Prekäre Bilder: Visualisierung in den Umweltwissenschaften

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Prekäre Bilder: Visualisierung in den
Umweltwissenschaften
Astrid Schwarz

1   Einleitung

Wir leben in einer Welt, in der Bilder eine geradezu überwältigende Präsenz und
Attraktivität haben. Bilder ziehen uns an und ein, Bilder verführen und sie
leisten Überzeugungsarbeit, Bilder können wahr sein und Bilder können lügen.
All das gilt nicht nur für die bebilderte Alltagswelt, sondern auch für Bilder in
der Wissenschaft und hier insbesondere für solche Bilder, die aus dem engeren
disziplinären Kontext heraustreten und rekontextualisiert werden in anderen
wissenschaftlichen, populärwissenschaftlichen oder auch künstlerisch-ästhe-
tischen Zusammenhängen. Die Rede von den „prekären Bildern“ möchte hier
auf zweierlei aufmerksam machen: zunächst auf die historische Gewordenheit
und auf Gewohnheiten im Gebrauch von Bildern, auf visuelle Traditionen und
darauf, wie sich diese in der umweltwissenschaftlichen Bildpraxis etablierten.
„Prekär“ ist dem Französischen entlehnt und meint mit „précaire“, präziser als
im Deutschen, „unsicher, schwankend, widerruflich“. Ganz wörtlich genommen
will dieser Beitrag entsprechend zum Zweiten der Frage nachgehen, inwiefern
Nichtwissen und Unsicherheit sich in und an umweltwissenschaftlichen Bildern
manifestieren und sie zu prekären Bildern machen. Dabei ist nicht jedes Bild im
umweltwissenschaftlichen Kontext notwendig als ein prekäres Bild anzusehen,
auch wenn wohl jedes Bild in dem Sinne prekär ist, als es semantische
Unsicherheit verkörpert. Seit der Antike wiesen Theoretiker des Visuellen
wiederholt darauf hin, dass erst das Ersehen des Sichtbaren den Blick in das
Unsichtbare erschließt. Kehrt man dieses sogenannte Transparenzprinzip um in
ein „ohne Unsichtbares kein Sichtbares“ (Hogrebe 2006: 379), schiebt sich
unausweichlich die Bedeutung metaphyischen Denkens und Spekulierens, von
Ideen und Visionen in den Horizont der visuellen Aufmerksamkeit. Das Sicht-
bare lässt sich niemals ganz ausschöpfen, und eben darin liegt das Prekäre von
Bildern begründet, immer wird es einen Rest an Unsichtbarkeit, an Voran-
nahmen und an unbekanntem Kontext in der visuellen Praxis und Theorie geben
– und damit auch an Nichtwissen.

R. von Detten et al. (Hrsg.), Unberechenbare Umwelt,
DOI 10.1007/978-3-531-94223-0_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013
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     Von anderer Art ist jenes Nichtwissen, das bei der Produktion und Verbrei-
tung von Bildern im wissenschaftlichen Kontext relevant wird. Hier geht es um
epistemische Fragen, die nachfolgend vor allem diskutiert werden sollen. Dass
die Produktion von Wissen notwendig Nichtwissen erzeugt, die wissenschaft-
liche Forschung also die Welt des Nicht-Gewußten nicht etwa kleiner, sondern
größer macht, ist mittlerweile ein Gemeinplatz (Rheinberger 1999; Mittelstraß
2001; Boeschen 2003). Der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal hat diese
Grenze der Wissenschaften mit der Metapher einer wachsenden Kugel beschrie-
ben: Das Wissen ist eine Kugel, die im All des Nichtwissens schwebt und
beständig größer wird. Ihre Oberfläche vergrößert sich also ständig, indem sie
wächst und damit auch die Kontaktflächen mit dem Nichtwissen erweitert
(Mittelstraß 2001: 125). Auch in wissenschaftlichen Bildern ist, wie in wissen-
schaftlichen Theorien oder Begriffen, gleichzeitig Wissen und Nichtwissen
eingeschrieben. Wissenschaftliche Bilder werden als epistemische Bilder aufge-
fasst, das gilt gleichermaßen für den sogenannten piktorialen wie den diagram-
matischen Bildtyp (Goodman 1968), also beispielsweise Photographien und
Kurvenbilder. Prekär macht diese Bilder aber vor allem die Paradoxie, dass sie
als ungenauer und unschärfer als Begriffe und Algorithmen gelten und
gleichzeitig als genauer und schärfer als diese. Anders prekär macht Bilder ihre
Kontextabhängigkeit, sei es von anderen umgebenden Bildern oder von Text.
Beides wird nachfolgend unter dem Stichwort „Bilder als Chiffre des prekären
Verhältnisses von Wissen und Nichtwissen” diskutiert. An dieser Stelle sei
lediglich darauf hingewiesen, dass Bilder auch noch in anderen Hinsichten als
der epistemischen oder der metaphysischen prekär sein können, etwa durch eine
unauflösbare Koppelung von Logik und Ästhetik, in der Behauptung
unbeschränkter medialer Möglichkeiten visueller Repräsentation oder der
Verwechslung von Bild-material und Bildidee (Lutz 2010: 199f.).
     Bevor der prekäre Charakter von Bildern im Blick auf die Umweltwissen-
schaften näher erkundet wird, sei zunächst eine kurze Skizze des Status quo der
Bedeutung umweltwissenschaftlicher Bilder aus einer kulturwissenschaftlichen
Perspektive versucht, die ohne Zweifel einer größeren Aufmerksamkeit bedürfte
– worauf hier lediglich mit dem Verweis auf künftige Forschung begegnet
werden kann.
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2    Visuelle Ökologie

