(Re-)konstruierte Wahrheiten - Auswirkungen kognitiver Verzerrungen in der Polizeiarbeit und wirksame Gegenstrategien - Institut Suisse de Police
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(RE-)KONSTRUIERTE WAHRHEITEN (Re-)konstruierte Wahrheiten Auswirkungen kognitiver Verzerrungen in der Polizeiarbeit und wirksame Gegenstrategien Franziska Hofer 1 Signe Ghelfi 2 Martin Lory 3 Jörg Arnold 4 Zusammenfassung Das Ziel jeder Strafuntersuchung ist gemäss Art. 139 Unsicherheit oder Komplexität greift das Gehirn auf StPO die Wahrheitsfindung. Art. 306 StPO hält fest, Heuristiken zurück. Diese reduzieren die Komplexi- dass die Polizei nach einem Ereignis den Sachverhalt tät und sind je nach Situation durchaus sinnvoll, ma- festzustellen hat. Doch wie objektiv lässt sich der chen jedoch unser Gehirn anfällig für Verzerrungen. Sachverhalt feststellen? Was ist wahr und wo könnte Es braucht deshalb verschiedene Massnahmen, um man sich täuschen? Die ISO-Normen IEC 17020 und die Auswirkungen dieser Verzerrungen zu reduzieren. 17025 enthalten Anforderungen an die Unparteilich- Dieser Artikel fasst den wissenschaftlichen Stand zum keit und den Umgang mit Verzerrungen (Bias). Die Thema zusammen, gibt einen Einblick in die Weiter- Erfüllung dieser Anforderungen bringt verschiedene bildung «Rekonstruierte Wahrheiten» und diskutiert Herausforderungen mit sich. In Situationen mit grosser Ansätze, um solchen Verzerrungen entgegenzuwirken. Einleitung oder fehlende Ton reduzieren den Informationsge- Das Ziel jeder Strafuntersuchung ist gemäss Art. 139 halt und das verwendete Objektiv führt zu allenfalls StPO die Wahrheitsfindung. Doch was ist unter dem markanten Verzerrungen. Wir müssen uns also im- Begriff «Wahrheit» zu verstehen und wessen Wahr- mer und grundsätzlich mit fehlenden Informationen heit ist gemeint? Sobald in einem konkreten Ereignis und auch mit fehlerhaften oder verfälschten Infor- Beteiligte oder Zeugen/-innen befragt werden, wer- mationen (Popper, 1973) auseinandersetzen. den teilweise widersprüchliche Aussagen gemacht. Art. 306 StPO hält fest, dass die Polizei nach einem Die Wahrheit ist also nicht absolut, sondern ist Ereignis den relevanten Sachverhalt festzustellen hat. immer von der subjektiven Wahrnehmung der ein- Sind der Sachverhalt und die Wahrheit (ausführlich zelnen Personen beeinflusst. Selbst eine Videoauf- dazu Arnold, 2016) dasselbe? Was sicher ist, in der zeichnung eines Ereignisses ist nicht wirklich objek- Praxis aber immer wieder Schwierigkeiten bereitet tiv: Die Darstellung auf einem zweidimensionalen und eine bewusste mentale Anstrengung erfordert, Bildschirm, die Perspektive und der zeitverzögerte ist die Tatsache, dass das am Ereignisort vorgefunde- 1 Dr. phil., brainability, Developing Human and Organizatio- 3 Dr. sc. techn., Dipl. El.-Ing. ETH, Kriminaltechnik, Forensisches nal Potentials & Flughafenpolizei, Stabsabteilung, Forschung Institut Zürich (FOR) & Entwicklung, Kantonspolizei Zürich 4 Dipl. phys. ETHZ, MAS Public Management ZHAW. Stv Chef 2 Dr. sc., ETH, Flughafenpolizei, Stabsabteilung, Forschung & Ent- Forensisches Institut Zürich (FOR) wicklung, Kantonspolizei Zürich 64 format magazine no 11
(RE-)KONSTRUIERTE WAHRHEITEN ne Resultat eines Ereignisses nur eine Teilmenge des Funktionsweise des Gehirns und Architektur der Sachverhalts ist. Der Sachverhalt setzt sich nämlich menschlichen Informationsverarbeitung aus dem gegenwärtigen Resultat und einer allenfalls Das menschliche Gehirn hat sich seit den ersten Ur- umfangreichen und komplexen Vorgeschichte, die menschen zu einem hochspezialisierten Netzwerk sich jedoch bereits ereignet hat, zusammen. Die ers- entwickelt. Grob betrachtet sind te Herausforderung besteht darin, sich mental vom jüngere Hirnstrukturen wie der Wir müssen uns [...] immer und Resultat zu lösen. Die zweite Herausforderung be- Neocortex