RALF OTHENGRAFEN - KREIS GÜTERSLOH
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← Aspirin-Pulver- verpackung um 1912. Die Ärzte verschrieben häufig Aspirin gegen die Symptome der Spanischen Grippe. (Bayer AG, Bayer Archives Leverkusen)
Kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges zum Verdruss der spanischen Regierung, trifft eine Grippe-Pandemie die Welt, „In dem Land der Pyrenäen die sich erfolglos gegen diese Bezeichnung deren Opfer die des Ersten Weltkrieges zur Wehr zu setzen versucht.3) noch übersteigen wird. Genaue Zahlen möge sie begraben sein“ sind nicht bekannt, die Schätzungen Auch die Spanische Grippe tritt – wie bei schwanken zwischen 20 und 100 Millio- Grippe-Pandemien üblich – in mehreren nen Verstorbenen, also bis zu 5 % der Wellen auf. Die erste trifft im Frühjahr und Weltbevölkerung. Die Pandemie wird sur unterliegen, können die Zeitungen Frühsommer 1918 auf Europa. Sie verläuft mit ihren Nachbeben bis 1920 wüten im neutralen Spanien frei über die Pan- noch relativ milde, verbunden mit einer und dann an Wucht verlieren. In Europa demie in ihrem Land berichten. Und so geringen Sterblichkeit. Die zweite Welle fallen 2 ½ Millionen vorwiegend jün- wird bald weltweit nur noch von der „Spa- erreicht Europa dann im Spätsommer und gere Menschen der Spanischen Grippe nischen Krankheit“ gesprochen, wenn die Herbst. Sie verliert erst im November an zum Opfer. „Keine Seuche in der aufge- neue Grippe-Pandemie gemeint ist. Sehr Wucht und ist durch eine hohe Mortalität zeichneten Geschichte hat je in so kur- zer Zeit so viele Menschenleben ver- nichtet“.1) Oder drastischer ausgedrückt: „Die Spanische Grippe bedeutete die größte Vernichtungswelle seit dem Schwarzen Tod im Mittelalter, ja viel- leicht sogar die größte in der Mensch- heitsgeschichte.“ 2) Die Ursprünge des Virus sind unklar, Kansas in den USA, Zentralchina oder Nordfrankreich werden als mögliche Ursprungsorte in der wissenschaftlichen Literatur genannt. Spanien kommt hier- für höchstwahrscheinlich nicht in Frage. Während jedoch in vielen kriegsbeteilig- Lazarett mit Grippe-Kranken in der Schweiz im Jahr 1918. Ähnlich dürfte ten Ländern Pressemeldungen der Zen- es während der Hochphase der Pandemie auch in den heimischen Krankenhäusern ausgesehen haben. (picture alliance / akg-images) 3
gekennzeichnet. Eine dritte Welle folgt Anfang 1919. Auch sie ist mit einer hohen Und die Menschen starben Sterblichkeit verbunden.4) Schriftsteller Hanns Werner Ewers Schon den Zeitgenossen fällt auf, dass nicht nur Ältere und Kinder, sondern vielfach auch Erwachsene zwischen 15 und 40 Jahren zu den Opfern der Spa- weise ist, verdeutlicht ein Zeitzeugen- nischen Grippe gehören.5) Es sind gerade bericht. Der deutsche Schriftsteller Hanns die Kräftigen und Wohlgenährten, die be- Heinz Ewers hat seine drastischen Ein- troffen sind, nicht die schon Geschwäch- drücke in einem Erzählband festgehalten: ten und Hungernden. In der während des „In diesem Spätsommer des letzten Kriegs- Ersten Weltkrieges neutralen und gut ver- jahres zog eine Seuche über den Konti- sorgten Schweiz ist die Mortalität deut- nent, die die Leute die spanische Influenza lich höher als im von Krieg und Embargo nannten. Es sei nur eine Grippe, sagten der Entente schwer gezeichneten Deut- die Zeitungen, freilich eine recht gefähr- schen Reich. Es ist bis heute nicht end- liche. Viele Leichen wurden blauschwarz – gültig geklärt, „warum die ‘Spanierin’ ge- davon schrieben die Zeitungen nichts. rade die Kräftigsten in der Blüte ihrer Aber jeder wußte es. Und die Menschen Jugend aus dem Leben reißt, während starben.“ 7) die Alten, Welken und Siechen dem Tod entgehen.“ 6) Die Suche nach Quellen zur Spanischen Grippe im Kreis Gütersloh gestaltet sich Wie dramatisch die Situation während schwierig und aufwendig. Amtliche Un- des Höhepunktes der Spanischen Grippe terlagen, Zeitungsberichte, Todesanzei- im Spätsommer und Herbst 1918 teil- gen, Einträge in Schulchroniken und einige wenige autobiographische Quellen zeichnen aber schließlich ein Gesamtbild ← der Ereignisse jener Zeit. Sie erlauben Insbesondere im Herbst 1918 sind Einblicke in das Leiden der Opfer und ihrer die Zeitungen voll von Todesanzeigen für die Opfer der Spanischen Grippe. Hinterbliebenen, in das behördliche Wir- (Gütersloher Tageblatt vom 14.10.1918) ken, aber auch generell in den Umgang 4
Eines der frühen Opfer der Spanischen Grippe war der 23jährige Gütersloher August Varnholt. Er starb im Evangelischen Krankhaus von Gütersloh. (Kreisarchiv Gütersloh) Keimten fern im schönen Süd Wo die „Mandeln“ dicker werden Und die „Rübe“ plötzlich glüht. Vor der Stirn dröhnt eine Pauke An den Schläfen brummt ein Brett, Einsam zieh ich mit der Mause Unters schatt’ge Oberbett. So verbringt man schöne Stunden, Weil der Weltgeist niemals ruht; Immer Neues wird erfunden, der Menschen in der ersten Hälfte des Die Zeitungen meldeten, dass es sich Epidemisch und akut. 20. Jahrhunderts mit Seuchen und Krank- um eine „Influenzaepidemie handle, wie heiten. sie in den Jahren 1889 und 1893 ganz Steht die Menschheit auf der Kippe, Europa überzogen habe. Ein wirkliches Während sie der Wirrwarr quält. – Erste Welle Vorbeugemittel gegen die Krankheit Eine neue Form der Grippe Im Frühjahr und Sommer 1918 verbreite- gebe es nicht.“ Sie verlaufe aber harmlos.9) Hat uns bloß bis jetzt gefehlt. te sich die erste Welle der Spanischen Auch in Gedichten wurde auf den unge- Immerhin! Nach kurzen Wehen Grippe in Europa und Deutschland. Die fährlichen Charakter der „Spanischen Stellt sie ihre Wirkung ein – hiesigen Zeitungen berichteten in kleine- Krankheit“ hingewiesen: In dem Land der Pyrenäen ren Artikeln ab Anfang Juli von der Aus- Die neue Grippe Möge sie begraben sein.10) breitung der neuen Krankheit. Es waren Ach, wir konnten sie nicht ahnien, zunächst Mitteilungen über die Verbrei- Und kein Arzt hat sie gekannt – Schnell verbreitete sich die neue Pandemie tung in Süddeutschland und Berlin, ge- Fern im Süd das schöne Spanien, aber auch im Kreis Gütersloh. Bereits am folgt von Meldungen über Grippeaus- Spanien ist ihr Heimatland. 5. Juli wurde von zahlreichen Erkrankten brüche in Paderborn und Dortmund.8) Diese fiebrigen Beschwerden berichtet. Das Gütersloher Tageblatt be- 5
