AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Natur- und Artenschutz - Bundeszentrale für ...

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70. Jahrgang, 11/2020, 9. März 2020

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
     Natur- und
    Artenschutz
      Carmen Richerzhagen ·                           Jens Kersten
 Jean Carlo Rodríguez de Francisco        NATUR ALS RECHTSSUBJEKT
  HERAUSFORDERUNGEN
     DES GLOBALEN                                   Franziska Wolff
 BIODIVERSITÄTSSCHUTZES                     CHANCEN UND RISIKEN
                                            DER ÖKONOMISIERUNG
          Frank Uekötter                       IM NATURSCHUTZ
  EINE KLEINE GESCHICHTE
    DES ARTENSCHUTZES                              Thomas Kirchhoff
                                             ZUM VERHÄLTNIS
   Ingo Grass · Teja Tscharntke           VON MENSCH UND NATUR
      LANDWIRTSCHAFT
     UND NATURSCHUTZ

                    ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                         FÜR POLITISCHE BILDUNG
                Beilage zur Wochenzeitung
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Natur- und Artenschutz
                               APuZ 11/2020
CARMEN RICHERZHAGEN ·                                JENS KERSTEN
JEAN CARLO RODRÍGUEZ DE FRANCISCO                    NATUR ALS RECHTSSUBJEKT
HERAUSFORDERUNGEN DES GLOBALEN                       Noch sehen wir in der Natur nur ein Objekt des
BIODIVERSITÄTSSCHUTZES                               Umweltschutzes. Um angesichts der ökologi-
Der Verlust von Biodiversität ist eines der          schen Herausforderungen den Naturschutz in
drängendsten Umweltprobleme. Die internati-          die sozialen, technischen und ökonomischen
onale Gemeinschaft hat in den vergangenen 30         Infrastrukturen zu integrieren, sollten wir die
Jahren zahlreiche Versuche unternommen, ihn          Natur jedoch als ein Rechtssubjekt begreifen.
zu stoppen, sie war jedoch nicht erfolgreich.        Seite 27–32
Deshalb bedarf es dringend eines neuen Anlaufs.
Seite 04–10
                                                     FRANZISKA WOLFF
                                                     CHANCEN UND RISIKEN
FRANK UEKÖTTER                                       DER ÖKONOMISIERUNG IM NATURSCHUTZ
EINE KLEINE GESCHICHTE DES ARTENSCHUTZES             Auch in der deutschen Naturschutzpolitik wer-
Die Konzepte, die unserer Vorstellung von Arten-     den Ökonomisierungsinstrumente angewandt,
sterben zugrunde liegen, entwickelten sich ab dem    die jeweils unterschiedliche Vor- und Nachteile
18. Jahrhundert. Im wissenschaftlichen Konstruk-     mit sich bringen. Kann eine „Inwertsetzung“
tionsprozess spielten charismatische Arten eine      wirklich helfen, den Biodiversitätsverlust
besondere Rolle. Bis heute bleibt der Artenschutz    aufzuhalten und die Artenvielfalt zu schützen?
kognitiv und praktisch b­ ruchstückhaft.             Seite 33–38
Seite 11–19
                                                     THOMAS KIRCHHOFF
INGO GRASS · TEJA TSCHARNTKE                         ZUM VERHÄLTNIS VON MENSCH UND NATUR
LANDWIRTSCHAFT UND NATURSCHUTZ                       Welcher Wert wird Natur beigemessen? Ent-
Die moderne Intensivlandwirtschaft verantwortet      sprechende Positionen und Argumentationen im
maßgeblich den anhaltenden Biodiversitätsverlust.    Natur- und Artenschutz hängen im Wesentlichen
Zugleich ist Naturschutz ohne Landwirtschaft         davon ab, welche Auffassung des („richtigen“)
unmöglich. Eine Diversifizierung der Landwirt-       Verhältnisses von Mensch und Natur jeweils
schaft und Agrarlandschaften ist erforderlich, von   zugrunde gelegt wird.
der Mensch und Natur profitieren.                    Seite 39–44
Seite 21–26
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EDITORIAL
Der Befund glich einer Katastrophenbilanz, als der Weltbiodiversitätsrat der
Vereinten Nationen im Mai 2019 die bislang größte Studie zum globalen Zustand
der Natur vorlegte: Drei Viertel der Land- und zwei Drittel der Meeresumwelt
haben sich stark verändert, und rund eine Million von geschätzt etwa acht Milli-
onen Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht; der Artenschwund
schreitet heute bis zu hundertmal schneller voran als im Durchschnitt der ver-
gangenen zehn Millionen Jahre. Ursache dieser dramatischen Entwicklungen sind
Veränderungen in der Landnutzung, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen,
der Klimawandel, Umweltverschmutzung und die Ansiedlung invasiver Arten –
kurz: Es ist die Menschheit, die ihre eigene Lebensgrundlage vernichtet.
   Biodiversität ist die Voraussetzung dafür, dass die Natur dauerhaft jene Leis-
tungen erbringen kann, auf die der Mensch angewiesen ist. Solche „Ökosystem-
leistungen“ sind etwa die (Re-)Produktion von Nahrungsmitteln, Rohstoffen
und Energieträgern, die Regulierung des Wasserkreislaufs durch Bodenorganis-
men, die Speicherung von Kohlenstoff durch Wälder sowie die Bestäubung von
Nutzpflanzen durch Insekten. Auch nichtmaterielle Vorteile wie das Bereitstel-
len von Erholungsräumen können dazugezählt werden.
   Mit der Etablierung der Umweltpolitik ab den 1970er Jahren schaffte es
der Kampf gegen den Biodiversitätsverlust auf die politische Tagesordnung.
Die Ziele, die 1992 in der Biodiversitätskonvention der Vereinten Nationen
festgeschrieben wurden, bleiben jedoch bis heute unerreicht. 2020 laufen mit
dem Strategischen Plan von Aichi und der UN-Dekade Biologische Vielfalt die
jüngsten Initiativen für ihre Umsetzung aus, ein „Post-2020 Framework“ soll
im Herbst beschlossen werden. Gemangelt hat es bislang allerdings nicht an
Problembewusstsein und Zielvereinbarungen, sondern an einem konsequenten
Mitdenken des Natur- und Artenschutzes in allen Bereichen – im Zweifel auf
Kosten gewohnter Lebensweisen.

                                                   Anne-Sophie Friedel

                                                                               03
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APuZ 11/2020

                                 JETZT ODER NIE
     Herausforderungen des globalen Biodiversitätsschutzes
               Carmen Richerzhagen · Jean Carlo Rodríguez de Francisco

