Prison-info - Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern - Das Magazin zum Straf- und Massnahmenvollzug - Bundesamt für ...
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prison-info Das Magazin zum Straf- und Massnahmenvollzug 1/2017 Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern 4 – 31 Ein Partner im Kampf Unterschiede bei der gegen den Terrorismus bedingten Entlassung 34 35
2 prison-info 1/2017 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser Sie halten die neue Ausgabe unseres ehemaligen «info-bulletin» in Ihren Händen. Ja richtig, unübersehbar haben sich Name und Layout geändert und zeigen sich in einer frischen Form. Wir haben uns nach langen Jahren der Kontinuität dafür entschieden, Anpassungen bezüg- lich des Aussehens unseres Magazins vorzunehmen. Zum einen ist der Titel #prison-info eindeutiger und prägnanter, zum anderen bringt das Layout mehr Kontrast und attraktive Lesbarkeit. Es freut mich sehr, Ronald Gramigna, dass es gelungen ist, Bewährtes und Neues zu verbinden und das Herausgeber #prison-info #prison-info, das notabene die einzige Publikation des Bundesamtes für Justiz ist, in einem neuen Kleid erscheinen zu lassen. Inhaltlich bleibt unser Magazin natürlich dem Themenbereich des Justizvollzuges treu. In dieser Nummer haben wir den Fokus auf die stationären Massnahmen, das heisst die Behandlung von psychisch gestörten Straftätern gelegt, die aus unterschiedlichsten Gründen immer wieder Anlass zu fachlichen und auch politischen Diskussionen geben. Wie immer haben wir das Fokus-Thema aus verschiedenen Blickwinkeln in seiner Breite und Tiefe abzubilden versucht. Wir haben uns auch dafür entschieden, umfassender und kontinuierlicher über Neuigkeiten, Entwicklungen und Herausforderungen im schweizwei- ten Justizvollzug zu informieren. Mein Dank gilt einmal mehr den Autorinnen und Autoren, die mit ihren Artikeln massgeblich dazu beitragen, dass unser Magazin überhaupt in dieser Form erscheinen kann. Mein Dank gilt aber auch Online-Version: unserem neuen Redaktor Folco Galli, Informationschef des BJ, der mit Konsequenz und Elan die Neugestaltung des Magazins vorangetrieben hat, sowie Peter Schulthess, dessen eindrückliche Bilder wir erstmals in Farbe zu sehen bekommen. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen!
Inhalt prison-info 1/2017 3 Inhalt Fokus: Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern Die stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern ist Gegen- stand einer Studie und von Empfehlungen der Nationale Kommission zur Verhütung von Folter. Unser Fokus beleuchtet dieses Thema zudem aus dem Blickwinkel der Gerichte, der Gutachter und der Fachkommissionen und gibt einen Einblick in den Vollzug. 4 Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern unter der Lupe 11 Den Vollzug therapeutischer Massnahmen verbessern 14 «Wir spüren keinen Druck, wie wir zu urteilen haben» 18 Das psychiatrische Gutachten: ein Instrument zuhanden der Strafjustiz 21 Genauer hinschauen, um Rückfälle von Straftätern zu verhindern 24 Etliche Personen sind nicht am richtigen Ort Foto: Peter Schulthess 25 Das gesamte Setting ist Therapie 29 Verbesserungspotential in einem schwierigen Arbeitsfeld 33 Fünf Fragen an Roland Zurkirchen 34 Ein Partner im Kampf gegen den Terrorismus 35 Bedingte Entlassung: ein Strafgesetzbuch, unterschiedliche kantonale Praktiken Pädosexuelle Straftäter besser erkennen Mit dem Abschluss eines Modellversuchs der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel liegen differenzierte und zuverlässigere Grundlagen für die Diagnostik, Risikoeinschätzung und Behandlung von pädosexuellen Straf tätern vor. Viele Fragen müssen noch im Rahmen weiterer wissenschaftli- cher Untersuchungen geklärt werden. Bild: Screenshot von sog. Not-Real People 38 Pädosexuelle Straftäter besser erkennen 40 Traumatisierten Jugendlichen eine optimale Erziehung bieten 42 Aus dem Parlament 44 Haftprüfung: Bund sieht keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf 45 Kurzinformationen 46 Veranstaltungen 47 Neuerscheinungen Kunst im Knast Der Verein «Kunst im Knast» will das künstlerische Schaffen von Menschen im Freiheitsentzug fördern. Dieses eröffnet den Insassen einen Zugang zu sich selbst und unterstützt damit einen therapeutischen Prozess. Eine Aus- stellung im Museum der Heilsarmee zeigt eine Auswahl von Gemälden, Zeichnungen und Skulpturen. Foto: Dominque Boillat 48 «Auch Gefängnisinsassen können Künstler sein»
4 prison-info 1/2017 Fokus: Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern In die Studie sind die Etablissements de la plaine de l’Orbe (Bild) sowie zwölf weitere Einrichtungen einbezogen worden. Foto: Peter Schulthess
Fokus: Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern prison-info 1/2017 5 Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern unter der Lupe Resultate aus einer Studie zuhanden der NKVF Ein Team der Universität Bern hat im Auftrag der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) die Anordnung und den Vollzug von stationären therapeutischen Massnahmen gemäss Art. 59 Abs. 3 StGB untersucht. Mit einer Aktenanalyse ging es der Frage nach, wer die Insassen sind und warum sich diese im Massnahmenvollzug befinden. Des Weiteren erhob es Daten zum Verlauf und zur Ausgestaltung des Vollzugs. Die anschliessend dazu befragten Praktiker erachten insbesondere die lange Verweildauer im geschlossenen Massnahmenvollzug und die teilweise fehlende Therapiebereitschaft der Insassen als problematisch. Zudem rechnen sie damit, dass es in Zukunft immer schwieriger werden dürfte, gut ausgebildetes Personal zu rekrutieren. Jonas Weber Gemäss Bundesamt für Statistik hat sich der Be- altrechtlichen Verwahrungen zurückzuführen. Zum stand der wegen einer Massnahme zur stationä- anderen hat sich die Aufenthaltsdauer bis zur be- ren Behandlung von psychischen Störungen ge- dingten Entlassung im selben Zeitraum für statio- mäss Art. 59 StGB in eine Justizvollzugseinrichtung näre Massnahmen insgesamt in etwa verdoppelt. Eingewiesenen seit dem Inkrafttreten des neuen Vor diesem Hintergrund hat die Nationale Kom- Strafsanktionenrechts gesamtschweizerisch von mission zur Verhütung von Folter im Frühjahr 2014 186 im Jahre 2007 kontinuierlich auf 449 im Jahre das Institut für Strafrecht und Kriminologie der Uni- 2014 erhöht. Dabei ist zu beachten, dass Verurteilte, versität Bern mit einer Studie zu «Anordnung und die in eine forensische Abteilung eines allgemeinen Vollzug stationärer therapeutischer Massnahmen Psychiatriespitals eingewiesen worden sind, nicht gemäss Art. 59 StGB mit Fokus auf geschlossene mitgezählt werden. Gleichzeitig ist der Anteil der Strafanstalten bzw. geschlossene Massnahmenein- 59-er Massnahmen am Insassenbestand aller sta- richtungen» beauftragt. tionären Massnahmen (Art. 59, Art. 60, Art. 61 und Art. 64 StGB) von 32 Prozent im Jahre 2007 auf 57 Pro- Studienauftrag und Rahmenbedingungen zent im Jahre 2014 angewachsen. Dieser Anstieg des Der Auftrag der NKVF umfasste insbesondere die Jonas Weber, Professor am Institut Insassenbestands ist zum einen auf die vermehrte Erhebung und Aufbereitung von Daten zur Anord- für Strafrecht und Kriminologie der Anordnung von Massnahmen gemäss Art. 59 StGB nung und zum Vollzug von Therapiemassnahmen Universität Bern durch die Gerichte sowie auf die Umwandlung von gemäss Art. 59 Abs. 3 StGB. Die Studie sollte der
6 prison-info 1/2017 Fokus: Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern «Der Bestand NKVF als ergänzende Informationsquelle – neben ihren Besuchen von Vollzugseinrichtungen – dazu Etablissements de la plaine de l’Orbe (VD), Massnah- menzentrum Bitzi (SG), Anstalten Hindelbank (BE), der wegen einer dienen, eigene Einschätzungen und Empfehlungen Justizvollzugsanstalt Lenzburg (AG), Psychiatrische zu formulieren. Klinik Münsterlingen (TG), Justizvollzugsanstalt 59-er Mass- Der finanzielle Rahmen der Studie war mit Pöschwies (ZH), Justizvollzugsanstalt Solothurn nahme Einge- 20 000 Franken relativ eng abgesteckt. Die sich daran (SO), Zentrum für stationäre forensische Therapie orientierenden Möglichkeiten der Datenerhebung Rheinau (ZH), Justizvollzugsanstalt St. Johannsen wiesenen hat und -analyse sowie der Berichterstattung wurden (BE), Justizvollzugsanstalt Thorberg (BE), Strafan- sich von 186 im im Verlauf der Umsetzung durch eine Masterarbeit etwas erweitert, die – im Rahmen eines Weiterbil- stalt Bostadel (ZG). Eine Auswertung der Insassenlisten aus diesen Jahre 2007 auf dungsstudiums an der Universität Bern – als Teil 13 Einrichtungen ergab, dass dort am Stichtag Ende 449 im Jahre der Studie verfasst worden ist. September 2014 insgesamt 288 Personen gemäss Art. 59 Abs. 3 StGB eingewiesen waren. In dieser 2014 erhöht» Gliederung der Studie Grundgesamtheit waren 20 einweisende Kantone Die Studie gliedert sich in vier Teile: Teil 1 enthält eine vertreten (AG, AR, BE, BL, BS, FR, GE, JU, LU, NE, NW, Analyse der Gesetzesmaterialien und des Schrift- OW, SG, SH, SO, UR, VD, VS, ZG, ZH). Mittels Zufalls- tums zu Art. 56 und Art. 59 StGB. Es ging hier darum, stichprobe wurden in der Folge aus dieser Grund- das Konzept nachzuzeichnen, welches der Gesetzge- gesamtheit 25 Prozent der Fälle ausgewählt. Die ber beim Erlass von Art. 56 und 59 StGB insgesamt daraus resultierenden 72 Fälle wurden in einem verfolgt hatte, und die Intentionen zu erkennen, die nächsten Schritt – wiederum mittels Zufallsaus- hinter den einzelnen Bestimmungen bzw. Absätzen wahl – so ergänzt, dass jede Institution und jeder stehen. Dabei waren die verschiedenen Teilrevisio- einweisende Kanton mit mindestens einem Fall im nen mit zu berücksichtigen, welche mehrfach zu Sample vertreten war. Dadurch ist die Samplegrösse Modifikationen der ursprünglich vom Bundesrat auf 83 Fälle angewachsen. vorgeschlagenen Bestimmungen geführt hatten. Eine erste Analyse der Fälle zeigte dann, dass es Aufgrund des zur Verfügung stehenden Budgets sich bei acht Fällen um vorzeitigen Massnahmenvoll- musste auf eine Analyse der bundesgerichtlichen zug handelte; das heisst, um Fälle, bei denen noch Rechtsprechung verzichtet werden. Teil 2 enthält kein rechtskräftiges Anordnungsurteil vorlag. Da eine quantitative Auswertung von Vollzugsakten, jedoch gemäss Studienauftrag namentlich Anord- worauf nachfolgend in diesem Beitrag schwerpunkt- nungsurteile ausgewertet werden sollten, wurden mässig eingegangen wird. diese acht Fälle aus dem Sample ausgeschlossen, so Bei der Arbeit mit den Vollzugsakten wurde klar, dass schliesslich 75 Fälle übrig blieben, zu denen in dass sich mit einer rein quantitativen Analyse viele der Folge Akten ausgewertet wurden. Problempunkte, die sich in Einzelfällen zeigen, nicht Von den 75 Personen des Samples waren 16 in ausreichend abbilden lassen. Deshalb sind die Fallak- den EP Orbe untergebracht, je elf Personen in der JVA ten in einem zweiten Durchgang einer qualitativen Pöschwies und im Zentrum Rheinau, zehn Personen Analyse unterzogen worden, indem die Fälle vor dem im MZ Bitzi, je sechs Personen im EPF Curabilis und in Hintergrund des in Teil 1 dokumentierten Vorwissens der JVA Solothurn, fünf Personen in der JVA Thorberg, nach möglichen Schwachstellen durchleuchtet und drei Personen in der Klinik Münsterlingen, je zwei diese dann kritisch besprochen worden sind. Der Personen in den Anstalten Hindelbank und in der so entstandene Teil 3 der Studie sollte jene Aspekte JVA Lenzburg sowie je eine Person in den EEP Belle dokumentieren, die in bestimmten Einzelfällen als vue, der SA Bostadel und in der JVA St. Johannsen. problematisch erscheinen. Die Aktenauswertung umfasste die Strafurteile, Teil 4 der Studie umfasst schliesslich die Aus- mit denen die Massnahme angeordnet worden ist, wertung von Expertengesprächen, welche mit An- Verlängerungsurteile, Einweisungsverfügungen, staltsdirektoren und Vollzugsverantwortlichen in psychiatrische Gutachten, Vollzugspläne, Diszipli- acht Institutionen geführt worden sind. Hier ging narverfügungen, Zwangsanwendungsprotokolle es darum, zu verschiedenen Aspekten des geschlos- sowie Empfehlungen der konkordatlichen oder senen Massnahmenvollzugs Einschätzungen aus kantonalen Fachkommissionen. Die Akten wurden Sicht der Anstalten zu dokumentieren. dem Forschungsteam von den einweisenden Behör- den zur Verfügung gestellt. Auf die Auswertung der Vorgehen bei der Aktenanalyse Zwangsanwendungsprotokolle musste in der Fol- Die NKVF hatte folgende 13 Einrichtungen vorgege- ge verzichtet werden, da die Dokumentierung der ben, die in die Studie miteinbezogen werden sollten: Fälle diesbezüglich zu unterschiedlich und vermu- Etablissement d’exécution des peines Bellevue (NE), tungsweise oftmals unvollständig war, so dass die Etablissement pénitentiaire fermé «Curabilis» (GE), erhobenen Daten nicht aussagekräftig erschienen.