besonders an der grundsätzlich mit fehlenden In- steht in der Notwendigkeit, sich sowohl mit Phanta- Verarbeitung übergeordneter formationen und auch mit fehler- sie als auch Logik mit den verschiedenen Szenarien geistiger Prozesse beteiligt, wäh- haften oder verfälschten Informa- auseinanderzusetzen, die auf verschiedenen Wegen rend entwicklungsgeschichtlich tionen auseinandersetzen. zum vorgefundenen Resultat geführt haben könnten. ältere Strukturen – insbesondere Weil wir immer rückwärts in der Zeit herausfinden das limbische System – eher emotionalen bzw. mo- müssen, was passiert war, bevor «es» passierte und tivationalen Verhaltensweisen quasiinstinktiver Natur weil Informationen fehlen, gibt es fast immer meh- dienen. Dem limbischen System werden heutzutage rere Ereignisabläufe, die möglicherweise zum vorge- jedoch auch intellektuelle Leistungen zugesprochen. fundenen Endresultat geführt haben. Alle Informationen, die wir über die Sinnesorga- Wie objektiv lässt sich der Sachverhalt feststellen ne aufnehmen, werden zuerst unbewusst im limbi- und was ist wahr bzw. wo liegt die Täuschung? Die schen System und in Strukturen des Zwischenhirns ISO-Normen IEC 17020 und 17025 enthalten Anfor- «beurteilt», bevor sie die für bewusst rationale Denk- derungen an die Unparteilichkeit und den wirksamen weisen zuständigen Gehirnstrukturen erreichen. Umgang mit Verzerrungen (englisch: Bias). Die Erfül- lung dieser Anforderungen bringt verschiedene Her- Erwartungen, Überzeugungen, Bedürfnisse und ausforderungen mit sich. Sie bedingen eine kritische Emotionen beeinflussen unsere Informationsver- Auseinandersetzung mit den Grenzen der verwen- arbeitung deten Methoden und den resultierenden Toleranzen Haben wir Hunger, fallen uns Nahrungsmittel eher und sie erfordern ein permanentes, aktives Hinterfra- auf, als wenn wir gerade gut gesättigt sind. Warum gen der eigenen Überlegungen und Gedankengänge, ist das so? Durch das Hungergefühl wird die Auf- um zu erkennen, ob man sich allenfalls getäuscht hat. merksamkeit automatisch auf Nahrung gelenkt. Die- Grundkenntnisse über die Funktionsweise des ser Prozess wird auch «Top-down-Verarbeitung» ge- menschlichen Gehirns können hilfreich sein, um nannt. Ebenso können externe Informationen direkt besser zu verstehen, wieso wir für Beeinflussungen beeinflussen, was wir wahrnehmen: Betrachten Sie und Verzerrungen so anfällig sind. das folgende Bild (Abbildung 1), das einen einsamen Abbildung 1: Bild von Bev Doolittle (1985), «The forest has eyes». format magazine no 11 65
(RE-)KONSTRUIERTE WAHRHEITEN Reiter mit zwei Pferden in einer Waldlandschaft befragt, die sich auffällig verhält oder welche Spuren zeigt. Erst auf den zweiten Blick erkennt man (viel- an einem Tatort gesichert werden sollen bzw. wel- leicht), dass der Reiter gar nicht so einsam, sondern che Analysemethoden gefragt sind. in guter Gesellschaft ist. Unser Gehirn hat effiziente Lösungen – soge- Falls Sie die Gesichter noch nicht entdeckt haben, nannte Heuristiken – entwickelt, um mit dieser Ent- werden Sie zumindest einige davon spätestens jetzt scheidungsflut besser umzugehen. Heuristiken sind entdecken (es sind insgesamt 13). Wie ist das mög- mentale Strategien, Faustregeln oder Abkürzungen, lich? die uns helfen, eine Vielzahl von komplexen Reizen Die Information über die vorhandenen Gesichter zu verarbeiten (Haber & Haber, 2013; Gilovitch, erzeugt eine Erwartung und aktiviert das Gesichts- Griffig, & Kahneman, 2002). Heuristiken an sich stel- Schema und beeinflusst dabei «top-down» den len noch keine Denkfehler dar, sondern können – Wahrnehmungsprozess. besonders in Situationen mit hoher Komplexität und Obwohl sich das Bild nicht verändert hat, verar- Unsicherheit – hilfreich (oder gar überlebensent- beitet es unser Gehirn nun anders. Top-down-Ein- scheidend) sein, um Entscheidungen zu treffen (öko- flüsse