Biodiversität, also die Vielfalt innerhalb einer Art,   versität wird oft nur mit einzelnen „populären“
zwischen den Arten sowie von Ökosystemen,01 ist         Arten wie Bienen, Tigern und Walen verknüpft,
die Grundlage für menschliches Leben und nach-          und Politik und Medien greifen deshalb häufig
haltige Entwicklung. Ihr direkter Nutzen für den        auf vereinfachende Begriffe zurück, um zur Öf-
Menschen wird als „Ökosystemleistungen“ be-             fentlichkeit durchzudringen. So nennt beispiels-
zeichnet. Biodiversität und Ökosystemleistungen         weise das Bundesministerium für Bildung und
sind von erheblicher Bedeutung für Landwirt-            Forschung seinen entsprechenden Forschungs-
schaft, Ernährung, Gesundheit und Energiever-           schwerpunkt „Forschungsinitiative zum Erhalt
sorgung. So nutzen zum Beispiel mehr als zwei           der Artenvielfalt“, auch wenn dort Forschung zu
Milliarden Menschen Holz als primäre Energie-           biologischer Vielfalt in seiner ganzen Breite geför-
quelle, und vier Milliarden Menschen verwen-            dert wird.05 Doch mittlerweile scheint das Thema
den Pflanzen als Arzneimittel.02 Ferner reguliert       in der Mitte der Gesellschaft anzukommen.
Biodiversität andere Ökosystemleistungen wie
die Bodenbildung, die Sauerstoffproduktion, den                 ZUNEHMENDE ÖFFENTLICHE
Nährstoffkreislauf und die Bestäubung, verhindert                   WAHRNEHMUNG
Erosion und wirkt bei der Schädlingsbekämpfung.
Biodiversität ist für die Wasserversorgung und          Der Wissenschaft ist es in den vergangenen Jah-
-sicher­heit unerlässlich, da sie unter anderem bei     ren besser gelungen, Politik und Öffentlichkeit
der Bereitstellung von Trinkwasser, der Wasserrei-      über den massiven Verlust von Biodiversität und
nigung, der Wasserrückhaltung, dem Hochwas-             die damit verbundenen verhängnisvollen Auswir-
serschutz und der Regenregulierung hilft. Genau-        kungen aufzuklären. Einen entscheidenden Bei-
so unterstützt Biodiversität die Klimaregulierung.      trag dazu leistet der 2012 gegründete Weltbio-
Marine und terrestrische Ökosysteme tragen zur          diversitätsrat (Intergovernmental Science-policy
Minderung des atmosphärischen Kohlenstoffs bei,         Platform for Biodiversity and Ecosystem Servi-
indem sie ihn aufnehmen und speichern.03 Wis-           ces, IPBES) mit seinem Sekretariat in Bonn. Der
senschaftliche Studien zeigen, dass zum Beispiel        Rat informiert politische Entscheidungsträger
biodiverse Wälder und Wiesen mehr Kohlenstoff           und die Gesellschaft über die wissenschaftlichen
speichern können als Mono­kulturen.04                   Erkenntnisse im Bereich Biodiversität und Öko-
     Lange stand der Schutz der Biodiversität als       systeme. Diese Informationen sollen helfen, wis-
Thema im Schatten des Klimawandels, der mit             sensbasierte Entscheidungen zu treffen.
seinen messbaren und oft fatalen Auswirkungen,              2016 veröffentlichte der Weltbiodiversitäts-
wie dem Anstieg des Meeresspiegels und andau-           rat einen ersten umfassenden Bericht zum The-
ernden Dürren, unmittelbar Lebensbereiche des           ma „Bestäuber, Bestäubung und Nahrungsmittel-
Menschen bedroht und somit für die Gesellschaft         produktion“,06 der weltweit für Aufsehen sorgte.
sichtbarer ist als der Rückgang der Biodiversi-         Der Bericht legte dar, dass etwa drei Viertel der
tät. Die noch komplexeren Zusammenhänge zwi-            weltweiten Nahrungsmittelproduktion von Be-
schen dem Biodiversitätsverlust, seinen Ursachen        stäubern, wie zum Beispiel Insekten, Vögeln oder
und den mittelbaren Auswirkungen auf Mensch             Fledermäusen, abhängen. Das entspricht einem
und Gesellschaft sind demgegenüber weniger ein-         jährlichen Marktwert von bis zu 530 Milliarden
gängig. Allein die Begriffe „Biodiversität“, „Öko-      Euro. Einige der wirtschaftlich bedeutendsten
system“ oder „Ökosystemleistungen“ sind sehr            Obstbäume, wie Apfel- und Birnbaum, Kirsch-
naturwissenschaftlich-technisch geprägt. Biodi-         und Mandelbaum, werden ausschließlich von In-

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Natur- und Artenschutz APuZ

sekten bestäubt. Der Bericht zeigte aber auch,                      Umweltprozesse zu regulieren, weltweit drama-
dass das Vorkommen und die Diversität dieser                        tisch abgenommen habe. 75 Prozent der Land-
Bestäuber stark zurückgegangen sind. Die Rote                       oberfläche seien degradiert, 66 Prozent der Mee-
Liste gefährdeter Arten der Weltnaturschutzuni-                     resfläche stark verändert, und über 85 Prozent
on bestätigt, dass weltweit 16,5 Prozent der Be-                    der Feuchtgebiete bereits verloren ­gegangen.09
stäuber vom Aussterben bedroht sind, in man-                            Dank der besseren Aufbereitung und Kom-
chen Gegenden sind es sogar 40 Prozent.07                           munikation der Erkenntnisse stehen Politik und
    In Deutschland sieht es noch schlechter aus:                    Gesellschaft dem Thema Biodiversitätsschutz
Ende 2017 wurde die sogenannte Krefelder Stu-                       heute offener gegenüber. Der aktuellen Umwelt-
die veröffentlicht,08 die einen dramatischen Rück-                  bewusstseinsstudie des Bundesumweltministe-
gang von Insekten – 76 Prozent seit 1990 – in Na-                   riums zufolge haben die Themen Umwelt- und
turschutzgebieten in Deutschland belegte und                        Klimaschutz insgesamt an Relevanz in der deut-
damit das Thema Insektenschwund hierzulande                         schen Gesellschaft gewonnen. 64 Prozent der Be-
auf die politische Tagesordnung brachte.                            fragten sehen Umwelt- und Klimaschutz direkt
    2019 veröffentlichte der Weltbiodiversitätsrat                  nach den Themen Bildung und soziale Gerech-
das „Globale Assessment zu Biodiversität und                        tigkeit als Deutschlands größte Herausforde-
Ökosystemleistungen“ – ein Zustandsbericht,                         rung an. Bei den 14- bis 19-Jährigen sind es so-
der den dramatischen Status und die zu erwar-                       gar 78 Prozent. Mehr als 90 Prozent schätzen den
tenden negativen Entwicklungen der Biodiver-                        Zustand der Umwelt weltweit als schlecht ein,
sität und der Ökosysteme beschreibt. Die Studie                     und mehr als 80 Prozent der Befragten denken,
zeigte, dass bereits eine Million der erfassten Tier-               dass die Bundesregierung sich nicht genügend
und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht sind:                      für den Umwelt- und Klimaschutz einsetzt.10
mehr als 40 Prozent der Amphibienarten, fast                        Dieses Bewusstsein schlägt sich in Handeln nie-
33 Prozent der riffbildenden Korallen und mehr                      der: In Bayern haben 2019 mehr als 1,7 Millionen
als ein Drittel aller Meeressäugetiere. Zudem sei                   Bürger*innen das Volksbegehren mit dem Mot-
die Rate des Aussterbens mindestens 10 bis 100                      to „Rettet die Bienen“ unterstützt und damit eine
Mal höher als im Durchschnitt der vergangenen                       Reform des bayerischen Naturschutzgesetzes an-
10 Millionen Jahre. Die Natur allgemein sei in ei-                  gestoßen. Ähnliche Initiativen wurden auch in
nem so schlechten Zustand, dass ihre Fähigkeit,                     anderen Bundesländern ­gestartet.

01 Vgl. Secretariat of the Convention on Biological Diversity                        TREIBER DES
(SCBD), Global Biodiversity Outlook 1, Montreal, 2001, S. 59.                  BIODIVERSITÄTSVERLUSTES
02 Food and Agriculture Organization of the UN, In Brief. The
State of the World’s Forests 2018 – Forest Pathways to Sustaina-
                                                                    Das wachsende Problembewusstsein und die stei-
ble Development, Rom 2018, S. 14, www.fao.org/3/CA0188EN/
CA0188EN.pdf.
                                                                    gende Handlungsbereitschaft in der Breite der
03 SCBD, Global Biodiversity Outlook 2, Montreal 2006.              Bevölkerung sind überfällige Entwicklungen,
04 Vgl. Yuanyuan Huang et al., Impacts of Species Richness          denn es ist der Mensch, der für den dramatischen
on Productivity in a Large-scale Subtropical Forest Experiment,     Verlust von Biodiversität und die Veränderung
in: Science 6410/2018, S. 80–83; Forest Isbell et al., High Plant
                                                                    von Ökosystemen verantwortlich ist.
Diversity Is Needed to Maintain Ecosystem Services, in: Nature
477/2011, S. 199–202.
                                                                        Man unterscheidet zwischen direkten und in-
05 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung, For-           direkten Treibern des Bio­di­ver­si­täts­ver­lus­tes.
schungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt, 2019, www.bmbf.     Beispiele für direkte Treiber sind die Zerstörung
de/​upload_filestore/pub/Forschungsinitiative_zum_Erhalt_​der_​     von Lebensräumen etwa durch Ent­wald­ung und
Artenvielfalt.pdf.
                                                                    Land­nu­tzungs­än­de­rungen, der Klimawandel, Ver­
06 Vgl. Intergovernmental Science-policy Platform on Biodi-
versity and Ecosystem Services (IPBES), The Assessment Report
                                                                    schmu­tzung beispielsweise durch Nähr­stoff­ein­
of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity
and Ecosystem Services on Pollinators, Pollination and Food         09 Vgl. IPBES, The Global Assessment Report on Biodiversity
Production, Bonn 2016.                                              and Ecosystem Services, Bonn 2019.
07 Siehe www.iucnredlist.org; vgl. IPBES (Anm. 6).                  10 Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukle-
08 Vgl. Caspar A. Hallmann et al., More than 75 Percent             are Sicherheit (BMU), Umweltbewusstsein in Deutschland 2018,
Decline over 27 Years in Total Flying Insect Biomass in Protected   Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage, Berlin
Areas, in: PLoS ONE 10/2017, https://journals.plos.org/plosone/     2019, www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Pools/Broschueren/
article?id=10.1371/journal.pone.0185809.                            umweltbewusstsein_2018_bf.pdf.

