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70. Jahrgang, 11/2020, 9. März 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Natur- und Artenschutz Carmen Richerzhagen · Jens Kersten Jean Carlo Rodríguez de Francisco NATUR ALS RECHTSSUBJEKT HERAUSFORDERUNGEN DES GLOBALEN Franziska Wolff BIODIVERSITÄTSSCHUTZES CHANCEN UND RISIKEN DER ÖKONOMISIERUNG Frank Uekötter IM NATURSCHUTZ EINE KLEINE GESCHICHTE DES ARTENSCHUTZES Thomas Kirchhoff ZUM VERHÄLTNIS Ingo Grass · Teja Tscharntke VON MENSCH UND NATUR LANDWIRTSCHAFT UND NATURSCHUTZ ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Natur- und Artenschutz APuZ 11/2020 CARMEN RICHERZHAGEN · JENS KERSTEN JEAN CARLO RODRÍGUEZ DE FRANCISCO NATUR ALS RECHTSSUBJEKT HERAUSFORDERUNGEN DES GLOBALEN Noch sehen wir in der Natur nur ein Objekt des BIODIVERSITÄTSSCHUTZES Umweltschutzes. Um angesichts der ökologi- Der Verlust von Biodiversität ist eines der schen Herausforderungen den Naturschutz in drängendsten Umweltprobleme. Die internati- die sozialen, technischen und ökonomischen onale Gemeinschaft hat in den vergangenen 30 Infrastrukturen zu integrieren, sollten wir die Jahren zahlreiche Versuche unternommen, ihn Natur jedoch als ein Rechtssubjekt begreifen. zu stoppen, sie war jedoch nicht erfolgreich. Seite 27–32 Deshalb bedarf es dringend eines neuen Anlaufs. Seite 04–10 FRANZISKA WOLFF CHANCEN UND RISIKEN FRANK UEKÖTTER DER ÖKONOMISIERUNG IM NATURSCHUTZ EINE KLEINE GESCHICHTE DES ARTENSCHUTZES Auch in der deutschen Naturschutzpolitik wer- Die Konzepte, die unserer Vorstellung von Arten- den Ökonomisierungsinstrumente angewandt, sterben zugrunde liegen, entwickelten sich ab dem die jeweils unterschiedliche Vor- und Nachteile 18. Jahrhundert. Im wissenschaftlichen Konstruk- mit sich bringen. Kann eine „Inwertsetzung“ tionsprozess spielten charismatische Arten eine wirklich helfen, den Biodiversitätsverlust besondere Rolle. Bis heute bleibt der Artenschutz aufzuhalten und die Artenvielfalt zu schützen? kognitiv und praktisch b ruchstückhaft. Seite 33–38 Seite 11–19 THOMAS KIRCHHOFF INGO GRASS · TEJA TSCHARNTKE ZUM VERHÄLTNIS VON MENSCH UND NATUR LANDWIRTSCHAFT UND NATURSCHUTZ Welcher Wert wird Natur beigemessen? Ent- Die moderne Intensivlandwirtschaft verantwortet sprechende Positionen und Argumentationen im maßgeblich den anhaltenden Biodiversitätsverlust. Natur- und Artenschutz hängen im Wesentlichen Zugleich ist Naturschutz ohne Landwirtschaft davon ab, welche Auffassung des („richtigen“) unmöglich. Eine Diversifizierung der Landwirt- Verhältnisses von Mensch und Natur jeweils schaft und Agrarlandschaften ist erforderlich, von zugrunde gelegt wird. der Mensch und Natur profitieren. Seite 39–44 Seite 21–26
EDITORIAL Der Befund glich einer Katastrophenbilanz, als der Weltbiodiversitätsrat der Vereinten Nationen im Mai 2019 die bislang größte Studie zum globalen Zustand der Natur vorlegte: Drei Viertel der Land- und zwei Drittel der Meeresumwelt haben sich stark verändert, und rund eine Million von geschätzt etwa acht Milli- onen Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht; der Artenschwund schreitet heute bis zu hundertmal schneller voran als im Durchschnitt der ver- gangenen zehn Millionen Jahre. Ursache dieser dramatischen Entwicklungen sind Veränderungen in der Landnutzung, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen, der Klimawandel, Umweltverschmutzung und die Ansiedlung invasiver Arten – kurz: Es ist die Menschheit, die ihre eigene Lebensgrundlage vernichtet. Biodiversität ist die Voraussetzung dafür, dass die Natur dauerhaft jene Leis- tungen erbringen kann, auf