RALF OTHENGRAFEN - KREIS GÜTERSLOH

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RALF OTHENGRAFEN - KREIS GÜTERSLOH
Ralf Othengrafen
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Aspirin-Pulver-
verpackung
um 1912. Die
Ärzte verschrieben
häufig Aspirin
gegen die
Symptome der
Spanischen
Grippe. (Bayer
AG, Bayer Archives
Leverkusen)
RALF OTHENGRAFEN - KREIS GÜTERSLOH
Kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges                                                             zum Verdruss der spanischen Regierung,
trifft eine Grippe-Pandemie die Welt,         „In dem Land der Pyrenäen                          die sich erfolglos gegen diese Bezeichnung
deren Opfer die des Ersten Weltkrieges                                                           zur Wehr zu setzen versucht.3)
noch übersteigen wird. Genaue Zahlen           möge sie begraben sein“
sind nicht bekannt, die Schätzungen                                                              Auch die Spanische Grippe tritt – wie bei
schwanken zwischen 20 und 100 Millio-                                                            Grippe-Pandemien üblich – in mehreren
nen Verstorbenen, also bis zu 5 % der                                                            Wellen auf. Die erste trifft im Frühjahr und
Weltbevölkerung. Die Pandemie wird          sur unterliegen, können die Zeitungen                Frühsommer 1918 auf Europa. Sie verläuft
mit ihren Nachbeben bis 1920 wüten          im neutralen Spanien frei über die Pan-              noch relativ milde, verbunden mit einer
und dann an Wucht verlieren. In Europa      demie in ihrem Land berichten. Und so                geringen Sterblichkeit. Die zweite Welle
fallen 2 ½ Millionen vorwiegend jün-        wird bald weltweit nur noch von der „Spa-            erreicht Europa dann im Spätsommer und
gere Menschen der Spanischen Grippe         nischen Krankheit“ gesprochen, wenn die              Herbst. Sie verliert erst im November an
zum Opfer. „Keine Seuche in der aufge-      neue Grippe-Pandemie gemeint ist. Sehr               Wucht und ist durch eine hohe Mortalität
zeichneten Geschichte hat je in so kur-
zer Zeit so viele Menschenleben ver-
nichtet“.1) Oder drastischer ausgedrückt:
„Die Spanische Grippe bedeutete die
größte Vernichtungswelle seit dem
Schwarzen Tod im Mittelalter, ja viel-
leicht sogar die größte in der Mensch-
heitsgeschichte.“ 2)

Die Ursprünge des Virus sind unklar,
Kansas in den USA, Zentralchina oder
Nordfrankreich werden als mögliche
Ursprungsorte in der wissenschaftlichen
Literatur genannt. Spanien kommt hier-
für höchstwahrscheinlich nicht in Frage.
Während jedoch in vielen kriegsbeteilig-                    Lazarett mit Grippe-Kranken in der Schweiz im Jahr 1918. Ähnlich dürfte
ten Ländern Pressemeldungen der Zen-                        es während der Hochphase der Pandemie auch in den heimischen
                                                            Krankenhäusern ausgesehen haben. (picture alliance / akg-images)
                                                                                                                                                3
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gekennzeichnet. Eine dritte Welle folgt
    Anfang 1919. Auch sie ist mit einer hohen
                                                 
                                                     Und die Menschen starben
    Sterblichkeit verbunden.4)
                                                           Schriftsteller Hanns Werner Ewers

    Schon den Zeitgenossen fällt auf, dass
    nicht nur Ältere und Kinder, sondern
    vielfach auch Erwachsene zwischen 15
    und 40 Jahren zu den Opfern der Spa-         weise ist, verdeutlicht ein Zeitzeugen-
    nischen Grippe gehören.5) Es sind gerade     bericht. Der deutsche Schriftsteller Hanns
    die Kräftigen und Wohlgenährten, die be-     Heinz Ewers hat seine drastischen Ein-
    troffen sind, nicht die schon Geschwäch-     drücke in einem Erzählband festgehalten:
    ten und Hungernden. In der während des       „In diesem Spätsommer des letzten Kriegs-
    Ersten Weltkrieges neutralen und gut ver-    jahres zog eine Seuche über den Konti-
    sorgten Schweiz ist die Mortalität deut-     nent, die die Leute die spanische Influenza
    lich höher als im von Krieg und Embargo      nannten. Es sei nur eine Grippe, sagten
    der Entente schwer gezeichneten Deut-        die Zeitungen, freilich eine recht gefähr-
    schen Reich. Es ist bis heute nicht end-     liche. Viele Leichen wurden blauschwarz –
    gültig geklärt, „warum die ‘Spanierin’ ge-   davon schrieben die Zeitungen nichts.
    rade die Kräftigsten in der Blüte ihrer      Aber jeder wußte es. Und die Menschen
    Jugend aus dem Leben reißt, während          starben.“ 7)
    die Alten, Welken und Siechen dem Tod
    entgehen.“ 6)                                Die Suche nach Quellen zur Spanischen
                                                 Grippe im Kreis Gütersloh gestaltet sich
    Wie dramatisch die Situation während         schwierig und aufwendig. Amtliche Un-
    des Höhepunktes der Spanischen Grippe        terlagen, Zeitungsberichte, Todesanzei-
    im Spätsommer und Herbst 1918 teil-          gen, Einträge in Schulchroniken und
                                                 einige wenige autobiographische Quellen
                                                 zeichnen aber schließlich ein Gesamtbild
    ←                                            der Ereignisse jener Zeit. Sie erlauben
    Insbesondere im Herbst 1918 sind             Einblicke in das Leiden der Opfer und ihrer
    die Zeitungen voll von Todesanzeigen
    für die Opfer der Spanischen Grippe.
                                                 Hinterbliebenen, in das behördliche Wir-
    (Gütersloher Tageblatt vom 14.10.1918)       ken, aber auch generell in den Umgang
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Eines der frühen Opfer der Spanischen Grippe
                                                                          war der 23jährige Gütersloher August Varnholt.
                                                                          Er starb im Evangelischen Krankhaus von
                                                                          Gütersloh. (Kreisarchiv Gütersloh)

                                                                                                Keimten fern im schönen Süd
                                                                                                Wo die „Mandeln“ dicker werden
                                                                                                Und die „Rübe“ plötzlich glüht.

                                                                                                Vor der Stirn dröhnt eine Pauke
                                                                                                An den Schläfen brummt ein Brett,
                                                                                                Einsam zieh ich mit der Mause
                                                                                                Unters schatt’ge Oberbett.
                                                                                                So verbringt man schöne Stunden,
                                                                                                Weil der Weltgeist niemals ruht;
                                                                                                Immer Neues wird erfunden,
der Menschen in der ersten Hälfte des       Die Zeitungen meldeten, dass es sich                Epidemisch und akut.
20. Jahrhunderts mit Seuchen und Krank-     um eine „Influenzaepidemie handle, wie
heiten.                                     sie in den Jahren 1889 und 1893 ganz                Steht die Menschheit auf der Kippe,
                                            Europa überzogen habe. Ein wirkliches               Während sie der Wirrwarr quält. –
Erste Welle                                 Vorbeugemittel gegen die Krankheit                  Eine neue Form der Grippe
Im Frühjahr und Sommer 1918 verbreite-      gebe es nicht.“ Sie verlaufe aber harmlos.9)        Hat uns bloß bis jetzt gefehlt.
te sich die erste Welle der Spanischen      Auch in Gedichten wurde auf den unge-               Immerhin! Nach kurzen Wehen
Grippe in Europa und Deutschland. Die       fährlichen Charakter der „Spanischen                Stellt sie ihre Wirkung ein –
hiesigen Zeitungen berichteten in kleine-   Krankheit“ hingewiesen:                             In dem Land der Pyrenäen
ren Artikeln ab Anfang Juli von der Aus-    Die neue Grippe                                     Möge sie begraben sein.10)
breitung der neuen Krankheit. Es waren      Ach, wir konnten sie nicht ahnien,
zunächst Mitteilungen über die Verbrei-     Und kein Arzt hat sie gekannt –                     Schnell verbreitete sich die neue Pandemie
tung in Süddeutschland und Berlin, ge-      Fern im Süd das schöne Spanien,                     aber auch im Kreis Gütersloh. Bereits am
folgt von Meldungen über Grippeaus-         Spanien ist ihr Heimatland.                         5. Juli wurde von zahlreichen Erkrankten
brüche in Paderborn und Dortmund.8)         Diese fiebrigen Beschwerden                         berichtet. Das Gütersloher Tageblatt be-
                                                                                                                                             5
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Im Offiziersgefangenenlager
                 schrieb detailliert die Symptome, die in     Ebenfalls während seines Heimatur-           grassierte offenbar schon
                                                                                                           früh die Spanische Grippe.
                 der Regel sehr plötzlich auftraten: Schüt-   laubes verstarb der 23jährige Gütersloher    (Kreisarchiv Gütersloh)
                 telfrost, Fieber, Kopfschmerzen, Rücken-     August Varnholt, Schütze einer Maschinen-
                 und Gliederschmerzen. Als Komplikationen     gewehr-Kompagnie, im Evangelischen
                 konnten Lungenentzündungen oder Er-          Krankenhaus. Er erkrankte „bald an Lun-
                 krankungen der Verdauungsorgane und          genentzündung, die jetzt seinen Tod
                 des Nervensystems hinzutreten. Zur           herbeiführte“.13)
                 Bekämpfung der Krankheit empfahl die
                 Zeitung „Wärme durch Bettruhe und vor-       Nur auf der Durchreise durch Gütersloh
                 sichtige Diät.“ Insbesondere auf eine aus-   befand sich eigentlich der Gefreite Walter
                 reichende Erholungszeit sollte geachtet      Laabs. Er beabsichtigte, während seines
                 werden. Eine Immunität nach überstan-        Heimaturlaubes zu seiner Familie in Par-
                 dener Krankheit gebe es nicht.11)            part in Pommern zu fahren. Er sollte sein
                                                              Ziel jedoch nicht mehr erreichen. Wegen
                                                              plötzlich auftretender Krankheitssymp-
    Wärme durch Bettruhe                                      tome musste er die Fahrt in Gütersloh un-
                                                              terbrechen und starb im Elisabeth-Hospital
    und
    
        vorsichtige Diät                                      an den Folgen von „Influenza und Herz-
    Empfehlungen zur Behandlung der Grippe
                                                              schwäche“ im Alter von 22 Jahren.14)