wirken grundsätzlich unbewusst und können logisch rational im Sinne von Hoffrage, Hertwig, & durch blosse Willenskraft Gigerenzer, 2001). Da durch diese Vereinfachung je- Heuristiken an sich stellen noch nicht einfach so ausge- doch nur ein Teil der Informationen verarbeitet wird, keine Denkfehler dar, sondern schaltet werden. Das ist können systematische Verzerrungen entstehen. Ent- können – besonders in Situationen durchaus funktional bzw. scheidungen, die auf Heuristiken beruhen, werden mit hoher Komplexität und kann in gewissen Situati- gemäss Kahneman & Frederick (2002) vom intuiti- Unsicherheit – hilfreich sein. onen überlebenswichtig ven System geprägt, das schnell und automatisch sein, denn dadurch kön- ist. Das rationale System hingegen nimmt sich Zeit, nen wir sehr viel Information in kurzer Zeit verar- wägt ab und wirkt zudem korrigierend. Diese Kor- beiten. Das Gehirn erzeugt ständig Erwartungen, rektur findet jedoch nicht immer ausreichend statt, die uns die Fähigkeit zur Antizipation ermöglichen – wodurch Denkfehler bzw. kognitive Verzerrungen eine der wichtigsten, menschlichen kognitiven Leis- auftreten können (Kahneman, 2011). tungen. Um die vielen parallel eintreffenden Sinnes- Als Mutter aller Denkfehler wird häufig der Be- eindrücke in nützlicher Zeit zu interpretieren, ver- stätigungsfehler (Confirmation Bias) bezeichnet, da lässt sich das Gehirn sozusagen auf Vorannahmen, er sehr grundlegende menschliche Denkmuster be- die uns effizienter machen (Mast, 2020). Darin liegt schreibt. Der Begriff geht ursprünglich auf Wason allerdings auch die Gefahr kognitiver Verzerrungen. (1960) zurück und beschreibt die menschliche Ten- denz, in erster Linie Informationen zu suchen und Entscheidungsprozesse, Heuristiken und Bias wahrzunehmen, welche die eigene, vorgefasste Der Begriff «kognitive Verzerrung» (Bias) ist ein Meinung bestätigen (Popper, 1995). Bestätigende In- breiter Begriff, der eine Vielzahl an Prozessen der formationen werden zudem als relevanter bewertet menschlichen Informationsverarbeitung umfasst, als widersprüchliche Informationen. Dieser Denk- die zu verfälschten Urteilen oder Interpretationen fehler ist sehr gut untersucht und konnte unter an- führen können. Bias können das Gedächtnis, die derem auch im rechtlichen Kontext nachgewiesen Argumentation und die Entscheidungsfindung syste- werden (z. B. Ask & Granhag, 2005; Kassin et al., matisch beeinflussen (Tversky & Kahneman, 1974). 2013; Oswald & Wyler, 2018). Eine Entscheidung gilt es immer dann zu treffen, Als positive Vorstufe des Bestätigungsfehlers wenn mindestens zwei Optionen zur Wahl stehen. kann die positive Teststrategie bezeichnet werden, Dies ist sowohl im privaten wie auch im beruflichen die grundsätzlich ebenfalls auf Erfahrung und Intuiti- Kontext sehr häufig der Fall. Es beginnt am Morgen on beruht. Diese Suchstrategie ist hilfreich, solange mit der Entscheidung, welche Kleidungsstücke ge- die Offenheit besteht für ein ‚Nicht-Eintreffen‘ eines wählt werden oder ob ein Schirm eingepackt wer- gesuchten Ereignisses bzw. die ‚Nicht-Bestätigung‘ den soll oder nicht. Auch im beruflichen Alltag sind der Annahmen und Hypothesen (Oswald & Wyler, solche Entscheidungen allgegenwärtig. So gilt es 2018). Eine forensische Fachperson sucht beispiels- beispielsweise zu entscheiden, ob man eine Person weise am Tatort dort nach DNA, wo erfahrungsge- 66 format magazine no 11