Im Offiziersgefangenenlager schrieb detailliert die Symptome, die in Ebenfalls während seines Heimatur- grassierte offenbar schon früh die Spanische Grippe. der Regel sehr plötzlich auftraten: Schüt- laubes verstarb der 23jährige Gütersloher (Kreisarchiv Gütersloh) telfrost, Fieber, Kopfschmerzen, Rücken- August Varnholt, Schütze einer Maschinen- und Gliederschmerzen. Als Komplikationen gewehr-Kompagnie, im Evangelischen konnten Lungenentzündungen oder Er- Krankenhaus. Er erkrankte „bald an Lun- krankungen der Verdauungsorgane und genentzündung, die jetzt seinen Tod des Nervensystems hinzutreten. Zur herbeiführte“.13) Bekämpfung der Krankheit empfahl die Zeitung „Wärme durch Bettruhe und vor- Nur auf der Durchreise durch Gütersloh sichtige Diät.“ Insbesondere auf eine aus- befand sich eigentlich der Gefreite Walter reichende Erholungszeit sollte geachtet Laabs. Er beabsichtigte, während seines werden. Eine Immunität nach überstan- Heimaturlaubes zu seiner Familie in Par- dener Krankheit gebe es nicht.11) part in Pommern zu fahren. Er sollte sein Ziel jedoch nicht mehr erreichen. Wegen plötzlich auftretender Krankheitssymp- Wärme durch Bettruhe tome musste er die Fahrt in Gütersloh un- terbrechen und starb im Elisabeth-Hospital und vorsichtige Diät an den Folgen von „Influenza und Herz- Empfehlungen zur Behandlung der Grippe schwäche“ im Alter von 22 Jahren.14) In Arensburg auf der Insel Ösel (heute Estland) war der Musketier Willy Krüm- pelmann aus Gütersloh stationiert. Hier Doch auch wenn die erste Welle der erkrankte er an der Spanischen Grippe Spanischen Grippe für die meisten Be- und starb im Juli 1918 an „schwerer Lun- troffenen harmlos verlief, so waren genentzündung“.15) Bei einer Eisenbahn- schon jetzt die ersten Todesopfer zu be- Betriebs-Kompagnie in Rumänien stand klagen. So starb etwa im Alter von der Eisenbahnschaffner Friedrich Droop 27 Jahren der Unteroffizier Karl Plaß- aus Gütersloh im Dienst. Er wurde „vor mann aus Isselhorst, der in Rumänien Kurzem in dienstlicher Angelegenheit stationiert war, während seines Heimat- nach der Westfront entsandt [..], ist dort urlaubes an einer „Lungenentzündung“.12) von der spanischen Krankheit befallen 6
und nach 2 Tagen gestorben. Neben den Eltern und den Geschwistern ist beson- ders die Gattin mit ihren fünf Kindern durch den unerwarteten Todesfall schwer betroffen. Ehre dem Andenken des im Dienst für das Vaterland in der Heimat und im Feindesland bewährten Beam- ten!“ 16) Am 8. Juli 1918 starb der 48jährige Landsturmmann Johannes Ruthotto aus Wiedenbrück. Er war Angehöriger des Wachpersonals für das Gütersloher Offi- ziers-Gefangenenlager gewesen. Er litt schon einige Tage an der Spanischen Grippe, bevor er „bereits im bewußtlosen Zustande“ in das Elisabeth-Hospital ver- bracht wurde, wo er verstarb.17) Bei den meisten der hier Genannten han- delte es sich um Soldaten, die an der Front kämpften, in der Etappe eingesetzt waren oder aber – wie der Landsturmmann Johannes Ruthotto – in Kontakt mit Kriegs- gefangenen standen. Ein Hinweis darauf, dass der Virus zuerst die Soldaten er- reicht hat.18) Aber auch Einheimische wa- ren schnell unter den Opfern der Spa- nischen Grippe zu finden. Ebenfalls noch im Juli verstarb der Gütersloher Josef Lintel nach „5tägiger schwerer Lungen- entzündung“ im Kruppschen Lazarett. Er hatte in den Kruppschen Werken in Essen gearbeitet.19) Und es mehrten sich nunmehr 7
Zeitweise waren in den Apotheken auch einige Medikamente knapp. Hier die Morsey’sche Apotheke in Wiedenbrück. (Slg. Michael Bleisch) ↑ Johannes Niemann war von 1914 bis 1931 Pastor in Gütersloh. Er hielt die Trauerrede unter anderem für den an der Spanischen Grippe verstorbenen Land- auch Sterbeanzeigen von jungen Frauen, gen sein.“ Der Apothekerverein räumte sturmmann Karl Kramer. (Stadtarchiv Gütersloh) die „nach kurzer schwerer Krankheit“ ver- zwar ein, dass ein kriegsbedingter Mangel storben sind – ein Hinweis, dass auch sie an pharmazeutisch geschultem Fachper- Opfer der Spanischen Grippe wurden.20) sonal und eine Knappheit bei einigen einzelte Todesfälle 22), insgesamt fand die Medikamenten aus „volkswirtschaftlichen Spanische Grippe aber nur noch wenig Im August 1918 kamen Gerüchte auf, dass Gründen“ bestände. Der gesteigerte Beachtung in der Bevölkerung. Der Kriegs- in den Apotheken Medikamente zur Be- Arzneimittelbedarf der letzten Wochen verlauf, die Sorge um die Angehörigen an handlung von Lungenentzündungen fehl- könne jedoch voll gedeckt werden.21) der Front, aber auch die schwierige Versor- ten. Dem trat der Apothekerverein ener- gungslage waren drängendere Probleme. gisch entgegen: „Die Gerüchte entbehren Zweite Welle Anfang Oktober mehrten sich dann jedoch jeder tatsächlichen Grundlage und können Im August ebbte die erste Welle der Grippe- wieder die beunruhigenden Nachrichten nur von Nichtsachverständigen ausgegan- Pandemie etwas ab. Es gab zwar noch ver- zur Spanischen Grippe. Die Zeitungen be- 8
richteten über erneute Grippeausbrüche auf dem hiesigen Friedhofe beigesetzt Treue bis zum Tode hervorhebend. Einer in verschiedenen Städten. Es mehrten worden. Vom Elternhause bewegte sich der Kameraden legte einen Kranz an der sich nunmehr auch wieder die Sterbe- mit dem Posaunenchor des Jünglings- Gruft nieder, dabei bekennend, einen wie anzeigen und Berichte über Beerdigun- vereins an der Spitze ein Trauerzug, in guten Kameraden sie in dem Verstorbe- gen im hiesigen Gebiet. Es fanden sich welchem eine Abordnung des Truppen- nen verloren. Die große Zahl der Kranz- immer mehr Kinder unter den Todes- teils, welchem der Verstorbene ange- spenden zeugt davon, welcher Beliebtheit opfern.23) Aber auch immer mehr Men- hört, Abordnungen des hiesigen Batail- Karl Kramer sich erfreute. Möge ihm die schen im „besten Alter“ waren darunter. lons und der militärischen Vereine mit Erde leicht sein.“ 24) Der Besuch von er- So ist beispielsweise „unter zahlreicher Fahne sichtbar waren. krankten und das Abschiednehmen von Beteiligung und mit militärischen Ehren verstorbenen Angehörigen barg ein hohes […] die irdische Hülle des in Ludwigs- In tiefempfundenen ehrenden Worten hafen an Lungenentzündung gestorbe- gedachte am Grabe Herr Pastor Niemann nen Landsturmmannes Karl Kramer des Heimgegangenen, besonders dessen An seiner Bahre trauern der Vater und 5 Geschwister Totenzettel Peter Vollmer Ansteckungspotenzial. Peter Vollmer musste dies leidvoll erfahren. Er besuch- te seine schwer an der Spanischen Grippe erkrankte Mutter Maria Vollmer kurz vor ihrem Tod am 24. September 1918. Nach dem Krankenbesuch kehrte er von Neuen- kirchen nach Erwitte zurück, wo er als Verwaltungsassistent arbeitete. Er hatte ← Die Spanische Grippe beeinträchtigte auch die Arbeit des Gütersloher Postamtes. (Stadtarchiv Gütersloh) 9