                                                              In Arensburg auf der Insel Ösel (heute
                                                              Estland) war der Musketier Willy Krüm-
                                                              pelmann aus Gütersloh stationiert. Hier
                 Doch auch wenn die erste Welle der           erkrankte er an der Spanischen Grippe
                 Spanischen Grippe für die meisten Be-        und starb im Juli 1918 an „schwerer Lun-
                 troffenen harmlos verlief, so waren          genentzündung“.15) Bei einer Eisenbahn-
                 schon jetzt die ersten Todesopfer zu be-     Betriebs-Kompagnie in Rumänien stand
                 klagen. So starb etwa im Alter von           der Eisenbahnschaffner Friedrich Droop
                 27 Jahren der Unteroffizier Karl Plaß-       aus Gütersloh im Dienst. Er wurde „vor
                 mann aus Isselhorst, der in Rumänien         Kurzem in dienstlicher Angelegenheit
                 stationiert war, während seines Heimat-      nach der Westfront entsandt [..], ist dort
                 urlaubes an einer „Lungenentzündung“.12)     von der spanischen Krankheit befallen
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RALF OTHENGRAFEN - KREIS GÜTERSLOH
und nach 2 Tagen gestorben. Neben den
Eltern und den Geschwistern ist beson-
ders die Gattin mit ihren fünf Kindern
durch den unerwarteten Todesfall schwer
betroffen. Ehre dem Andenken des im
Dienst für das Vaterland in der Heimat
und im Feindesland bewährten Beam-
ten!“ 16) Am 8. Juli 1918 starb der 48jährige
Landsturmmann Johannes Ruthotto aus
Wiedenbrück. Er war Angehöriger des
Wachpersonals für das Gütersloher Offi-
ziers-Gefangenenlager gewesen. Er litt
schon einige Tage an der Spanischen
Grippe, bevor er „bereits im bewußtlosen
Zustande“ in das Elisabeth-Hospital ver-
bracht wurde, wo er verstarb.17)

Bei den meisten der hier Genannten han-
delte es sich um Soldaten, die an der
Front kämpften, in der Etappe eingesetzt
waren oder aber – wie der Landsturmmann
Johannes Ruthotto – in Kontakt mit Kriegs-
gefangenen standen. Ein Hinweis darauf,
dass der Virus zuerst die Soldaten er-
reicht hat.18) Aber auch Einheimische wa-
ren schnell unter den Opfern der Spa-
nischen Grippe zu finden. Ebenfalls noch
im Juli verstarb der Gütersloher Josef
Lintel nach „5tägiger schwerer Lungen-
entzündung“ im Kruppschen Lazarett. Er
hatte in den Kruppschen Werken in Essen
gearbeitet.19) Und es mehrten sich nunmehr
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RALF OTHENGRAFEN - KREIS GÜTERSLOH
Zeitweise waren in den Apotheken auch einige Medikamente knapp.
       Hier die Morsey’sche Apotheke in Wiedenbrück. (Slg. Michael Bleisch)                              ↑ Johannes Niemann war von 1914 bis 1931 Pastor
                                                                                                         in Gütersloh. Er hielt die Trauerrede unter anderem
                                                                                                         für den an der Spanischen Grippe verstorbenen Land-
    auch Sterbeanzeigen von jungen Frauen,                 gen sein.“ Der Apothekerverein räumte         sturmmann Karl Kramer. (Stadtarchiv Gütersloh)
    die „nach kurzer schwerer Krankheit“ ver-              zwar ein, dass ein kriegsbedingter Mangel
    storben sind – ein Hinweis, dass auch sie              an pharmazeutisch geschultem Fachper-
    Opfer der Spanischen Grippe wurden.20)                 sonal und eine Knappheit bei einigen          einzelte Todesfälle 22), insgesamt fand die
                                                           Medikamenten aus „volkswirtschaftlichen       Spanische Grippe aber nur noch wenig
    Im August 1918 kamen Gerüchte auf, dass                Gründen“ bestände. Der gesteigerte            Beachtung in der Bevölkerung. Der Kriegs-
    in den Apotheken Medikamente zur Be-                   Arzneimittelbedarf der letzten Wochen         verlauf, die Sorge um die Angehörigen an
    handlung von Lungenentzündungen fehl-                  könne jedoch voll gedeckt werden.21)          der Front, aber auch die schwierige Versor-
    ten. Dem trat der Apothekerverein ener-                                                              gungslage waren drängendere Probleme.
    gisch entgegen: „Die Gerüchte entbehren                Zweite Welle                                  Anfang Oktober mehrten sich dann jedoch
    jeder tatsächlichen Grundlage und können               Im August ebbte die erste Welle der Grippe-   wieder die beunruhigenden Nachrichten
    nur von Nichtsachverständigen ausgegan-                Pandemie etwas ab. Es gab zwar noch ver-      zur Spanischen Grippe. Die Zeitungen be-
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RALF OTHENGRAFEN - KREIS GÜTERSLOH
richteten über erneute Grippeausbrüche     auf dem hiesigen Friedhofe beigesetzt     Treue bis zum Tode hervorhebend. Einer
in verschiedenen Städten. Es mehrten       worden. Vom Elternhause bewegte sich      der Kameraden legte einen Kranz an der
sich nunmehr auch wieder die Sterbe-       mit dem Posaunenchor des Jünglings-       Gruft nieder, dabei bekennend, einen wie
anzeigen und Berichte über Beerdigun-      vereins an der Spitze ein Trauerzug, in   guten Kameraden sie in dem Verstorbe-
gen im hiesigen Gebiet. Es fanden sich     welchem eine Abordnung des Truppen-       nen verloren. Die große Zahl der Kranz-
immer mehr Kinder unter den Todes-         teils, welchem der Verstorbene ange-      spenden zeugt davon, welcher Beliebtheit
opfern.23) Aber auch immer mehr Men-       hört, Abordnungen des hiesigen Batail-    Karl Kramer sich erfreute. Möge ihm die
schen im „besten Alter“ waren darunter.    lons und der militärischen Vereine mit    Erde leicht sein.“ 24) Der Besuch von er-
So ist beispielsweise „unter zahlreicher   Fahne sichtbar waren.                     krankten und das Abschiednehmen von
Beteiligung und mit militärischen Ehren                                              verstorbenen Angehörigen barg ein hohes
[…] die irdische Hülle des in Ludwigs-     In tiefempfundenen ehrenden Worten
hafen an Lungenentzündung gestorbe-        gedachte am Grabe Herr Pastor Niemann
nen Landsturmmannes Karl Kramer            des Heimgegangenen, besonders dessen
                                                                                                         An seiner Bahre trauern
                                                                                     
                                                                                                     der Vater und 5 Geschwister
                                                                                                                            Totenzettel Peter Vollmer

                                                                                     Ansteckungspotenzial. Peter Vollmer
                                                                                     musste dies leidvoll erfahren. Er besuch-
                                                                                     te seine schwer an der Spanischen Grippe
                                                                                     erkrankte Mutter Maria Vollmer kurz vor
                                                                                     ihrem Tod am 24. September 1918. Nach
                                                                                     dem Krankenbesuch kehrte er von Neuen-
                                                                                     kirchen nach Erwitte zurück, wo er als
                                                                                     Verwaltungsassistent arbeitete. Er hatte

                                                                                     ←
                                                                                     Die Spanische Grippe beeinträchtigte
                                                                                     auch die Arbeit des Gütersloher
                                                                                     Postamtes. (Stadtarchiv Gütersloh)
                                                                                                                                                        9
RALF OTHENGRAFEN - KREIS GÜTERSLOH
Die zur Zeit herrschende schwere Krankheit hat
                                                                        
                                                                                     uns zwei treue Mitarbeiter schnell entrissen
                                                                                                        Sterbeanzeige der Firma Güth & Wolf