(RE-)KONSTRUIERTE WAHRHEITEN mäss mit DNA-Spuren zu rechnen ist. Wichtig ist die konkrete Analyse nicht benötigt werden oder danach der Schluss, der gezogen wird, wenn man Äusserungen oder Hypothesen weiterer involvierter nicht fündig wird: sucht man weiter an weniger Personen gehören dazu. plausiblen Stellen oder schliesst man darauf, dass Eine aktuelle Übersichtsarbeit zum Thema Bias keine DNA vorhanden ist? Und in einem weiteren in der Forensik stammt von Cooper & Meterko Schritt stellt sich die Frage, wie andere involvierte (2019). Die Autorinnen haben 27 veröffentlichte Organisationen (Polizei, Staatsanwaltschaft etc.) mit Studien aus verschiedenen Fachrichtungen genauer diesem Nicht-Auffinden von DNA-Spuren am Tatort analysiert, wovon 22 mit Praktikern/-innen durch- umgehen: «Absence of evidence is not evidence of geführt wurden. 11 Studien beinhalteten Analysen absence» (Altman & Bland, 1995). von Fingerabrücken, 3 Studien wurden in der fo- rensischen Anthropologie durchgeführt, und je- Kognitive Verzerrungen in der Forensik und Poli- weils 1–3 Studien betrafen andere Fachgebiete, zeiarbeit – aktueller Forschungsstand wie z. B. Blutspuren-, DNA- oder Haaranalysen. Ein Beispiel aus der forensischen Praxis veranschau- Konkret konnte in dieser Über- licht, wie schnell eine mögliche Beeinflussung durch sichtsarbeit gezeigt werden, Durch entlastende oder belastende Informationen stattfinden kann: dass Experten/-innen andere Kontextinformationen zeigte sich Es findet eine Gruppenvergewaltigung statt und Schlussfolgerungen ziehen, je ein Bestätigungsfehler, d. h. die einer der Täter wird zum Kronzeugen. Ihm wird nachdem, welche zusätzlichen Entscheidung der Experten/-innen aber nur geglaubt, wenn seine DNA ebenfalls in der (für die forensische Analyse wurde systematisch in die Rich- Mischprobe der Spermien zu finden ist. Die Labor- irrelevanten) Fallinformatio- tung der zusätzlichen Information mitarbeitenden kennen die Fallumstände und finden nen sie erhalten haben. Durch verzerrt. durch aktive Suche seinen Anteil in der Mischpro- entlastende oder belastende be, was aber bei unabhängiger Überprüfung nicht Kontextinformationen zeigte sich ein Bestätigungs- mit Sicherheit erfolgen würde. In der Forensik wird fehler, d. h. die Entscheidung der Experten/-innen es also beispielsweise gefährlich, wenn aus den ge- wurde systematisch in die Richtung der zusätzli- schilderten – die Juristen/-innen sagen «behaupte- chen Information verzerrt. Das Problem bei diesem ten» – Fallumständen bekannt ist, dass Spuren zu- Denkmuster ist, dass häufig nur auf eine Annahme sammengehören sollen und wenn dann nach diesen fokussiert und nicht nach Alternativerklärungen spurenkundlichen Zusammenhängen aktiv gesucht gesucht wird oder diese (unbewusst) ausgeblendet wird: Das Risiko steigt dabei, Gemeinsamkeiten den werden. Daraus ergeben sich zwei problematische Unterschieden vorzuziehen. Konsequenzen: Erstens ist das Vorgehen einseitig Dieses Beispiel illustriert, was in der Wissenschaft und zweitens kann es schnell zu einer Überschät- als Bestätigungsfehler bekannt ist: Es wird gefunden zung bestätigender Ergebnisse kommen. Der Be- werden, wovon erwartet wird, dass es gefunden stätigungsfehler liegt dann vor, wenn dieses Muster wird! systematisch zum Tragen kommt. Diverse Studien konnten zeigen, dass Kontextin- Der Einfluss kognitiver Verzerrungen wurde in formationen spätere Entscheidungen und Urteile be- neueren Studien auch in anderen Disziplinen un- einflussen (z. B. Charman & Wells, 2008; Cooper & tersucht. Beispielhaft zu nennen sind z. B. Studien Meterko, 2019; Kassin, Dror & Kukucka, 2013; Kas- zur Analyse von Brandursachen (Morling & Hennen- sin, Dror, & Kukucka, 2013). Mit Kontextinformation berg, 2020), zur forensischen Toxikologie (Hamnet sind Informationen gemeint, die für die Durchfüh- & Dror, 2020) und zur forensischen Pathologie (Dror rung der im Fokus stehenden Analyse nicht direkt et al., 2021). notwendig sind. Darunter fallen Informationen über Von den möglichen negativen Auswirkungen ir- die verdächtige Person selbst, wie z. B. das Vorlie- relevanter Informationen zu unterscheiden ist der gen eines Geständnisses, Informationen über die Nutzen aufgabenrelevanter Fallinformationen. Es persönliche Vorgeschichte und über psychische gibt selbstverständlich auch Informationen, die Auffälligkeiten oder bereits begangene Straftaten. hilfreich bzw. sogar notwendig sind, um die Ge- Auch Informationen über Resultate anderer Analy- nauigkeit der Analyse zu erhöhen. Beispielsweise sen, weitere Details über das Verbrechen, die für wird die Menge von Schussrückständen auf den format magazine no 11 67