Die zur Zeit herrschende schwere Krankheit hat uns zwei treue Mitarbeiter schnell entrissen Sterbeanzeige der Firma Güth & Wolf nur noch schwer möglich war. „Die an otte und den Heizer Wilhelm Meinders. das diesige Fernsprechnetz angeschlos- Mehr als 25 bezw. 14 Jahre haben Pack- senen Teilnehmer“ wurden daher ersucht, meister Strothotte und Heizer Meinders „die Benutzung der Einrichtung bis auf uns treue Mitarbeit geleistet und waren dringende Fälle zu beschränken, da auf das engste mit unserem Betrieb wie sonst die Befürchtung einer vollständi- auch durch ihre aufrichtige, stets freund- ↑ Sterbeanzeige der Gütersloher Firma Güth & Wolf für ihre Mitabeiter gen Schließung des Fernsprechamtes liche Gesinnung mit uns allen persönlich Heinrich Strothotte und Wilhelm Meinders. (Gütersloher Tageblatt vom naheliegt“.26) Sämtliche Verwaltungen verbunden. Wir bedauern tief den schwe- 9.11.1918) und Wirtschaftsbetriebe waren nunmehr ren Verlust und werden den Geschiedenen von der Grippe-Pandemie betroffen, es ein treues Andenken bewahren.“ 28) es sich nicht nehmen lassen, seiner Mut- wurden von bis zu 200 Erkrankten in ter nahe zu kommen. So infizierte er sich einem einzigen Betrieb berichtet.27) Auch der Kreis Halle war stark von der ebenfalls an der „tückischen Krankheit“. Grippe betroffen. Insbesondere die Ge- Er starb 12 Tage nach seiner Mutter am Immer häufiger mussten auch Betriebe meinden Theenhausen und Berghausen, 6. Oktober 1918 im Krankenhaus Erwitte. den Tod von Mitarbeitern betrauern, die aber auch die Stadt Halle litten unter ho- „An seiner Bahre trauern der Vater und nicht mehr nur an der Front gefallen, hen Erkranktenzahlen und vielen Todes- 5 Geschwister“. 25) sondern auch an der Spanischen Grippe fällen.29) Alleine in Werther starben An- gestorben waren. Die Gütersloher Firma fang November täglich fünf bis sechs Auch im Alltag machte sich die Spanische Güth & Wolf beklagte etwa Anfang Novem- Menschen. Das Haller Kreisblatt berich- Grippe nun bemerkbar. Im Gütersloher ber 1918 den Tod gleich zweier Arbeiter: tete von einem besonders tragischen Postamt erkrankten derartig viele Mitar- „Die zur Zeit herrschende schwere Krank- Fall aus Werther. Dem Frontsoldaten beiterinnen und Mitarbeiter, dass eine Auf- heit hat uns zwei treue Mitarbeiter schnell Ruwwe wurde nach dem Grippetod seiner rechterhaltung des Fernsprechdienstes entrissen, den Packmeister Heinrich Stroth- 14jährigen Tochter Urlaub gewährt. Doch 10
Dr. Matthias Schmitz war von 1905 bis 1943 Pfarrer in Versmold. Er berichtete eindrücklich über die Folgen der Spanischen Grippe in Versmold. (Entnommen: 900 Jahre kirchliches Leben in Versmold, S. 91) ← Der Maler Peter August Böckstiegel aus Werther machte sich aus der fernen Ukraine Sorgen um seine Lieben in der Heimat und berichtete über den Ausbruch der Spanischen Grippe in seiner Einheit. (Kreis- archiv Gütersloh) als er zuhause ankam, war auch seine Pfarrer Dr. Matthias Schmitz aus Vers- Frau bereits an der Spanischen Grippe mold erinnerte sich an diese insbeson- gestorben.30) Ein weiterer tragischer Fall dere auch für Geistliche so herausfor- ereignete sich in Loxten. Binnen weniger dernden Zeiten und berichtete eindrück- Tage starben der Schmiedemeister Tem- lich über den anstrengenden Begräbnis- me, seine Frau und der 29jährige Sohn. tag des 9. Novembers: „Besonders er- sames Grab gesenkt wurden. Da blieb Eine Tochter war zu diesem Zeitpunkt greifend war es, als die vier Särge hinter- kein Auge trocken. [...] An demselben Tage ebenfalls erkrankt, „es besteht aber bei einander der Sitte entsprechend um das bettete ich noch 4 weitere Leichen zur ihr die Hoffnung auf Genesung.“ 31) Doch Kreuz des Friedhofs getragen wurden Ruhe des Grabes: Eine junge Frau von vergeblich. Auch sie starb und alle vier und wie ein Kranz das Kreuz dessen um- 30 Jahren, eine Kolonenfrau [Bauersfrau] wurden gemeinsam „unter Teilnahme gab, der für Tote Leben hat. Unauslösch- mit ihrer Tochter, ebenfalls in ein gemein- einer großen tiefergriffenen Trauerver- lich bleibt auch eingeprägt der Augen- sames Grab, und endlich einen müden sammlung“ beerdigt.32) blick, als die vier Särge in ein gemein- Pilger von 73 Jahren. Inzwischen war es 11
Abend geworden. Nasse Nebel lagerten auf der weiten Ebene. Körperlich und seelisch müde kam ich im Pfarrhause an. Dort traf mich die Kunde, die von Deutschlands Untergang sprach.“ 33) In Versmold starben zudem noch kurz nacheinander die Fleischwarenfabri- kanten Gustav und Willy Menzefricke an der Spanischen Grippe. Die Segel- tuchweberei C.W. Delius verlor drei Mit- arbeiter innerhalb nur einer Woche.34) Besonders wird die Jugend vom 16. bis 20. Lebensjahr dahingerafft Schülerinnen des Gütersloher Lyzeums, das schon zu Beginn der Pandemie stark Schulrektor Christian Frederking betroffen war. (Stadtarchiv Gütersloh) jahr dahingerafft“, schreibt Frederking. schont hat. Es muß doch traurig sein die- Auch der Haller Schulrektor Christian Er führt die „Seuche“ auf die Unterernäh- sen Verlust an jungen Leben.“ 36) Im Au- Frederking war ein Zeuge der Auswir- rung und das nasskalte Wetter des Som- gust 1918 war bereits fast seine gesamte kungen der Spanischen Grippe und be- mers und Herbstes zurück.35) Der Maler Einheit an der Spanischen Grippe erkrankt. richtete, dass an der Höheren Schule Ende Peter August Böckstiegel beobachtete Böckstiegel blieb als einer der ganz weni- Oktober knapp ⅓ der Schülerinnen und die Entwicklungen im Kreis Gütersloh aus gen verschont und musste nun die anfal- Schüler krank in der Schule fehlten. Die der Ferne. Er war zu dieser Zeit als Soldat lenden Arbeiten wie Pferdeputzen, Kar- Volksschule in Halle musste für acht in der Ukraine stationiert und sorgte sich toffelschälen und Holzmachen überneh- Tage komplett schließen. „Die Zeitungen um seine Verlobte Hanna Müller in Dres- men. „Werde so richtig als Hausvater stehen voll Todesanzeigen; besonders den und seine Eltern in Arrode: „Hanna ausgebildet“, kommentierte er süffisant wird die Jugend vom 16. bis 20. Lebens- ich hoffe, daß die Grippe Euch alle ver- gegenüber seiner Verlobten.37) Die Krank- 12
← ↑ Der Lehrer Joseph Hesse, der an der Volksschule Neuenkirchen unterrichtete, gehörte zu den Opfern der Spanischen Grippe. (Stadtarchiv Rietberg; Wieden- heit nahm in seiner Einheit einen glimpf- sehen und deshalb das Schließen der brücker Zeitung vom 25.9.1918) lichen Verlauf, Anfang September war Schulen vermieden“ wird.40) Doch in an- „alles ohne Verluste vorbei“.38) deren Städten – in Köln, Dortmund und gelehrt, daß die Kinder, die nicht oder nur Bielefeld – sah man schon im Oktober leicht erkrankt sind, sich doch nicht zu Pandemie und Schule keine andere Möglichkeit mehr, als alle Hause halten laßen, sondern Gelegenheit Die hiesigen Zeitungen betonten, dass Schulen zu schießen, um eine Ausbrei- finden, an Spielplätzen zusammenzukom- viele Kinder von der Pandemie betroffen tung der Grippe zu verlangsamen.41) men und auf diese Weise die Krankheit seien.39) Auch in Gütersloh grassierte weiterverbreiten, jedoch müssen während die Grippe unter den Schülerinnen und Die Maßnahme einer generellen Schul- einer Grippeepidemie alle Kinder, die auch Schülern, alleine im Lyzeum Gütersloh schließung war keineswegs unumstrit- nur an einer leichten Erkältung leiden, waren 120 Mädchen erkrankt. Dennoch ten. Es wurde vielfach die Meinung ver- nach Hause geschickt werden. Erreicht hoffte das Gütersloher Tageblatt, dass treten, dass „von Schulschließungen [..] dann die Zahl der fehlenden Kinder einen „diese neueste Krankheit als weniger im Allgemeinen kein großer Erfolg zu so hohen Prozentsatz, daß der Unterricht gefährlich für die Volksgesundheit ange- erwarten [ist], denn die Erfahrung hat nicht mehr erfolgversprechend ist, oder 13