                                                                        nur noch schwer möglich war. „Die an                otte und den Heizer Wilhelm Meinders.
                                                                        das diesige Fernsprechnetz angeschlos-              Mehr als 25 bezw. 14 Jahre haben Pack-
                                                                        senen Teilnehmer“ wurden daher ersucht,             meister Strothotte und Heizer Meinders
                                                                        „die Benutzung der Einrichtung bis auf              uns treue Mitarbeit geleistet und waren
                                                                        dringende Fälle zu beschränken, da                  auf das engste mit unserem Betrieb wie
                                                                        sonst die Befürchtung einer vollständi-             auch durch ihre aufrichtige, stets freund-
↑ Sterbeanzeige der Gütersloher Firma Güth & Wolf für ihre Mitabeiter
                                                                        gen Schließung des Fernsprechamtes                  liche Gesinnung mit uns allen persönlich
Heinrich Strothotte und Wilhelm Meinders. (Gütersloher Tageblatt vom    naheliegt“.26) Sämtliche Verwaltungen               verbunden. Wir bedauern tief den schwe-
9.11.1918)                                                              und Wirtschaftsbetriebe waren nunmehr               ren Verlust und werden den Geschiedenen
                                                                        von der Grippe-Pandemie betroffen, es               ein treues Andenken bewahren.“ 28)
                     es sich nicht nehmen lassen, seiner Mut-           wurden von bis zu 200 Erkrankten in
                     ter nahe zu kommen. So infizierte er sich          einem einzigen Betrieb berichtet.27)                Auch der Kreis Halle war stark von der
                     ebenfalls an der „tückischen Krankheit“.                                                               Grippe betroffen. Insbesondere die Ge-
                     Er starb 12 Tage nach seiner Mutter am             Immer häufiger mussten auch Betriebe                meinden Theenhausen und Berghausen,
                     6. Oktober 1918 im Krankenhaus Erwitte.            den Tod von Mitarbeitern betrauern, die             aber auch die Stadt Halle litten unter ho-
                     „An seiner Bahre trauern der Vater und             nicht mehr nur an der Front gefallen,               hen Erkranktenzahlen und vielen Todes-
                     5 Geschwister“. 25)                                sondern auch an der Spanischen Grippe               fällen.29) Alleine in Werther starben An-
                                                                        gestorben waren. Die Gütersloher Firma              fang November täglich fünf bis sechs
                     Auch im Alltag machte sich die Spanische           Güth & Wolf beklagte etwa Anfang Novem-             Menschen. Das Haller Kreisblatt berich-
                     Grippe nun bemerkbar. Im Gütersloher               ber 1918 den Tod gleich zweier Arbeiter:            tete von einem besonders tragischen
                     Postamt erkrankten derartig viele Mitar-           „Die zur Zeit herrschende schwere Krank-            Fall aus Werther. Dem Frontsoldaten
                     beiterinnen und Mitarbeiter, dass eine Auf-        heit hat uns zwei treue Mitarbeiter schnell         Ruwwe wurde nach dem Grippetod seiner
                     rechterhaltung des Fernsprechdienstes              entrissen, den Packmeister Heinrich Stroth-         14jährigen Tochter Urlaub gewährt. Doch
  10
Dr. Matthias Schmitz war von 1905 bis 1943
                                                                                 Pfarrer in Versmold. Er berichtete eindrücklich
                                                                                 über die Folgen der Spanischen Grippe in
                                                                                 Versmold. (Entnommen: 900 Jahre kirchliches
                                                                                 Leben in Versmold, S. 91)

                                                                                                                                              ←
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                                                                                                                                              August Böckstiegel
                                                                                                                                              aus Werther machte
                                                                                                                                              sich aus der fernen
                                                                                                                                              Ukraine Sorgen
                                                                                                                                              um seine Lieben
                                                                                                                                              in der Heimat und
                                                                                                                                              berichtete über
                                                                                                                                              den Ausbruch
                                                                                                                                              der Spanischen
                                                                                                                                              Grippe in seiner
                                                                                                                                              Einheit. (Kreis-
                                                                                                                                              archiv Gütersloh)

als er zuhause ankam, war auch seine         Pfarrer Dr. Matthias Schmitz aus Vers-
Frau bereits an der Spanischen Grippe        mold erinnerte sich an diese insbeson-
gestorben.30) Ein weiterer tragischer Fall   dere auch für Geistliche so herausfor-
ereignete sich in Loxten. Binnen weniger     dernden Zeiten und berichtete eindrück-
Tage starben der Schmiedemeister Tem-        lich über den anstrengenden Begräbnis-
me, seine Frau und der 29jährige Sohn.       tag des 9. Novembers: „Besonders er-               sames Grab gesenkt wurden. Da blieb
Eine Tochter war zu diesem Zeitpunkt         greifend war es, als die vier Särge hinter-        kein Auge trocken. [...] An demselben Tage
ebenfalls erkrankt, „es besteht aber bei     einander der Sitte entsprechend um das             bettete ich noch 4 weitere Leichen zur
ihr die Hoffnung auf Genesung.“ 31) Doch     Kreuz des Friedhofs getragen wurden                Ruhe des Grabes: Eine junge Frau von
vergeblich. Auch sie starb und alle vier     und wie ein Kranz das Kreuz dessen um-             30 Jahren, eine Kolonenfrau [Bauersfrau]
wurden gemeinsam „unter Teilnahme            gab, der für Tote Leben hat. Unauslösch-           mit ihrer Tochter, ebenfalls in ein gemein-
einer großen tiefergriffenen Trauerver-      lich bleibt auch eingeprägt der Augen-             sames Grab, und endlich einen müden
sammlung“ beerdigt.32)                       blick, als die vier Särge in ein gemein-           Pilger von 73 Jahren. Inzwischen war es
                                                                                                                                                          11
Abend geworden. Nasse Nebel lagerten
                  auf der weiten Ebene. Körperlich und
                  seelisch müde kam ich im Pfarrhause
                  an. Dort traf mich die Kunde, die von
                  Deutschlands Untergang sprach.“ 33) In
                  Versmold starben zudem noch kurz
                  nacheinander die Fleischwarenfabri-
                  kanten Gustav und Willy Menzefricke
                  an der Spanischen Grippe. Die Segel-
                  tuchweberei C.W. Delius verlor drei Mit-
                  arbeiter innerhalb nur einer Woche.34)

     Besonders wird die
     Jugend vom 16. bis 20.
     Lebensjahr
     
                dahingerafft                                                                                            Schülerinnen des Gütersloher Lyzeums,
                                                                                                                        das schon zu Beginn der Pandemie stark
     Schulrektor Christian Frederking                                                                                   betroffen war. (Stadtarchiv Gütersloh)

                                                              jahr dahingerafft“, schreibt Frederking.      schont hat. Es muß doch traurig sein die-
                  Auch der Haller Schulrektor Christian       Er führt die „Seuche“ auf die Unterernäh-     sen Verlust an jungen Leben.“ 36) Im Au-
                  Frederking war ein Zeuge der Auswir-        rung und das nasskalte Wetter des Som-        gust 1918 war bereits fast seine gesamte
                  kungen der Spanischen Grippe und be-        mers und Herbstes zurück.35) Der Maler        Einheit an der Spanischen Grippe erkrankt.
                  richtete, dass an der Höheren Schule Ende   Peter August Böckstiegel beobachtete          Böckstiegel blieb als einer der ganz weni-
                  Oktober knapp ⅓ der Schülerinnen und        die Entwicklungen im Kreis Gütersloh aus      gen verschont und musste nun die anfal-
                  Schüler krank in der Schule fehlten. Die    der Ferne. Er war zu dieser Zeit als Soldat   lenden Arbeiten wie Pferdeputzen, Kar-
                  Volksschule in Halle musste für acht        in der Ukraine stationiert und sorgte sich    toffelschälen und Holzmachen überneh-
                  Tage komplett schließen. „Die Zeitungen     um seine Verlobte Hanna Müller in Dres-       men. „Werde so richtig als Hausvater
                  stehen voll Todesanzeigen; besonders        den und seine Eltern in Arrode: „Hanna        ausgebildet“, kommentierte er süffisant
                  wird die Jugend vom 16. bis 20. Lebens-     ich hoffe, daß die Grippe Euch alle ver-      gegenüber seiner Verlobten.37) Die Krank-
12
← ↑ Der Lehrer Joseph Hesse, der an der
                                                                                                             Volksschule Neuenkirchen unterrichtete,
                                                                                                             gehörte zu den Opfern der Spanischen
                                                                                                             Grippe. (Stadtarchiv Rietberg; Wieden-
heit nahm in seiner Einheit einen glimpf-   sehen und deshalb das Schließen der                              brücker Zeitung vom 25.9.1918)

lichen Verlauf, Anfang September war        Schulen vermieden“ wird.40) Doch in an-
„alles ohne Verluste vorbei“.38)            deren Städten – in Köln, Dortmund und      gelehrt, daß die Kinder, die nicht oder nur
                                            Bielefeld – sah man schon im Oktober       leicht erkrankt sind, sich doch nicht zu
Pandemie und Schule                         keine andere Möglichkeit mehr, als alle    Hause halten laßen, sondern Gelegenheit
Die hiesigen Zeitungen betonten, dass       Schulen zu schießen, um eine Ausbrei-      finden, an Spielplätzen zusammenzukom-
viele Kinder von der Pandemie betroffen     tung der Grippe zu verlangsamen.41)        men und auf diese Weise die Krankheit
seien.39) Auch in Gütersloh grassierte                                                 weiterverbreiten, jedoch müssen während
die Grippe unter den Schülerinnen und       Die Maßnahme einer generellen Schul-       einer Grippeepidemie alle Kinder, die auch
Schülern, alleine im Lyzeum Gütersloh       schließung war keineswegs unumstrit-       nur an einer leichten Erkältung leiden,
waren 120 Mädchen erkrankt. Dennoch         ten. Es wurde vielfach die Meinung ver-    nach Hause geschickt werden. Erreicht
hoffte das Gütersloher Tageblatt, dass      treten, dass „von Schulschließungen [..]   dann die Zahl der fehlenden Kinder einen
„diese neueste Krankheit als weniger        im Allgemeinen kein großer Erfolg zu       so hohen Prozentsatz, daß der Unterricht
gefährlich für die Volksgesundheit ange-    erwarten [ist], denn die Erfahrung hat     nicht mehr erfolgversprechend ist, oder
                                                                                                                                                       13
tritt die Grippe etwa mit besonders hefti-
                  gen Nebenerscheinungen auf, muß es
                  allerdings den Schulleitern überlassen
                  bleiben, im Einvernehmen mit der Schul-
                  aufsichtsbehörde und dem Kreisarzte die
                  Schule zu schließen.“ 42)