(RE-)KONSTRUIERTE WAHRHEITEN Händen eines Schützen anders erwartet, wenn er lichen Erkenntnissen aus der Entscheidungspsycho- grundsätzlich häufig die Hände in die Hosentaschen logie. In Gruppenarbeiten werden danach eigene steckt, über Forensik gut informiert ist, Handschu- Erfahrungen reflektiert und über den Umgang mit he gekauft hat, die nun fehlen, etc. Grundsätzlich unterschiedlichen Meinungen diskutiert. Ebenfalls zeigt die Beeinflussung durch Kontextinformationen werden die Teilnehmenden dazu eingeladen, das In- auf, wie wichtig es ist, in Gutachten transparent formationsmanagement im eigenen Arbeitsbereich darzulegen, worauf die jeweiligen Schlussfolgerun- und Chancen und Risiken des technologischen Fort- gen beruhen. Das heisst, ob nebst den relevanten schritts zu diskutieren. Daten weitere Informationen in die Entscheidung Im letzten Teil des Seminars erfolgt ein prakti- eingeflossen sind. Ebenso sollte aus erhöhtem Kon- scher Input aus der Forensik zu wirksamen Gegen- sens unter Experten/-innen nicht allzu schnell auf strategien in der Praxis. Genauigkeit geschlossen werden. Vielmehr kann Die Weiterbildung spricht ein breites Zielpubli- ein erhöhter Konsens künstlich auch durch den Be- kum aus dem rechtlichen Bereich an und ist darüber stätigungsfehler zustande kommen, sofern bei allen hinaus offen für Vertreter/-innen aus anderen Diszip- Experten/-innen dieselben Kontextinformationen in linen sowie aus der Privatwirtschaft, um die Diversi- die Analyse eingeflossen sind (Dror, Kuckuka, Kas- tät möglichst gross zu halten. sin, & Zapf, 2018). Darüber hinaus kann es auch zu einem sogenannten Bias-Schneeballeffekt kommen, Limitationen von Weiterbildungen zum Thema Bias wenn irrelevante Informationen aus einer Vielzahl Die Weiterbildung soll für die Problematik der Be- von Quellen integriert werden und sich gegenseitig einflussung sensibilisieren, aktuelles Wissen vermit- beeinflussen (Dror, 2017). teln und zur eigenen Lösungsfindung anregen. Trotz Kenntnissen über Bias besteht vielfach die Annah- Die Weiterbildung «Rekonstruierte Wahrheiten» me, dass nur die Anderen davon betroffen sind, man In den vorangehenden Kapiteln wurden verschie- selbst aber immun dagegen ist (Kuckucka, Kassin, dene Einflussfaktoren sowie Beispiele aus der Praxis Zack, & Dror, 2017). Auch ist es ein Trugschluss, sich diskutiert. Trotz dieser Ausgangslage ist das Angebot durch langjährige Erfahrung in Sicherheit zu wäh- an konkreten Aus- und nen, denn das Thema Bias hat nichts mit Inkompe- In Kleingruppen erhalten die Weiterbildung zu diesem tenz, unethischem Verhalten oder der persönlichen Teilnehmenden die Möglichkeit, Thema in der Schweiz Integrität zu tun. Daher braucht es nebst Aus- und ihre Erfahrungen auszutauschen dünn und daher wur- Weiterbildungen eine vertiefte Auseinandersetzung und gemeinsam zu erörtern, de diese Weiterbildung mit der Thematik. wie unerwünschte Einflüsse auf 2019 als Pilot und 2020 individueller und organisationaler als Webinar durchge- Mögliche Ansätze für wirksame Gegenstrategien Ebene minimiert werden können. führt. Das Seminar hat Um wirksame Gegenstrategien zu entwickeln, ist es zum Ziel, ungewollte hilfreich, sich die Vielfalt möglicher Beeinflussungs- Einflüsse in der Strafverfolgung zu identifizieren und quellen zu vergegenwärtigen. wirkungsvolle Strategien zu entwickeln, um diese zu Nebst Kontextinformationen kann sich eine Viel- minimieren. Anhand konkreter Beispiele, Übungen zahl weiterer Faktoren auf die Entscheidungsfindung und Studien