tritt die Grippe etwa mit besonders hefti- gen Nebenerscheinungen auf, muß es allerdings den Schulleitern überlassen bleiben, im Einvernehmen mit der Schul- aufsichtsbehörde und dem Kreisarzte die Schule zu schließen.“ 42) In den Kreisen Halle und Wiedenbrück ist dementsprechend von flächendeckenden Schulschließungen Abstand genommen worden. Aufgrund der hohen Infektions- zahlen der Schülerinnen und Schüler Von Schulschließungen Die Volksschule Sürenheide ist im Allgemeinen kein im Jahr 1935. (Slg. M. Jung) großer Erfolg zu erwarten Gütersloher Zeitung zwei bis drei Wochen geschlossen wer- junges Leben, das zu den schönsten Hoff- den, da die Lehrerinnen und Lehrer an nungen berechtigte, ist mit ihm dahinge- der Grippe erkrankt waren.44) Auch der gangen.“ 46) blieb aber teilweise keine andere Mög- Lehrer an der Volksschule Sundern I fiel lichkeit mehr, als einzelne Schulen zeit- im November 1918 wegen einer Grippe- Mit Studienassessor Gerhard Lohmann weilig zu schließen. So waren Ende Ok- erkrankung aus, er konnte sich aber wie war ein weiterer Lehrer unter den Opfern tober über 50% der Schülerinnen und seine Kolleginnen und Kollegen aus der Spanischen Grippe, auch wenn dieser Schüler der evangelischen Volksschule Sürenheide und Liemke wieder erholen.45) nicht in der Heimat, sondern in Bonn an Avenwedde erkrankt. Die Schule schloss Andere Lehrer erlagen hingegen ihrer Lungenentzündung verstarb. „Er war ein daher für die ersten beiden November- Grippeerkrankung. Joseph Hesse aus tüchtiger Lehrer und wohlwollender wochen.43) Auch vor den Lehrerinnen Neuenkirchen etwa: „Eine tückische Erzieher, der seine Pflicht mit Freund- und Lehrern machte die Spanische Grip- Krankheit raffte ihn im Alter von 24 Jahren lichkeit tat und deshalb bei seinen Kolle- pe natürlich nicht halt. Die Volksschulen dahin, nachdem er zwei Tage vor seinem gen und Schülern in gleicher Weise be- Sürenheide und Liemke I mussten für Tode noch in der Schule tätig war. Ein liebt war. Da er mit wissenschaftlicher 14
← Schüler der Unterstufe der Volksschule Süren- heide im Jahr 1917. Ein Jahr später werden zwei Schülerinnen der Volksschule an den Folgen einer „grippalen Lungenentzündung“ sterben. (Slg. Eva Bürmann) Aufklärungsarbeit in den Zeitungen Ende Oktober 1918 bat der Regierungsprä- sident von Minden die Landräte in seinem Bezirk, die Bevölkerung „über das Wesen der Krankheit und einige vorbeugende Maßnahmen“ aufzuklären, „wenn auch bei einer so leicht übertragbaren und sich so schnell ausbreitenden Seuche sichere Maßregeln gegen die Weiterver- breitung nicht in Vorschlag gebracht wer- den können“. Die Informationen sollten in den Zeitungen veröffentlicht werden. Wichtig war dem Regierungspräsidenten Gründlichkeit und Liebe zur Sache ein beklagt, sondern zunehmend auch der der Hinweis, dass die Veröffentlichung in über das gewöhnliche Maß hinausge- Tod von Schülerinnen und Schülern. den Zeitungen keine Kosten verursachen hendes Lehrgeschick verband, so waren So musste die Volksschule Sürenheide sollte.50) Der Wiedenbrücker Landrat noch große Leistungen in ihm zu erwar- nicht nur wegen der Erkrankung ihrer Klein leitete die Informationen an die ten. Sein früher Tod hat diese Hoffnung Lehrerin schließen, zwei ihrer Schüler- hiesigen Zeitungen weiter und tatsächlich zu nichte gemacht.“ Mit diesen Worten innen, Maria Reckendres und Anna erschienen in der Gütersloher Zeitung trauerten seine Kollegen vom Stiftischen Delker, verstarben sogar an der „grippa- und im Gütersloher Tageblatt Ende Okto- Gymnasium in Gütersloh um ihren jung len Lungenentzündung“.48) Die Volks- ber und Anfang November 1918 mehrere verstorbenen Kollegen.47) schule von Spexard beklagte den Tod Beiträge zu dem Thema.51) ihres Schülers Joseph Küster, der am In den Schulchroniken werden aber nicht Allerseelentag an Grippe und Lungen- Die Berichterstattung in den Zeitungen war nur gestorbene Lehrerinnen und Lehrer entzündung verstarb.49) von großer Bedeutung bei der Bekämpfung 15
der Pandemie, da die Kommunikation zwischen Behörden und Bevölkerung vielfach über die Zeitungen lief. Die Zei- tungen entschieden über den Erfolg der nunmehr empfohlenen Maßnahmen des „social distancing“.52) In den Zeitungs- beiträgen wurde darauf hingewiesen, dass die Übertragung meistens durch direkte Ansteckung erfolgt, „am häufigsten auf dem Wege der sogenannten Tröpchen- infektion, wie sie beim Sprechen, Riechen, Husten vor sich geht, aber auch durch indirekte Berührung (Staubeinatmung, Benutzung derselben Taschentücher und dergl.). Die Grippe befällt zumeist die Atmungsorgane, weit seltener auch die Verdauungsorgane, aber noch seltener tritt sie in der sogenannten nervösen Soldaten beim Gurgeln mit Salzwasser als Vorsichtsmaßnahme nach ihrem Arbeitstag Form auf. Frösteln, auch Schüttelfröste, im Camp Dix (USA) am 24. September 1918. Auch die deutschen Behörden empfahlen Schnupfen, Kopfschmerzen, häufig das Gurgeln mit schwach desinfizierenden Flüssigkeiten. (picture alliance / akg-images) auch Kreuz- und Gliederschmerzen, all- gemeine Abgeschlagenheit, Fieber, zu- gangene andere Krankheiten bereits ge- häufigsten, wenn die Kranken sich von weilen Übelkeit und Erbrechen leiten schwächte Personen. Außerdem treten Anfang an nicht genügend schonen. die Krankheit ein, bald pflegt sich dann aber bei der Grippe sehr leicht auch bei Husten und Auswurf einzustellen. kräftigen und gesunden Personen im Mit Rücksicht darauf, daß die Grippe eine besten Lebensalter Begleiterkrankun- ansteckende Erkältungskrankheit ist, Befallen werden können von der Krank- gen, wie namentlich Lungen- und Brust- kommt als vorbeugende Maßnahme heit Personen jeglichen Alters. Unter fellentzündungen auf, die den Ausgang an erster Stelle die Vermeidung von Er- gewöhnlichen Umständen verläuft sie der Krankheit sehr gefährden und kältungen und des Zusammenseins mit in wenigen Tagen günstig und endet mit schließlich neigt die Krankheit auch Grippekranken in Betracht. Außerordent- vollständiger Genesung. Gefährdet sind sehr leicht zu Rückfällen. Begleiterkran- lich wichtig ist warme Kleidung, Schutz nur Säuglinge, alte oder durch vorange- kungen und Rückfälle ereignen sich am vor Zugluft, das Barfußgehen ist in jetzi- 16