                                                                                                                              05
APuZ 11/2020

trag, Über­ nu­tzung etwa durch Landwirtschaft                                 BEMÜHUNGEN ZUM
und Fischerei sowie die Einführung invasiver Ar-                             BIODIVERSITÄTSSCHUTZ
ten, die einheimische Arten verdrängen.
    Indirekte Faktoren, die den Verlust von Bio-                  Sowohl international als auch national gibt es eine
diversität antreiben, sind die demografische Ent-                 Vielzahl von Strategien und Programmen, die
wicklung, wirtschaftliche Aktivitäten, inter-                     sich aufeinander beziehen und alle das Ziel ha-
nationaler Handel, Konsummuster, kulturelle                       ben, den dramatischen Verlust von Biodiversität
Faktoren sowie wissenschaftlicher und technolo-                   zu stoppen.
gischer Wandel. Indirekte Treiber wirken vor al-
lem durch die Menge an Ressourcen, die durch                                Internationale Gemeinschaft
Menschen genutzt oder verbraucht werden. So                       Diskussionen um den Schutz von Biodiversi-
bewirken zum Beispiel Bevölkerungswachstum                        tät stehen bereits seit den 1970er und 1980er
und höherer Pro-Kopf-Verbrauch einen Anstieg                      Jahren international auf der politischen Agen-
der Nachfrage nach Energie, Wasser, Land und                      da und resultierten 1992 in der Verabschiedung
Nahrung. Die gesteigerte Nachfrage wiederum                       des Übereinkommens über die biologische Viel-
wirkt auf die direkten Treiber wie zum Beispiel                   falt der Vereinten Nationen. Mit diesem Überein-
Entwaldung, weil neue Flächen für die landwirt-                   kommen, auch „Biodiversitätskonvention“ ge-
schaftliche Produktion geschaffen werden müs-                     nannt, hat sich die internationale Gemeinschaft
sen.11 Kulturelle Faktoren, die den Biodiversi-                   drei Ziele gesetzt: erstens Biodiversität zu schüt-
tätsverlust vorantreiben, sind zum Beispiel die                   zen, zweitens Biodiversität nachhaltig zu nutzen
Nachfrage nach Nashornhörnern und Haifisch-                       und drittens die Vorteile der Nutzung genetischer
flossen, die in der traditionellen asiatischen Medi-              Ressourcen fair und gerecht zu teilen.
zin verwendet werden. Durch mehr Elektronik-                          Das Übereinkommen wurde im Rahmen der
und andere Abfälle oder die erhöhte Nachfrage                     Rio-Konferenz über Umwelt und Entwicklung
nach Rohstoffen für neue Technologien können                      verabschiedet und orientiert sich stark an den
auch technologische Innovationen zum Verlust                      drei Dimensionen der Nachhaltigkeit: wirtschaft-
von Biodiversität beitragen.                                      lich, sozial und ökologisch. Damit verfolgt es ei-
    All diese Treiber haben in den vergangenen                    nen ganzheitlichen Ansatz und geht über klassi-
Jahrzehnten global den Druck auf Biodiversität                    sche Schutzansätze hinaus. Das Übereinkommen
erhöht: Die Weltbevölkerung hat sich seit 1970                    zählt heute 196 Vertragsparteien, nur die Verei-
verdoppelt, der internationale Handel hat deut-                   nigten Staaten sowie der Vatikan haben es nicht
lich zugenommen, der Pro-Kopf-Konsum ist ge-                      ratifiziert. Die USA lehnen eine Ratifizierung vor
stiegen und die Wirtschaft ist massiv gewachsen.12                allem wegen des dritten Ziels des Übereinkom-
In Deutschland setzen insbesondere eine intensi-                  mens entschieden ab, da sie Zahlungsforderungen
ve Landwirtschaft mit hohem Nährstoffeintrag                      an die US-amerikanische Biotechnologieindustrie
und der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, die                    befürchten.
Zerschneidung und Zersiedelung der Landschaft                         Wie die UN-Klimakonvention ist auch die
sowie die Versiegelung von Flächen durch den                      Biodiversitätskonvention dynamisch. Im Ab-
Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsflächen die                    stand von zwei Jahren treffen sich die Vertrags-
Biodiversität unter Druck.13                                      staaten zu Vertragsstaatenkonferenzen, um den
                                                                  Stand der Umsetzung der Ziele des Überein-
                                                                  kommens zu diskutieren beziehungsweise de-
11 Vgl. SCBD, Global Biodiversity Outlook 3, Montreal 2010.       ren Umsetzung voranzutreiben. Vertreter*innen
12 Vgl. Sandra Diaz et al., Pervasive Human-driven Decline of
                                                                  aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Industrie
Life on Earth Points to the Need for Transformative Change, in:
Science 6471/2019, S. 28 f.
                                                                  können als Beobachter*innen teilnehmen. Den
13 Vgl. Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), Umwelt-       Konferenzen geht üblicherweise ein längerer Ver-
gutachten 2016 – Impulse für eine integrative Umweltpolitik,      handlungsprozess voraus, um die Entscheidungs-
Berlin 2016, www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/               findung während der Konferenz, die nach dem
DE/01_Umweltgutachten/2016_2020/2016_Umweltgutach-
                                                                  Konsensprinzip erfolgt, zu unterstützen. Die
ten_HD.pdf?__blob=publicationFile; BMU, Biologische Vielfalt
in Deutschland – Rechenschaftsbericht 2017, Berlin 2018, www.
                                                                  Vorbereitung der Konferenzen wird durch eine
bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Pools/Broschueren/biologische_         Reihe von thematischen Arbeitsgruppen unter-
vielfalt_bf.pdf.                                                  stützt, beispielsweise zu Schutz­gebieten.