In der ökologischen Forschung und in den Umweltwissenschaften sind Bilder
nicht erst heute im Zeitalter von digitalen Satellitenbildern und Simulations-
modellen, überhaupt bildbasierter digitaler Methoden, von Bedeutung für den
Erkenntnisprozess. Für die Archivierung und Ordnung von Phänomenen, die
Darstellung und auch die Stabilisierung von Tatsachen waren und sind Bilder in
der ökologischen Forschung unverzichtbar, nehmen ihren buchstäblich unüber-
sehbaren Platz ein. Aber wie in vielen anderen Wissenschaften, wurde auch in
der Ökologie die epistemische, soziale und ästhetische Rolle von Bildern unter-
schätzt: Sie fielen einem weitverbreiteten Ikonoklasmus in den Wissenschaften
zum Opfer. Gestützt wurde diese Bilderblindheit zudem durch die Reflexions-
wissenschaften, hier insbesondere Wissenschaftsphilosophie und -geschichte,
die den Bildern wenig analytische Aufmerksamkeit widmeten und kaum
epistemische Relevanz zutrauten. Die Einsicht, dass das Bilderverbot im Grunde
zu keiner Zeit durchsetzbar war, dass Visualisierungen in den Wissenschaften
nie nur illustrativ, sondern immer auch argumentativ eingesetzt wurden, ist nicht
zuletzt dem so genannten iconic turn zu verdanken. Mit der Prominenz neuer
Visualisierungstechniken und Darstellungspraktiken wurde die Geschichte der
Bilder auch in der Wissenschaftsgeschichte freigelegt.
     Dass diese Geschichte auch für die Umweltwissenschaften und die
ökologische Forschung zu erzählen ist (oder besser: wäre), erstaunt vor diesem
Hintergrund wenig. Dies gilt sowohl für die Reflexion auf die in der ökolo-
gischen Forschung verwendeten visuellen Medien und ihre technische Hervor-
bringung wie ihre archivalische Verfügbarkeit. Beispiele hierfür wären etwa
eine Aufarbeitung der Debatten um die Suche und Festlegung von Leitbildern
bei der Restaurierung von Bergbaufolgelandschaften und die Rolle von Bildern
bei diesem Prozess oder auch die Analyse der epistemischen Funktion von
Bildern bei der Erfindung und Verabschiedung des Phänomens „Waldsterben“.
Welcher Bildkultur der „konkreten Natur“ auch immer man sich zuwendet, fest
steht, dass sie ebenso konstruierte Natur ist, wie die Natur der Laborwissen-
schaften, von Karin Knorr-Cetina (1999) so treffend als „alterierte Natur“ be-
zeichnet. Dennoch meint „das Konkrete“ in dieser konkreten Natur der Frei-
landwissenschaften etwas anderes, als in den Labornaturen, wie sie etwa in der
„Epistemologie des Konkreten“ von Hans-Jörg Rheinberger (2006) beschrieben
wurden. Die konkrete Natur der ökologischen Forschung begegnet uns auf der
Mesoskala und wird immer wieder auf das menschliche Maß dieser Welt
zurückbezogen – auch wenn sie partiell zur Beobachtung und Analyse vom
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Labor gewissermaßen eingezogen wurde. Die Referenzgröße ist immer wieder
die Welt, in der wir mit dem bloßen Auge sehen, in der wir die Dinge unmittel-
bar berühren können und in der wir uns bewegen. Entsprechend sind Bilder der
konkreten Natur von besonderer Bedeutung für die Darstellungsweisen der
Natur „draußen“ im offenen Raum, außerhalb des Labors. Umgekehrt wird das,
was gesellschaftlich als „ökologisch“ gesehen, beschrieben, bewertet und poli-
tisch verhandelt wird, auch durch die Produktion und Transformation von durch
verschiedene Medien und Diskurse nomadisierenden Bildern vermittelt. Ob ein
Naturstück als schützenswert gilt, als eine kapitalisierbare Ressource, als unzu-
verlässiges Planungshindernis, als gefährliche Herausforderung oder als kon-
templativ erfahrbare Landschaft, ist wesentlich vom kulturellen Umfeld
abhängig. Und damit auch, in einer Wissensgesellschaft wie der unseren, von in
der Wissenschaft generierten Bildern und Konzepten.1
     Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass die Rede von „den Bildern“
hier einer Differenzierung bedarf, die den jeweiligen Produktionsbedingungen,
dem disziplinären Kontext und dem jeweiligen Zeichentyp gerecht wird. Auf
letztere zielt Nelson Goodmans (1968) Unterscheidung in piktoriale und dia-
grammatische Schemata: Das photographische Luftbild beispielsweise ist ein
piktoriales Schema, konstitutive Merkmale sind die Größe des Bildes, die Kon-
traste, die Schärfe, die Farben oder Graustufen, auch die Materialität des Photo-
papiers. Beim Diagramm spielt das Material oder die Dicke und Schärfe der
Linien für die Semantik des diagrammatischen Schemas keine Rolle – entschei-
dend ist hier, dass eine Kurve ausschließlich vom Koordinatenraum her definiert
ist und auch nur zu lesen und zu verstehen ist, wenn Abszisse und Ordinate als
konstitutive Merkmale anerkannt werden. Der Kunsthistoriker Gottfried Boehm
spitzt an dieser Stelle zu und meint „Diagramme sind wirkliche, wenn auch
betont kognitive Bilder, weil sie eine ganz unglaubliche Veranschaulichung
abstrakter Zahlengrössen zustande bringen können“ (Boehm 2004: 42).