ger Jahreszeit strengstens zu vermeiden. Bett und zwar so lange, bis alle Erschei- Ist man mit einem an der Grippe Erkrankten nungen verschwunden sind. Im Anfang in Berührung gekommen, wasche man sich wird der Verlauf günstig dadurch beein- Befallen werden können gründlich die Hände und mache Mund- flußt, daß der von ihr Befallene durch von der Krankheit spülungen und Gurgelungen mit schwach Darreichung warmer Getränke (Tee von desinfizierenden Flüssigkeiten, wie über- Lindenblüten, Kamillen oder Pfeffer- Personen jeglichen Alters mangansaurem Kali oder Wasserstoff- minz), warme Packungen oder Salizyl- Gütersloher Zeitung superoxydlösungen und ähnlichem. Jeder, präparate (Aspirin, Phenacetin) zum der während der Grippeepidemie an Schwitzen gebracht wird, dabei muß Husten, Schnupfen und Erkältung leidet, er aber sorgfältig vor Zugluft (nicht vor ist krankheitsverdächtig und gehört ins frischer Luftzufuhr) geschützt werden. Als Nahrung dient nach der Art des Falles Obst-, Milch- oder Mehlsuppe. Werden Säuglinge, alte Leute über 70 Jahren, durch andere Krankheiten be- reits geschwächte Personen (insbeson- dere Herzkranke) von der Grippe befallen, oder zeigt die Krankheit einen abweichen- den Verlauf, so ist sofort ein Arzt aufzu- suchen.“ Die Zeitungen mahnten abschlie- ßend eindringlich: „An Grippe erkrankte Personen müssen bis zu ihrer völligen Genesung sorgfältig abgesondert werden. Es ist eine Rücksichtslosigkeit gegen die Allgemeinheit, wenn leicht Erkrankte oder noch nicht vollkommen Genesene ihre Arbeitsstätte oder sonstige Oertlichkeiten besuchen, wo Menschenanhäufungen stattfinden, wie Kinos, Theater, Wirts- häuser und dergl., weil sie mit Sicherheit Auch während der Pandemie konnten die Krankheitskeime auf die gesunde im Gütersloher Gasthof Krone regel- mäßig Theateraufführungen besucht Umgebung übertragen.“ 53) werden. (Stadtarchiv Gütersloh) 17
Krankheitsbild und Als schwerste Komplikation konnte bei Behandlungsmethoden der Spanischen Grippe ein sogenannter Auch bei der Spanischen Grippe gab es „Zytokin-Sturm“ auftreten, also eine die unkomplizierten Fälle, die sich von Überreaktion des Immunsystems. Insbe- einer normalen Saisongrippe kaum unter- sondere die Immunsysteme jüngerer schieden. Die Betroffenen litten unter und kräftigerer Menschen wandten sich rauem Hals, hohem Fieber, Schüttel- bei der Abwehr der eindringenden Grippe- frost sowie starken Muskel- und Gelenk- viren gegen alle betroffenen Körper- schmerzen. Auffällig bei der Spanischen zellen. Die Lungenarterien wurden ver- Grippe waren die starken Kopfschmerzen, stopft und es kam zum Erstickungstod.54) von denen viele Patienten gequält wur- den. Nach zwei bis drei Tagen ging das 1918 stand der Medizin noch kein spezi- Fieber in der Regel zurück, während die fisches Heilmittel gegen die Grippe zur übrigen Krankheitssymptome noch ein Verfügung. Insbesondere gegen die paar Tage länger bestehen blieben. Pneumonie als gefährlichste Grippe- komplikation hatte man „keine Pfeile im Köcher“ 55) Es wurden diätische und naturheilkundliche Maßnahmen wie Die Ärzte „verordneten alles, Umschläge empfohlen, die aber zumeist was der Arzneischrank hergab“ wirkungslos bleiben. Die Ärzte konzen- trierten sich – da wirkungsvolle Heil- Autorin Laura Spinney mittel wie Antibiotika fehlten – auf die Linderung der Symptome und „verordne- ten alles, was der Arzneischrank her- gab“ 56). Das Malariamedikament Chinin, In vielen Fällen trat als Komplikation je- Phenacetin oder die „Wunderdroge“ doch eine Lungenentzündung (bakteriel- Aspirin kamen häufig zum Einsatz, oft- le Pneumonie) auf. Sie war für einen Groß- mals in deutlich zu hohen Dosen. Weitere teil der Todesfälle bei der Spanischen ↑ Apothekengefäß für Chinarinde. Chinin wurde verschriebene Mittel waren Kampferöl Grippe verantwortlich. Die Betroffenen als Fiebermittel vor allem gegen Malaria und Thyphus, gegen Kurzatmigkeit, Digitalis und Strych- aber auch bei Grippeerkrankungen eingesetzt. litten unter qualvollem Husten, Atemnot (Stiftung Deutsches Hygiene-Museum) nin zur Anregung des Kreislaufes sowie oder starken Schmerzen beim Atmen. Epsomer, Bittersalz und Rizinusöl als 18
← Abführmittel. Beliebt waren auch Arsen- Außerhalb zubereitungen wegen ihrer schmerzlin- Kontinentaleu- ropas – etwa in dernden Wirkung. In schweren Fällen Großbritannien, wurde von den Ärzten auch Morphium, Australien, den USA oder Japan – Opium oder Kodein verschrieben. Sogar war das Tragen auf das alte Heilverfahren des Aderlasses von Mund-Nasen- griffen einige Ärzte zurück.57) Masken häufig vorgeschrieben. Hier eine Schreib- kraft mit Mund- schutz an der Über beide Lungen Schreibmaschine. (picture alliance/ bestanden klingende akg-images) Rasselgeräusche Arztbericht In medizinischen Fachveröffentlichungen wurden die Symptome, unter denen die Kranken litten, eingehend beschrieben: und starb am 9. Tage der Krankheit unter blatt an abwärts Dämpfung und Bronchial- „Hier handelte es sich um einen 23jähri- zunehmender Kreislaufschwäche.“ 58) atmen; wenig Husten, kein Auswurf. Am gen, sehr kräftigen Soldaten, der plötz- Zu einem weiteren Fall heißt es: „Ein so- 3. Juli war deutliches Lungenödem vor- lich mit hohem Fieber, Leibschmerzen, genannter ‘Leichtkranker’ von 24 Jahren, handen. Es wird Galopprhythmus ver- Husten und auch allgemeinen Glieder- der sich bereits 2 ½ Monate ohne rechten zeichnet. Am 3. Juli Exitus.“ 59) Über einen schmerzen erkrankte. Die Zunge war sehr Befund im Lazarett aufgehalten hatte, 14jährigen Bahnarbeiter heißt es, dass er stark belegt, die Gaumenbögen, die Man- erkrankte am 24. Juni 1918 unter plötz- „sterbend in die medizinische Klinik ein- deln und die hintere Rachenwand ge- lichem Temperaturanstieg mit dem klini- geliefert wurde. Er war stark zyanotisch. rötet. Die Temperatur hielt sich dauernd schen Befund von Husten, Auswurf und Über beiden Lungen bestanden klingende um 40°. Die Lungen ergeben allenthal- feuchten Rasselgeräuschen über der Rasselgeräusche, keine Dämpfung; der ben vollen Schall, sowie Vesikuläratmen rechten Lunge. Am 1. Juli bestand Zya- Puls sehr klein frequent, kaum zu fühlen. neben reichlich zähem Giemen. Der Pa- nose und Tremor der Gliedmassen, so- Exitus eine Stunde nach der Einlieferung. tient wurde in weiterer Folge zyanotisch wie über der rechten Lunge vom Schulter- Klinische Diagnose: Grippe?“ 60) 19