06
Natur- und Artenschutz APuZ

    Anfang der 2000er Jahre erkannte die inter-         In vielen Ländern wurden in diesem Rahmen
nationale Gemeinschaft, dass das Übereinkom-            zahlreiche Aktionen zum Biodiversitätsschutz
men kaum zu Erfolgen geführt hatte: Der Verlust         durchgeführt.17 Auch in den 2015 auf dem Welt-
der Biodiversität schritt unvermindert voran.14         gipfel für nachhaltige Entwicklung verabschiede-
Als Reaktion darauf wurde während der sechs-            ten globalen Nachhaltigkeitszielen der Vereinten
ten Vertragsstaatenkonferenz in Den Haag im             Nationen wurde der Biodiversitätsschutz veran-
April 2002 das sogenannte 2010-Ziel verabschie-         kert: Zwei der 17 Nachhaltigkeitsziele, Ziel 14
det, mit dem sich die Vertragsstaaten der Biodi-        – Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sin-
versitätskonvention verpflichteten, den Verlust         ne nachhaltiger Entwicklung erhalten und nach-
von Biodiversität bis 2010 global, regional und         haltig nutzen – und Ziel 15 – Landökosysteme
national als einen Beitrag zur Armutsbekämp-            schützen, wiederherstellen und ihre nachhalti-
fung und zum Wohle aller signifikant zu reduzie-        ge Nutzung fördern –, beziehen sich unmittelbar
ren. Dieses Ziel wurde im August 2002 während           auf Bio­diversität.
des Nachhaltigkeitsgipfels in Johannesburg noch
einmal bekräftigt und in der Folge nachträglich                                  Deutschland
in den Katalog der Millenniumsentwicklungszie-          In Deutschland wurde 2007 unter Federführung
le aufgenommen. Aber auch die folgenden zehn            des Bundesumweltministeriums die Nationale
Jahre reichten nicht aus, um den Verlust der Bio-       Strategie zur biologischen Vielfalt zur Umset-
diversität aufzuhalten. Das 2010-Ziel wurde ein-        zung der Biodiversitätskonventionen beschlossen.
deutig verfehlt.15                                      Deutschland war 2008 Gastgeber der neunten
    Dies nahmen die Vertragsstaaten zum An-             Vertragsstaatenkonferenz, und die Verabschie-
lass, 2010 auf der zehnten Vertragsstaatenkonfe-        dung einer eigenen Biodiversitätsstrategie war ein
renz im japanischen Nagoya in der Präfektur Ai-         wichtiges Signal. Auch sie hatte zum Ziel, bis 2020
chi den „Strategischen Plan 2011–2020“ und 20           den Rückgang der Biodiversität aufzuhalten.18
Biodiversitätsziele („Aichi-Ziele“) zu entwickeln,          Seit 2011 wird die Umsetzung der Strategie
in der Hoffnung, endlich eine Trendwende zu er-         durch das Bundesprogramm Biologische Vielfalt
reichen.16 Im Strategischen Plan wurde die Visi-        unterstützt, das gezielt innovative und modell-
on formuliert, dass die Menschheit in Harmonie          hafte Projekte fördert, die den Schutz der Bio-
mit der Natur leben und bis 2050 Biodiversität          diversität anstreben. Das Fördervolumen ist von
geschätzt, erhalten, instandgesetzt und nachhal-        15 Millionen Euro 2015 auf 45 Millionen Euro
tig genutzt sein solle. Die Aichi-Ziele sind 20 rela-   2020 angestiegen.19 Seit 2015 wird die Nationale
tiv konkrete, teilweise mit Indikatoren hinterlegte     Strategie ferner durch die Naturschutz-Offensi-
und somit messbare Ziele. Ziel 1 lautet, dass sich      ve 2020 unterstützt, nachdem ein Indikatoren-
bis 2020 die Menschen des Wertes der Biodiversi-        bericht 2014 belegte, dass die ergriffenen Maß-
tät bewusst sind sowie der Schritte, die sie zu ihrer   nahmen nicht ausreichten, um das 2020-Ziel in
Erhaltung und nachhaltigen Nutzung ergreifen            Deutschland zu erreichen, und auch keine Trend-
müssen. Ziel 5 besagt, dass bis 2020 die Verlust-       wende eingeleitet worden war.20 Die Offensive
rate aller natürlichen Lebensräume einschließlich       formuliert zehn Handlungsfelder, wie Äcker und
Wäldern mindestens um die Hälfte und, soweit            Wiesen sowie Küsten und Meere, die prioritär zu
möglich, auf nahe Null reduziert werden soll.           behandeln sind.
Ziel 11 fordert, bis 2020 mindestens 17 Prozent
der Land- und Binnenwassergebiete und 10 Pro-
zent der Küsten- und Meeresgebiete durch die            17 Siehe www.undekade-biologischevielfalt.de
                                                        18 Vgl. BMU, Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt,
Ausweisung von Schutzgebieten zu schützen.
                                                        2007, www.bfn.de/fileadmin/BfN/biologischevielfalt/Dokumen-
    Um die Erreichung des Strategischen Plans           te/broschuere_biolog_vielfalt_strategie_bf.pdf.
und der Aichi-Ziele zu unterstützen, riefen die         19 Vgl. Bundesamt für Naturschutz, Projekte des Bundespro-
Vereinten Nationen das Jahrzehnt von 2011 bis           gramms Biologische Vielfalt, 2016, https://biologischevielfalt.bfn.
2020 zur „UN-Dekade Biologische Vielfalt“ aus.          de/fileadmin/BfN/service/Dokumente/Broschuere_BPBV_ge-
                                                        samt_barrierefrei.pdf; Bundeshaushaltsplan 2020, Einzelplan 16.
                                                        20 Vgl. BMU, Indikatorenbericht 2014 zur Nationalen Strategie
14 Vgl. SCBD (Anm. 1).                                  zur biologischen Vielfalt, 2015, https://biologischevielfalt.bfn.
15 Vgl. dass. (Anm. 11).                                de/​fileadmin/NBS/documents/Veroeffentlichungen/indikatoren-
16 Vgl. UN Doc. UNEP/CBD/COP/DEC/​X /2.                 bericht_​biologische_vielfalt_2014_bf.pdf.

                                                                                                                        07
APuZ 11/2020

    In Reaktion auf die neuen wissenschaftlichen                lich sei.24 Eine Studie verschiedener Nichtregie-
Erkenntnisse, unter anderem die „Krefelder Stu-                 rungsorganisationen attestierte 2016 nur fünf Pro-
die“, hat die Bundesregierung 2019 ein Aktions-                 zent der Vertragsstaaten, auf einem guten Weg zu
programm zum Insektenschutz verabschiedet. Im                   sein, die Aichi-Ziele zu erreichen. 75 Prozent der
Rahmen des Aktionsprogramms soll durch ein                      Länder machten zwar Fortschritte, aber in kei-
Insektenschutzgesetz, durch höhere finanzielle                  nem Land waren diese so ausgeprägt, dass sie dem
Mittel für Forschung und Insektenschutz sowie                   2020-Ziel auch nur nahe kamen. 20 Prozent der
durch strengere Auflagen bei der Anwendung                      Länder konnten überhaupt keine Fortschritte im
von Pestiziden eine Trendumkehr beim Insekten-                  Biodiversitätsschutz ­vorweisen.25
sterben erreicht werden.21                                          International gibt es die Bereitschaft, sich
                                                                auf der nächsten Vertragsstaatenkonferenz im
                  Europäische Union                             Oktober 2020 in Kunming in China wieder auf
Auf europäischer Ebene wurde 2011 ebenfalls                     ein neues Ziel zu einigen. Unter dem Stichwort
eine Biodiversitätsstrategie verabschiedet, die das             „Post-2020 Framework“ wird schon seit eini-
internationale 2020-Ziel auf Europa überträgt.                  gen Monaten in einer Arbeitsgruppe diskutiert
Die Strategie formuliert sechs Ziele zu Vögeln,                 und über mögliche Inhalte verhandelt. Seit Ja-
Ökosystemen, Landwirtschaft, Wald, Fischerei                    nuar 2020 liegt ein erster Entwurf vor, der zeigt,
und für einen globalen Schutz, die dazu beitra-                 wie eine neue Strategie zum globalen Schutz von
gen sollen, den Verlust von Biodiversität aufzu-                Biodiversität aussehen könnte. Kernstück des
halten.22                                                       Entwurfs ist eine Theorie des Wandels. Biodi-
    Auch im European Green Deal, der Strate-                    versitätsschutz wird nicht als eine sektorale oder
gie für klimaneutrales Wachstum für Europa,                     zwischensektorale Herausforderung verstanden,
die 2019 von der neuen EU-Kommission vorge-                     sondern der Entwurf legt dar, dass die gelebten
legt wurde, ist Biodiversität als einer der sieben              wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Mo-
zu adressierenden Politikbereiche definiert.23 So               delle transformiert werden müssen, um den Ver-
nimmt sich die EU vor, im März 2020 eine neue                   lust von Biodiversität zu stoppen. Damit geht der
ambitionierte Biodiversitätsstrategie vorzulegen                neue Vorschlag weiter als seine Vorgänger. Den-
und international bei den Verhandlungen über                    noch enthält das Dokument wieder eine Reihe
neue Schutzziele eine Schlüsselrolle zu spielen.                von Zielen und Unterzielen, ohne viel darüber
Weiterhin sollen alle politischen Maßnahmen der                 auszusagen, wie diese erreicht werden sollen.26
EU in Zukunft zur Erhaltung und Wiederherstel-                      Es stellt sich die Frage, was ein neues Zielsys-
lung von Biodiversität in Europa beitragen. Ins-                tem bewirken kann, wenn bisher so wenig erreicht
besondere Landwirtschaft und Fischerei werden                   wurde. An konkreten Zielen hat es bisher nicht
als zentrale Sektoren genannt.                                  gemangelt. Trotz all der Strategien, Gesetze und
                                                                Förderprogramme, ob auf internationaler, euro-
                 WORAN HAKT ES?                                 päischer oder nationaler Ebene, ist der Verlust von
                                                                Biodiversität nicht aufzuhalten. Woran liegt das?
2020 wird erneut das globale Ziel, den Verlust                      Erstens findet keine ambitionierte Umset-
von Biodiversität aufzuhalten, nicht erreicht wer-              zung der gesteckten Ziele statt. Das zeigt sich
den. Bereits 2014 äußerten Wissenschaftler*innen                beispielsweise bei der Finanzierung der Schutz-
Zweifel, dass ein Erreichen überhaupt noch mög-                 maßnahmen. Es wird geschätzt, dass etwa 150 bis

21 Vgl. BMU, Aktionsprogramm Insektenschutz, Gemeinsam          24 Vgl. Derek P. Tittensor et al., A Mid-term Analysis of
wirksam gegen das Insektensterben, 2019, www.bmu.de/            Progress toward International Biodiversity Targets, in: Science
fileadmin/Daten_BMU/Pools/Broschueren/aktionsprogramm_​         6206/2014, S. 241–244.
insektenschutz_kabinettversion_bf.pdf.                          25 Vgl. UN Environment World Conservation Monitoring
22 Vgl. Europäische Kommission, Die Biodiversitätsstrategie     Centre/International Union for Conservation of Nature and
der EU bis 2020, 2011, https://ec.europa.eu/environment/​       Natural Resources/National Geographic Society, Protected
nature/​info/​pubs/​docs/brochures/2020%20Biod%20brochure_​     Planet Report 2018, Tracking Progress towards Global Targets
de.pdf.                                                         for Protected Area, 2018, https://livereport.protectedplanet.net/
23 Vgl. Europäische Kommission, Der europäische Grüne Deal,     pdf/Protected_Planet_Report_2018.pdf.
2019, https://ec.europa.eu/environment/nature/info/pubs/docs/   26 Vgl. SCBD, Zero Draft of the Post-2020 Global Biodiversity
brochures/2020%20Biod%20brochure%20final%20lowres.pdf.          Framework, Montreal 2020.