Fokus: Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern prison-info 1/2017 7 Zur Auswertung der Akten wurde ein Fragebogen mit rund 50 Variablen entwickelt sowie ein Kodier- diagnosen lagen nur in zwei Fällen vor und wurden nicht ausgewertet. «Zur Auswer- schema, in dem für alle Variablen die Beurteilungs- Die Angaben zu den psychischen Störungen tung der Akten regeln hinterlegt wurden. Die so erhobenen Daten wurden gemäss ICD-10-Codierung erhoben, was wurden in der Folge mittels Statistikprogramm für 73 der 75 Fälle möglich war. Persönlichkeits- und wurde ein Frage- SPSS ausgewertet, wobei vor allem Häufigkeiten Verhaltensstörungen (ICD-10, F60-69) (n=43; 35 %), bogen mit rund und Kreuztabellen berechnet wurden. psychische und Verhaltensstörungen durch psy- chotrope Substanzen (ICD-10, F10-19) (n=35; 29 %) 50 Variablen ent- Soziodemografische Daten Im Sample waren 72 Männer und drei Frauen ver- sowie schizophrene, schizotype und wahnhafte Störungen (ICD-10, F20-29) (n=29; 24 %) waren im wickelt» treten. Das Durchschnittsalter lag bei 39.8 Jahren. Sample am häufigsten vertreten. Weiter fanden Die jüngste Person war 21 Jahre alt; die älteste 65. sich affektive Störungen (ICD-10, F30-39) (n=7; 6 %), Drei Personen gehörten der Altersgruppe der 18 bis Intelligenzminderungen (ICD-10, F70-79) (n=5; 4 %) 24-Jährigen an, 28 Personen derjenigen der 25 bis sowie neurotische, Belastungs- und somatoforme 34-Jährigen; 21 Personen waren zwischen 35 und 44 Störungen (ICD-10, F40-48) (n=2; 2 %). Mehrfachdi- Jahre alt und 17 Personen zwischen 45 und 59 Jah- agnosen wurden hinsichtlich verschiedener Stö- ren; sechs Personen waren 60 Jahre alt oder älter. rungskategorien erfasst, nicht aber innerhalb einer Mit 28 Prozent (n=21) lag der Ausländeranteil Störungskategorie. (Personen ohne schweizerische Staatsbürgerschaft) Organische, einschliesslich symptomatischer unter den Probanden deutlich unter dem Auslän- psychischer Störungen (ICD-10, F00-F09) sowie Ver- deranteil im Justizvollzug insgesamt. Von den 21 haltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen Personen ohne schweizerische Staatsbürgerschaft und Faktoren (ICD-10, F50-F59) waren im Sample besassen neun eine Niederlassungsbewilligung nicht vorhanden. Bei den Mehrfachhauptdiagnosen und drei eine Aufenthaltsbewilligung; bei zwei (sog. Komorbidität) (39 von 75 Fällen) waren folgen- Probanden war in den Akten ein illegaler Aufent- de Kombinationen am häufigsten: bei 14 Personen halt vermerkt und für sieben Probanden fehlten bestand eine kombinierte Diagnose gemäss F1 und Angaben zum Aufenthaltsstatus und es war nur F6, bei acht Personen eine gemäss F1 und F2 sowie die ausländische Staatsangehörigkeit vermerkt. Die bei drei Personen eine gemäss F2 und F6. ausländischen Probanden wiesen mit 34.7 Jahren ein Bei der Auswertung der forensisch-psychiatri- geringeres Durchschnittsalter auf als die schweize- schen Gutachten waren deutliche Unterschiede na- rischen Probanden mit 41.7 Jahren. mentlich hinsichtlich ihres Umfanges zu erkennen. Der grösste Teil der Probanden war ledig (n=54, Es bestand dabei eine Art «Röstigraben» zwischen 72 %); 16 Probanden (21.3 %) waren geschieden; drei den Deutschschweizer Fällen mit Gutachten von in Probanden (4 %) waren verheiratet und zwei (2.7 %) verwitwet. Für 17 Probanden (23 %) war in den Ak- der Regel 30 bis 100 Seiten und den Fällen aus der Romandie, bei denen die Gutachten oftmals ledig- «Es bestand eine ten vermerkt, dass sie mindestens ein Kind haben. lich 10 bis 20 Seiten umfassten. Dieser signifikante Art Röstigraben Vor der aktuellen Inhaftierung waren acht Pro- banden (10.7 %) vollzeitlich und drei Probanden (4 %) Unterschied im Umfang der Gutachten spiegelte sich auch im Inhalt der Gutachten wider: Die Diag- zwischen den teilzeitlich erwerbstätig. Weitere fünf Probanden nosen waren in den Gutachten aus der Romandie Gutachten aus (6.7 %) gingen gelegentlich einer Erwerbstätigkeit meist deutlich weniger eingehend begründet als in nach. 37 Probanden (49.3 %) waren ohne Erwerbstä- den Deutschschweizer Gutachten. der Deutsch- tigkeit bzw. als arbeitslos gemeldet. 16 Probanden schweiz und aus (21.3 %) bezogen eine Invalidenrente. Fünf Personen Schuldfähigkeit (6.7 %) befanden sich in einer Umschulung und Des Weiteren wurde aus den forensisch-psychiat- der Romandie» eine Person (1.3 %) war in geschützter Umgebung rischen Gutachten die Schuldfähigkeit im Hinblick beschäftigt. auf jene Straftaten erhoben, die zur Anordnung der stationären Massnahme geführt hatten. Dabei Psychische Störungen wurde unterschieden, ob die Schuldfähigkeit voll- Zur Erhebung der psychischen Störungen wurden ständig aufgehoben (= Schuldunfähigkeit), einge- die forensisch-psychiatrischen Gutachten verwen- schränkt (= verminderte Schuldfähigkeit) oder un- det, auf die sich die Gerichte bei der Anordnung der eingeschränkt (= volle Schuldfähigkeit) vorhanden stationären Massnahme abgestützt hatten. Bei 39 war. Hatte eine Mehrzahl von Straftaten zur An- der 75 Probanden (52 %) liegen mehrere Hauptdiag- ordnung einer stationären Massnahme geführt, so nosen vor, wovon für 35 Personen Hauptdiagnosen wurde danach differenziert, ob die Schuldfähigkeit mit zwei Störungsbildern und für vier Personen sol- einheitlich für alle Straftaten vorhanden, einge- che mit drei Störungsbildern vermerkt sind. Neben- schränkt oder aufgehoben war, oder ob die Schuld-
8 prison-info 1/2017 Fokus: Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern «Die Probanden fähigkeit betreffend die mehreren Anlassstraftaten unterschiedlich ausgeprägt war. Bei unterschiedlich letzung (Art. 123 StGB) mit 19 Fällen, gefolgt von der vorsätzlichen Tötung (Art. 111 StGB) mit vierzehn und befanden sich ausgeprägter Schuldfähigkeit sind die Fälle einer der Drohung (Art. 180 StGB) mit zwölf Fällen. Am Sammelkategorie zugewiesen worden. vierthäufigsten waren sexuelle Handlungen mit im Durchschnitt Bei 64 Probanden (hier als 100 % definiert) wird Kindern (Art. 187 StGB) mit elf Fällen. Je zehnmal ka- seit sechs Jahren im forensisch-psychiatrischen Gutachten eine kons- men Diebstahl gemäss Art. 139 StGB und Nötigung tant ausgeprägte Schuldfähigkeit bzw. -unfähigkeit gemäss Art. 181 StGB im Sample vor. und acht Mona- hinsichtlich der Anlasstat(en) ausgewiesen. Dabei ten im Freiheits war die Schuldfähigkeit bei zwölf Probanden (19 %) vollständig aufgehoben; d.h., diese Probanden galten Strafmass Von den 75 Probanden wurden 61 (81 %) neben der entzug» für die von ihnen begangenen Anlassstraftaten als stationären Massnahme gemäss Art. 59 StGB zu schuldunfähig. Eine eingeschränkte Schuldfähig- einer Strafe verurteilt. Bei 14 Personen wurde keine keit wurde bei 38 Probanden (59 %) angenommen. Strafe ausgesprochen. Von den 61 zu einer Strafe Für 14 Probanden (22 %) war eine uneingeschränkte verurteilten Probanden wurden 60 zu einer Frei- Schuldfähigkeit angenommen worden. Bei 10 Pro- heitsstrafe verurteilt. Dabei betrug das Strafmass banden war die Schuldfähigkeit bzw. -unfähigkeit im Minimum 10 Tage; der Mittelwert lag bei 4 Jahren betreffend die mehreren Anlassstraftaten nicht und 4 Monaten; die höchste Freiheitsstrafe belief konstant ausgeprägt. sich auf 14 Jahre. 