die der Mensch angewiesen ist. Solche „Ökosystem- leistungen“ sind etwa die (Re-)Produktion von Nahrungsmitteln, Rohstoffen und Energieträgern, die Regulierung des Wasserkreislaufs durch Bodenorganis- men, die Speicherung von Kohlenstoff durch Wälder sowie die Bestäubung von Nutzpflanzen durch Insekten. Auch nichtmaterielle Vorteile wie das Bereitstel- len von Erholungsräumen können dazugezählt werden. Mit der Etablierung der Umweltpolitik ab den 1970er Jahren schaffte es der Kampf gegen den Biodiversitätsverlust auf die politische Tagesordnung. Die Ziele, die 1992 in der Biodiversitätskonvention der Vereinten Nationen festgeschrieben wurden, bleiben jedoch bis heute unerreicht. 2020 laufen mit dem Strategischen Plan von Aichi und der UN-Dekade Biologische Vielfalt die jüngsten Initiativen für ihre Umsetzung aus, ein „Post-2020 Framework“ soll im Herbst beschlossen werden. Gemangelt hat es bislang allerdings nicht an Problembewusstsein und Zielvereinbarungen, sondern an einem konsequenten Mitdenken des Natur- und Artenschutzes in allen Bereichen – im Zweifel auf Kosten gewohnter Lebensweisen. Anne-Sophie Friedel 03
APuZ 11/2020 JETZT ODER NIE Herausforderungen des globalen Biodiversitätsschutzes Carmen Richerzhagen · Jean Carlo Rodríguez de Francisco Biodiversität, also die Vielfalt innerhalb einer Art, versität wird oft nur mit einzelnen „populären“ zwischen den Arten sowie von Ökosystemen,01 ist Arten wie Bienen, Tigern und Walen verknüpft, die Grundlage für menschliches Leben und nach- und Politik und Medien greifen deshalb häufig haltige Entwicklung. Ihr direkter Nutzen für den auf vereinfachende Begriffe zurück, um zur Öf- Menschen wird als „Ökosystemleistungen“ be- fentlichkeit durchzudringen. So nennt beispiels- zeichnet. Biodiversität und Ökosystemleistungen weise das Bundesministerium für Bildung und sind von erheblicher Bedeutung für Landwirt- Forschung seinen entsprechenden Forschungs- schaft, Ernährung, Gesundheit und Energiever- schwerpunkt „Forschungsinitiative zum Erhalt sorgung. So nutzen zum Beispiel mehr als zwei der Artenvielfalt“, auch wenn dort Forschung zu Milliarden Menschen Holz als primäre Energie- biologischer Vielfalt in seiner ganzen Breite geför- quelle, und vier Milliarden Menschen verwen- dert wird.05 Doch mittlerweile scheint das Thema den Pflanzen als Arzneimittel.02 Ferner reguliert in der Mitte der Gesellschaft anzukommen. Biodiversität andere Ökosystemleistungen wie die Bodenbildung, die Sauerstoffproduktion, den ZUNEHMENDE ÖFFENTLICHE Nährstoffkreislauf und die Bestäubung, verhindert WAHRNEHMUNG Erosion und wirkt bei der Schädlingsbekämpfung. Biodiversität ist für die Wasserversorgung und Der Wissenschaft ist es in den vergangenen Jah- -sicherheit unerlässlich, da sie unter anderem bei ren besser gelungen, Politik und Öffentlichkeit der Bereitstellung von Trinkwasser, der Wasserrei- über den massiven Verlust von Biodiversität und nigung, der Wasserrückhaltung, dem Hochwas- die damit verbundenen verhängnisvollen Auswir- serschutz und der Regenregulierung hilft. Genau- kungen aufzuklären. Einen entscheidenden Bei- so unterstützt Biodiversität die Klimaregulierung. trag dazu leistet der 2012 gegründete Weltbio- Marine und terrestrische Ökosysteme tragen zur diversitätsrat (Intergovernmental Science-policy Minderung des atmosphärischen Kohlenstoffs bei, Platform for Biodiversity and Ecosystem Servi- indem sie ihn aufnehmen und speichern.03 Wis- ces, IPBES) mit seinem Sekretariat in Bonn. Der senschaftliche Studien zeigen, dass zum Beispiel Rat informiert politische Entscheidungsträger biodiverse Wälder und Wiesen