1    Ziel der interaktiven Internetseite „Bildkulturen ökologischer Forschung“ ist es, die Visualisie-
     rungsverfahren und -praktiken in ihrer zeitlich und räumlich begrenzten wissenschaftlichen,
     technischen und gesellschaftlichen Umgebung als ökologische Bildkulturen zu beschreiben
     (http://bildkulturen.online.uni-marburg.de/).
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3    Bilder als Chiffre eines prekären Verhältnisses von Wissen und Nicht-
     Wissen

In der Wissenschaftsforschung haben Bilder Konjunktur, die Ausrufung der iko-
nischen oder piktorialen Wende2 fand ein vielfaches Echo. Eingetreten wurde
damit etwa für die Entwicklung einer „Logik des Bildlichen“ (Hessler/Mersch
2009) oder für die Sensibilisierung und Ausdifferenzierung einer Kultur des
Sehens als Bildungsprogramm (Stafford 1999). Im deutschen Sprachraum wird
seit gut einem Jahrzehnt die institutionelle Etablierung so genannter Bildwissen-
schaften diskutiert (Böhme 1999; Belting 2001; Majetschak 2005; Sachs-
Hombach 2005). Mittlerweile erscheint es längst nicht mehr ungewöhnlich, dass
Kunsthistoriker und Künstler ihre Aufmerksamkeit auf Wissenschaftsbilder und
wissenschaftliche Praktiken richten (Scott 2010), während Wissenschaftler
Bilder produzieren, die wie künstlerische Produktionen präsentiert werden
(Frankel/Whitesides 2011). Medientheoretiker und Wissenschaftshistoriker
treten insbesondere für die Beachtung der Materialität von Bildern ein. Bilder
sollen nicht mehr isoliert nur als symbolische Zeichen gesehen werden und der
ganze Prozess der Bildproduktion Gegenstand der Analyse werden. Diese Wen-
de zu einer „materiellen Kultur“ der Bilder, also der Beachtung medialer Prakti-
ken und visueller Produktionen, wurde auch als visual turn bezeichnet. Mit der
Erweiterung der Bildanalyse zum Begriff der Visualisierung von Daten, Formen
und Strukturen kommen auch die Bildtechniken und instrumentellen Bedingun-
gen ins Spiel. Wissenschaftliche Bilder gelten als epistemische Bilder, das gilt
gleichermaßen für den piktorialen wie den diagrammatischen Bildtyp. Das Ver-
hältnis von Wissen und Nicht-Wissen ist in diesen Bildtypen – oder Schemata
sensu Nelson Goodman – allerdings sehr unterschiedlich angelegt. Intuitiv wer-
den diagrammatische Bilder eher als Wissensbilder rezipiert, fast schon karika-
turistisch zugespitzt im Infogramm (Pörksen 1997)3. Was also ist hier überhaupt
gemeint mit den Bildern als Chiffren eines prekären Verhältnisses?
     Der folgende Satz bezeichnet das Prekäre dieses Verhältnisses, indem zu-
nächst eine Paradoxie benannt wird: Bilder sind ungenauer und unschärfer als
Begriffe und Algorithmen, Bilder sind genauer und schärfer als Begriffe und
Algorithmen. Prekär ist dann erstens die Unbestimmtheit, die in dieser auf den
ersten Blick widersprüchlichen Aussage liegt, nach der Bilder gleichermaßen
Wissen und Nichtwissen verkörpern. Prekär ist an Bildern zweitens ihre Kon-

2    Der pictorial turn wurde 1992 von William J.T. Mitchell diagnostiziert, der iconic turn von
     Gottfried Böhm 1994 in „Die Wiederkehr der Bilder“.
3    Wobei Information natürlich nicht gleichzusetzen ist mit Wissen.
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textabhängigkeit, sei es von umgebenden Bildern oder von Text. Die Glaubwür-
digkeit von Bildern ist von der diskursiven Praxis abhängig, insbesondere Pho-
tographien können ohne begleitenden Text alles und nichts bedeuten. Ob eine
Photographie also Wissen verkörpert und wahr ist oder als Täuschung wahrge-
nommen wird und mindestens unsicheres oder falsches Wissen verkörpert, ist
von der Kontextualisierung, auch der Kennzeichnung und lückenlosen Rekon-
struktion seiner Genese abhängig. Drittens kann an Bildern ihre buchstäbliche
Schärfe bzw. Unschärfe prekär sein – einer der Gründe, weswegen beispielswei-
se in der Astronomie eine Methode entwickelt wurde, die es erlaubt, menschli-
che Eingriffe bei der Bildbearbeitung auszuschließen: Die Unschärfe ist damit
nicht mehr „eine subjektive Angelegenheit ungenau bestimmter Formen auf
einem Bild, sondern eine Frage von Koeffizienten und Parametern in einer ma-
thematischen Funktion, der jeder mögliche Zustand des Bildes unterliegt“ (Elkin
2008: 61). Sicheres Wissen ist dann das, was im unscharfen Bild als scharf defi-
niert erscheint. Bilder können nicht vollständig in mathematischen Parametern
beschrieben werden – auch digitale Bilder nicht, die aus Algorithmen bestehen,
die aber anderen als der Bildlogik folgen. Das gilt nicht nur für digitalisierte
Bilder, die in einer Photokamera erzeugt werden, sondern auch für algorith-
misch generierte Bilder, also für Bilder, die in ihrer Genese keinerlei empiri-
schen Wirklichkeitsbezug beanspruchen können; Dinosaurier im Film Jurassic
Park beispielsweise – fiktive Bilder, die mit realen Konventionen operieren und
auf kulturell tradiertes Wissen über Dinosaurier referieren.
     Dass Bilder für unschärfer als Begriffe gehalten werden, weil sie nicht im
selben Maße für semantisch bestimmbar gehalten werden wie Begriffe, wurde
bereits gesagt. Das gilt für piktoriale Bilder deutlich ausgeprägter als für dia-
grammatische Bilder, man denke wiederum an das Problem der Schärfe in der
Photographie. Was ist aber umgekehrt an Bildern genauer als an Begriffen und
Algorithmen in der Wissenschaft? Diagrammatische Bilder können beispiels-
weise Teil des Phänomens sein, etwa in Geräten zur Aufzeichnung von Ge-
steinsbewegungen oder Wasserständen; sie gehen dann dem Algorithmus vo-
raus, der nur eine Annäherung sein kann – das gilt in noch stärkerem Maße für
piktoriale Bilder, für die es ebenfalls Methoden der Vermessung und Algorith-
misierung gibt, etwa das erwähnte Beispiel aus der Astronomie oder der Land-
schaftsaufnahme. Am Gemeinplatz „ein Bild sagt mehr als tausend Worte”,
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womit eine Überlegenheit des Bildes gegenüber dem Begriff behauptet wird, ist
richtig, dass Bilder zunächst synthetisch und nicht analytisch gelesen werden.4
Bilder, insbesondere Diagramme, erlauben einen Überblick, sie laden ein, die
Vogelperspektive einzunehmen. Indem Zahlen in eine „visuelle Konfiguration“
übersetzt werden, „zeigt [sich etwas], was man aus bloßen Zahlenkolonnen
niemals lesen könnte.“ (Boehm 2004: 42). Auf die Leistungsfähigkeit dieser
kognitiven Eigenschaft des Bildes komme ich später noch einmal zurück. Fest-
zuhalten ist an dieser Stelle, dass Bilder im wissenschaftlichen Kontext dadurch
prekär sind, dass sie sicheres Wissen und unsicheres Wissen repräsentieren
können, auch gleichzeitig. Welche Ansprüche müssen also an Bilder gestellt
werden, mit denen sicheres Wissen identifiziert wird, Bilder, die vor allem in
einer normalwissenschaftlichen Umgebung und im Bestätigungszusammenhang
funktionieren?