                  In den Kreisen Halle und Wiedenbrück ist
                  dementsprechend von flächendeckenden
                  Schulschließungen Abstand genommen
                  worden. Aufgrund der hohen Infektions-
                  zahlen der Schülerinnen und Schüler

     Von Schulschließungen                                                                                                           Die Volksschule Sürenheide
     ist im Allgemeinen kein                                                                                                         im Jahr 1935. (Slg. M. Jung)

     großer
     
             Erfolg zu erwarten
     Gütersloher Zeitung                                       zwei bis drei Wochen geschlossen wer-         junges Leben, das zu den schönsten Hoff-
                                                               den, da die Lehrerinnen und Lehrer an         nungen berechtigte, ist mit ihm dahinge-
                                                               der Grippe erkrankt waren.44) Auch der        gangen.“ 46)
                  blieb aber teilweise keine andere Mög-       Lehrer an der Volksschule Sundern I fiel
                  lichkeit mehr, als einzelne Schulen zeit-    im November 1918 wegen einer Grippe-          Mit Studienassessor Gerhard Lohmann
                  weilig zu schließen. So waren Ende Ok-       erkrankung aus, er konnte sich aber wie       war ein weiterer Lehrer unter den Opfern
                  tober über 50% der Schülerinnen und          seine Kolleginnen und Kollegen aus            der Spanischen Grippe, auch wenn dieser
                  Schüler der evangelischen Volksschule        Sürenheide und Liemke wieder erholen.45)      nicht in der Heimat, sondern in Bonn an
                  Avenwedde erkrankt. Die Schule schloss       Andere Lehrer erlagen hingegen ihrer          Lungenentzündung verstarb. „Er war ein
                  daher für die ersten beiden November-        Grippeerkrankung. Joseph Hesse aus            tüchtiger Lehrer und wohlwollender
                  wochen.43) Auch vor den Lehrerinnen          Neuenkirchen etwa: „Eine tückische            Erzieher, der seine Pflicht mit Freund-
                  und Lehrern machte die Spanische Grip-       Krankheit raffte ihn im Alter von 24 Jahren   lichkeit tat und deshalb bei seinen Kolle-
                  pe natürlich nicht halt. Die Volksschulen    dahin, nachdem er zwei Tage vor seinem        gen und Schülern in gleicher Weise be-
                  Sürenheide und Liemke I mussten für          Tode noch in der Schule tätig war. Ein        liebt war. Da er mit wissenschaftlicher
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                                                                                      Schüler der Unterstufe der Volksschule Süren-
                                                                                      heide im Jahr 1917. Ein Jahr später werden zwei
                                                                                      Schülerinnen der Volksschule an den Folgen
                                                                                      einer „grippalen Lungenentzündung“ sterben.
                                                                                      (Slg. Eva Bürmann)

                                                                                      Aufklärungsarbeit
                                                                                      in den Zeitungen
                                                                                      Ende Oktober 1918 bat der Regierungsprä-
                                                                                      sident von Minden die Landräte in seinem
                                                                                      Bezirk, die Bevölkerung „über das Wesen
                                                                                      der Krankheit und einige vorbeugende
                                                                                      Maßnahmen“ aufzuklären, „wenn auch
                                                                                      bei einer so leicht übertragbaren und
                                                                                      sich so schnell ausbreitenden Seuche
                                                                                      sichere Maßregeln gegen die Weiterver-
                                                                                      breitung nicht in Vorschlag gebracht wer-
                                                                                      den können“. Die Informationen sollten
                                                                                      in den Zeitungen veröffentlicht werden.
                                                                                      Wichtig war dem Regierungspräsidenten
Gründlichkeit und Liebe zur Sache ein      beklagt, sondern zunehmend auch der        der Hinweis, dass die Veröffentlichung in
über das gewöhnliche Maß hinausge-         Tod von Schülerinnen und Schülern.         den Zeitungen keine Kosten verursachen
hendes Lehrgeschick verband, so waren      So musste die Volksschule Sürenheide       sollte.50) Der Wiedenbrücker Landrat
noch große Leistungen in ihm zu erwar-     nicht nur wegen der Erkrankung ihrer       Klein leitete die Informationen an die
ten. Sein früher Tod hat diese Hoffnung    Lehrerin schließen, zwei ihrer Schüler-    hiesigen Zeitungen weiter und tatsächlich
zu nichte gemacht.“ Mit diesen Worten      innen, Maria Reckendres und Anna           erschienen in der Gütersloher Zeitung
trauerten seine Kollegen vom Stiftischen   Delker, verstarben sogar an der „grippa-   und im Gütersloher Tageblatt Ende Okto-
Gymnasium in Gütersloh um ihren jung       len Lungenentzündung“.48) Die Volks-       ber und Anfang November 1918 mehrere
verstorbenen Kollegen.47)                  schule von Spexard beklagte den Tod        Beiträge zu dem Thema.51)
                                           ihres Schülers Joseph Küster, der am
In den Schulchroniken werden aber nicht    Allerseelentag an Grippe und Lungen-       Die Berichterstattung in den Zeitungen war
nur gestorbene Lehrerinnen und Lehrer      entzündung verstarb.49)                    von großer Bedeutung bei der Bekämpfung
                                                                                                                                        15
der Pandemie, da die Kommunikation
     zwischen Behörden und Bevölkerung
     vielfach über die Zeitungen lief. Die Zei-
     tungen entschieden über den Erfolg der
     nunmehr empfohlenen Maßnahmen des
     „social distancing“.52) In den Zeitungs-
     beiträgen wurde darauf hingewiesen, dass
     die Übertragung meistens durch direkte
     Ansteckung erfolgt, „am häufigsten auf
     dem Wege der sogenannten Tröpchen-
     infektion, wie sie beim Sprechen, Riechen,
     Husten vor sich geht, aber auch durch
     indirekte Berührung (Staubeinatmung,
     Benutzung derselben Taschentücher
     und dergl.). Die Grippe befällt zumeist die
     Atmungsorgane, weit seltener auch die
     Verdauungsorgane, aber noch seltener
     tritt sie in der sogenannten nervösen                   Soldaten beim Gurgeln mit Salzwasser als Vorsichtsmaßnahme nach ihrem Arbeitstag
     Form auf. Frösteln, auch Schüttelfröste,                im Camp Dix (USA) am 24. September 1918. Auch die deutschen Behörden empfahlen
     Schnupfen, Kopfschmerzen, häufig                        das Gurgeln mit schwach desinfizierenden Flüssigkeiten. (picture alliance / akg-images)

     auch Kreuz- und Gliederschmerzen, all-
     gemeine Abgeschlagenheit, Fieber, zu-         gangene andere Krankheiten bereits ge-                 häufigsten, wenn die Kranken sich von
     weilen Übelkeit und Erbrechen leiten          schwächte Personen. Außerdem treten                    Anfang an nicht genügend schonen.
     die Krankheit ein, bald pflegt sich dann      aber bei der Grippe sehr leicht auch bei
     Husten und Auswurf einzustellen.              kräftigen und gesunden Personen im                     Mit Rücksicht darauf, daß die Grippe eine
                                                   besten Lebensalter Begleiterkrankun-                   ansteckende Erkältungskrankheit ist,
     Befallen werden können von der Krank-         gen, wie namentlich Lungen- und Brust-                 kommt als vorbeugende Maßnahme
     heit Personen jeglichen Alters. Unter         fellentzündungen auf, die den Ausgang                  an erster Stelle die Vermeidung von Er-
     gewöhnlichen Umständen verläuft sie           der Krankheit sehr gefährden und                       kältungen und des Zusammenseins mit
     in wenigen Tagen günstig und endet mit        schließlich neigt die Krankheit auch                   Grippekranken in Betracht. Außerordent-
     vollständiger Genesung. Gefährdet sind        sehr leicht zu Rückfällen. Begleiterkran-              lich wichtig ist warme Kleidung, Schutz
     nur Säuglinge, alte oder durch vorange-       kungen und Rückfälle ereignen sich am                  vor Zugluft, das Barfußgehen ist in jetzi-
16
ger Jahreszeit strengstens zu vermeiden.     Bett und zwar so lange, bis alle Erschei-
Ist man mit einem an der Grippe Erkrankten   nungen verschwunden sind. Im Anfang
in Berührung gekommen, wasche man sich       wird der Verlauf günstig dadurch beein-      Befallen werden können
gründlich die Hände und mache Mund-          flußt, daß der von ihr Befallene durch       von der Krankheit
spülungen und Gurgelungen mit schwach        Darreichung warmer Getränke (Tee von
desinfizierenden Flüssigkeiten, wie über-    Lindenblüten, Kamillen oder Pfeffer-         Personen
                                                                                          
                                                                                                    jeglichen Alters
mangansaurem Kali oder Wasserstoff-          minz), warme Packungen oder Salizyl-         Gütersloher Zeitung
superoxydlösungen und ähnlichem. Jeder,      präparate (Aspirin, Phenacetin) zum
der während der Grippeepidemie an            Schwitzen gebracht wird, dabei muß
Husten, Schnupfen und Erkältung leidet,      er aber sorgfältig vor Zugluft (nicht vor
ist krankheitsverdächtig und gehört ins      frischer Luftzufuhr) geschützt werden.      Als Nahrung dient nach der Art des Falles
                                                                                         Obst-, Milch- oder Mehlsuppe.