Maßnahmen gegen Maßnahmen wirkungslos seien. Der die Ausbreitung Reichsgesundheitsrat äußerte den In der Schweiz hatte die Grippe schon im Wunsch, dass die Zeitungen berichten Juni 1918 beängstigende Ausmaße an- mögen, dass es sich bei der Seuche „nur“ genommen. Die Städte Bern und Genf um eine Grippe mit harmloseren Ver- untersagten daraufhin Kino-, Theater- und lauf als die letzte Epidemie von 1889/90 Varietéaufführungen, Gottesdienste und handele. 62) selbst Leichenfeiern. Auch die USA wa- ren schwer von der Pandemie betroffen. Zu Beginn der zweiten Welle traf der Viele Städte reagierten mit Schließungen Reichsgesundheitsrat am 16. Oktober der Kinos, Konzertsäle und Bühnen. Es 1918 erneut zu einer Sitzung zusammen. wurden Flugblätter mit Verhaltensmaß- Er sprach sich gegen ein allgemeines regeln verteilt. In Chicago wurde die Po- Verbot von Versammlungen, Kultur- lizei angewiesen, „offene Huster“ und veranstaltungen und Gottesdiensten „Nieser“ sofort festzunehmen. In vielen aus. Dieses stände in keinem Verhält- Städten wurde auch eine Maskenpflicht nis zu den wirtschaftlichen Nachteilen eingeführt. Maskenverweigerer wurden und würde die Bevölkerung nur be- mit Geldbußen und teilweise auch mit unruhigen. Auch eine grundsätzliche mehrtägigen Gefängnisstrafen belegt. Schließung der Schulen lehnten die Auf Schulschließungen verzichteten die Experten ab, da die Schulen oft die ein- Behörden jedoch weitestgehend – mit zigen Speisestätten für die Kinder seien ähnlichen Argumenten wie in Deutsch- ↑ Auch die Kirchen wie hier die Auferstehungskirche und die berufstätigen Mütter entlaste- (heute Martin-Luther-Kirche) in Gütersloh blieben land. 61) ten. Der Reichsgesundheitsrat gab aber während der Pandemie geöffnet. Gottesdienste und Konzerte mit geistlicher Musik konnten also weiterhin einige Verhaltensmaßregeln zur Be- In Deutschland beließen es die Reichs- stattfinden. (Stadtarchiv Gütersloh) kämpfung der Pandemie heraus: Es sei und Landesbehörden bei Empfehlun- auf Sauberkeit bei der Essenszuberei- gen. Mitte Juli 1918 kam der Reichsge- sei keineswegs – wie in der Presse be- tung zu achten, man solle – was aus sundheitsrat zusammen, um über die hauptet – eine neuartige „spanische heutiger Sicht eher befremdlich wirkt – Pandemie zu beraten. Er kam zu dem Krankheit“. Laut Reichsgesundheitsrat regelmäßig mit einer Salzlösung gur- Schluss, dass es sich bei der Pandemie gebe es kein Heilmittel gegen die Krank- geln, Menschenansammlungen meiden aufgrund der festgestellten Krankheits- heit und auch keine präventiven Schutz- und bei den ersten Anzeichen einer symptome um Influenza handele. Es maßnahmen, so dass seuchenpolizeiliche Erkrankung zum Arzt gehen. 63) 20
← Im Gasthof Tatenhausen wurden auch während der Pandemie Theaterauf- führungen an- geboten. Das Lichtspiel- Theater in Gütersloh blieb ebenfalls durch- gehend geöffnet. (Gütersloher Tageblatt vom 9.11.1918; Stadt- archiv Halle) Verbindliche Anweisungen zur Bekämp- eines generellen Lockdowns waren die Das Herunterfahren des öffentlichen fung der Pandemie wurden von den Reaktionen der Kommunen höchst unter- Lebens wurde also durchaus als probates Reichs- und Landesbehörden nicht er- schiedlich. Der Magistrat der Stadt Dres- Mittel erkannt und in anderen Städten lassen, es blieb letztlich den Kommunen den ging bei seinen Maßnahmen schon und Regionen zumindest in Ansätzen um- überlassen, wie sie vorgehen wollten. recht weit und verfügte die Schließung gesetzt. Und wie sah es in den Kreisen Zu einem wirklichen Lockdown, also ei- der Schulen, der Theater, der Konzertsäle Halle und Wiedenbrück aus? Die staat- nem Stillstand des öffentlichen Lebens in- und Kinos und auch des Zirkus. Auch in lichen und kommunalen Behörden in un- klusive generellem Verbot von Versamm- Lippe wurden Konzerte und Kinovorstel- serer Region unternahmen nur wenig zur lungen, der Schließung von Hotels und lungen verboten. Und im schwer von der Eindämmung der Spanischen Grippe. Sie Gaststätten und dem Aussetzen von Got- Pandemie betroffenen Breslau wurden folgten den Empfehlungen des Reichs- tesdiensten, konnte sich keine Kommune Grippe-Beratungsstellen eingerichtet und gesundheitsrates und ließen die Schulen entschließen. Doch unterhalb der Ebene Handzettel an die Haushalte verteilt.64) geöffnet. Nur bei hohen Krankenzahlen 21
wurden einzelne Schulen geschlossen. Zumindest dieser Gefahr versuchte Land- Die Schließung erfolgte jedoch nicht, um rat Röhrig mit seinem Aufruf zu begeg- eine weitere Ausbreitung zu erschweren, nen.67) Zudem sorgten der Haller und sondern weil der Unterricht unter diesen Wiedenbrücker Landrat dafür, dass Emp- Umständen keinen Sinn ergab. fehlungen über Verhaltensregeln während der Pandemie – etwa des Reichsgesund- Auch von einer Schließung von Gaststät- heitsrates – in den lokalen Zeitungen ver- ten oder einem Verbot von Kino-, Theater- öffentlicht wurden. und Varietéaufführungen sahen die Be- hörden ab. Die Aufführungen fanden ohne Auch in anderer Hinsicht wurden die Be- Unterbrechung statt. Zu einem Theater- hörden nunmehr aktiv. Sie versuchten, Abend im Gasthof Tatenhausen beispiels- einen genaueren Überblick über die In- weise wurde am 22. November 1918 fektionszahlen zu erhalten. Aufgrund zahlreicher Besuch erwartet. In diesen eines Erlasses der preußischen Regie- schweren Zeiten wollte man sich auch rung wies die Bezirksregierung Minden ein wenig ablenken.65) In Gütersloh zeigte alle Kreisärzte an, für den Oktober „durch das Lichtspiel-Theater an der Bahnhofs- die Grippe und Lungenentzündung her- straße auch während der Pandemie beigeführten Todesfälle“ festzustellen.68) durchgehend Filme. Freunde des Theaters konnten die Aufführungen im Gasthof „Zur Zwei kriegsbedingte Umstände erschwer- Krone“ genießen. Am 22. November etwa ↑ Der Haller Landrat Röhrig veröffentlichte ten die Arbeit der lokalen Verwaltungen Empfehlungen für den Ablauf von Beerdigungen zeigte das Varieté-Theater Groß-Bielefeld bei der Pandemiebekämpfung. Wegen im Haller Kreisblatt. (Kreisarchiv Gütersloh) „Ein großes Weltstadt-Programm“.66) Und des Krieges waren sie in der Regel unter- zwei Tage vorher konnten Musikliebhaber besetzt, während gleichzeitig immer „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Ablauf von Beerdigungen. Er rief im Haller neue Aufgaben wahrgenommen werden Brahms in der Auferstehungskirche hören. Kreisblatt dazu auf, bei Beerdigungen nur mussten. Insbesondere die Verteilung Von einem Herunterfahren des kulturellen unmittelbar am Grab zusammenzukom- der knappen Nahrungsmittel und der Lebens konnte in den Kreisen Halle und men. Normalerweise beging man in Halle Materialien zur Grundversorgung der Be- Wiedenbrück also keine Rede sein. und Umgebung die Trauerfeier mit einer völkerung, etwa Brennstoffe, nahmen Aufbewahrung im Haus des oder der Ver- immer mehr Zeit in Anspruch. Eine Ver- Der Haller Landrat Röhrig veröffentlichte storbenen. Verbunden mit einer hohen breitung des Virus wurde zudem durch immerhin konkrete Empfehlungen für den Ansteckungsgefahr für alle Trauergäste. die politisch schwierigen Zeiten erleich- 22