    1. Bilder müssen als objektiv aufgefasst werden können. Eine Vorausset-
zung dafür ist, dass das Verhältnis der Vermittlungen zwischen Bild, Bildpro-
duktion und Bildkontext sorgfältig kontrolliert und beschrieben wird. Die Kette
der medialen Transformationen darf, ähnlich der „cascade d’inscription“ bei
Bruno Latour, nicht abreißen.
    2. Das Bildwissen muss intersubjektiv kommunizierbar sein, die Mitglieder
einer Forschergemeinde müssen sich einig sein können über die Bildsemantik –
analog dem Fleck’schen Denkkollektiv könnte man hier ein Bildkollektiv ins
Spiel bringen.
    3. Schließlich müssen Bilder auch Evidenz konstituieren können, sie müs-
sen Beweiskraft entfalten und darüber auch eine rationale Kontrolle des entspre-
chenden Wissensbereiches.

Ganz anders Bilder, die für unsicheres Wissen stehen und dann vielleicht die
Verwerfungen eines epistemischen Bruchs in einem disziplinären Feld verkör-
pern, ein Forschungsprogramm gefährden oder vielleicht weiter voran bringen.

4    Das betonen auch bildkritische Verfahren, die etwa unter dem Stichwort „Visualismus“ entwi-
     ckelt wurden und dem verbreiteten naiven Realismus bei der Interpretation von Photographien
     entgegen treten – auch und gerade in der Wissenschaft. In der Kunst wurde mit dem sogenann-
     ten „neuen Sehen“ bereits in den 1950er eine solche kritische Schulung eingefordert, ein „se-
     hendes Sehen“, wie die Protagonisten das nannten (Wick 1991). Wie überhaupt die Debatte
     um objektive/subjektive Bilder die Photographie von Anfang an begleitete und zeitweise in
     ideologischen Grabenkämpfen erstarrte.
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    1. Bilder geben keine Antworten und beweisen nichts, sondern sie generie-
ren neue Fragen. Damit verweisen sie auf Nichtwissen, wobei sie eine positive
oder negative Heuristik entfalten können.
    2. Die Bilder sind nicht oder nicht mehr intersubjektiv verankert, sie entzie-
hen sich der disziplinären Kontextualisierung, werden stattdessen als subjektive
Bilder rezipiert.
    3. Ein Bild hat zu viele Bildelemente, die beispielsweise als unscharf oder
dunkel gesehen werden und nicht interpretiert werden können. Es stehen keine
angemessenen bildanalytischen Methoden zur Verfügung, um diese Elemente zu
kontrollieren.

Mit den beiden Fallbeispielen werden nachfolgend die oben diskutierten
Kriterien erprobt, zunächst am diagrammatischen, dann am piktorialen Bildtyp.
Mit dem Diagramm „Tiefenordinate“ wird vorgeführt, wie der Wissensraum
„System See“ qua Diagramm beschrieben, erklärt und organisiert wird. Die
Tiefenordinate verkörpert hier sicheres Wissen. Im zweiten Beispiel steht das
Für und Wider von Luftbildern in der frühen ökologischen Seenforschung zur
Debatte. Diese Bilder erwiesen sich als zu prekär – und wurden von der
Forschergemeinde (zunächst) nicht als epistemische Bilder anerkannt.