9 Probanden (15 %) wurden zu einer Bei den zwölf schuldunfähigen Probanden ist Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr verurteilt, 18 eine Diagnose aus dem schizophrenen Formenkreis Probanden (30 %) zu einer Freiheitsstrafe zwischen (ICD-10, F20-29) am verbreitetsten (83 %). Bei den 14 einem und drei Jahren sowie 13 Probanden (22 %) zu uneingeschränkt schuldfähigen Personen hingegen einer Freiheitsstrafe zwischen drei und sechs Jahren. überwiegen Persönlichkeits- und Verhaltensstörun- Bei 16 Probanden (27 %) betrug das Strafmass zwi- gen (ICD-10, F60-69) (79 %). schen fünf und zehn Jahren und bei vier Probanden (7 %) über zehn Jahre. Anlassstraftaten Bei drei Personen wurde eine Geldstrafe ausge- Als Anlassstraftaten wurden alle Straftaten erfasst, sprochen; in einem Fall wurde eine Geldstrafe als die gemäss den ausgewerteten Strafurteilen für die einzige Strafe angeordnet, in zwei Fällen zusätzlich Anordnungen der Therapiemassnahmen relevant zur Freiheitsstrafe. Bei den drei Geldstrafen fanden waren. 23 der 75 Probanden hatten verschiedene sich einmal drei Tagessätze, einmal 20 Tagessätze Straftatbestände erfüllt, die für die Anordnung der und einmal 40 Tagessätze. 23 Probanden wurden zu- Massnahme eine Rolle spielten. Insgesamt waren dem zu einer Busse verurteilt. Dabei war der tiefste im Sample 25 verschiedene Straftatbestände ver- Betrag Fr. 50. Der Durchschnitt betrug Fr. 448. Die treten. Am häufigsten war die einfache Körperver- höchste Busse lautete auf Fr. 1500. Häufigste Anlassstraftat für die Anordnung einer Therapiemassnahme war im Sample die einfache Körperverletzung. Foto: Keystone
Fokus: Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern prison-info 1/2017 9 Rückfall- bzw. Wiederverurteilung dies in der Deutschschweiz bloss in 21 Prozent der Für 37 Probanden (49 %) war die Anordnung der ak- untersuchten Fälle zu. tuellen Therapiemassnahme die erste einschlägige Verurteilung. Bei 6 Probanden (8 %) lag eine einzige Schriftliche Begründung des Anordnungsurteils einschlägige frühere Verurteilung vor. 32 Probanden Gemäss Art. 82 StPO verzichtet ein erstinstanzliches (43 %) waren früher bereits mehrmals aufgrund Gericht auf eine schriftliche Begründung der Anord- gleichartiger Straftaten verurteilt worden. nung einer Massnahme gemäss Art. 59 StGB, wenn das Urteil nicht gestützt auf Abs. 3 erfolgt ist – das Vorgeschichte Massnahmenvollzug heisst, wenn die Massnahme gemäss Art. 59 Abs. 1 Von den 75 Probanden waren 43 vor der aktuel- oder Abs. 2 StGB oder unspezifisch gemäss Art. 59 len Massnahme noch nie zu einer strafrechtlichen StGB angeordnet wird. Voraussetzung ist ferner, dass Massnahme verurteilt worden. Gegen 17 Probanden kein Rechtsmittel gegen die Anordnung ergriffen wurde früher einmal eine ambulante Behandlung worden ist bzw. keine Partei die schriftliche Begrün- (Art. 63 StGB; Art. 43 Ziff. 1 StGB a.F.) angeordnet. Bei dung verlangt hat und dass neben der Massnahme vier Probanden war in der Vergangenheit bereits keine Freiheitsstrafe von über zwei Jahren ausge- eine Massnahme gegen junge Erwachsene (Art. 61 sprochen worden ist. Bei den 52 Fällen des Samples, StGB) bzw. eine Einweisung in eine Arbeitserzie- in denen die gerichtliche Anordnung nicht gestützt hungsanstalt (Art. 100bis StGB a.F.) ausgesprochen auf Abs. 3 erfolgt ist, fanden sich zehn Fälle (19 %), worden, bei fünf Probanden eine Einweisung in eine in denen die Anordnung der Therapiemassnahme Heil- und Pflegeanstalt (Art. 43 Ziff. 1 StGB a.F.) sowie gemäss Art. 59 StGB ohne schriftliche Begründung gegen zwei Probanden eine stationäre Behandlung geblieben ist. von Trunk- und Rauschgiftsüchtigen (Art. 44 StGB a.F.). In sieben Fällen waren früher bereits einmal Bisherige Vollzugsdauer eine Verwahrung gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB Ausgehend vom Stichtag der Datenerhebung (30. a.F. und in fünf Fällen eine solche gemäss Art. 64 September 2014) wurde mittels der dokumentier- StGB angeordnet worden. ten Eintrittsdaten die bisherige Dauer des aktuellen Massnahmenvollzugs ermittelt. Dabei wurde auch Art der Anordnung die Vollzugsdauer von unmittelbar vorangehenden Bei 50 Probanden (67 %) wurde die Therapiemass- Verwahrungen gemäss Art. 64 StGB und von alt- nahme direkt gemäss Art. 59 StGB angeordnet. Bei 13 rechtlichen stationären Massnahmen miterfasst; Probanden (17 %) handelte es sich um die Umwand- ebenso der Vollzug von Massnahmen gemäss Art. 60 lung einer altrechtlichen Verwahrung gemäss Art. 42 und Art. 61 StGB, wenn diese aufgehoben und direkt oder 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB a.F. In jeweils fünf Fällen (je anschliessend eine parallel dazu ausgesprochene 7 %) lag die Umwandlung einer Freiheitsstrafe bzw. Massnahme gemäss Art. 59 StGB vollzogen wurde. einer neurechtlichen Verwahrung (beides gemäss In allen Fällen ist der vorzeitige Massnahmenvollzug Art. 65 Abs. 1 StGB) vor. In zwei Fällen (3 %) wurde ab tatsächlichem Eintritt in die Anstalt mitberück- eine ambulante Massnahme (Art. 63b Abs. 5 StGB sichtigt worden. bzw. Art. 43 Ziff. 1 StGB a.F.) umgewandelt. So berechnet, befanden sich die Probanden am Stichtag im Durchschnitt seit fünf Jahren und sie- Anordnung im Strafurteil gemäss Art. 59 Abs. 3 ben Monaten im stationären Massnahmenvollzug. StGB Die kürzeste Dauer betrug rund sieben Monate, die Von den 75 untersuchten Therapiemassnahmen ist längste knapp 20 Jahre. 39 Probanden (53 %) befan- der Vollzug in einer geschlossenen Einrichtung in 23 den sich am Stichtag seit weniger als 5 Jahren im sta- Fällen (31 %) bereits durch das Gericht im Strafur- tionären Massnahmenvollzug, 23 Probanden (31 %) teil – das heisst, explizit gestützt auf Art. 59 Abs. 3 seit fünf bis zehn Jahren, acht Probanden (11 %) seit StGB – angeordnet worden. In den übrigen 52 Fällen zehn bis 15 Jahren und 4 Probanden (5 %) seit 15 bis (69 %) lautete das Urteil des Strafgerichts unspezi- 20 Jahren. Die durchschnittliche Dauer des vorzei- fischer auf eine Massnahme gemäss Art. 59 StGB tigen Massnahmenvollzugs betrug 77 Tage. bzw. Art. 59 Abs. 1 StGB, sodass die Unterbringung Vor dem Antritt des (vorzeitigen) Massnahmen- in einer geschlossenen Einrichtung gemäss Art. 59 vollzugs befanden sich die Probanden im Durch- Abs. 3 StGB (einzig) von der Strafvollzugsbehörde schnitt während 396 Tagen in Untersuchungs- bzw. angeordnet worden ist. Zwischen der Romandie Sicherheitshaft. Die Gesamtdauer des aktuellen und der Deutschschweiz bestehen diesbezüglich Freiheitsentzugs betrug somit im Mittel sechs Jahre erhebliche Unterschiede: Während in der Roman- und acht Monate. die in 52 Prozent der Fälle die strafgerichtliche An- ordnung explizit gestützt auf Abs. 3 erfolgte, traf