                                                                                         Werden Säuglinge, alte Leute über 70
                                                                                         Jahren, durch andere Krankheiten be-
                                                                                         reits geschwächte Personen (insbeson-
                                                                                         dere Herzkranke) von der Grippe befallen,
                                                                                         oder zeigt die Krankheit einen abweichen-
                                                                                         den Verlauf, so ist sofort ein Arzt aufzu-
                                                                                         suchen.“ Die Zeitungen mahnten abschlie-
                                                                                         ßend eindringlich: „An Grippe erkrankte
                                                                                         Personen müssen bis zu ihrer völligen
                                                                                         Genesung sorgfältig abgesondert werden.
                                                                                         Es ist eine Rücksichtslosigkeit gegen die
                                                                                         Allgemeinheit, wenn leicht Erkrankte oder
                                                                                         noch nicht vollkommen Genesene ihre
                                                                                         Arbeitsstätte oder sonstige Oertlichkeiten
                                                                                         besuchen, wo Menschenanhäufungen
                                                                                         stattfinden, wie Kinos, Theater, Wirts-
                                                                                         häuser und dergl., weil sie mit Sicherheit
    Auch während der Pandemie konnten                                                    die Krankheitskeime auf die gesunde
    im Gütersloher Gasthof Krone regel-
    mäßig Theateraufführungen besucht                                                    Umgebung übertragen.“ 53)
    werden. (Stadtarchiv Gütersloh)
                                                                                                                                      17
Krankheitsbild und                                                                                   Als schwerste Komplikation konnte bei
                    Behandlungsmethoden                                                                                  der Spanischen Grippe ein sogenannter
                    Auch bei der Spanischen Grippe gab es                                                                „Zytokin-Sturm“ auftreten, also eine
                    die unkomplizierten Fälle, die sich von                                                              Überreaktion des Immunsystems. Insbe-
                    einer normalen Saisongrippe kaum unter-                                                              sondere die Immunsysteme jüngerer
                    schieden. Die Betroffenen litten unter                                                               und kräftigerer Menschen wandten sich
                    rauem Hals, hohem Fieber, Schüttel-                                                                  bei der Abwehr der eindringenden Grippe-
                    frost sowie starken Muskel- und Gelenk-                                                              viren gegen alle betroffenen Körper-
                    schmerzen. Auffällig bei der Spanischen                                                              zellen. Die Lungenarterien wurden ver-
                    Grippe waren die starken Kopfschmerzen,                                                              stopft und es kam zum Erstickungstod.54)
                    von denen viele Patienten gequält wur-
                    den. Nach zwei bis drei Tagen ging das                                                               1918 stand der Medizin noch kein spezi-
                    Fieber in der Regel zurück, während die                                                              fisches Heilmittel gegen die Grippe zur
                    übrigen Krankheitssymptome noch ein                                                                  Verfügung. Insbesondere gegen die
                    paar Tage länger bestehen blieben.                                                                   Pneumonie als gefährlichste Grippe-
                                                                                                                         komplikation hatte man „keine Pfeile
                                                                                                                         im Köcher“ 55) Es wurden diätische und
                                                                                                                         naturheilkundliche Maßnahmen wie
     Die Ärzte „verordneten alles,                                                                                       Umschläge empfohlen, die aber zumeist

     was
     
         der Arzneischrank hergab“                                                                                       wirkungslos bleiben. Die Ärzte konzen-
                                                                                                                         trierten sich – da wirkungsvolle Heil-
     Autorin Laura Spinney                                                                                               mittel wie Antibiotika fehlten – auf die
                                                                                                                         Linderung der Symptome und „verordne-
                                                                                                                         ten alles, was der Arzneischrank her-
                                                                                                                         gab“ 56). Das Malariamedikament Chinin,
                    In vielen Fällen trat als Komplikation je-                                                           Phenacetin oder die „Wunderdroge“
                    doch eine Lungenentzündung (bakteriel-                                                               Aspirin kamen häufig zum Einsatz, oft-
                    le Pneumonie) auf. Sie war für einen Groß-                                                           mals in deutlich zu hohen Dosen. Weitere
                    teil der Todesfälle bei der Spanischen       ↑ Apothekengefäß für Chinarinde. Chinin wurde           verschriebene Mittel waren Kampferöl
                    Grippe verantwortlich. Die Betroffenen       als Fiebermittel vor allem gegen Malaria und Thyphus,   gegen Kurzatmigkeit, Digitalis und Strych-
                                                                 aber auch bei Grippeerkrankungen eingesetzt.
                    litten unter qualvollem Husten, Atemnot      (Stiftung Deutsches Hygiene-Museum)
                                                                                                                         nin zur Anregung des Kreislaufes sowie
                    oder starken Schmerzen beim Atmen.                                                                   Epsomer, Bittersalz und Rizinusöl als
18
←
Abführmittel. Beliebt waren auch Arsen-                                                                                     Außerhalb
zubereitungen wegen ihrer schmerzlin-                                                                                       Kontinentaleu-
                                                                                                                            ropas – etwa in
dernden Wirkung. In schweren Fällen                                                                                         Großbritannien,
wurde von den Ärzten auch Morphium,                                                                                         Australien, den
                                                                                                                            USA oder Japan –
Opium oder Kodein verschrieben. Sogar                                                                                       war das Tragen
auf das alte Heilverfahren des Aderlasses                                                                                   von Mund-Nasen-
griffen einige Ärzte zurück.57)                                                                                             Masken häufig
                                                                                                                            vorgeschrieben.
                                                                                                                            Hier eine Schreib-
                                                                                                                            kraft mit Mund-
                                                                                                                            schutz an der
        Über beide Lungen                                                                                                   Schreibmaschine.
                                                                                                                            (picture alliance/
       bestanden klingende                                                                                                  akg-images)