Fall 1 - diagrammatisches Schema: Sicheres Wissen über unsichtbare
Tiefen5

Grafiken wurden auf dem Weg zur Etablierung des Sees als wissenschaftliches
Objekt immer bedeutsamer und schließlich geradezu identitätsstiftend für die
Disziplin Limnologie, die Lehre von den Süßgewässern. Dies gilt zumindest für
einen ganz bestimmten Diagrammtyp, die Tiefenordinate. Entscheidend an
dieser Kurve ist, dass die Tiefe von oben nach unten aufgetragen wird, also
entgegen der gewohnten Leserichtung. Mit der Verlagerung des wissenschaftli-
chen Handelns in die Tiefe des Sees korrespondiert die Neuordnung des Koor-
dinatenraums.
    In den ersten Publikationen der 1870er Jahre, die sich überhaupt mit der
aquatischen Umwelt von Tieren und Pflanzen beschäftigten, gab es noch keine
Diagramme, lediglich einfache Tabellen, die überdies mit dem umgebenden
Text eng verzahnt waren. Sie enthielten nahezu keine Zahlen, stattdessen waren

5
     Fallbeispiel 1 wurde in einer ausführlicheren Version an anderer Stelle bereits veröffentlicht
     (Schwarz 2003).
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diese als Zahlwörter ausgeschrieben. Eine solche Tabelle erlaubt es weder,
Rechenoperationen durchzuführen noch darzustellen, ihre Form entspricht einer
rein qualitativen Darstellung der empirischen Daten. Erst die numerische Dar-
stellung der Daten und eine vorgegebene Tabellenordnung erlaubt es, die Daten
mathematisch zu behandeln. Die ins Auge gefassten Phänomene können damit
in einem Verfahren der Reihung und Normierung zunehmend verdichtet wer-
den, die tabellarische Darstellung macht gegenseitige Abhängigkeiten der empi-
rischen Daten „ersichtlich“. Die zunächst isolierten Parameter sind nun mitei-
nander vernetzt und bilden ein Tableau von Möglichkeiten kausaler Zusammen-
hänge. Die Inflationierung dieses Prinzips, also immer mehr Parameter in eine
Tabelle aufzunehmen, führte schließlich zu ausufernd großen Tabellen, die in
den 1890er Jahren immer abstrakter, unübersichtlicher und damit schwerfälliger
in Handhabung und Interpretation wurden. Die tabellarische Form bildete somit
zwar die Voraussetzung für die Aufnahme und Verdichtung von immer mehr
Daten, verwies aber zugleich auch auf die Limitierung des Mediums Tabelle.
Dieser Limitierung trägt die Argumentation Rechnung, mit der behauptet wird,
dass die erfolgreiche Einführung von Graphiken vor allem in der vereinfachten
Darstellung großer Datenmengen begründet lag. Die Graphik bot ein Formprin-
zip an, das gegenüber der tabellarischen Darstellung eine Verdichtung und Be-
grenzung der Parameterzahl versprach. Graphiken sind in der Lage, eine große
Datenmenge so zu repräsentieren, dass diese auf einen Blick überschaubar sind:
„Graphiken verleihen die Vogelperspektive“ und sie sind effizienter, „weil sie
dem Leser erlauben, Zeit und Aufmerksamkeit zu sparen“ (Bastide 1990: 213).
     Genau dies, Vereinfachung und Überschaubarkeit, fand sich verbreitet wie-
der in der Erwartungshaltung an die Leistungsfähigkeit von Graphiken im
19. Jahrhundert – auch in der aquatischen Ökologie. Der Biologe Otto Zacharias
(1846-1916) verwendete die Graphik ganz im Sinne dieser Argumentation: „Wir
erhalten durch obige graphische Darstellung viel besser noch als durch die
gleichfalls angegebenen Mengenziffern der Cubikcentimeter eine Vorstellung
von dem sehr unterschiedlichen Organismen-Gehalt einer und derselben Was-
sersäule während des Jahreslaufes“ (Zacharias 1895: 451).
     Zacharias konnte bei der Produktion der Graphik weder auf eine eingeübte
Technik noch Rezeption zurückgreifen. Umso mehr erstaunt seine Betonung der
„Tatsache“, dass „das beigefügte Cliché … keiner weiteren Erklärung“ (ders.:
449) bedürfe, was in eklatantem Widerspruch zur Ausführlichkeit der dann doch
folgenden Erläuterungen steht. Es sind genau diese ‚impliziten’ Erläuterungen,
die dem Einüben der visuellen Sprache gelten. Zacharias erklärte ausführlich,
wie die empirischen Daten aus der Tabelle in den Koordinatenraum der Graphik
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kommen, wie also die Transformation von einem Datum in der Tabelle zu ei-
nem Punkt in der Graphik vonstatten geht. Auf diese Weise gelangte Zacharias
aus der Tabelle zur Graphik, von der Reihung genormter Einzeldaten zum
„Curvenbilde“, den verbundenen Einzelpunkten in einem homogenen Koordina-
tenraum. Und erst jetzt würden, so Zacharias, bestimmte Phänomene ‚sichtbar’:
„[wir] ersehen aus demselben [dem Curvenbilde, AS], dass die Planktonproduc-
tion zu keiner Zeit des Jahres gänzlich erlischt“ (ebd.); und an anderer Stelle:
„Dann aber verringerte sich, wie die Curve zeigt, das Volumen fortgesetzt bis
zum 30. September hin“ (ebd.). Beide Schlussfolgerungen wären auch aus der
Tabelle ablesbar, aber sie werden aus ihr nicht ersichtlich: Die Zahlen der Ta-
belle bilden kein ‚Ganzes’, kein Bild – und schon gar nicht auf den ersten Blick.
Zacharias’ ausführliche und umständlich anmutenden Erklärungen zur Graphik
zielten auf die rasche Erkennung des „Curvenbildes“, auf das Evidenzerlebnis
im ersten Blick. Der anfänglich erwähnte Widerspruch im Zusammenhang der
Einführung des „Curvenbildes“ wird nun verständlich. Zacharias nahm mit dem
Hinweis darauf, dass die Graphik keiner weiteren Erklärung bedürfe, vorweg,
was die Graphik leisten sollte, nämlich das ‚spontane’ Erkennen der Seeverhält-
nisse auf den ersten Blick. Dieser erste Blick ‚weiß’ aber noch nicht, was er
sehen soll, seine Spontaneität muss eingeübt und zur Gewohnheit werden. Denn
erst vor dem Hintergrund der wissenschaftlich kontextualisierten Gewohnheit
kann es das ‚spontane’ Erkennen geben, das Evidenzerlebnis im ersten Blick auf
das „Curvenbild“. Nur der eingeübte Blick auf die Graphik weiß die Plankton-
produktion im See ‚spontan’ zu erkennen. Die Graphik kann dann als Medium
aufgefasst werden, durch das der am See Handelnde diesen als Wasserraum
wahrnimmt und sich entsprechend praktisch in ihm orientiert. In diesem Sinne
bedeutet die Produktion des graphischen Raumes auch gleichzeitig die Produk-
tion des wissenschaftlichen Gegenstandes. Es ist dieser Transformationsvor-
gang, welcher eine äußerst widerständige Stabilität des Datenraumes erzeugte –
ein sicheres Wissen über den ökologischen See.
Prekäre Bilder: Visualisierung in den Umweltwissenschaften                                     25