10 prison-info 1/2017 Fokus: Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern «Für 92 % der Vollzugsplan Für 69 Probanden (92 %) existierte zum Erhebungs- Bei den meisten Gesprächsteilnehmenden bestand der Eindruck, dass es oftmals Insassen gebe, die län- Probanden exis- termin ein Vollzugsplan. In sechs Fällen (8 %) lag kein ger in einer geschlossenen Institution verbleiben, als Vollzugsplan vor. Für 67 Probanden konnte das Da- es aus therapeutischer Sicht notwendig wäre. Dazu tierte ein Voll- tum des aktuellen Vollzugsplans erfasst werden: Bei komme es, weil es zum einen schwierig sei, Plätze zugsplan» 36 Probanden (54 %) war der Vollzugsplan weniger in offenen Anstalten zu finden, und weil es zum als ein Jahr alt. In 15 Fällen (22 %) betrug das Alter des anderen teilweise lange dauere, bis die einweisen- Vollzugsplans zwischen einem und zwei Jahren. Bei de Behörde einer Versetzung in eine offene Anstalt vier Probanden (6 %) war der Vollzugsplan zwischen bzw. einer anderen Vollzugslockerung zustimme. zwei und drei Jahre alt. Zwölf Probanden (12 %) hat- Das Problem betreffe sowohl den Übergang von ten einen Vollzugsplan, der älter als drei Jahre war. einer geschlossenen in eine offene Einrichtung als Der älteste Vollzugsplan war über neun Jahre alt. auch den Übergang von der offenen Einrichtung in Ebenfalls für 67 Probanden konnte der Inhalt des ein Wohnexternat bzw. in eine betreute Wohnform aktuellen Vollzugsplans ausgewertet werden. Dabei nach einer bedingten Entlassung. Dadurch blie- wurden folgende Themen erhoben: Vollzugsöffnungen ben Therapieplätze in geschlossenen Institutionen (in 56 Fällen im Vollzugsplan thematisiert), Beziehun- länger belegt und die ohnehin schon bestehende «Aufgrund gen zur Aussenwelt (53), persönliche Ressourcen (52), Platzknappheit werde verschärft. Die Mehrzahl der Art der Unterbringung (50), Arbeit/Beschäftigung (42), Interviewten befürchtete, dass es aufgrund derzeit fehlender bisheriger Vollzugsverlauf (40), Behandlung/Therapie fehlender Anschlusslösungen in Zukunft verstärkt zu Anschluss (36), Kontrollen (32), Medikation (29), Bildung (23), wirt- schaftliche Wiedereingliederung (10). einem Mangel an Therapieplätzen kommen werde. Nach überwiegender Meinung der Gesprächsteil- lösungen könnte nehmenden könnte sich eine noch stärkere Zusam- Vollzugsöffnungen menarbeit zwischen den Institutionen positiv auf es verstärkt zu Im Sample befanden sich 47 Probanden (63 %), denen die Aufenthaltsdauer der Eingewiesenen auswirken. einem Mangel bereits eine oder mehrere Vollzugsöffnungen im Sin- ne von Art. 75a Abs. 2 StGB gewährt worden waren. Ungenügende Therapiebereitschaft an Therapie Bei den übrigen 28 Probanden (37 %) gab es bis zum Ein zweiter Problempunkt, der in den Expertenge- plätzen kom- Erhebungszeitpunkt noch keine Vollzugsöffnungen. Bei den 47 Probanden mit Vollzugsöffnungen sprächen häufig thematisiert wurde, war die feh- lende bzw. ungenügende Therapiebereitschaft von men» fanden sich 40 mit begleiteten Ausgängen, 16 mit Insassen bzw. deren Nichtkooperation im Vollzugs einer Versetzung in eine offene Vollzugseinrichtung, alltag. Hier sehen viele Anstalten den Ball bei den 13 mit unbegleiteten Ausgängen, zwölf mit Urlau- Gerichten bzw. bei den einweisenden Behörden. Man ben, je drei mit einer Versetzung in ein Arbeits- bzw. wünscht sich überwiegend, dass die Abklärungen Wohnexternat sowie zwei mit einer bedingten Ent- optimiert würden bzw. restriktiver entschieden wür- lassung. Bei den Versetzungen in offene Vollzugsein- de, welche Personen überhaupt in eine Massnahme richtungen und Wohn- und Arbeitsexternate sowie gemäss Art. 59 StGB eingewiesen werden bzw. bei bei den bedingten Entlassungen handelte es sich welchen Insassen die Massnahme nach fünf Jahren um widerrufene Vollzugsöffnungen, sodass sich verlängert wird. die betroffenen Probanden im Erhebungszeitraum (wieder) im geschlossenen Vollzug befanden. Sorge um genügend personelle Ressourcen Als drittes Hauptthema der Interviews ist die Sorge der Experten weisen auf drei Hauptprobleme hin Institutionen um genügend personelle Ressourcen bzw. Im Nachgang zur Aktenanalyse wurden in acht Insti- um genügend fachlich gut ausgebildetes Personal zu Angaben zur Studie tutionen (MZ Bitzi, JVA St. Johannsen, JVA S olothurn, nennen. Zwar haben die Vertreter aller Institutionen JVA Lenzburg, EP Orbe, JVA Pöschwies JVA Thor- angegeben, dass ihnen momentan noch genügend Weber Jonas/Schaub Jann/Bumann berg, Zentrum Rheinau), die von der NKVF aus- ausreichend qualifizierte Mitarbeitende zur Verfügung Corinna/Sacher Kevin: Anordnung gewählt worden waren, Expertengespräche mit stünden. Jedoch geht die Mehrheit davon aus, dass und Vollzug stationärer therapeuti- insgesamt zehn Anstaltsdirektoren und/oder Voll- aufgrund komplexer werdender Aufgaben zukünftig scher Massnahmen gemäss Art. 59 StGB mit Fokus auf geschlossene zugsverantwortlichen geführt. Bei der Auswertung eher mehr Personal erforderlich sein werde und dass Strafanstalten bzw. geschlossene der Interviews wurden drei Hauptthemenbereiche es für Massnahmeneinrichtungen immer schwieriger Massnahmeneinrichtungen. Stu- identifiziert, bei denen aus Sicht der Einrichtungen werde, fachlich gut ausgebildetes Personal zu rekru- die zuhanden der Nationalen Kom- Schwierigkeiten bzw. Optimierungsbedarf bestehen. tieren. Verschiedentlich wurde darauf hingewiesen, mission zur Verhütung von Folter dass es in der Schweiz an Ausbildungsmöglichkeiten (NKVF), Bern, 28. August 2015, zu beziehen über www.nkvf.admin. Lange im geschlossenen Massnahmenvollzug im forensisch-psychiatrischem Bereich fehle, sowohl ch oder www.krim.unibe.ch (Ab- Ein erstes Thema war die lange Verweildauer der Ein- im ärztlichen Bereich als auch im Pflege- bzw. Betreu- teilung Weber). gewiesenen im geschlossenen Massnahmenvollzug. ungsbereich.