08
Natur- und Artenschutz APuZ

440 Milliarden US-Dollar pro Jahr nötig sind, um                      Drittens wird der Nutzen der biologischen
die ambitionierten Aichi-Ziele zu erreichen. Die                  Vielfalt für die Gesellschaft als Ganzes nicht aus-
jährlich bereitgestellten Mittel bleiben allerdings               reichend anerkannt oder berücksichtigt. Eine
deutlich dahinter zurück. 2015 beliefen sich die                  Vielzahl von Studien, insbesondere die der Initi-
Posten für nationale Biodiversitätsschutzmaß-                     ative The Economics of Ecosystems and Biodi-
nahmen in den öffentlichen Haushalten der Ver-                    versity (TEEB) oder des Projekts Naturkapital
tragsstaaten auf zusammengerechnet rund 49 Mil-                   Deutschland,31 haben versucht, durch eine öko-
liarden US-Dollar.27 Ein Verfehlen der Ziele und                  nomische Perspektive die Leistungen der Biodi-
Strategien hat keinerlei Konsequenzen. Zwar gibt                  versität monetär sichtbar zu machen. Dies kann
es im Rahmen der Biodiversitätskonvention ver-                    aber nur ein Baustein sein. Aus der Erkenntnis
schiedene Instrumente zur Rechenschaftslegung                     heraus, dass Biodiversität nicht auf einen ökono-
und Fortschrittskontrolle. So haben sich die Ver-                 mischen Wert reduziert werden kann, ist es viel-
tragsstaaten 2010 verpflichtet, Biodiversitätsstra-               mehr wichtig, dass nicht der unmittelbare wirt-
tegien und Aktionspläne zu implementieren und                     schaftliche Gewinn durch die Biodiversität in den
dies dem Sekretariat der Biodiversitätskonventi-                  Vordergrund gestellt wird, sondern der langfristi-
on zu berichten, dem 191 Länder bis heute min-                    ge Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung für
destens einmal nachgekommen sind.28 Ferner                        die Gesellschaft.32
müssen die Vertragsstaaten in regelmäßigen Ab-                        Viertens funktioniert die Fokussierung auf
ständen nationale Berichte zum Umsetzungssta-                     technisch-ökonomische Lösungen beim Schutz
tus einreichen. Der sechste Nationale Bericht war                 von Biodiversität nicht. Die Zusammenhänge
Ende 2018 fällig und wurde von 85 Ländern ein-                    zwischen dem Verlust von Biodiversität und ih-
gereicht.29 Aber letztendlich handelt es sich bei                 ren Ursachen sind sehr komplex. Einfache tech-
der Biodiversitätskonvention um freiwillige Ver-                  nische Lösungen sind nicht anwendbar, und öko-
einbarungen, sodass im Falle der Nichteinhaltung                  nomische Instrumente kommen schnell an ihre
keine Sanktionsmechanismen greifen.                               Grenzen, wenn die tatsächlichen Kosten, die
    Zweitens fallen, auch wenn der Schutz von                     durch die Inanspruchnahme von Biodiversität
Biodiversität grundsätzlich von der Gesellschaft                  entstehen, unberücksichtigt bleiben.
für wichtig erachtet wird, individuelle Entschei-                     Fünftens wird der Zustand der Biodiversi-
dungen oft nicht im Sinne der Biodiversität aus.                  tät stark von einer Vielzahl anderer Politikfelder
Das kann verschiedene Gründe haben. Verhal-                       beeinflusst, wie zum Beispiel der Agrarpolitik,
tensänderungen bedingen oft größere Einschnit-                    der Siedlungs- und Verkehrspolitik oder auch
te in den Lebensalltag, etwa höhere Kosten oder                   der Verbraucherpolitik. In diesen Politikfeldern
mehr Zeitaufwand, und werden deshalb abge-                        wird ein Rahmen definiert, in dem beispielswei-
lehnt. Nutzungseinschränkungen werden teil-                       se Entscheidungen über Landnutzung oder Kon-
weise sogar als freiheitseinschränkend wahrge-                    sum getroffen werden.33 Solange in diesen Poli-
nommen. Manchmal ist es aber auch schlicht die                    tikfeldern der Schutz von Biodiversität keine
Unkenntnis von verschiedenen Kausalzusam-                         Rolle spielt, kann nicht mit Erfolgen gerechnet
menhängen, die Menschen an eingeübten Verhal-                     werden.
tensweisen festhalten lassen.30                                       Sechstens beeinflussen mächtige Akteursgrup-
                                                                  pen mit privatwirtschaftlichen Interessen durch
27 Vgl. OECD, Biodiversity: Finance and the Economic and          Lobbyarbeit die Formulierung von Schutzzie-
Business Case for Action, 2019, www.oecd.org/environment/         len und die Umsetzung von Schutzmaßnahmen
resources/biodiversity/G7-report-Biodiversity-Finance-and-the-    etwa in den Bereichen Landwirtschaft und Ver-
Economic-and-Business-Case-for-Action.pdf.
                                                                  kehr. Häufig verhindern sie so effektiven Biodi-
28 SCBD, National Biodiversity Strategies and Action Plans
Status, 31. 1. 2020, www.cbd.int/doc/nbsap/nbsap-status.doc.
                                                                  versitätsschutz.
29 Über den Clearinghouse-Mechanismus der Biodiversitäts-
konvention kann man die Berichte einsehen, siehe https://chm.
cbd.int/search/reporting-map?filter=nr6.                          31 Siehe www.ufz.de/teebde.
30 Vgl. SRU, Demokratisch regieren in ökologischen Grenzen –      32 Zur Ökonomisierung im Naturschutz siehe auch den Beitrag
Zur Legitimation von Umweltpolitik, Sondergutachten, Juni 2019,   von Franziska Wolff in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).
www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/02_Sondergut-            33 Vgl. Naturkapital Deutschland – TEEB DE, Werte der Natur
achten/2016_2020/2019_06_SG_Legitimation_von_Umwelt-              aufzeigen und in Entscheidungen integrieren. Eine Synthese,
politik.pdf?__blob=publicationFile&v=13.                          Leipzig 2018.