Fall 2 – Piktoriales Schema: Das Scheitern des Luftbildes in der frühen
Limnologie6

In den 1920er Jahren hatte die Photographie als Methode in den Wissenschaften
Konjunktur. Der Einsatz des neuen Mediums erlaubte rascheres Arbeiten,
erhöhte die Vergleichsmöglichkeit von Objekten in Zeit und Raum, machte
Dinge sichtbar, die für das menschliche Augen bisher unsichtbar waren,
dokumentierte und objektivierte, was bis dahin der Willkür der zeichnenden
Hand ausgeliefert schien. Die Photographie versprach, die wissenschaftliche
Autorität zu stützen, sie stand für Kontrolle und Objektivität, für größere
Effizienz und Präzision. Als neue Ökonomie des Sehens wurde sie ins Spiel
gebracht und durchzog alle Bereiche der Feld- wie Laborwissenschaften, die so
genannte angewandte wie die Grundlagenforschung.
     All dies galt in besonderem Maß für die Luftbildphotographie. Die Photo-
grammetrie wurde nach dem Ersten Weltkrieg als eine Querschnittstechnologie
aufgefasst, die mit großem Innovationspotential neue Möglichkeitsräume
erschließt. Und dies ist hier ganz buchstäblich zu verstehen, denn sowohl im
wissenschaftlichen wie im kulturellen Kontext wurde sie als Technik der
Raumergreifung verstanden und genutzt. Mit der Kamera als Instrument bringt
die Methode der Fern-Erkundung Abstand zwischen den Fotografierenden und
die Welt, sie erzeugt Bilder, die interpretationsoffen sind, aber doch als objektiv
gelten, sie erlaubt es, Flächen visuell zu okkupieren und sie gibt die Mittel an
die Hand, das solchermaßen fixierte Terrain dann auch zu kolonisieren.
     Die Illuft, die Internationale limnologische Luftfahrtstelle, wurde 1930
gegründet auf der Mitgliederversammlung der Internationalen Vereinigung für
theoretische und angewandte Limnologie (I.V.L.), die Leitung wurde dem
Initator der Illuft, Erich Wasmund, anvertraut. Ebenfalls auf dieser Tagung, aber
unabhängig von den Illuft-Aktivitäten, wurde ein internationaler Tauschverkehr
von Diapositiven vereinbart, Gegenstand sollten Bilder limnologischer und
fischereibiologischer Objekte sein. Als besonders interessant wurden
panoramaähnliche Rundsichten befunden, die geeignet schienen, „Daten aus der
Seetypenlehre, Verlandungsvorgänge, topographische und für die regionale
Produktions-Biologie wichtige Verhältnisse festzulegen“ (Lenz 1931: 22).
     In den 1930er Jahren reiste Erich Wasmund im Namen der Illuft per Flug-
zeug durch Europa, das Baltikum und Russland und versuchte an verschiedenen
Forschungsfragen vorzuführen, wie Luftbilder in der Limnologie eingesetzt

6
     Fallbeispiel 2 wurde in einer englischsprachigen und ausführlicheren Version an anderer Stelle
     bereits veröffentlicht (Schwarz 2010).
26                                                                   Astrid Schwarz

werden könnten. „Die Bedeutung der Luftfahrt als eigenwertiges limnologisches
Forschungsmittel liegt in der nur aus der Bewegung in der Höhe möglichen
Übersicht, Einsicht, Aufsicht und Durchsicht in Binnengewässer“ (Wasmund
1930: 503) schrieb er 1930 und stellte damit seiner wissenschaftlichen Gemein-
de eine neue Methode und Theorie in Aussicht. Immer wieder betonte er, dass
das Luftbild „eigenwertig“ sei. Als mögliche Anwendungen nannte Wasmund
die Übersicht über Gewässer und Ufer; eine Einsicht in morphologische
Zusammenhänge etwa eines Einzugsgebietes, die Aufsicht auf soziologische
Pflanzenformationen oder die Mechanik von Vereisungsstrukturen; die
Durchsicht schließlich erlaube eine Kartierung unterseeischer Berge oder die
Quantifizierung und das Verhalten von Tierschwärmen – und überhaupt, so
Wasmund, seien Photos anschaulicher als Karten.

