und
    men» können (und nicht nur «Teil davon» sind).            fortgesetzt oder beendet werden soll (Überprü-
d)	Durchführung kollektiver Aktionen, um die zuvor           fung, Verlängerung und Beendigung).
    definierten Ziele zu erreichen.                       d)	Vorbereitung auf das Ende des Mandats, das heisst
                                                              Planung der Autonomisierung der Zielgruppen
                                                              und gegebenenfalls die Rollen der Akteurinnen
                                                              und Akteure neu definieren oder planen, wie neue
                                                              Akteurinnen und Akteure mobilisiert werden
                                                              können.

                                                           Von Anfang an und während des gesamten Pro-
                                                           zesses ist es wichtig, die Effektivität, Effizienz
                                                           und Gleichbehandlung zu berücksichtigen (Letz-
                                                           tere ist horizontal zu verankern, um jegliche
                                                           Form von Diskriminierung zu vermeiden). Eben-
                                                           so ist es wichtig, die Bedeutung der Kommuni-
                                                           kation und der sozialen Mobilisierung zu betonen.
                                                           Nur durch eine gute Kommunikation kann das
                                                           Bewusstsein der Zielgruppen sowie der Partne-
                                                           rinnen und Partner für Probleme und Lösungen
                                                           geschärft werden, lassen sich finanzielle Mittel
                                                           mobilisieren und kann ermöglicht werden, dass
                                                           andere Gruppen von den gewonnenen Erfahrun-
                                                           gen profitieren.
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