                                                                                                                          09
APuZ 11/2020

    Siebtens befindet sich ein Großteil der noch                          Eine solche Transformation ist nur möglich,
verbleibenden Biodiversität in Entwicklungs-                          wenn politische Entscheidungen wissensbasiert
und Schwellenländern, deren Etats für Umwelt-                         erfolgen. Wissenschaftliche Erkenntnisse über
schutz und insbesondere für Biodiversitätsschutz                      Ausmaß und Ursachen des Verlustes von Biodi-
oft sehr klein sind, sodass sie auf Unterstützung                     versität sowie über den Wert von Biodiversität
im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit                          müssen stärker Eingang in politische Entschei-
angewiesen sind.34 Bisher werden seitens der In-                      dungsprozesse finden. Dazu muss die naturwis-
dustrieländer nicht die nötigen finanziellen Mit-                     senschaftliche, aber auch die sozialwissenschaft-
tel bereitgestellt, um biologische Vielfalt in die-                   liche Biodiversitätsforschung gestärkt werden.
sen globalen Biodiversitätszentren zu schützen.                       In wachsenden Teilen der Gesellschaft entwi-
Insgesamt ist jedoch ein Anstieg zu verzeichnen:                      ckelt sich eine positive Haltung zum Schutz der
2017 wurden bilateral im Rahmen der Öffentli-                         Umwelt und der Biodiversität. Die Politik sollte
chen Entwicklungszusammenarbeit 8,7 Milliar-                          sich dem annehmen und mutige Maßnahmen zum
den US-Dollar in den Schutz von Biodiversität                         Biodiversitätsschutz ergreifen und gleichzeitig die
investiert. Das entspricht einem Plus von 15 Pro-                     Bürger*innen im Rahmen von Diskussions- und
zent im Vergleich zu 2016.35                                          Konsultationsformaten beteiligen. Strategien zum
                                                                      Schutz von Biodiversität müssen eindeutig de-
                          AUSBLICK                                    finierte und messbare Ziele vorgeben, die über-
                                                                      prüfbar sind und deren Nichteinhaltung Konse-
Die Zeit des Zögerns ist vorbei: Der alarmie-                         quenzen nach sich ziehen. Verantwortlichkeiten
rende Zustand der Natur erfordert eine weit-                          in Bezug auf die Umsetzung müssen klar geregelt
reichende Transformation hin zu einer Ge-                             und verantwortliche Ministerien und Behörden
sellschaft, die sich innerhalb der planetaren                         gestärkt werden. Biodiversitätsschutz erfordert
Belastungsgrenzen entfaltet und damit Biodi-                          eine sektorübergreifende Kooperation, Umwelt-
versität und Ökosysteme schützt. Eine solche                          ministerien und Ministerien anderer Politikfel-
Transformation erfordert eine entscheidende                           der wie Landwirtschaft und Verkehr sollten den
Änderung von praktizierten Wirtschaftsweisen,                         Schutz von Biodiversität daher gemeinsam ange-
Produktionsprozessen, Infrastrukturen und                             hen. Fehlanreize in anderen Sektoren, zum Bei-
Konsummustern. Insbesondere muss das Para-                            spiel für eine intensive Landwirtschaft, sollten ab-
digma eines dauerhaften Wirtschaftswachstums                          geschafft werden.
auf Grundlage der Übernutzung natürlicher                                 Deutschland hat hier 2020 eine besonde-
Ressourcen aufgegeben werden. Wirtschaftli-                           re Verantwortung. Im zweiten Halbjahr hat
ches Handeln muss mit den planetaren Belas-                           Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft inne –
tungsgrenzen in Einklang gebracht werden.                             genau dann, wenn auf internationaler Ebene die
Langfristig sichert der Erhalt der Biodiversität                      Weichen für den Schutz von Biodiversität für die
die Lebensgrundlage der Menschen und ermög-                           nächsten 30 Jahre gestellt werden.
licht eine nachhaltige Entwicklung. Im Zuge
der Transformation müssen deshalb vielfälti-
ge Pfadabhängigkeiten überwunden werden.                              CARMEN RICHERZHAGEN
Kurzfristige nationale Interessen müssen zu-                          ist promovierte Agrar- und Umweltökonomin und
gunsten des globalen Gemeinwohls zurückge-                            arbeitet als Wissenschaftliche Referentin in der
stellt ­werden.36                                                     Abteilung Sozial-ökologische Forschung, Bereich
                                                                      Umwelt und Nachhaltigkeit, im DLR Projektträger
                                                                      in Bonn.
34 Vgl. Carmen Richerzhagen/Jean Carlo Rodríguez de
Francisco/Katharina Stepping, Why We Need More and Better
                                                                      carmen.richerzhagen@dlr.de
Biodiversity Aid, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, Brie-
fing Paper 13/2016, Bonn 2016.                                        JEAN CARLO RODRÍGUEZ DE FRANCISCO
35 UN Doc. E/2019/68.                                                 ist promovierter Umweltökonom und arbeitet als
36 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale
                                                                      wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungspro-
Umweltveränderungen, Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag
für eine Große Transformation, Berlin 2011, www.wbgu.de/
                                                                      gramm Umwelt-Governance am Deutschen Institut
fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/hauptgutachten/              für Entwicklungspolitik in Bonn.
hg2011/pdf/wbgu_jg2011.pdf.                                           jean.rodriguez@die-gdi.de

10
Natur- und Artenschutz APuZ

       VON GROẞEN ZAHLEN, STILLEM
     STERBEN UND DER SPRACHLOSIGKEIT
             DER MENSCHHEIT
                 Eine kleine Geschichte des Artenschutzes
                                          Frank Uekötter

Um 1900 war die deutsche Wissenschaft welt-           ten Regionen zu verbannen, und Koch ließ sich
weit führend. Zu den bekanntesten Köpfen zähl-        bereitwillig auf den Vorschlag ein, zunächst ei-
te der Mediziner Robert Koch. Er entdeckte den        nen Feldversuch am Fuß der Usambara-Berge
Erreger der Tuberkulose, damals eine gefürchte-       im Norden des heutigen Tansanias zu unter-
te Volkskrankheit, und gilt gemeinsam mit dem         nehmen. In der Öffentlichkeit kam der Vor-
Franzosen Louis Pasteur als Gründervater der          schlag freilich weniger gut an. Binnen Wo-
Bakteriologie. Auf der Suche nach dem Cho-            chen entstand eine hitzige Kontroverse, in der
lera-Erreger reiste er nach Ägypten und weiter        Koch entgegengehalten wurde, dass die Deut-
nach Indien, und nachdem er das Bakterium in          schen als „Kulturvolk“ verpflichtet seien, die
Kalkutta endlich identifiziert hatte, wurde sei-      Tier- und Pflanzenwelt der Kolonien zu be-
ne Rückkehr nach Deutschland zum Triumph-             wahren. Es war eine der ersten großen Ausei-
zug. 1905 erhielt er den Nobelpreis für Medizin.      nandersetzungen in der Geschichte des Arten-
Ab 1891 leitete Koch das eigens für ihn gegrün-       schutzes in Deutschland, und der öffentliche
dete Institut für Infektionskrankheiten in Ber-       Aufschrei hinterließ bei dem Nobelpreisträger
lin, und in dieser Eigenschaft beschäftigte er sich   einen nachhaltigen Eindruck. Als Koch nach
auch mit der Schlafkrankheit und der Rinder-          der Rückkehr von einer Reise nach Japan und
pest in Afrika. Seine langjährigen Forschungen        in die USA von den empörten Reaktionen er-
führten ihn zu der Überzeugung, dass afrikani-        fuhr, bemühte er sich, das Ganze als Missver-
sche Großtierarten wie Gnus und Kaffernbüffel         ständnis hinzustellen.01
der entscheidende Wirt der Krankheitserreger
waren und dass die Übertragung durch Tsetse-                           WAS IST DAS
fliegen erfolgte. Die Frage war, was man dage-                          PROBLEM?
gen unternehmen konnte. Gegen Abermillionen
von Fliegen waren Mediziner damals ziemlich           Die Kontroverse wirft ein erhellendes Schlaglicht
hilflos. Aber vielleicht sah das bei den Säugetie-    darauf, wie sich Artensterben von anderen öko-
ren anders aus? Eine ordentliche Rinderzucht          logischen Herausforderungen unterschied. Vie-
in Afrika war für Koch nur denkbar, wenn jede         le Umweltprobleme waren nämlich ohne großes
Übertragung durch infizierte Wildtiere ausge-         Vorwissen verständlich. Jeder aufmerksame Bau-
schlossen werden konnte. Deshalb formulierte          er merkte, wenn der Boden auf seinem Ackerland
er im Februar 1908 bei einem Vortrag vor dem          erodierte. Über die Folgen der Abholzung dach-
Deutschen Landwirtschaftsrat in Anwesenheit           ten die Menschen bereits in der Antike nach. Der
prominenter Zuhörer bis hoch zum Kaiser einen         Smog von London war ein Gesprächsthema, lan-
radikalen Vorschlag: Man müsse die Wildtiere          ge bevor die ersten wissenschaftlichen Messun-
einfach ausrotten.                                    gen begannen. Artensterben konnte man hinge-
    Aus heutiger Sicht klingt der Vorschlag ra-       gen nicht einfach beim aufmerksamen Blick in
dikaler, als er gemeint war. Es ging nicht um         die natürliche Umwelt erkennen. Mehr als andere
eine restlose Eliminierung, sondern vielmehr          Umweltprobleme hing der Artenschutz an einem
darum, die Tiere aus landwirtschaftlich genutz-       Prozess kultureller Konstruktion, der insbeson-