Das ganze Unternehmen Illuft wurde von Wasmund von vornherein als eine
enge Vernetzung von Wirtschaft, Technologie und Forschung konzipiert. Aus
seinen Netzwerkaktivitäten erhoffte er sich auch einen Zugriff auf den bei der
Luftbildstelle des Preußischen Ministeriums für Handel und Gewerbe in Berlin
bereits angesammelten Bestand an Luftbildern, den er auf insgesamt etwa
50.000 Bilder schätzte. Die Unternehmen und auch die staatlichen Stellen waren
geneigt, die Illuft zu unterstützen – während die Stimmen der Wissenschaftler
vor allem Skepsis verlauten ließen. Grundsätzlich wurde die „übersichtliche
bildmäßige Darstellung der Gewässer“ (Naumann 1923: 105) für wünschens-
wert und auch machbar gehalten, aber nur dann für wissenschaftlich haltbar,
wenn es sich um „wirkliche Übersichtsbilder“ handele, und keine Verwechs-
lungsgefahr bestünde mit „zusammengestellten Touristenbildern, welche keine
Übersicht gewähren“ (ebd.). Auch der Doyen der Limnologie, August Thiene-
mann, war skeptisch gegenüber dem neuen Medium Photographie, wobei er
eher wissenschaftspolitisch argumentierte: Die Methode sei vor allem in der
geographischen Forschung angesiedelt und eine beschreibende, während die
Limnologie gleichzeitig auf Gestaltbeschreibung, auf Gesetzmäßigkeiten und
problemorientierte Forschung ziele, sich also nicht mit geographischem Denken
begnüge.
     Drei Jahre nach ihrer Gründung, 1933, kündigte Wasmund das Ende der
Illuft an. Nüchtern berichtete er, dass die erreichten Ergebnisse und der Arbeits-
umfang in „keinem gesunden Verhältnis“ stünden. Die limnologische Commu-
nity interessierte sich nicht sonderlich für Luftbilder, Anfragen an die Illuft
kamen zur Hälfte von Geographen und Naturwissenschaftlern. Auch die poli-
tische Situation machte Wasmund geltend für das zähe Fortkommen, die Not-
Prekäre Bilder: Visualisierung in den Umweltwissenschaften                     27

verordnungen machten ein Unternehmen wie die Illuft geradezu „aussichtslos“.
     Waren wirklich vor allem die ungünstigen politischen und wirtschaftlichen
Bedingungen der Grund dafür, wie Wasmund nahelegte, dass die Illuft nicht
erfolgreich werden konnte? Denn in anderen wissenschaftlichen Bereichen wie
der geographischen oder meteorologischen Forschung konnte die neue Bild-
methode durchaus Fuß fassen. Das Scheitern der Illuft in der limnologischen
Fachgemeinde scheint eher wissenschaftsintern begründet gewesen zu sein.

4    Ikonoklastische Kontroversen in der Limnologie

In den 1920 und 1930er Jahren gab es in der Limnologie eine Reihe konkur-
rierender Forschungsprogramme, die sich über die gesamte Bandbreite zwischen
experimenteller und beschreibender Naturforschung erstreckten. Die sogenannte
regionale Limnologie, in der es um die kartenbasierte Beschreibung von
typologisierten Seen ging, schien geradezu prädestiniert, um mit der Luft-bild-
Methode bearbeitet zu werden. 1923, also gut acht Jahre bevor Wasmund mit
seiner Illuft an die wissenschaftliche Öffentlichkeit trat, sah das auch der
Hauptvertreter dieser Theorie noch so. „[D]ie übersichtliche bildmäßige Dar-
stellung der Gewässer“ hielt er für eine sehr wichtige Aufgabe, denn „zweck-
mäßig gewähltes photographisches Bildmaterial gibt erstens eine gute Übersicht
über die Abhängigkeit der Gewässer von der umgebenden Natur“ und somit
„eine treffliche Illustration zu den Angaben der regionalen Karte. Zweitens kön-
nen aber daraus auch die verschiedensten kulturbedingten Verhältnisse abgele-
sen werden“ (Naumann 1923: 105). Naumann war so überzeugt von der Vor-
stellung der „repräsentativen Bilder“ für die regionale Limnologie, dass er selbst
aktiv wurde und auf privater Basis ein Archiv ins Leben rief, das ihm auch,
dank der Hilfe vieler Kollegen „einigermaßen brauchbar“ erschien, „[i]m
großen und ganzen ist es aber höchst primitiv“ (ders.: 106).
     Auf den ersten Blick scheint das Problem für Naumann vor allem ein tech-
nisches gewesen zu sein, er traute der zeitgenössischen Photographie nicht zu,
„wirkliche Übersichtsbilder“ liefern zu können, dazu müssten auch die Vorteile
des Luftverkehrs besser genutzt werden – und das sei aufwendig und kost-
spielig. Seine heftige Kritik und Abgrenzung gegen die „wahllos zusammen-
gestellten Touristenbilder“ in limnologischen Publikationen lässt aber noch ein
anderes Unbehagen deutlich werden. Naumann erkannte, dass seine Forscher-
gemeinde eine andere Bildkultur entwickeln musste, um Photos epistemisch
nutzen zu können, sah aber vor allem einen „touristischen“ Blick verbreitet,
28                                                                             Astrid Schwarz