Fokus: Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern prison-info 1/2017 11 Den Vollzug therapeutischer Massnahmen verbessern Empfehlungen der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) hat von 2013 bis 2016 acht Massnahmenvollzugseinrichtungen überprüft, die stationäre therapeutische Massnahmen nach Art. 59 Abs. 3 StGB vollziehen. In ihrem Bericht über diese Überprüfung richtet sie an die Anstaltsdirektionen und Vollzugsbehörden verschiedene Empfehlungen, die den Vollzug therapeutischer Massnahmen verbessern sollen. Im Rahmen ihrer Besuche legte die NKVF ein be- gruppe, die Arbeitsagogik und die Sicherheit einen sonderes Augenmerk auf die Bedingungen des wichtigen Stellenwert einnehmen. Wenngleich dif- Vollzugs und auf die Einhaltung verfahrensrechtli- ferenzierte Therapieformen aufgrund unterschied- cher Aspekte bei der Anwendung von freiheitsbe- licher Störungsbilder und Bedürfnisse sinnvoll sind, schränkenden Massnahmen. Bei der Überprüfung empfiehlt sie den Strafvollzugskonkordaten und den des Vollzugs dieser Massnahmen stellten sich aus Anstaltsleitungen, möglichst einheitliche konzepti- der Sicht der NKVF verschiedene Fragen, die sie zu onelle Grundlagen zu schaffen. einer schweizweiten Abklärung in diesem Bereich veranlassten. Sie beauftragte zudem das Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern mit Gruppen- und Einzeltherapie kombinieren Auch beim Therapieangebot stellte die Kommission «Das Massnah- einer Studie über die Anordnung und den Vollzug erhebliche Unterschiede fest. In den meisten Einrich- menvollzugs- stationärer therapeutischer Massnahmen gemäss Art. 59 StGB mit Fokus auf geschlossene Massnah- tungen in der Deutschschweiz lag der Schwerpunkt konzeptionell auf der Gruppentherapie mit Fokus konzept sollte meneinrichtungen bzw. geschlossene Strafanstalten auf Wohngruppe und Beschäftigung, wogegen in auf mindestens (siehe S. 4 f.). Ihr Bericht enthält namentlich folgende den Westschweizer Einrichtungen häufiger Ein- Feststellungen und Empfehlungen: zeltherapien zur Anwendung kamen und die Anzahl drei Säulen ba- Gruppentherapien eher marginal ausfiel. Die NKVF sieren» Möglichst einheitliche konzeptionelle empfiehlt eine ausgeglichene Kombination aus Grundlagen Gruppen- und Einzeltherapie sowie eine individuelle In der Regel beruhten die Massnahmenvollzugskon- Anpassung an die Bedürfnisse der Eingewiesenen. zepte auf einem milieutherapeutischen Ansatz. Die NKVF stellte jedoch beim konzeptionellen Aufbau Vollzugspläne innert dreier Monate erstellen und bei der Umsetzung erhebliche Unterschie- In den überprüften Einrichtungen beanstandete die de fest, die sich bei häufigem Institutionswechsel NKVF – von beispielhaften Ausnahmen abgesehen – negativ auf den therapeutischen Verlauf auswir- regelmässig die fehlenden Vollzugspläne. Sie ersucht ken können. Sie empfiehlt ein auf mindestens drei die Anstaltsdirektionen bzw. die Vollzugsbehörden, Säulen basierendes Massnahmenvollzugskonzept, die Vollzugspläne spätestens drei Monate nach Ein- wonach die psychiatrische Behandlung, die Wohn- tritt in Zusammenarbeit mit den Eingewiesenen zu
12 prison-info 1/2017 Fokus: Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern erstellen und regelmässig auf den neuesten Stand wurde aufgrund dieser Divergenzen deutlich, dass zu bringen. Dabei sollte ein besonderes Augenmerk sich eine Institution, je nach konzeptioneller Aus- auf der Formulierung von konkreten und nachvoll- richtung und psychiatrischem Störungsbild, mehr ziehbaren Zielsetzungen liegen. oder weniger eignet, um gewisse Therapieerfolge zu erzielen. Als problematisch erweisen sich aus Behandlung von Beginn an sicherstellen Sicht der Kommission auch die festgestellten Fehl- «Fehlplatzierun- Die NKVF traf in den besuchten Justizvollzugsein- richtungen mehrfach Personen im Massnahmen- platzierungen von Eingewiesenen, die regelmässig zu einem vorzeitigen Abbruch der Massnahme bzw. gen von Einge- vollzug an, die sich aufgrund der beschränkten zu deren stetigen Verlängerung führen. wiesenen füh- therapeutischen Möglichkeiten in einem Normal- vollzugssetting befanden oder für längere Zeit in Vollzugslockerungen sind wichtig ren regelmässig einem Untersuchungsgefängnis untergebracht wa- Als besorgniserregend bezeichnet die Kommission ren. Sie ist der Ansicht, dass solche Unterbringungen die restriktive Handhabung im Bereich der Voll- zu einem vorzei- dem gesetzmässigen Vollzug der therapeutischen zugsöffnungen, die – trotz oft positivem Therapie- tigen Abbruch Massnahme zuwiderlaufen. Sie könnten infolge der verlauf – von den Vollzugsbehörden zugunsten der daraus resultierenden zeitlichen Verzögerung der Sicherheit zunehmend abgelehnt werden. Dadurch der Massnahme therapeutischen Behandlung sogar die erfolgreiche wird eine Negativspirale in Gang gesetzt, die sich bzw. zu deren Durchführung der Massnahme beeinträchtigen. Sie empfiehlt den Vollzugsbehörden deshalb dringend, abträglich auf die Vollzugsprogression der Betroffe- nen auswirkt und bei den Eingewiesenen oftmals zu Verlängerung» auch im Rahmen eines normalen Strafvollzugsset- einer Perspektivenlosigkeit führt. Mit Blick auf die tings möglichst von Beginn an sicherzustellen, dass soziale Reintegration der Eingewiesenen betont die Personen im Massnahmenvollzug, entsprechend NKVF die Wichtigkeit der Vollzugslockerungen. (red) ihrem psychiatrischen Störungsbild, Zugang zu an- gemessener therapeutischer Behandlung erhalten. Link: Der Bericht über die schweizweite Überprü- fung der Massnahmenvollzugseinrichtungen ist Disziplinierungen formell verfügen auf der Website der Nationalen Kommission zur Die NKVF empfiehlt, Disziplinierungen stets unter Verhütung von Folter (www.nkvf.admin.ch) abrufbar. Berücksichtigung des psychiatrischen Störungsbil- des vorzunehmen, die Konsequenzen eines mögli- chen Arrestvollzugs aus therapeutischer Sicht sorg- fältig abzuwägen und sämtliche Disziplinierungen formell zu verfügen. Als problematisch erachtet die NKVF, Eingewiesene nach Zwischenfällen mit dem Personal in Sicherheitszellen, Sicherheits- oder Hochsicherheitsabteilungen unterzubringen. Eine monate- oder jahrelange Unterbringung in einer solchen Abteilung vereitelt den Massnahmenvoll- zug. Der Gefährlichkeit der Eingewiesenen sollte aus Sicht der NKVF mit therapeutischen und nicht mit sicherheitstechnischen Mitteln begegnet werden. Problematische Fehlplatzierungen Die NKVF stellte wichtige Unterschiede beim Vollzug von stationären therapeutischen Massnahmen nach Art. 59 Abs. 3 StGB fest. Diese betreffen sowohl die konzeptionelle Ausgestaltung des Massnahmenvoll- zugs in den verschiedenen Institutionen als auch die therapeutischen Schwerpunkte. Aus Sicht der NKVF
Fokus: Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern prison-info 1/2017 13 Personen im Massnahmenvollzug sollen laut NKVF auch im Rahmen eines normalen Strafvollzugssettings möglichst von Beginn an Zugang zu angemessener therapeutischer Behand- lung erhalten (Bild: JVA Solothurn) Foto: Peter Schulthess