                                                                                                       11
APuZ 11/2020

dere von den Ergebnissen der neuzeitlichen Wis-                        Die Interessen eines Großwildjägers konzen-
senschaft angetrieben wurde.                                       trierten sich zwangsläufig auf große Säugetiere,
    Die Konzepte, die unserer Vorstellung von                      und sie waren nicht die einzigen Naturschützer,
Artensterben zugrunde liegen, mussten erst müh-                    die mit Vorliebe auf ausgewählte Arten blickten.
sam entwickelt werden und sich dann in der Kon-                    Neben der charismatischen Megafauna der kolo-
kurrenz mit anderen Wissensregimen behaupten.                      nialen Welt waren vor allem die Vögel organisa-
In dieser Hinsicht markierte das 18. Jahrhundert                   torisch bestens vertreten, und in manchen Län-
und speziell die Aufklärung eine Wasserschei-                      dern – allen voran Großbritannien – wurde das
de, die auf eine scharfe Trennung zwischen den                     sorgsame Beobachten der Vogelwelt geradezu
Wissenswelten der Vormoderne und der heutigen                      zur Massenbewegung bis hin zu frühmorgend-
Welt hinauslief. Um Artensterben als Problem zu                    lichen Expeditionen mit Fernglas und Gummi-
markieren, brauchte es eine Vorstellung von Ar-                    stiefeln. Wenn es um den Schutz der Arten ging,
ten als kognitiven Einheiten und die Idee, dass                    waren Tiere und Pflanzen alles andere als eine
nicht nur einzelne Tiere sterben können, son-                      Gemeinschaft der Gleichen, und das hat sich
dern auch sämtliche Vertreter einer Art. Solange                   auch im ökologisch aufgeklärten 21. Jahrhun-
die Erde nur ein paar Tausend Jahre alt zu sein                    dert nicht grundsätzlich geändert. Wenn es um
schien und die Tier- und Pflanzenwelt als göttli-                  attraktive Bilder für die Spendenwerbung geht,
che Schöpfung galt, waren die heute so vertrau-                    haben Elefanten, Tiger und Menschenaffen wei-
ten Sorgen im wörtlichen Sinne undenkbar. Hin-                     terhin bessere Chancen als die meisten anderen
zu kam die ethische Frage, ob die Dezimierung                      Arten, und der World Wide Fund for Nature
einer Art gerechtfertigt war, wenn es dem Men-                     (WWF) pflegt weiterhin den kuscheligen Panda
schen diente. Ein Mediziner wie Koch war in die-                   als Symboltier.
ser Hinsicht berufsbedingt besonders schwach
sensibilisiert. Der massenhafte Tod von Lebewe-                               IKONE DES ARTENSTERBENS:
sen war schließlich das, worauf Bakteriologen ge-                                    DER DODO
zielt hinarbeiteten. Und warum sollten für Gnus
andere Regeln gelten als für Mikroorganismen?                      So hatte der Umgang mit den bedrohten Tieren
    Kochs Gegenspieler hatten ihre eigenen                         von Anfang an einen Hauch von Model-Wett-
Scheuklappen. Der Naturschutz war im koloni-                       bewerb. Um in die engere Wahl zu kommen,
alen Afrika fest in den Händen einer Gruppe von                    brauchte es eine gewisse Mindestgröße, ein wei-
Männern, die niemand einer übermäßigen Senti-                      ches Fell oder Federn waren zumindest hilfreich,
mentalität beschuldigte. Diese Männer waren die                    und dann war da noch das gewisse Extra. Beim
Großwildjäger. Zum Reiz der kolonialen Welt ge-                    Dodo, vielleicht das Symboltier der ausgestorbe-
hörte eine charismatische Megafauna, und das Ti-                   nen Arten schlechthin, war es ein großer Schna-
gerfell an der Wand sowie testosteronlastige Ge-                   bel und eine pummelige Figur, die dem flugun-
schichten von der Pirsch dienten als Ausweis,                      fähigen Vogel eine charmante Unbeholfenheit
dass ein Mann seinen Dienst für die Verbreitung                    verliehen. Von seinem ganzen Erscheinungsbild
der westlichen Zivilisation geleistet hatte. Es be-                her scheint der Dodo nach einer Menschheit zu
durfte nicht der rückblickenden Weisheit einer                     rufen, die sich von seinem Anblick rühren lässt
postkolonialen Welt, um die Spannung zwischen                      und das für sein Überleben Erforderliche in die
Naturbewahrung und männlicher Bewährung zu                         Wege leitet. Als aussterbende Spezies war der
erkennen. Die britische Presse titulierte die zum                  Dodo, der auf Mauritius im Indischen Ozean
Naturschutz konvertierten Großwildjäger, die                       lebte, schließlich alles andere als singulär. Allein
sich 1903 in der Society for the Preservation of                   auf der Inselgruppe der Maskarenen, zu der ne-
the Wild Fauna of the Empire organisierten, als                    ben Mauritius noch Rodrigues und das franzö-
„reumütige Schlächter“.02                                          sische Übersee-Département La Réunion gehö-
                                                                   ren, starben vor 1800 mindestens 48 endemische
                                                                   Arten aus.03
01 Zu dieser Kontroverse vgl. Bernhard Gissibl, The Nature of
German Imperialism. Conservation and the Politics of Wildlife in
Colonial East Africa, New York 2016, S. 153–158.                   03 Vgl. Samuel T. Turvey/Anthony S. Cheke, Dead as a Dodo.
02 Richard Fitter/Peter Scott, The Penitent Butchers. The Fauna    The Fortuitous Rise to Fame of an Extinction Icon, in: Historical
Preservation Society 1903–1978, London 1978, S. 8.                 Biology 2/2008, S. 149–163, hier S. 150.

12
Natur- und Artenschutz APuZ

Abbildung des Dodos in „Gleanings of Natural History“ von George Edwards, 1758–1764.
Quelle: Education Images/Kontributor.

    Der Dodo machte schon zu Lebzeiten Furo-        Wissenschaft einen besonderen Stellenwert hat-
re. Europäische Naturforscher diskutierten ihn      ten. Später machte der Schriftsteller Lewis Caroll,
mit Leidenschaft, sei es, weil sein ungewöhnli-     eigentlich als Charles Lutwidge Dodgson Dozent
ches Aussehen lebhafte Debatten über biologi-       an der Universität Oxford, den Dodo zu seinem
sche Klassifikationen erlaubte, oder einfach weil   Alter Ego in seinem Roman „Alice im Wunder-
Kuriositäten in der Frühzeit der akademischen       land“, aber die kulturelle Überformung der Spe-