wird aufgezeigt, welche unbewuss- auswirken. Dazu gehören persönliche Faktoren, wie ten Denkmuster das Erstellen von Ablauf-Varianten z. B. persönliche Arbeitsstile, Risikofreudigkeit oder beeinflussen können. In Kleingruppen erhalten die die persönliche Motivation genauso wie die Aus- Teilnehmenden die Möglichkeit, ihre Erfahrungen und Weiterbildung. Auch organisationale Faktoren auszutauschen und gemeinsam zu erörtern, wie un- (Zeitdruck, Ergebniserwartungen oder Auftrag der erwünschte Einflüsse auf individueller und organisa- Organisation), Basisraten-Wissen und das verwen- tionaler Ebene minimiert werden können. dete Referenzmaterial können beeinflussend wirken. Zusätzlich zu beachten sind die vorhandenen Daten Inhalte der Weiterbildung selbst, bspw. kann eine Tonspur, auf welcher Schreie Der erste Beitrag des Seminars beschäftigt sich mit zu hören sind, durch den emotionalen Gehalt an- der Funktionsweise des Gehirns und wissenschaft- ders beurteilt werden. 68 format magazine no 11
(RE-)KONSTRUIERTE WAHRHEITEN Folgende Taxonomie veranschaulicht diese Vielfalt (vgl. Abbildung 2). Daten fallspezifisch Referenz- material Kontext- informationen Kultur, Erfahrungen Basisraten-Erwartung Organisationale Faktoren Ausbildung und Training Persönliche Faktoren (z. B. Motivation, Arbeitsstile, Überzeugungen) Menschliche Natur Kognitive Architektur & Funktion des Gehirns Abbildung 2: Mögliche beeinflussende Faktoren bei der Spurensuche, -sicherung und -auswertung (nach Dror, 2020). Was heisst das nun für die Praxis? Review, wissenschaftliche Publikationen, Berech- Jeder Fall ist anders und es gibt keine Standardlö- nung). Auch später eingeflossene Informationen soll- sung. Regelmässiges Überprüfen der eigenen Mei- ten das gleiche Gewicht erhalten wie die bereits vor- nung sowie der erstellten Arbeitshypothesen und die liegenden. Sinnvoll könnte auch eine Vorschrift sein, aktive Bereitschaft, diese jederzeit zu ändern, sind stets mit mindestens zwei Hypothesen zu arbeiten. Grundvoraussetzungen für eine möglichst neutrale, Nicht zuletzt sollten Aspekte wie z. B. Wetter- ergebnisoffene Arbeitsweise. Wir sollten verbreite- schutz, Verpflegung, Pausen und Rapporte in ge- te Muster ablegen: Stolz, Beflissenheit, Ehrgeiz und schützten Räumen zu einer Selbstverständlichkeit Überzeugung. Im Gegenzug sollten wir stets von werden, um damit einhergehende Störfaktoren bzw. eigenen Fehlern und Unzulänglichkeiten ausgehen Treiber kognitiver Verzerrungen möglichst zu redu- und diese als Lernquelle betrachten. Auch einmal zieren. gefällte Entscheide sollten immer wieder hinterfragt werden. Wenn wir ehrlich zurückblicken, stellen Ausblick – was bleibt zu tun? wir fest, dass wir uns schon oft geirrt haben, warum Das Thema Bias betrifft uns alle. Es liegt in der Ver- sollte es also dieses Mal nicht der Fall sein? Wei- antwortung jedes Einzelnen, im eigenen Einflussbe- ter geht es mit dem Gruppendruck: Es sollte geübt reich dafür zu sorgen, dass solche Bias erkannt und werden, konträre oder unangenehme Meinungen zu wenn möglich reduziert wer- vertreten, im Detail andere Meinungen gedanklich den. Dies kann insbesondere Es liegt in der Verantwortung jedes nachzuvollziehen und anderen wirklich zuzuhö- dann gelingen, wenn die Offen- Einzelnen, im eigenen Einflussbe- ren. Erfahrungen sind kritisch zu prüfen: man soll heit besteht, das Thema nicht reich dafür zu sorgen, dass solche Bekanntes hinterfragen und Neues denken können, isoliert, sondern im Kontext des Bias erkannt und wenn möglich offen sein und Konsens nicht vorschnell als «Wahr- komplexen Zusammenspiels reduziert werden. heit» interpretieren, sondern sich dafür interessieren, der einzelnen Fachdisziplinen wie es dazu gekommen ist. zu reflektieren. Die Weiterbildung «Rekonstruier- Schlussendlich sind organisatorische Mass- te Wahrheiten» hat in einem ersten Schritt