14 prison-info 1/2017 Fokus: Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern «Wir spüren keinen Druck, wie wir zu urteilen haben» Im Gespräch mit Oberrichter Hanspeter Kiener Die Verurteilungen zu stationären therapeutischen Massnahmen nach Art. 59 StGB haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen, während Verwahrungen nur noch selten angeordnet werden. Diese Entwicklung ist namentlich darauf zurückzuführen, dass seit dem 2007 geltenden Sank- tionenrecht eine Verwahrung nur noch angeordnet wird, wenn eine 59-er Massnahme keinen Erfolg verspricht. Dass das erhöhte Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft die Urteile beeinflusst, verneint der Berner Oberrichter Hanspeter Kiener und betont: «Wir prüfen in jedem Fall sorgfältig, ob die Massnahme verhältnismässig ist». #prison-info: Welche langfristige Entwicklung lässt Die Anordnung einer stationären Therapiemass- sich bei den Verurteilungen zu Massnahmen fest- nahme muss verhältnismässig sein. Was sagen stellen? Sie zum Vorwurf, dass die Gerichte die Verhältnis- Hanspeter Kiener: Es fällt auf, dass die Massnahmen mässigkeit häufig nicht prüfen und sich darauf insgesamt seit den 1990-er Jahren aus verschiede- beschränken, das Behandlungsbedürfnis und die nen Gründen um die Hälfte bis zu zwei Drittel zu- Behandelbarkeit abzuklären? rückgegangen sind. Der starke Rückgang bei den Dies entspricht nicht meinen Erfahrungen und stationären Suchtbehandlungen ist vermutlich Beobachtungen. Die Frage, ob der Straftäter be- darauf zurückzuführen, dass die Abhängigkeit von handlungsbedürftig und behandelbar ist, muss der Suchtstoffen vermehrt ambulant oder als Nebenas- forensische Psychiater beantworten. Das ist eine pekt von anderen grösseren Störungen behandelt Tatfrage. Das Gericht muss seinerseits die Rechts- wird. Erstaunlicherweise sind auch die ambulanten frage beantworten, ob eine stationäre therapeuti- Behandlungen von Straftätern deutlich rückläufig – sche Massnahme verhältnismässig ist. Zusätzliche Hanspeter Kiener wurde 2011 ans möglichweise weil neue Angebote hinzugekommen Bedeutung erhält dieser Aspekt zum Beispiel dann, Obergericht des Kantons Bern ge- sind, zum Beispiel Ersatzstoffe wie Methadon oder wenn die Anlasstat kein schweres Delikt ist, zum wählt, wo er in der Straf- und der die kontrollierte Drogenabgabe. Beispiel «nur» eine Drohung. Wenn man bedenkt, Zivilabteilung tätig ist. In seiner täg- wie lange eine Massnahme nach Art. 59 StGB dauern lichen Arbeit befasst er sich häufig Und weshalb werden nur noch selten Verwahrun- kann, ist es nicht vorstellbar, dass ein Gericht diese mit der Beurteilung von Rechtsmit- gen angeordnet? zentrale Frage nicht sorgfältig prüft. teln gegen Entscheide erstinstanz- Gemäss dem neuen Sanktionenrecht setzt die An- licher Gerichte über die Anordnung ordnung einer Verwahrung voraus, dass eine statio- Was halten Sie von der Forderung, dass aus rechts- von stationären Massnahmen und näre therapeutische Massnahme nach Art. 59 StGB staatlichen Gründen keine unbegründeten Urteile die Verlängerung oder Nichtver- keinen Erfolg verspricht. Bei den meisten Tätern ergehen sollten? längerung von stationären Mass- nehmen die Ärzte an, dass man sie behandeln kann Das Gericht muss sein Urteil in der Regel schrift- nahmen. und eine Therapie nicht aussichtslos ist. Deshalb lich begründen. Die gesetzliche Pflicht zur schrift- haben die 59-er Massnahmen im Gegensatz zum lichen Begründung entfällt nur dann, wenn das allgemeinen Trend deutlich zugenommen. Und die- Gericht eine Freiheitsstrafe von höchstens zwei se Entwicklung hatte wiederum zur Folge, dass wir Jahren ausspricht und die Parteien keine schriftli- heute zu wenige Plätze haben und die Betroffenen che Begründung verlangen oder kein Rechtsmittel lange auf die Unterbringung in einer geeigneten gegen das Urteil ergreifen. Diese Voraussetzung Einrichtung warten müssen. dürfte aber nur in sehr wenigen Fällen gegeben
Fokus: Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern prison-info 1/2017 15 sein. Eine Kurzumfrage bei zwölf Richterkolleginnen und -kollegen der ersten Instanz im Kanton Bern bar weniger spezialisierte Gutachter gibt. Zudem ist in der Deutschschweiz der Austausch zwischen «Ich erachte ein zeigt jedenfalls, dass eine solche Konstellation nur Gerichten und forensischer Psychiatrie – etwa in schriftlich be- in einzelnen Fällen vorkam, bei denen auch seitens Form von gemeinsamer Weiterbildung – relativ gut. der Verteidigung die Anordnung einer Massnahme Man kennt die Anliegen der anderen Seite und weiss, gründetes Urteil nach Art. 59 StGB erklärtes Ziel war und gleichzeitig was man gegenseitig voneinander erwarten kann. als unabding- das Anlassdelikt nicht allzu schwer wog. Ich erachte ein schriftlich begründetes Urteil als unabdingbar, Trifft es zu, dass Verlängerungen von stationären bar» um später fundiert über eine allfällige Verlängerung Therapiemassnahmen von den Gerichten oft als der Massnahme entscheiden oder Vollzugsfragen Routinegeschäfte wahrgenommen werden und klären zu können. Verlängerungsurteile meist nur summarisch be- gründet werden? Verleiten die Voraussetzungen für die Anordnung Diese Behauptung ist nicht neu, trifft aber zumin- einer Massnahme in einer geschlossenen Einrich- dest heute sicher nicht mehr zu. Stationäre Thera- tung sowie für die Verlängerung einer Massnahme piemassnahmen werden in einem nachträglichen die Gerichte dazu, diese Bestimmungen extensiv Verfahren verlängert und gegen den Entscheid des anzuwenden? erstinstanzlichen Gerichts kann Beschwerde erho- Das Bundesgericht hat entschieden, dass die Fra- ben werden. Diese Verfahren sind sehr aufwändig, ge, ob eine Massnahme nach Art. 59 StGB im ge- namentlich weil dabei häufig Experten und die Be- schlossenen oder im offenen Rahmen vollzogen schuldigten befragt und Berichte eingeholt werden wird, eine Vollzugsfrage sei, weshalb Gerichte eine müssen. Und vor allem stellt sich die Frage der Ver- Massnahme «nach Art. 59 Abs. 3 StGB» nicht (mehr) hältnismässigkeit der Massnahme mit jeder Verlän- anordnen können. Allerdings können die Gerichte gerung immer drängender. Es kann nach meiner Er- in der schriftlichen Begründung die geschlossene fahrung und auch jener meiner dazu konsultierten Durchführung der Massnahme empfehlen. Diese Kolleginnen und Kollegen keine Rede davon sein, Möglichkeit bietet sich bei Fällen an, in denen ein dass es sich dabei um Routinegeschäfte handelt und schwerwiegendes Anlassdelikt begangen worden die Urteile lediglich summarisch begründet werden. ist und eine hohe Rückfallgefahr verbunden mit hoher Fluchtgefahr besteht und gleichzeitig die Vo- Forensische Psychiater werden oft „Richter in Weiss“ raussetzungen für eine Verwahrung nicht gegeben genannt, weil ihre Gutachten teils richterliche Ent- sind. Die Alternative ist einfach die Anordnung einer scheide vorwegnehmen. Was ist an dieser Kritik blossen Strafe, die dann zwar zeitlich klar befristet dran? ist, aber der Rückfallgefahr nicht Rechnung trägt. Die Anlass zu einem Gutachten bildet der Umstand, dass Anordnung einer 59-er Massnahme