                                                                                                      13
APuZ 11/2020

zies begann schon früher. Es ist gut möglich, dass        Ob sich derzeit ein vergleichbares Massen-
der Dodo von den Naturforschern des 17. Jahr-         sterben vollzieht, hängt auch an den wissen-
hunderts träger und unförmiger gemacht wurde,         schaftlichen Unsicherheiten und insbesondere
als er in Wirklichkeit war. Damals war Mauritius      der Vergleichbarkeit fossiler Funde mit heutigem
im Besitz der niederländischen Ostindien-Kom-         biologischen Wissen. Man braucht jedoch nicht
panie, einer reichen und mächtigen Handelsge-         unbedingt den erdgeschichtlichen Vergleich, um
sellschaft, deren Geschäftsgebaren so berüchtigt      alarmiert zu sein. Der Raubbau an einer biologi-
war, dass das Kürzel der Firma – VOC – nach ih-       schen Vielfalt, die unser Planet in Millionen von
rem Untergang als vergaan onder corruptie (Un-        Jahren akkumuliert hat, ist in jedem Fall dra-
tergang durch Korruption) gelesen wurden. Ein         matisch, und anders als beim Klimawandel, wo
fetter, flugunfähiger Vogel war da ein probates       das Heer der Skeptiker auch dank generöser fi-
Vehikel der Kritik.                                   nanzieller Unterstützung von einschlägigen In-
    Die genauen Ursachen für das Aussterben           teressenten einfach nicht verschwinden will, hat
des Dodo sind weiterhin umstritten. Vielleicht        beim Schwinden der Arten in der Moderne noch
war es die Bejagung durch hungrige Seeleute, die      niemand ernsthaft die These vertreten, dass der
auf dem langen Weg von den Niederlanden nach          Mensch daran unschuldig sei.
Ostasien in Mauritius Station machten – wobei             Ein derart dramatisches Geschehen ver-
„Jagd“ vielleicht ein arg heroisches Wort ist bei     langt eigentlich aus Gründen der moralischen
einem Tier, das man einfach einsammeln konn-          Symmetrie nach ähnlich dramatischen Ursa-
te. Vielleicht lag es auch an den Ratten, die mit     chen. Aber der Dodo verschwand lediglich,
den Schiffen auf die Insel kamen. Der Dodo war        weil niederländische Seeleute nach Wochen auf
besonders empfindlich für invasive Arten, weil        dem Meer eine kleine Unterbrechung ihrer Rei-
er auf Mauritius bis zur Ankunft der Niederlän-       se goutierten. Nichts spricht für eine bewusste
der keine natürlichen Feinde hatte. Womöglich         Dezimierung oder gar die Absicht, der Spezi-
gab es auch andere Ursachen, die im komplexen         es den Garaus zu machen, und ähnlich war es
Wechselspiel der natürlichen Umwelt verborgen         beim stillen Sterben vieler anderer Arten: Nie-
blieben. Es ist noch nicht einmal klar, wann der      mand wollte deren Verschwinden, kaum jemand
Dodo eigentlich ausstarb. Bis 1620 berichteten        bemerkte etwas, und als sich das änderte, war es
Reisende regelmäßig über den Dodo, aber da-           zu spät. Anders als bei der Klimapolitik gab es
nach taucht der Vogel in den überlieferten Dar-       in vielen Fällen keine Profiteure. Die industrie-
stellungen nur noch sporadisch auf, und irgend-       förmige Land- und Forstwirtschaft, die weitaus
wann vor dem Ende des 17. Jahrhunderts starb          wichtigste Ursache für das Schwinden der Ar-
die Art aus. Biologen sind bemerkenswert ge-          ten, hatte mit Biodiversität nicht das geringste
schickt darin, das Aussehen und die Lebensge-         Problem, solange sie sich nicht auf den eigenen
wohnheiten des Dodos aus Knochenfunden zu             Feldern oder in den eigenen Ställen entfaltete.
rekonstruieren, aber das Jahr, in dem der letz-       Ausrottungsfantasien gab es allenfalls bei Aka-
te Dodo sein Leben aushauchte, wird wohl auf          demikern im Höhenrausch – Robert Koch lässt
ewig unbekannt bleiben.                               grüßen.
    Das stille Sterben des Dodo ist mehr als eine         In den sozialen Bewegungen, die sich um
historische Fußnote. Das Artensterben, das mit        den Schutz der natürlichen Umwelt bemüh-
dem Aufstieg des Menschen zur dominanten Spe-         ten, war das Artensterben deshalb lange Zeit
zies der Erde begann, ist eine Zäsur von planetari-   ein randständiges Thema. Das gilt selbst für die
scher Bedeutung. Solche Formulierungen klingen        Tierschutzbewegung, die sich bereits zur Mitte
leicht wie rhetorische Kraftmeierei, aber tatsäch-    des 19. Jahrhunderts formierte. Den einschlägi-
lich wird unter Biologen über die These eines         gen Vereinen ging es nicht um Arten, sondern
sechsten Massensterbens in der Geschichte der         um konkrete Tiere und deren Wohlergehen.
Erde diskutiert. Ausgangspunkt ist der Befund         Gerne wurde dabei in den frühen Jahren das
aus Analysen von Fossilien, dass sich das Arten-      despektierliche Verhalten der niederen Klas-
sterben an bestimmten Punkten der Erdgeschich-        sen thematisiert, so etwa bei Hahnenkämpfen
te dramatisch beschleunigte. Als dies das letzte      in den Hinterhöfen englischer Arbeiterquartie-
Mal vor 66 Millionen Jahren geschah, starben die      re oder bei Kutschern, die ihre Pferde mit Peit-
Dinosaurier aus.                                      schenschlägen traktierten. Später wurden auch

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Natur- und Artenschutz APuZ

die Tierversuche in der medizinischen For-            Schutzgebieten ging es immer auch um die
schung thematisiert. Es gab für engagierte Tier-      Macht des modernen Territorialstaats. Das ist
schützer im langen 19. Jahrhundert viele The-         nur lange Zeit nicht so recht aufgefallen, weil
men, aber das Aussterben ganzer Arten zählte          staatliche Autorität auf den ersten Blick kein
nicht dazu.                                           großes Problem zu sein schien. Als in den
    Etwas komplizierter lagen die Dinge bei der       1960er Jahren der große Boom der Schutzge-
Naturschutzbewegung, die sich in der Zeit um          bietsausweisungen begann, waren die Interven-
1900 in den meisten Ländern des Westens for-          tionsstaaten des Westens auf dem Höhepunkt
mierte. Was diese Bewegungen jeweils als die zu       ihrer Macht. In den folgenden Jahrzehnten er-
schützende Natur identifizierten, hing nämlich        wies sich staatliche Macht jedoch zunehmend
in hohem Maße von der jeweils verfügbaren Flo-        als fragil bis hin zu den gescheiterten Staaten des
ra und Fauna sowie von nationalen und kultu-          Globalen Südens, und diese Entwicklung hat
rellen Besonderheiten der einzelnen Länder ab.        unter Historikern ein Interesse am Verhältnis
Am nächsten kamen wohl die Wildtierreservate          von Naturschutz und staatlicher Autorität ge-
in den Kolonien, die von den erwähnten Groß-          weckt. Lange galt als ausgemacht, dass der Na-
wildjägern unterstützt und später häufig in Na-       turschutz im späten 19. Jahrhundert aus neu-
tionalparks umgewandelt wurden. Oft ging es           en Ideen über die Bedrohung der freien Natur
freilich in erster Linie um visuelle Reize: spekta-   durch die Industriemoderne entstand, aber das
kuläre Felsformationen, ikonische Landschaften,       war nur die halbe Geschichte. Der Naturschutz
beliebte Ausflugsziele, Superlative der Natur. Die    moderner Prägung basierte auch auf der Neuer-
Vereinigten Staaten, die um 1870 mit Yellowstone      findung staatlicher Macht in der zweiten Hälfte
und Yosemite die ersten Nationalparks der Welt        des 19. Jahrhunderts.
schufen, brauchten bis 1934, um mit den Evergla-          Der Umschwung wird deutlich, wenn man
des erstmals die Schaffung eines Nationalparks        die Naturschutzgebiete der Moderne mit älte-
ökologisch zu begründen.                              ren Schutzgebieten vergleicht. Wenn ein Mon-
                                                      arch im 17. oder 18. Jahrhundert ein Gebiet un-
                SCHUTZGEBIETE                         ter besonderen Schutz stellte, dann ging es in
                                                      aller Regel um die Jagd, die als fürstliches Privi-
Wenn Naturschutzgebiete vor 1950 Arten vor            leg einen besonderen Aufwand rechtfertigte. Die
dem Aussterben retteten, dann war das meist ein       Jagdgebiete wurden mit großem Aufwand mar-
Nebeneffekt. Ohnehin sollte man sich vor der          kiert bis hin zu Bretterwänden zur Einhegung
Illusion hüten, dass es bei solchen Schutzgebie-      des Wilds, und doch war die Macht der Herr-
ten lediglich um die Bewahrung einer bedrohten        schenden fragil: Die Konflikte zwischen bäuerli-
Natur gegangen wäre. Schweden schuf zum Bei-          cher Landwirtschaft und fürstlicher Jagd ziehen
spiel im frühen 20. Jahrhundert Nationalparks         sich durch die Geschichte der Frühen Neuzeit.
im Land der indigenen Samen, um die Autorität         Staatliche Macht war stets an bestimmten Orten
der schwedischen Regierung im hohen Norden            konzentriert, insbesondere in den Schlössern der
zu konsolidieren. Großbritannien verfolgte ähn-       Landesherren, und sie verringerte sich mit wach-
liche Interessen, als es nach dem Zweiten Welt-       sender Distanz vom Sitz des Souveräns. Die Na-
krieg die Ausweisung von Nationalparks in sei-        turschutzgebiete, die seit dem späten 19. Jahr-
nen afrikanischen Kolonien forcierte. Sie waren       hundert oft in peripheren Regionen eingerichtet
ein Signal, dass sich London nun mit besonde-         wurden, wären unter den Bedingungen des früh-
rer Sorgfalt um seinen kolonialen Besitz küm-         neuzeitlichen Staates eine leere Geste gewesen.
mern würde. Außerdem sollten sie das weitsich-        Es gab einfach nicht die Mittel, dem Wort des
tige Management natürlicher Ressourcen durch          Souveräns auf der gesamten Fläche Geltung zu
den weißen Mann symbolisieren, der angeblich          verschaffen.
weiter blicken konnte als die einheimische Be-            Das änderte sich in der zweiten Hälfte des
völkerung, die aus Sicht der Kolonialherren le-       19. Jahrhunderts. Mit der Eisenbahn und den Te-
diglich auf die kurzfristige Bedürfnisbefriedi-       legrafen gewannen Menschen und Informatio-
gung fixiert war.                                     nen eine neuartige Mobilität, die Zentrale konnte
    Naturschutz konnte auch ein politisches           auch abgelegene Regionen in einer Weise kon-
Statement sein, und bei der Ausweisung von            trollieren, die in früheren Zeiten schon am Tem-

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