gezeigt, nahmen unterstützend: Zu zweit ausrücken dass dies auf persönlicher Ebene durchaus möglich und genügend Zeit und Raum für Diskussionen ist. Die Autorinnen und Autoren möchten mit die- schaffen, sowie Falldiskussionen mit Bildern und Vi- sem Beitrag explizit dazu anregen, weiter darüber sualisierung der verschiedenen Varianten regelmäs- – insbesondere auch auf der organisationalen Ebe- sig einplanen. Externe Sichten sollten eingefordert ne – zu reflektieren, stets mit einer selbstkritischen oder sogar vorgeschrieben werden (Zweitmeinung, Haltung hinzuschauen und voneinander zu lernen. format magazine no 11 69
(RE-)KONSTRUIERTE WAHRHEITEN Literatur Hoffrage, U., Hertwig, R., & Gigerenzer, G. (2001). Die ökolo- Altman, D. G., & Bland, J.M. (1995). Absence of evidence is not gische Rationalität einfacher Entscheidungs- und Urteilsheuristiken. evidence of absence. British Medical Journal, 311, 485. Psychologische Rundschau, 51, 11–19, erweiterte und aktualisierte Fassung. Arnold, J. (2016). Wahrheitsfindung — Fiktion oder Realität? In Vuille, J., Oberholzer, N, & Graf, M., Wahrheit, Täuschung und Lüge, Mast, F. (2020). Black Mamba oder die Macht der Imagination: Wie Vérité, tromperie et mensonge, Schweizerische Arbeitsgruppe für Krimi- unser Gehirn die Wirklichkeit bestimmt. Freiburg im Breisgau: Herder. nologie, Band 33, 1–10. Bern. Stämpfli Verlag AG. Morling, N.R., & Henneberg, M. L. (2020). Contextual infor- Ask, K., & Granhag, P.A. (2005). Motivational sources of confir- mation and cognitive bias in the forensic investigation of fatal fires: mation bias in criminal investigations: the need for cognitive closure. do these incidents present an increased risk of flawed decision-mak- Journal of Investigative Psychology and Offender Profiling, 2, 43–63. ing? International Journal of Law, Crime and Justice, 62, https://doi. https://doi.org/10.1002/jip.19. org/10.1016/j.ijlcj.2020.100406. Charman, S. D., & Wells, G. L. (2008). Can eyewitnesses correct Popper, K. (1973). Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. for external influences on their lineup identifications? The actual/ Hamburg: Hoffmann und Campe. counterfactual assessment paradigm. Journal of Experimental Psycholo- Popper, K. (1995). Eine Welt der Propensitäten. Tübingen: Mohr gy: Applied, 14, 5–20. Siebeck. Cooper, G. & Meterko, V. (2019). Cognitive bias research in forensic Kahneman, D. (2011). Thinking, Fast and Slow. Penguin Books. science: A systematic review. Forensic Science International, 297, 35–46. USA: MacMillan. Dror, I. (2020). Cognitive and Human Factors in Expert Decision Kahneman, D. & Frederick, S. (2002). Representativeness revisited: Making: Six Fallacies and the Eight Sources of Bias. Analytical Chem- Attribute substitution in intuitive judgment. In: Gilovitch, T., Griffin, istry, 92, 7998−8004. D. & Kahneman, D. (Eds.). Heuristics and Biases: The Psychology of Dror, I., Kukucka, J., Kassin, S., & Zapf, P. (2018). When Expert Intuitive Judgment. Cambridge University Press. Decision Making Goes Wrong: Consensus, Bias, the Role of Experts, Kassin, S.M., Dror, I.E. & Kukucka, J. (2013). The forensic confir- and Accuracy. Journal of Applied Research in Memory and Cognition, mation bias: problems, perspectives, and proposed solutions. Journal 7, 162–163. of Applied Research in Memory and Cognition 2(1), 42–52. Dror, I. E., Mogan, R., Rando, C., & Nakhaeizadeh, S. (2017). Kukucka, J., Kassin, S., Zapf, P., & Dror. I. (2017). Cognitive Bias The bias snowball and the bias cascade effects: Two distinct biases and Blindness: A Global Survey of Forensic Science Examiners. Jour- that may impact forensic decision making. Journal of Forensic Sciences, nal of Applied Research in Memory and Cognition, 6, 452-459. https:// 62(3), 832-833, DOI: 10.1111/1556-4029.13496. doi.org/10.1016/j.jarmac.2017.09.001. Dror I., Melinek J., Arden J.L., Kukucka, J., Hawkins, S., Oswald, M.E., Wyler, H. (2018). Fallstricke auf dem Weg zur Carter, J., Atherton, D.S. (2021). Cognitive bias in forensic »richtigen« Entscheidung im Strafrecht: Eine Analyse aus psychologi- pathology decisions. Journal of Forensic Science. 