         Rasselgeräusche
                 Arztbericht

In medizinischen Fachveröffentlichungen
wurden die Symptome, unter denen die
Kranken litten, eingehend beschrieben:      und starb am 9. Tage der Krankheit unter    blatt an abwärts Dämpfung und Bronchial-
„Hier handelte es sich um einen 23jähri-    zunehmender Kreislaufschwäche.“ 58)         atmen; wenig Husten, kein Auswurf. Am
gen, sehr kräftigen Soldaten, der plötz-    Zu einem weiteren Fall heißt es: „Ein so-   3. Juli war deutliches Lungenödem vor-
lich mit hohem Fieber, Leibschmerzen,       genannter ‘Leichtkranker’ von 24 Jahren,    handen. Es wird Galopprhythmus ver-
Husten und auch allgemeinen Glieder-        der sich bereits 2 ½ Monate ohne rechten    zeichnet. Am 3. Juli Exitus.“ 59) Über einen
schmerzen erkrankte. Die Zunge war sehr     Befund im Lazarett aufgehalten hatte,       14jährigen Bahnarbeiter heißt es, dass er
stark belegt, die Gaumenbögen, die Man-     erkrankte am 24. Juni 1918 unter plötz-     „sterbend in die medizinische Klinik ein-
deln und die hintere Rachenwand ge-         lichem Temperaturanstieg mit dem klini-     geliefert wurde. Er war stark zyanotisch.
rötet. Die Temperatur hielt sich dauernd    schen Befund von Husten, Auswurf und        Über beiden Lungen bestanden klingende
um 40°. Die Lungen ergeben allenthal-       feuchten Rasselgeräuschen über der          Rasselgeräusche, keine Dämpfung; der
ben vollen Schall, sowie Vesikuläratmen     rechten Lunge. Am 1. Juli bestand Zya-      Puls sehr klein frequent, kaum zu fühlen.
neben reichlich zähem Giemen. Der Pa-       nose und Tremor der Gliedmassen, so-        Exitus eine Stunde nach der Einlieferung.
tient wurde in weiterer Folge zyanotisch    wie über der rechten Lunge vom Schulter-    Klinische Diagnose: Grippe?“ 60)
                                                                                                                                                 19
Maßnahmen gegen                                                                                     Maßnahmen wirkungslos seien. Der
     die Ausbreitung                                                                                     Reichsgesundheitsrat äußerte den
     In der Schweiz hatte die Grippe schon im                                                            Wunsch, dass die Zeitungen berichten
     Juni 1918 beängstigende Ausmaße an-                                                                 mögen, dass es sich bei der Seuche „nur“
     genommen. Die Städte Bern und Genf                                                                  um eine Grippe mit harmloseren Ver-
     untersagten daraufhin Kino-, Theater- und                                                           lauf als die letzte Epidemie von 1889/90
     Varietéaufführungen, Gottesdienste und                                                              handele. 62)
     selbst Leichenfeiern. Auch die USA wa-
     ren schwer von der Pandemie betroffen.                                                              Zu Beginn der zweiten Welle traf der
     Viele Städte reagierten mit Schließungen                                                            Reichsgesundheitsrat am 16. Oktober
     der Kinos, Konzertsäle und Bühnen. Es                                                               1918 erneut zu einer Sitzung zusammen.
     wurden Flugblätter mit Verhaltensmaß-                                                               Er sprach sich gegen ein allgemeines
     regeln verteilt. In Chicago wurde die Po-                                                           Verbot von Versammlungen, Kultur-
     lizei angewiesen, „offene Huster“ und                                                               veranstaltungen und Gottesdiensten
     „Nieser“ sofort festzunehmen. In vielen                                                             aus. Dieses stände in keinem Verhält-
     Städten wurde auch eine Maskenpflicht                                                               nis zu den wirtschaftlichen Nachteilen
     eingeführt. Maskenverweigerer wurden                                                                und würde die Bevölkerung nur be-
     mit Geldbußen und teilweise auch mit                                                                unruhigen. Auch eine grundsätzliche
     mehrtägigen Gefängnisstrafen belegt.                                                                Schließung der Schulen lehnten die
     Auf Schulschließungen verzichteten die                                                              Experten ab, da die Schulen oft die ein-
     Behörden jedoch weitestgehend – mit                                                                 zigen Speisestätten für die Kinder seien
     ähnlichen Argumenten wie in Deutsch-        ↑ Auch die Kirchen wie hier die Auferstehungskirche     und die berufstätigen Mütter entlaste-
                                                 (heute Martin-Luther-Kirche) in Gütersloh blieben
     land. 61)                                                                                           ten. Der Reichsgesundheitsrat gab aber
                                                 während der Pandemie geöffnet. Gottesdienste und
                                                 Konzerte mit geistlicher Musik konnten also weiterhin   einige Verhaltensmaßregeln zur Be-
     In Deutschland beließen es die Reichs-      stattfinden. (Stadtarchiv Gütersloh)                    kämpfung der Pandemie heraus: Es sei
     und Landesbehörden bei Empfehlun-                                                                   auf Sauberkeit bei der Essenszuberei-
     gen. Mitte Juli 1918 kam der Reichsge-      sei keineswegs – wie in der Presse be-                  tung zu achten, man solle – was aus
     sundheitsrat zusammen, um über die          hauptet – eine neuartige „spanische                     heutiger Sicht eher befremdlich wirkt –
     Pandemie zu beraten. Er kam zu dem          Krankheit“. Laut Reichsgesundheitsrat                   regelmäßig mit einer Salzlösung gur-
     Schluss, dass es sich bei der Pandemie      gebe es kein Heilmittel gegen die Krank-                geln, Menschenansammlungen meiden
     aufgrund der festgestellten Krankheits-     heit und auch keine präventiven Schutz-                 und bei den ersten Anzeichen einer
     symptome um Influenza handele. Es           maßnahmen, so dass seuchenpolizeiliche                  Erkrankung zum Arzt gehen. 63)
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                                                                                                                                   Im Gasthof
                                                                                                                                   Tatenhausen
                                                                                                                                   wurden auch
                                                                                                                                   während der
                                                                                                                                   Pandemie
                                                                                                                                   Theaterauf-
                                                                                                                                   führungen an-
                                                                                                                                   geboten. Das
                                                                                                                                   Lichtspiel-
                                                                                                                                   Theater in
                                                                                                                                   Gütersloh blieb
                                                                                                                                   ebenfalls durch-
                                                                                                                                   gehend geöffnet.
                                                                                                                                   (Gütersloher
                                                                                                                                   Tageblatt vom
                                                                                                                                   9.11.1918; Stadt-
                                                                                                                                   archiv Halle)

Verbindliche Anweisungen zur Bekämp-         eines generellen Lockdowns waren die        Das Herunterfahren des öffentlichen
fung der Pandemie wurden von den             Reaktionen der Kommunen höchst unter-       Lebens wurde also durchaus als probates
Reichs- und Landesbehörden nicht er-         schiedlich. Der Magistrat der Stadt Dres-   Mittel erkannt und in anderen Städten
lassen, es blieb letztlich den Kommunen      den ging bei seinen Maßnahmen schon         und Regionen zumindest in Ansätzen um-
überlassen, wie sie vorgehen wollten.        recht weit und verfügte die Schließung      gesetzt. Und wie sah es in den Kreisen
Zu einem wirklichen Lockdown, also ei-       der Schulen, der Theater, der Konzertsäle   Halle und Wiedenbrück aus? Die staat-
nem Stillstand des öffentlichen Lebens in-   und Kinos und auch des Zirkus. Auch in      lichen und kommunalen Behörden in un-
klusive generellem Verbot von Versamm-       Lippe wurden Konzerte und Kinovorstel-      serer Region unternahmen nur wenig zur
lungen, der Schließung von Hotels und        lungen verboten. Und im schwer von der      Eindämmung der Spanischen Grippe. Sie
Gaststätten und dem Aussetzen von Got-       Pandemie betroffenen Breslau wurden         folgten den Empfehlungen des Reichs-
tesdiensten, konnte sich keine Kommune       Grippe-Beratungsstellen eingerichtet und    gesundheitsrates und ließen die Schulen
entschließen. Doch unterhalb der Ebene       Handzettel an die Haushalte verteilt.64)    geöffnet. Nur bei hohen Krankenzahlen
                                                                                                                                                21
wurden einzelne Schulen geschlossen.                                                         Zumindest dieser Gefahr versuchte Land-
     Die Schließung erfolgte jedoch nicht, um                                                     rat Röhrig mit seinem Aufruf zu begeg-
     eine weitere Ausbreitung zu erschweren,                                                      nen.67) Zudem sorgten der Haller und
     sondern weil der Unterricht unter diesen                                                     Wiedenbrücker Landrat dafür, dass Emp-
     Umständen keinen Sinn ergab.                                                                 fehlungen über Verhaltensregeln während
                                                                                                  der Pandemie – etwa des Reichsgesund-
     Auch von einer Schließung von Gaststät-                                                      heitsrates – in den lokalen Zeitungen ver-
     ten oder einem Verbot von Kino-, Theater-                                                    öffentlicht wurden.
     und Varietéaufführungen sahen die Be-
     hörden ab. Die Aufführungen fanden ohne                                                      Auch in anderer Hinsicht wurden die Be-
     Unterbrechung statt. Zu einem Theater-                                                       hörden nunmehr aktiv. Sie versuchten,
     Abend im Gasthof Tatenhausen beispiels-                                                      einen genaueren Überblick über die In-
     weise wurde am 22. November 1918                                                             fektionszahlen zu erhalten. Aufgrund
     zahlreicher Besuch erwartet. In diesen                                                       eines Erlasses der preußischen Regie-
     schweren Zeiten wollte man sich auch                                                         rung wies die Bezirksregierung Minden
     ein wenig ablenken.65) In Gütersloh zeigte                                                    alle Kreisärzte an, für den Oktober „durch
     das Lichtspiel-Theater an der Bahnhofs-                                                      die Grippe und Lungenentzündung her-
     straße auch während der Pandemie                                                             beigeführten Todesfälle“ festzustellen.68)
     durchgehend Filme. Freunde des Theaters
     konnten die Aufführungen im Gasthof „Zur                                                     Zwei kriegsbedingte Umstände erschwer-
     Krone“ genießen. Am 22. November etwa        ↑ Der Haller Landrat Röhrig veröffentlichte     ten die Arbeit der lokalen Verwaltungen
                                                  Empfehlungen für den Ablauf von Beerdigungen
     zeigte das Varieté-Theater Groß-Bielefeld                                                    bei der Pandemiebekämpfung. Wegen
                                                  im Haller Kreisblatt. (Kreisarchiv Gütersloh)
     „Ein großes Weltstadt-Programm“.66) Und                                                      des Krieges waren sie in der Regel unter-
     zwei Tage vorher konnten Musikliebhaber                                                      besetzt, während gleichzeitig immer
     „Ein deutsches Requiem“ von Johannes         Ablauf von Beerdigungen. Er rief im Haller      neue Aufgaben wahrgenommen werden
     Brahms in der Auferstehungskirche hören.     Kreisblatt dazu auf, bei Beerdigungen nur       mussten. Insbesondere die Verteilung
     Von einem Herunterfahren des kulturellen     unmittelbar am Grab zusammenzukom-              der knappen Nahrungsmittel und der
     Lebens konnte in den Kreisen Halle und       men. Normalerweise beging man in Halle          Materialien zur Grundversorgung der Be-
     Wiedenbrück also keine Rede sein.            und Umgebung die Trauerfeier mit einer          völkerung, etwa Brennstoffe, nahmen
                                                  Aufbewahrung im Haus des oder der Ver-          immer mehr Zeit in Anspruch. Eine Ver-
     Der Haller Landrat Röhrig veröffentlichte    storbenen. Verbunden mit einer hohen            breitung des Virus wurde zudem durch
     immerhin konkrete Empfehlungen für den       Ansteckungsgefahr für alle Trauergäste.         die politisch schwierigen Zeiten erleich-
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                                              In den Zeitungen
                                             fand sich nun auch
                                            wiederholt Werbung
                                              für Hustenmittel
                                             wie den Abteisirup
                                            der Akker-Apotheke
                                             oder für Vorbeuge-
                                            mittel gegen Grippe
                                               wie Pebeco von
                                            Beiersdorf. (Jugend.
                                            Münchner illustrier-
                                            te Wochenschrift für
                                              Kunst und Leben
                                              50/1918; Güters-
                                               loher Tageblatt
                                                vom 3.8.1918)