←→ In den Zeitungen fand sich nun auch wiederholt Werbung für Hustenmittel wie den Abteisirup der Akker-Apotheke oder für Vorbeuge- mittel gegen Grippe wie Pebeco von Beiersdorf. (Jugend. Münchner illustrier- te Wochenschrift für Kunst und Leben 50/1918; Güters- loher Tageblatt vom 3.8.1918) tert. Der Krieg war verloren, Millionen erreichte die dritte Welle der Spanischen Avenwedde, dass viele Schülerinnen und von Soldaten wurden demobilisiert und Grippe Deutschland in der zweiten Januar- Schüler im Januar und Februar 1919 an kehrten in ihre Heimat zurück. Der Kaiser hälfte 1919 und hielt sich bis in den März der Grippe erkrankten.70) Generell scheint hatte abgedankt und in Berlin wurde hinein. Der Virus hatte sich inzwischen die Spanische Grippe in der öffentlichen die Republik ausgerufen. Überall, auch abgeschwächt und viele Menschen wie- Wahrnehmung jedoch kaum noch eine in den Kreisen Halle und Wiedenbrück, sen nun eine Immunität auf. Die Mortalität Rolle gespielt zu haben. Beiträge zu dem bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte. war also niedriger als während der zweiten Thema erschienen so gut wie gar nicht Die Versammlungen der Räte waren Welle. Diese dritte Welle war Teil eines mehr in den Zeitungen. ebenso gut besucht wie die Parteiver- „Grippejahrfünfts“, das bis Mitte der 1920er anstaltungen vor den Reichstagswahlen Jahre andauerte.69) Eine Ausnahme war ein Artikel in der im Januar 1919. Gütersloher Zeitung vom 29. Januar 1919, Wie im übrigen Deutschland litten auch in denen die „Nachwehen der Grippe“ be- Dritte Welle und die Kreise Halle und Wiedenbrück in die- schrieben wurden. Der Autor Dr. Mischke Grippejahrfünft sen Jahren noch unter mehreren Grippe- vermutete, dass die Grippe „diesmal wohl Nachdem die zweite Welle Anfang De- wellen. So berichtet beispielsweise die infolge der Kriegsentbehrungen und des zember 1918 an Kraft verloren hatte, Chronik der evangelischen Volksschule abnormalen Wetters viel stärker und ver- 23
←↓ Studienassessor Gerhard Lohmann, Lehrer am Evan- gelisch Stiftischen Gymnasium in Gütersloh gehörte zu den Opfern der Spanischen Grippe. (Stadtarchiv Gütersloh; Gütersloher Tageblatt vom 5.10.1918) heerender aufgetreten“ sei. Gleichzeitig beruhigte er aber die Leser, da die Grippe ihren Höhepunkt schon überschritten Ein großer Teil Erkrankter warf sich umher, horchte an den Wänden habe, wenn sie auch noch nicht gänz- [kam] überhaupt nicht und am Fußboden, glaubte Stimmen zu lich überwunden sei. Der Autor hob die ungewöhnlichen, früher nicht auf- in ärztliche Behandlung hören und machte drohende Bewegungen gegen die vermeintlichen Sprecher, tele- getretenen Begleiterscheinungen der Kreisarzt für Halle phonierte auch an den Wänden. Allmäh- Grippe hervor: „nervöse Störungen, ge- lich schwanden die Einbildungen, aber das radezu Geisteskrankheiten“. Und er läppische Wesen, das Grimassenschnei- wusste auch von einigen Beispielen zu waren die Folgeerscheinungen. In der den und die Sucht alles nachzumachen, berichten: „Ein achtzehnjähriges Mäd- Anstalt war das Mädchen völlig fieber- hielt noch eine Zeit an.“ Der Autor empfahl chen hatte nur einen leichten Anfall frei, aber sehr unruhig, sprach unaus- den Familien, auch nach Abklingen der von Grippe gehabt, um so schlimmer gesetzt, schnitt läppische Grimassen, körperlichen Symptome auf ihre erkrank- 24
ten Angehörige „noch einige Zeit sorgsam Volksschule in Kattenstroth und die evan- Drei Einwohner aus dem Amt Rietberg zu achten“.71) gelische Volksschule in Avenwedde muss- starben außerhalb ihrer Heimatorte an ten sogar noch weitere Todesfälle ver- Grippe und Lungenentzündung. Die Nach wie vor finden sich jedoch noch kraften. In Kattenstroth verstarb die Leichname des 27jährigen Bergmannes Sterbeanzeigen für die Opfer der Pan- Schülerin Magdalena Brockhaus, in Aven- Franz Scheidemantel, der Dienstmagd demie in den Zeitungen, wenn auch nicht wedde ein neunjähriger Schüler an den Luisa Gieseke und des Anton Winter mehr so häufig wie das Jahr zuvor. Etwa Folgen einer Lungenentzündung.74) Die wurden allesamt wieder zurückgebracht für Anna Nahaus aus Batenhorst, die Schulchronik berichtete, dass es der erste und in ihrer Heimat beerdigt.77) Ende Januar 1919 verstarb: „Gott dem Schüler war, „der seit dem Bestehen der Allmächtigen hat es in seinem uner- Schule gestorben ist. Seine Mitschüler Die Grippewellen in den Schulen setzten forschlichen Ratschluss gefallen, ges- gaben ihm das letzte Geleit, sangen im sich auch in den Folgejahren fort. Ende tern morgen 9 ½ Uhr meine geliebte 1921 erkrankten nochmals viele Schülerin- Tochter, Schwester, Schwägerin und nen und Schüler der Volksschule Paven- Tante, meine langjährige Meisterin, die städt, Anfang 1922 mussten über die Jungfrau Anna Nahaus, nach kurzem, Seine Mitschüler gaben Hälfte der Kinder der Volksschule Sende- schwerem Leiden zu sich in die Ewigkeit Ebbinghaus wegen einer Grippeerkrankung zu nehmen. Sie starb infolge Grippe, ihm das letzte Geleit zuhause bleiben.78) Auch in den Sterbezah- wohlvorbereitet durch einen frommen Schulchronik Avenwedde len schlägt sich die Grippe nach wie vor Lebenswandel und gestärkt durch den deutlich nieder. So starben 1921 in der Ge- Empfang der hl. Sterbesakramente im meinde Avenwedde mindestens vier Men- Alter von 30 Jahren.“ 72) schen an Grippe, darunter drei Kinder. 1922 Trauerhause und am Grabe ein zweistim- waren es sieben Sterbefälle, darunter vier Auch in den Folgejahren konnte noch miges Lied und stifteten einen Kranz im Kinder.79) keine Entwarnung gegeben werden. Der Wert von 25 M. Der Unterricht brauchte Kreisarzt für den Kreis Halle vermerkte der Grippe wegen nicht wie im Vorjahre Und auch 1922 traf eine Grippewelle auf in seinem Gesundheitsbericht für 1920 […] auf einige Zeit ausgesetzt werden.“ 75) Ostwestfalen. Der Kreisarzt für den Kreis immer noch zahlreiche Grippefälle ins- In der Volksschule Druffel fiel die Lehrerin Halle berichtete, dass bereits im Dezem- besondere in Werther und Versmold. Beckmann längere Zeit aus. Sie war im ber 1921 ein Anstieg an Grippeerkrankun- Die Schulen in Eggeberg, Hesseln und Winter 1920 an der Grippe erkrankt und gen auftrat, der sich dann ab Januar 1922 Kölkebeck mussten wegen zahlreicher litt als Folge unter einem „Ohrenleiden“. beschleunigte. Die Erkrankungen kon- Grippeerkrankungen der Schülerinnen Erst Anfang 1921 konnte sie ihren Dienst zentrierten sich auf die Ämter Borgholz- und Schüler gesperrt werden.73) Die wieder aufnehmen.76) hausen, Halle und Versmold, während 25