00:1–7. https://doi. scher Sicht. In: Barton, S., Dubelaar, M., Kölbel, R. & Lindemann, org/10.1111/1556-4029.14697. M. (Hrsg.). Vom hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit“. Gilovitch, T., Griffin, D. & Kahneman, D. (2002). Heuristics Fehlurteile im Strafprozess. Nomos: Baden-Baden. and biases: the psychology of intuitive judgment. Cambridge University Tversky, A., &Kahneman, D. (1974). Judgment under uncertainty: Press. heuristics and biases. Science, 185, 1124–1131. Haber, R.N., & Haber, L. (2013). The culture of science: bias and fo- Wason, P. C. (1960). On the failure to eliminate hypotheses in a rensic evidence, Journal of Applied Research in Memory and Cognition. conceptual task. Quarterly Journal of Experimental Psychology, 12, 65-67, doi: http://dx.doi.org/10.1016/j.jar-mac.2013.01.005. 129–140. http://dx.doi.org/10.1080/17470216008416717. Hamnett, H.J., Dror, I.E. (2020). The effect of contextual informa- tion on decision-making in forensic toxicology. Forensic Science Inter- national: Synergy, 30(2), 339-348. doi: 10.1016/j.fsisyn.2020.06.003. 70 format magazine no 11
(RE-)KONSTRUIERTE WAHRHEITEN Résumé Vérités (re)construites : effets des distorsions co- tions complexes ou de grande incertitude, le cerveau gnitives dans l’activité policière et contre-straté- a recours à l’heuristique. Cette méthode réduit la gies efficaces complexité et peut s’avérer utile en fonction de la Conformément à l’art. 139 CPP, l’objectif de toute ins- situation. Cependant, cela rend notre cerveau sujet truction pénale est d’établir la vérité. Selon l’art. 306 aux distorsions. Par conséquent, différentes mesures CPP, la police doit établir les faits constitutifs d’une sont nécessaires pour diminuer les effets de ces dis- infraction. Or, comment faire cela de manière objec- torsions. Cet article offre un condensé des progrès tive ? Qu’est-ce qui est vrai ? À quel moment peut- scientifiques dans ce domaine, donne un aperçu de on se tromper ? Les normes ISO CEI 17020 et 17025 la formation continue « Vérités reconstruites » («Re- contiennent des exigences relatives à l’impartialité konstruierte Wahrheiten») et présente des approches et à la gestion des distorsions (biais). Répondre à pour contrer ces distorsions. ces exigences pose plusieurs défis. Dans les situa- Riassunto Verità (ri)costruite: ripercussioni delle distorsioni complessità, il cervello fa ricorso alle euristiche. Da cognitive nel lavoro di polizia ed efficacia delle un lato, queste ultime permettono di semplificare si- controstrategie tuazioni complesse e, a seconda dei casi, possono Conformemente all’art. 139 CPP, lo scopo delle in- quindi essere d’aiuto; dall’altro, aprono anche la por- dagini penali è l’accertamento della verità. L’art. 306 ta a possibili distorsioni. È necessario mettere in atto CPP impone alla polizia di accertare i fatti. Ma in diverse misure per ridurre le ripercussioni di queste quale misura è possibile farlo in maniera obiettiva? distorsioni. Il presente articolo riassume lo stato at- Qual è la realtà e quali errori si potrebbero commet- tuale della ricerca scientifica su questo tema, offre tere? Le norme ISO IEC 17020 e 17025 stabiliscono una breve panoramica sulla formazione continua le esigenze di imparzialità e il modo in cui gestire le «Rekonstruierte Wahrheiten» (Verità ricostruite) e distorsioni cognitive (bias). Rispettare queste esigen- discute gli approcci utili a contrastare le distorsioni. ze non è facile. In situazioni di grande incertezza o format magazine no 11 71
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