einen „Land und Leute“-Blick, den er für unwissenschaftlich hielt.7 In seinen
zahlreichen Veröffentlichungen zur „regionalen Limnologie“ waren
entsprechend auch keine Photos abgedruckt, sondern lediglich begriffliche
Schemata oder Kartenmaterial.
     Dass Wasmunds Luftbilder keine „Touristenbilder“ waren, ist in der
programmatischen Illuft-Schrift von 1930 dokumentiert, der zwölf Abbildungen
beigefügt sind und anhand derer Wasmund sein neues Programm vorzuführen
suchte. Auch er war sich darüber im Klaren, dass es einer speziellen bildtech-
nischen Kompetenz bedarf, um Luftbilder lesen und interpretieren zu können.
Worin der epistemische Gewinn einer Luftbildinterpretation für die Limnologie
bestehen könnte, versuchte er entsprechend an ausgewählten Beispielen
vorzuführen.
     Sein begriffliches Schema, die Terminologie von Einsicht, Übersicht,
Aufsicht, erwies sich aber letztlich als kraftlos. Eine ökologische Bildsemantik
und entsprechende Beschreibungsmodi wurden nicht entwickelt, immer wieder
fiel Wasmund zurück in die geologisch motivierte Erwartung und Sprache über
die „regionale Bestimmtheit des hochalpinen Urgebirgssees“. Bei der
Beschreibung der „Lena in Nordsibirien“ manifestierte sich seine Anforderung
an das Luftbild vielleicht am deutlichsten, nämlich „das wahre Bild von Größe
und Formenwelt“ (Hervorh. A.S.) zu geben. Wasmund bot hier eine regelrechte
Ontologisierung des Mediums „Luftbild“ an: „Es ist ja eine bekannte und
natürliche Sache, daß die meisten limnologischen Textillustrationen, wenn es
überhaupt welche gibt, einander zum Verwechseln ähnlich sehen. Gilt das schon
für bestimmte für irgendein Problem wichtige Teilansichten, so ganz und gar für
den See als Ganzes, als Individuum, der so gut wie nie in die Bildfläche
hineingeht. Anders das Luftbild, das den See als Organismus voll aufnimmt,
verwoben mit seiner ihm in Formung und Lebensreifen mütterlichen
Landschaft.“ (Wasmund 1930: 506).
     Dies legt noch eine weitere Interpretationsmöglichkeit dafür nahe, warum
Wasmund mit seiner Illuft so wenig Erfolg hatte. Er mag vielleicht in der Lage
gewesen sein, die richtigen Kontakte zu Industrie und staatlichen Stellen zu
knüpfen und auch die eigene Forschergemeinde war bereit, Bilder als episte-
mische Objekte zu akzeptieren. Was Wasmund indessen nicht leisten konnte,
war, eine angemessene Interpretationsmethode vorzuführen, die etwa den
Touristenbild-Skeptiker Naumann vom epistemischen Gewinn von Luftbildern

7
     Inwieweit hier auch eine Abgrenzung zur Wissenschaft Geographie, möglicherweise auch
     speziell der deutschen Geographie, und/oder kolonialistischen Expansionsprogrammen, die
     Stilisierung des Fremden als Exotischem mitschwingt, muss hier eine offene Frage bleiben.
Prekäre Bilder: Visualisierung in den Umweltwissenschaften                   29

überzeugt hätte. Stattdessen verfiel Wasmund in einen fast schon mystizistisch
anmutenden Organizismus, der in gewisser Weise eine Umkehr der Perspektive
auf das Motiv Landschaft in der frühen Freiluftmalerei darstellte. Während es
hier um „Die Umwandlung der Natur ins Bild“ geht, hieß es bei Wasmund: „das
Luftbild nimmt den See auf“ (ebd.) – so, als würde das Medium die Natur
bilden. Durchaus folgerichtig erscheint es dann, dass in der angebotenen Bild-
beschreibung dem Luftbild so gut wie keine kognitive Funktion zugestanden
wurde, der Befund „regionale Bestimmtheit des regionalen Urgebirgssees“ stand
schon vor der Betrachtung und Interpretation des Luftbildes fest. Das Luftbild
ist gewissermassen erstarrt in seiner ontologischen Festschreibung und vermag
kein heuristisches Potential zu entfalten. Und da weder eine bildanalytische
Methode angeboten wurde, noch ein Bildkollektiv vorhanden war, das eine
intersubjektive Kommunikation über die Luftbilder geführt hätte, vermochten
sie weder sicheres Wissen zu bieten, noch Fragen zu stellen und verschwanden
– zunächst – aus dem disziplinären Kanon.

5    Zusammenfassung

Bilder im wissenschaftlichen Kontext können als Chiffre eines prekären Ver-
hältnisses von Wissen und Nichtwissen aufgefasst werden. Prekär macht dieses
Verhältnis, dass Bilder gleichzeitig sicheres und unsicheres Wissen verkörpern,
das gilt für beide hier diskutierten Bildtypen, den diagrammatischen und den
piktorialen. Es wird zum einen die Frage diskutiert, welche Ansprüche an Bilder
gestellt werden müssen, wenn sie sicheres Wissen repräsentieren sollen, also an
Bilder, die vor allem in einer normalwissenschaftlichen Umgebung und im Be-
stätigungszusammenhang funktionieren. Dem stehen Bilder gegenüber, die mit
unsicherem Wissen identifiziert werden, womöglich die Verwerfungen eines
epistemischen Bruchs in einem disziplinären Feld repräsentieren, ein For-
schungsprogramm gefährden oder auch voran bringen, indem sie neue Fragen
generieren. Diese allgemeinen epistemologischen und bildwissenschaftlichen
Fragen werden an zwei Fallbeispielen veranschaulicht, beide aus der frühen
deutschsprachigen Ökologie. Der diagrammatische Bildtyp wird an der Genese
eines für die Disziplin Limnologie letztlich identitätsstiftenden „Kurvenbildes“
diskutiert und ist beispielhaft für die Verkörperung sicheren Wissens in einem
epistemischen Bild. Der piktoriale Bildtyp wird diskutiert am Scheitern des
ersten Versuchs der Etablierung von Luftbildphotographien als epistemische
Bilder. Die Luftbilder werden nicht in den Kanon der sicheren Wissensfiguren
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der Disziplin aufgenommen, da sie weder mit der Entwicklung einer bildanalyti-
schen Methode angeboten, noch ein Bildkollektiv vorhanden ist, das bereit wä-
re, eine intersubjektive Kommunikation über die Bilder zu führen. Bestätigt
wird an diesem Beispielen zum einen das Argument, dass Bilder in der Ökolo-
gie und den Umweltwissenschaften von Anfang an eine wichtige Rolle als Wis-
sensfiguren spielten. Zum anderen wird deutlich, dass mit Blick auf das Bild als
Chiffre prekärer Verhältnisse von Wissen und Nichtwissen neue Impulse für
Geschichte und Theorie einer materiellen Kultur der Ökologie und Umweltwis-
senschaften erwartet werden darf.

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