tert. Der Krieg war verloren, Millionen     erreichte die dritte Welle der Spanischen      Avenwedde, dass viele Schülerinnen und
von Soldaten wurden demobilisiert und       Grippe Deutschland in der zweiten Januar-      Schüler im Januar und Februar 1919 an
kehrten in ihre Heimat zurück. Der Kaiser   hälfte 1919 und hielt sich bis in den März     der Grippe erkrankten.70) Generell scheint
hatte abgedankt und in Berlin wurde         hinein. Der Virus hatte sich inzwischen        die Spanische Grippe in der öffentlichen
die Republik ausgerufen. Überall, auch      abgeschwächt und viele Menschen wie-           Wahrnehmung jedoch kaum noch eine
in den Kreisen Halle und Wiedenbrück,       sen nun eine Immunität auf. Die Mortalität     Rolle gespielt zu haben. Beiträge zu dem
bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte.   war also niedriger als während der zweiten     Thema erschienen so gut wie gar nicht
Die Versammlungen der Räte waren            Welle. Diese dritte Welle war Teil eines       mehr in den Zeitungen.
ebenso gut besucht wie die Parteiver-       „Grippejahrfünfts“, das bis Mitte der 1920er
anstaltungen vor den Reichstagswahlen       Jahre andauerte.69)                            Eine Ausnahme war ein Artikel in der
im Januar 1919.                                                                            Gütersloher Zeitung vom 29. Januar 1919,
                                            Wie im übrigen Deutschland litten auch         in denen die „Nachwehen der Grippe“ be-
Dritte Welle und                            die Kreise Halle und Wiedenbrück in die-       schrieben wurden. Der Autor Dr. Mischke
Grippejahrfünft                             sen Jahren noch unter mehreren Grippe-         vermutete, dass die Grippe „diesmal wohl
Nachdem die zweite Welle Anfang De-         wellen. So berichtet beispielsweise die        infolge der Kriegsentbehrungen und des
zember 1918 an Kraft verloren hatte,        Chronik der evangelischen Volksschule          abnormalen Wetters viel stärker und ver-
                                                                                                                                        23
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                                                                                           Studienassessor Gerhard Lohmann, Lehrer am Evan-
                                                                                           gelisch Stiftischen Gymnasium in Gütersloh gehörte
                                                                                           zu den Opfern der Spanischen Grippe. (Stadtarchiv
                                                                                           Gütersloh; Gütersloher Tageblatt vom 5.10.1918)

     heerender aufgetreten“ sei. Gleichzeitig
     beruhigte er aber die Leser, da die Grippe
     ihren Höhepunkt schon überschritten
                                                      Ein großer Teil Erkrankter           warf sich umher, horchte an den Wänden
     habe, wenn sie auch noch nicht gänz-               [kam] überhaupt nicht              und am Fußboden, glaubte Stimmen zu
     lich überwunden sei. Der Autor hob
     die ungewöhnlichen, früher nicht auf-        
                                                       in ärztliche Behandlung             hören und machte drohende Bewegungen
                                                                                           gegen die vermeintlichen Sprecher, tele-
     getretenen Begleiterscheinungen der                         Kreisarzt für Halle       phonierte auch an den Wänden. Allmäh-
     Grippe hervor: „nervöse Störungen, ge-                                                lich schwanden die Einbildungen, aber das
     radezu Geisteskrankheiten“. Und er                                                    läppische Wesen, das Grimassenschnei-
     wusste auch von einigen Beispielen zu        waren die Folgeerscheinungen. In der     den und die Sucht alles nachzumachen,
     berichten: „Ein achtzehnjähriges Mäd-        Anstalt war das Mädchen völlig fieber-   hielt noch eine Zeit an.“ Der Autor empfahl
     chen hatte nur einen leichten Anfall         frei, aber sehr unruhig, sprach unaus-   den Familien, auch nach Abklingen der
     von Grippe gehabt, um so schlimmer           gesetzt, schnitt läppische Grimassen,    körperlichen Symptome auf ihre erkrank-
24
ten Angehörige „noch einige Zeit sorgsam   Volksschule in Kattenstroth und die evan-      Drei Einwohner aus dem Amt Rietberg
zu achten“.71)                             gelische Volksschule in Avenwedde muss-        starben außerhalb ihrer Heimatorte an
                                           ten sogar noch weitere Todesfälle ver-         Grippe und Lungenentzündung. Die
Nach wie vor finden sich jedoch noch       kraften. In Kattenstroth verstarb die          Leichname des 27jährigen Bergmannes
Sterbeanzeigen für die Opfer der Pan-      Schülerin Magdalena Brockhaus, in Aven-        Franz Scheidemantel, der Dienstmagd
demie in den Zeitungen, wenn auch nicht    wedde ein neunjähriger Schüler an den          Luisa Gieseke und des Anton Winter
mehr so häufig wie das Jahr zuvor. Etwa    Folgen einer Lungenentzündung.74) Die          wurden allesamt wieder zurückgebracht
für Anna Nahaus aus Batenhorst, die        Schulchronik berichtete, dass es der erste     und in ihrer Heimat beerdigt.77)
Ende Januar 1919 verstarb: „Gott dem       Schüler war, „der seit dem Bestehen der
Allmächtigen hat es in seinem uner-        Schule gestorben ist. Seine Mitschüler         Die Grippewellen in den Schulen setzten
forschlichen Ratschluss gefallen, ges-     gaben ihm das letzte Geleit, sangen im         sich auch in den Folgejahren fort. Ende
tern morgen 9 ½ Uhr meine geliebte                                                        1921 erkrankten nochmals viele Schülerin-
Tochter, Schwester, Schwägerin und                                                        nen und Schüler der Volksschule Paven-
Tante, meine langjährige Meisterin, die                                                   städt, Anfang 1922 mussten über die
Jungfrau Anna Nahaus, nach kurzem,              Seine Mitschüler gaben                    Hälfte der Kinder der Volksschule Sende-
schwerem Leiden zu sich in die Ewigkeit                                                   Ebbinghaus wegen einer Grippeerkrankung
zu nehmen. Sie starb infolge Grippe,
                                           
                                                 ihm das letzte Geleit                    zuhause bleiben.78) Auch in den Sterbezah-
wohlvorbereitet durch einen frommen                      Schulchronik Avenwedde           len schlägt sich die Grippe nach wie vor
Lebenswandel und gestärkt durch den                                                       deutlich nieder. So starben 1921 in der Ge-
Empfang der hl. Sterbesakramente im                                                       meinde Avenwedde mindestens vier Men-
Alter von 30 Jahren.“ 72)                                                                 schen an Grippe, darunter drei Kinder. 1922
                                           Trauerhause und am Grabe ein zweistim-         waren es sieben Sterbefälle, darunter vier
Auch in den Folgejahren konnte noch        miges Lied und stifteten einen Kranz im        Kinder.79)
keine Entwarnung gegeben werden. Der       Wert von 25 M. Der Unterricht brauchte
Kreisarzt für den Kreis Halle vermerkte    der Grippe wegen nicht wie im Vorjahre         Und auch 1922 traf eine Grippewelle auf
in seinem Gesundheitsbericht für 1920      […] auf einige Zeit ausgesetzt werden.“ 75)    Ostwestfalen. Der Kreisarzt für den Kreis
immer noch zahlreiche Grippefälle ins-     In der Volksschule Druffel fiel die Lehrerin   Halle berichtete, dass bereits im Dezem-
besondere in Werther und Versmold.         Beckmann längere Zeit aus. Sie war im          ber 1921 ein Anstieg an Grippeerkrankun-
Die Schulen in Eggeberg, Hesseln und       Winter 1920 an der Grippe erkrankt und         gen auftrat, der sich dann ab Januar 1922
Kölkebeck mussten wegen zahlreicher        litt als Folge unter einem „Ohrenleiden“.      beschleunigte. Die Erkrankungen kon-
Grippeerkrankungen der Schülerinnen        Erst Anfang 1921 konnte sie ihren Dienst       zentrierten sich auf die Ämter Borgholz-
und Schüler gesperrt werden.73) Die        wieder aufnehmen.76)                           hausen, Halle und Versmold, während
                                                                                                                                        25
Die Krankenkassen wie hier die Ortskrankenkasse
     Gütersloh sind einige der wenigen Institutionen,
     die verlässliche Daten zusammengetragen haben.
     (Stadtarchiv Gütersloh)