ist auf alle Fälle dem Gericht in einem wichtigen Bereich ausserhalb «Die forensi- ein schwerwiegender Entscheid und hat erhebliche Kosten zur Folge. Das Gericht klärt deshalb gründlich des Rechts das nötige Fachwissen fehlt. Wir wissen zum Beispiel nicht, ob der Täter psychisch schwer schen Psychiater ab, ob sich diese Massnahme lohnt. gestört ist oder ob bei ihm allenfalls nur eine ak- sind Gehilfen des zentuierte Persönlichkeit vorliegt. Die forensischen Die Rückfallgefahr wird in der Deutschschweiz in Psychiater sind Gehilfen des Gerichts, das heisst Gerichts; sie hel- den meisten Urteilen quantifiziert, in der Roman- sie helfen mit ihren Gutachten, diese Fachfragen fen, Fachfragen die hingegen nur sehr selten. Wie wichtig ist die- zu beantworten. Würde das Gericht diese Fragen se Quantifizierung und worauf führen Sie diesen selber beantworten, würde das Urteil kassiert, weil zu beantworten» Unterschied zurück? sich das Gericht Wissen anmassen würde, das es Das Urteil muss sich näher dazu äussern, wie hoch gar nicht hat. Die Experten haben die Aufgabe, das oder gering die Rückfallgefahr ist. Der forensische Fachwissen darzulegen, das heisst die Tatfragen zu Psychiater muss abklären, ob aufgrund der Krank- beantworten. Aber die Entscheide zu treffen, mithin heit weitere Straftaten und, wenn ja, welche zu die Rechtsfragen zu beantworten, ist Aufgabe des erwarten sind. Das Gericht wird gestützt auf diese Gerichts. Dies gilt es sauber auseinander zu halten. Abklärungen und unter Beachtung des Verhältnis- mässigkeitsprinzips entscheiden, ob eine stationäre Aber spurt das Fachwissen den richterlichen Ent- Massnahme angeordnet oder – wenn sie schon län- scheid nicht gewissermassen vor? gere Zeit gedauert hat – der Täter bedingt entlassen Die Erarbeitung der sachlichen Grundlagen ist na- oder weiterhin stationär untergebracht werden soll. türlich wichtig. Das Gutachten ist ein wichtiges Es ist essenziell, dass das Risko quantifiziert wird. Der Beweismittel. Diese Faktenbasis beeinflusst natür- Unterschied zwischen den Landesgegenden könnte lich den Entscheid des Gerichts. Denn über vollstän- sich damit erklären, dass es in der Romandie offen- dige und nachvollziehbare Gutachten, kann sich
16 prison-info 1/2017 Fokus: Stationäre Behandlung von psychisch gestörten Straftätern «Nach meiner das Gericht nicht hinwegsetzen, sonst würde sein Entscheid kassiert. Wenn das Gutachten feststellt, Wie können sich Richter und Richterinnen über- haupt das erforderliche Fachwissen aneignen, um Erfahrung hüten der Täter habe Todesfantasien und sei zudem hoch dem Gutachter kritische Fragen zu stellen? rückfallgefährdet, und aus diesem Grund eine stati- Dank gezielter Weiterbildung und verschiedenen sich die forensi- onäre Massnahme empfiehlt, muss das Gericht dies Hilfsmitteln wie etwa Checklisten, sind wir viel wei- schen Psychia- berücksichtigen. Es darf sich zum Beispiel nicht auf ter als vor zwanzig Jahren. Früher hat man einfach den «netten» Eindruck, den der Täter bei der Ver- zugehört, was der Herr Doktor gesagt hat – und ter, sich aus dem handlung hinterlassen hat, stützen. Erachtet das kritische Einwände unterlassen. Aber man kann in Fenster zu leh- Gericht aber das Gutachten als mangelhaft, darf es nicht darauf abstellen. Die Verantwortung für dieser Beziehung sicher noch mehr machen. nen» die Würdigung des Gutachtens und damit für die Wie oft kommt es vor, dass das Gericht im Zweifels- Beurteilung, ob dessen Schlussfolgerungen plau- fall ein weiteres Gutachten anordnet? sibel, vollständig und nachvollziehbar sind, liegt Wenn ein Gutachten vollständig, widerspruchsfrei beim Gericht. und nachvollziehbar erscheint, kann das Gericht all- fällige Unklarheiten durch Nachfragen ausräumen. Viele Gutachten beschränken sich nicht darauf, die Deshalb ist es auch wichtig, dass die Psychiater an Persönlichkeit des Täters zu berurteilen, sondern den Verhandlungen anwesend sind und die erfor- empfehlen überdies, welche Massnahme das Ge- derlichen Erläuterungen geben können. Obergut- richt anordnen soll. Neigen die forensischen Psy- achten holen wir nur selten ein, wenn zum Beispiel chiater dazu, ihre Kompetenzen zu überschreiten? ein Gutachten widersprüchlich ist. Eine Rolle spielt Wenn ein Experte seine Meinung zu einer Krankheit auch der Zeitfaktor, denn die Erstellung eines neu- oder Störung sagen muss, dann muss er sich auch en Gutachtens kann gut und gerne vier bis acht über die Art der Behandlung äussern. Dies schliesst Monate dauern. nicht nur die Medikation, sondern auch den Ort der Behandlung ein. Ich erwarte einen entsprechenden Inwieweit beeinflusst das erhöhte Sicherheitsbe- Vorschlag des Psychiaters. Nach meiner Erfahrung dürfnis der Gesellschaft die Urteile? hüten sich die Psychiater, sich aus dem Fenster zu Das erhöhte Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft lehnen und zum Beispiel zwingend eine 59-er Mass- beeinflusst unsere Urteile aus meiner Sicht nicht. nahme in einem geschlossenen Setting zu empfeh- Die Befürchtung vor einem Denkzettel bei der Wie- len. Sie sind da eher zurückhaltend. Und zur Frage derwahl oder gar vor einer Abwahl ist bei mir und der Verhältnismässigkeit äussern sie sich überhaupt meinen Kolleginnen und Kollegen am Obergericht «Wir prüfen nicht. Das sollen sie auch nicht, denn dabei handelt nicht im Ansatz vorhanden. Wir prüfen jeden Fall es sich um eine Rechtsfrage, deren Beantwortung einzeln und unvoreingenommen. Wir spüren dabei jeden Fall einzeln dem Gericht vorbehalten ist. keinen gesellschaftlichen oder politischen Druck, und unvoreinge- wie wir zu urteilen haben. Im Übrigen beeinflusst Was halten Sie von der Forderung, Psychiater sollten auch der parteipolitische Hintergrund unsere Ur- nommen» ihre Gutachten häufiger vor Gericht begründen? teile nicht. Problematisch erachte ich hingegen Die Forderung tönt gut, ist aber nicht gänzlich um- überschiessende Reaktionen im Vollzug, wenn etwa setzbar und wenig praktikabel. Es wäre aufgrund der nach einem Vorfall während eines Urlaubs die Voll- praktischen Schwierigkeiten bei der Protokollierung zugslockerungen für alle anderen Straftäter eben- nicht möglich, eine Gesamteinschätzung vor Gericht falls gestrichen werden. Dies hat für die Betroffenen abzugeben. Der Experte würde seine eigenen Wor- zur Folge, dass sie trotz Fortschritten in der Thera- te nicht mehr erkennen. Sinnvoller ist es, dass der pie nicht ihre Ungefährlichkeit beweisen können Psychiater sein Gutachten vorab schriftlich erstattet, und deshalb statt mit einer bedingten Entlassung dann aber zusätzlich an die Verhandlung kommt, mit einer Verlängerung der Massnahme rechnen um sein schriftliches Gutachten zu erläutern und müssen. (gal) Ergänzungsfragen zu beantworten, was sich in die- sem beschränkten Rahmen auch protokollieren lässt. Der Experte gehört vor Gericht, weil er mit seinem Fachwissen den Teppich für das Urteil massgeblich vorbereiten kann. Das Gericht ist seinerseits gefor- dert, dem Gutachter auch kritische Fragen zu stellen.
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