Die Krankenkassen wie hier die Ortskrankenkasse Gütersloh sind einige der wenigen Institutionen, die verlässliche Daten zusammengetragen haben. (Stadtarchiv Gütersloh) 26
das Amt Werther „merkwürdigerweise […] vom gehäuften Auftreten der Grippe ver- schont“ blieb. Alleine für die beiden ersten Januarwochen waren über 350 erkrankte Personen erfasst. Dabei handelte es sich jedoch nur um die gemeldeten Fälle. Da „ein großer Teil Erkrankter überhaupt nicht in ärztliche Behandlung kam“, war die Dunkelziffer deutlich höher. Auch in den Schulen grassierte die Grippe, bis zu 40 % der Schülerinnen und Schüler war erkrankt. Anders als 1918 reagierten die Behörden jedoch umgehend und der Land- rat schloss für eine Woche sämtliche Schulen des Kreises, um eine Weiterver- breitung der Pandemie durch die Schulen zu verhüten. Da die Erkrankungen in der Folgezeit merklich abnahmen, wurde auf längere Schulschließungen verzichtet. Im Februar klang die Grippeepidemie dann wieder ab. Insgesamt starben im Jahr 1922 19 Personen im Kreis Halle an der Grippe ↑ Peter Vollmer aus Neuenkirchen befand sich genauso bzw. an schweren Lungenentzündungen.80) wie seine Mutter unter den Opfern der Pandemie. (Privat) Opferzahlen 2,3 Millionen Menschenleben, 225.000 der Gesamtbevölkerung des Deutschen Bis heute kann nicht genau gesagt wer- bis 470.000 davon im Deutschen Reich. Reiches dürften von der Grippe infiziert den, wie viele Opfer die Spanische Grippe Bei einer Bevölkerungszahl von 62,7 Mil- gewesen sein.81) gekostet hat. Die Schätzungen reichen – lionen Menschen Ende 1917 entspricht da nur für wenige Länder wie Japan prä- dies einer Mortalitätsrate zwischen Auch für den heutigen Kreis Gütersloh zise Zahlen vorliegen – von 20 Millionen 0,36 und 0,75 %. Auch die Zahl der von sind die genauen Zahlen nicht mehr zu er- bis hin zu 100 Millionen Toten. In Euro- der Krankheit betroffenen Patienten mitteln. Die Grippetoten sind von den Be- pa fordert die Pandemie mindestens lässt sich nur hochschätzen. 20 bis 25 %, hörden – anders als z.B. bei Tuberkulose – 27
nicht einheitlich erfasst worden. Die Sterbefälle an Grippe / Lungenentzündung in Grippe war gemäß Reichsseuchengesetz ausgewählten evangelischen Kirchengemeinden 83) von 1900 nicht meldepflichtig. Hinzu Borgholzhausen 84) Friedrichsdorf 85) Gütersloh 86) Versmold 87) kommt, dass es ein modernes staatliches oder kommunales Gesundheitswesen 1912 7 (46) 2 (22) 23 (162) 6 (24) im heutigen Sinne, das die Zahlen hätte 1913 5 (51) 2 (17) 15 (157) 4 (30) erfassen können, noch nicht gab. Er- schwerend kommt hinzu, dass es Lücken 1914 1 (47) 0 (25) 88) 17 (187) 1 (27) in der Überlieferung gibt, so haben sich 1915 2 (35) 1 (21) 11 (155) 3 (28) die Gesundheitsberichte des Kreisarztes 1916 1 (50) 89) 5 (21) 14 (148) 3 (17) des ehemaligen Kreises Wiedenbrück beispielsweise nicht erhalten. 1917 9 (68) 2 (12) 21 (176) 1 (31) 90) 1918 28 (75) 10 (24) 64 (192) 91) 21 (35) Es gibt aber Berichte, Statistiken und 1919 12 (45) 1 (17) 30 (170) 92) 5 (28) Dokumente, die Rückschlüsse auf das 1920 6 (44) 2 (18) 29 (200) 3 (27) Ausmaß der Pandemie im heutigen Kreis-gebiet zulassen. Einen Hinweis auf genauere Zahlen bietet eine Statistik Sterbefälle an Grippe / Lungenentzündung in des Versicherungsamtes des ehema- ausgewählten katholischen Kirchengemeinden ligen Kreises Wiedenbrück, das die Zahl der Grippeerkrankten und der Verstor- Clarholz 93) Marienfeld 94) Mastholte 95) Rietberg 96) benen erfasst hat.82) Die Zahlen des 1912 2 (32) 3 (12) 4 (43) 1 (42) Versicherungsamtes ergeben für 1918 eine Mortalität von 0,31 %. Allerdings 1913 0 (32) 0 (8) 5 (42) 3 (41) handelt es sich auch hierbei nicht um 1914 1 (29) 1 (6) 1 (38) 0 (47) absolute Zahlen für den Kreis Wieden- 1915 2 (39) 1 (11) 5 (52) 7 (59) brück, denn viele Menschen besaßen 1916 1 (36) 0 (13) 4 (37) 4 (49) überhaupt keine Krankenversicherung. 1917 6 (51) 0 (12) 2 (32) 7 (50) Wichtige Hinweise auf die genauen Opfer- 1918 22 (46) 3 (10) 9 (43) 39 (75) zahlen bieten zudem die Kirchenbücher 1919 – 2 (13) – – der evangelischen und katholischen Kir- 28
Sterbefälle an Grippe / Lungenentzündung von Krankenkassenmitgliedern im Kreis Wiedenbrück Kranken- Erkrankungen Todesfälle Erkrankungen Todesfälle kassen- an Lungen- an Lungen- an Grippe an Grippe mitglieder entzündung entzündung 1913 5.846 41 1 1915 10.579 54 4 1917 10.849 67 6 1918 11.526 3.090 13 156 23 1919 12.946 1.095 4 105 7 1920 13.869 1.880 14 86 9 ↑ Notlazarett bei Fort Riley (Kansas, USA), in dem 1918 Grippe-Patienten behandelt wurden. In Deutschland waren keine derartigen Notlazarette eingerichtet worden. Auch das führte dazu, dass sichtbare Zeichen der che, da hier – anders als in den staatlichen Männer, Frauen und Kinder an der Spa- Pandemie fehlten. (picture alliance / AP Photo) Sterberegistern – auch die Todesursache nischen Grippe gestorben.97) eingetragen wurde. Für den Beitrag wur- den die Kirchenbücher verschiedener Aufschlussreich ist auch der Alters- Die Pandemie schlug sich auch in den Gemeinden ausgewertet. Für Versmold durchschnitt der Verstorbenen. Lag er Gesamtsterbezahlen nieder. Sie bewirk- ergibt sich demnach eine Mortalität von in der evangelischen Kirchengemeinde te, dass die ohnehin seit 1916 stark an- 0,3 %, für Gütersloh von 0,43 %, für Borg- Borgholzhausen zwischen 1912 und gestiegene Sterblichkeit unter der Zivil- holzhausen von 0,7 % und für Friedrichs- 1917 bei etwa 58,3 Jahren, so sank er bevölkerung 1918 einen Höchststand dorf von 0,9 %. Überträgt man einen 1918 auf 28,8 Jahre und pendelte sich erreichte, um dann in den folgenden Mittelwert von 0,5 oder 0,6 % auf die 1919 und 1920 wieder auf 56,2 Jahre Jahren wieder auf den Vorkriegszustand Gesamtbevölkerung des ehemaligen ein. Die 1918 am häufigsten betroffene zu fallen. So starben in der Kernstadt Kreises Wiedenbrück mit seinen da- Altersgruppe waren die 15 bis 40jäh- Gütersloh 1913 229 Zivilpersonen, 1915 mals 65.277 Einwohnern, so wären 1918 rigen (16 Männer und Frauen), gefolgt 202 und 1918 waren es immerhin 261. In zwischen 326 und 392 Personen der von Kindern, die ¼ der Opfer ausmach- Langenberg war die Entwicklung der Ster- Pandemie zum Opfer gefallen. Im Kreis ten (insgesamt 7 Kinder) Drei Personen bezahlen ähnlich. 1913 verstarben 26 Zivil- Halle mit seinen 30.856 Einwohnern waren zwischen 41 und 60 Jahren alt, personen, 1915 24, 1918 jedoch 33.98) Im wären demnach zwischen 154 und 185 nur zwei älter als 61 Jahre. Kreis Halle waren 1913 388 Personen 29
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