26
das Amt Werther „merkwürdigerweise […]
vom gehäuften Auftreten der Grippe ver-
schont“ blieb. Alleine für die beiden ersten
Januarwochen waren über 350 erkrankte
Personen erfasst. Dabei handelte es sich
jedoch nur um die gemeldeten Fälle. Da
„ein großer Teil Erkrankter überhaupt
nicht in ärztliche Behandlung kam“, war
die Dunkelziffer deutlich höher. Auch in
den Schulen grassierte die Grippe, bis zu
40 % der Schülerinnen und Schüler war
erkrankt. Anders als 1918 reagierten die
Behörden jedoch umgehend und der Land-
rat schloss für eine Woche sämtliche
Schulen des Kreises, um eine Weiterver-
breitung der Pandemie durch die Schulen
zu verhüten. Da die Erkrankungen in der
Folgezeit merklich abnahmen, wurde auf
längere Schulschließungen verzichtet. Im
Februar klang die Grippeepidemie dann
wieder ab. Insgesamt starben im Jahr 1922
19 Personen im Kreis Halle an der Grippe
                                               ↑ Peter Vollmer aus Neuenkirchen befand sich genauso
bzw. an schweren Lungenentzündungen.80)        wie seine Mutter unter den Opfern der Pandemie. (Privat)

Opferzahlen                                    2,3 Millionen Menschenleben, 225.000                       der Gesamtbevölkerung des Deutschen
Bis heute kann nicht genau gesagt wer-         bis 470.000 davon im Deutschen Reich.                      Reiches dürften von der Grippe infiziert
den, wie viele Opfer die Spanische Grippe      Bei einer Bevölkerungszahl von 62,7 Mil-                   gewesen sein.81)
gekostet hat. Die Schätzungen reichen –        lionen Menschen Ende 1917 entspricht
da nur für wenige Länder wie Japan prä-        dies einer Mortalitätsrate zwischen                        Auch für den heutigen Kreis Gütersloh
zise Zahlen vorliegen – von 20 Millionen       0,36 und 0,75 %. Auch die Zahl der von                     sind die genauen Zahlen nicht mehr zu er-
bis hin zu 100 Millionen Toten. In Euro-       der Krankheit betroffenen Patienten                        mitteln. Die Grippetoten sind von den Be-
pa fordert die Pandemie mindestens             lässt sich nur hochschätzen. 20 bis 25 %,                  hörden – anders als z.B. bei Tuberkulose –
                                                                                                                                                       27
nicht einheitlich erfasst worden. Die                  Sterbefälle an Grippe / Lungenentzündung in
     Grippe war gemäß Reichsseuchengesetz                 ausgewählten evangelischen Kirchengemeinden 83)
     von 1900 nicht meldepflichtig. Hinzu
                                                       Borgholzhausen 84)   Friedrichsdorf 85)   Gütersloh 86)   Versmold 87)
     kommt, dass es ein modernes staatliches
     oder kommunales Gesundheitswesen           1912         7 (46)              2 (22)            23 (162)         6 (24)
     im heutigen Sinne, das die Zahlen hätte
                                                1913         5 (51)               2 (17)           15 (157)         4 (30)
     erfassen können, noch nicht gab. Er-
     schwerend kommt hinzu, dass es Lücken      1914         1 (47)             0 (25) 88)         17 (187)         1 (27)
     in der Überlieferung gibt, so haben sich   1915         2 (35)               1 (21)           11 (155)         3 (28)
     die Gesundheitsberichte des Kreisarztes
                                                1916        1 (50)   89)
                                                                                  5 (21)           14 (148)         3 (17)
     des ehemaligen Kreises Wiedenbrück
     beispielsweise nicht erhalten.             1917         9 (68)               2 (12)           21 (176)        1 (31) 90)

                                                1918        28 (75)              10 (24)          64 (192) 91)     21 (35)
     Es gibt aber Berichte, Statistiken und     1919        12 (45)               1 (17)          30 (170) 92)      5 (28)
     Dokumente, die Rückschlüsse auf das
                                                1920         6 (44)               2 (18)           29 (200)         3 (27)
     Ausmaß der Pandemie im heutigen
     Kreis-gebiet zulassen. Einen Hinweis auf
     genauere Zahlen bietet eine Statistik                    Sterbefälle an Grippe / Lungenentzündung in
     des Versicherungsamtes des ehema-                       ausgewählten katholischen Kirchengemeinden
     ligen Kreises Wiedenbrück, das die Zahl
     der Grippeerkrankten und der Verstor-                Clarholz 93)       Marienfeld 94)      Mastholte 95)   Rietberg 96)
     benen erfasst hat.82) Die Zahlen des
                                                1912         2 (32)               3 (12)            4 (43)          1 (42)
     Versicherungsamtes ergeben für 1918
     eine Mortalität von 0,31 %. Allerdings     1913         0 (32)               0 (8)             5 (42)          3 (41)

     handelt es sich auch hierbei nicht um      1914         1 (29)               1 (6)             1 (38)          0 (47)
     absolute Zahlen für den Kreis Wieden-      1915         2 (39)               1 (11)            5 (52)          7 (59)
     brück, denn viele Menschen besaßen
                                                1916         1 (36)               0 (13)            4 (37)          4 (49)
     überhaupt keine Krankenversicherung.
                                                1917         6 (51)               0 (12)            2 (32)          7 (50)
     Wichtige Hinweise auf die genauen Opfer-   1918        22 (46)               3 (10)            9 (43)         39 (75)
     zahlen bieten zudem die Kirchenbücher
                                                1919           –                  2 (13)               –               –
     der evangelischen und katholischen Kir-
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Sterbefälle an Grippe / Lungenentzündung von
               Krankenkassenmitgliedern im Kreis Wiedenbrück
             Kranken-                                        Erkrankungen      Todesfälle
                            Erkrankungen       Todesfälle
              kassen-                                         an Lungen-      an Lungen-
                              an Grippe        an Grippe
             mitglieder                                       entzündung      entzündung

  1913         5.846                                              41               1

  1915        10.579                                              54              4

  1917        10.849                                              67              6

  1918         11.526          3.090              13             156              23

  1919        12.946            1.095              4             105              7

  1920        13.869            1.880             14              86              9
                                                                                            ↑ Notlazarett bei Fort Riley (Kansas, USA), in dem 1918 Grippe-Patienten
                                                                                            behandelt wurden. In Deutschland waren keine derartigen Notlazarette
                                                                                            eingerichtet worden. Auch das führte dazu, dass sichtbare Zeichen der
che, da hier – anders als in den staatlichen     Männer, Frauen und Kinder an der Spa-      Pandemie fehlten. (picture alliance / AP Photo)
Sterberegistern – auch die Todesursache          nischen Grippe gestorben.97)
eingetragen wurde. Für den Beitrag wur-
den die Kirchenbücher verschiedener              Aufschlussreich ist auch der Alters-       Die Pandemie schlug sich auch in den
Gemeinden ausgewertet. Für Versmold              durchschnitt der Verstorbenen. Lag er      Gesamtsterbezahlen nieder. Sie bewirk-
ergibt sich demnach eine Mortalität von          in der evangelischen Kirchengemeinde       te, dass die ohnehin seit 1916 stark an-
0,3 %, für Gütersloh von 0,43 %, für Borg-       Borgholzhausen zwischen 1912 und           gestiegene Sterblichkeit unter der Zivil-
holzhausen von 0,7 % und für Friedrichs-         1917 bei etwa 58,3 Jahren, so sank er      bevölkerung 1918 einen Höchststand
dorf von 0,9 %. Überträgt man einen              1918 auf 28,8 Jahre und pendelte sich      erreichte, um dann in den folgenden
Mittelwert von 0,5 oder 0,6 % auf die            1919 und 1920 wieder auf 56,2 Jahre        Jahren wieder auf den Vorkriegszustand
Gesamtbevölkerung des ehemaligen                 ein. Die 1918 am häufigsten betroffene     zu fallen. So starben in der Kernstadt
Kreises Wiedenbrück mit seinen da-               Altersgruppe waren die 15 bis 40jäh-       Gütersloh 1913 229 Zivilpersonen, 1915
mals 65.277 Einwohnern, so wären 1918            rigen (16 Männer und Frauen), gefolgt      202 und 1918 waren es immerhin 261. In
zwischen 326 und 392 Personen der                von Kindern, die ¼ der Opfer ausmach-      Langenberg war die Entwicklung der Ster-
Pandemie zum Opfer gefallen. Im Kreis            ten (insgesamt 7 Kinder) Drei Personen     bezahlen ähnlich. 1913 verstarben 26 Zivil-
Halle mit seinen 30.856 Einwohnern               waren zwischen 41 und 60 Jahren alt,       personen, 1915 24, 1918 jedoch 33.98) Im
wären demnach zwischen 154 und 185               nur zwei älter als 61 Jahre.               Kreis Halle waren 1913 388 Personen
                                                                                                                                                                 29
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