mehr Kohlenstoff und die Gesellschaft über die wissenschaftlichen speichern können als Monokulturen.04 Erkenntnisse im Bereich Biodiversität und Öko- Lange stand der Schutz der Biodiversität als systeme. Diese Informationen sollen helfen, wis- Thema im Schatten des Klimawandels, der mit sensbasierte Entscheidungen zu treffen. seinen messbaren und oft fatalen Auswirkungen, 2016 veröffentlichte der Weltbiodiversitäts- wie dem Anstieg des Meeresspiegels und andau- rat einen ersten umfassenden Bericht zum The- ernden Dürren, unmittelbar Lebensbereiche des ma „Bestäuber, Bestäubung und Nahrungsmittel- Menschen bedroht und somit für die Gesellschaft produktion“,06 der weltweit für Aufsehen sorgte. sichtbarer ist als der Rückgang der Biodiversi- Der Bericht legte dar, dass etwa drei Viertel der tät. Die noch komplexeren Zusammenhänge zwi- weltweiten Nahrungsmittelproduktion von Be- schen dem Biodiversitätsverlust, seinen Ursachen stäubern, wie zum Beispiel Insekten, Vögeln oder und den mittelbaren Auswirkungen auf Mensch Fledermäusen, abhängen. Das entspricht einem und Gesellschaft sind demgegenüber weniger ein- jährlichen Marktwert von bis zu 530 Milliarden gängig. Allein die Begriffe „Biodiversität“, „Öko- Euro. Einige der wirtschaftlich bedeutendsten system“ oder „Ökosystemleistungen“ sind sehr Obstbäume, wie Apfel- und Birnbaum, Kirsch- naturwissenschaftlich-technisch geprägt. Biodi- und Mandelbaum, werden ausschließlich von In- 04
Natur- und Artenschutz APuZ sekten bestäubt. Der Bericht zeigte aber auch, Umweltprozesse zu regulieren, weltweit drama- dass das Vorkommen und die Diversität dieser tisch abgenommen habe. 75 Prozent der Land- Bestäuber stark zurückgegangen sind. Die Rote oberfläche seien degradiert, 66 Prozent der Mee- Liste gefährdeter Arten der Weltnaturschutzuni- resfläche stark verändert, und über 85 Prozent on bestätigt, dass weltweit 16,5 Prozent der Be- der Feuchtgebiete bereits verloren gegangen.09 stäuber vom Aussterben bedroht sind, in man- Dank der besseren Aufbereitung und Kom- chen Gegenden sind es sogar 40 Prozent.07 munikation der Erkenntnisse stehen Politik und In Deutschland sieht es noch schlechter aus: Gesellschaft dem Thema Biodiversitätsschutz Ende 2017 wurde die sogenannte Krefelder Stu- heute offener gegenüber. Der aktuellen Umwelt- die veröffentlicht,08 die einen dramatischen Rück- bewusstseinsstudie des Bundesumweltministe- gang von Insekten – 76 Prozent seit 1990 – in Na- riums zufolge haben die Themen Umwelt- und turschutzgebieten in Deutschland belegte und Klimaschutz insgesamt an Relevanz in der deut- damit das Thema Insektenschwund hierzulande schen Gesellschaft gewonnen. 64 Prozent der Be- auf die politische Tagesordnung brachte. fragten sehen Umwelt- und Klimaschutz direkt 2019 veröffentlichte der Weltbiodiversitätsrat nach den Themen Bildung und soziale Gerech- das „Globale Assessment zu Biodiversität und tigkeit als Deutschlands größte Herausforde- Ökosystemleistungen“ – ein Zustandsbericht, rung an. Bei den 14- bis 19-Jährigen sind es so- der den dramatischen Status und die zu erwar- gar 78 Prozent. Mehr als 90 Prozent schätzen den tenden negativen Entwicklungen der Biodiver- Zustand der Umwelt weltweit als schlecht ein, sität und der Ökosysteme beschreibt. Die Studie und mehr als 80 Prozent der Befragten denken, zeigte, dass bereits eine Million der erfassten Tier- dass die Bundesregierung sich nicht genügend und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht sind: für den Umwelt- und Klimaschutz einsetzt.10 mehr als 40 Prozent der Amphibienarten, fast Dieses Bewusstsein schlägt sich in Handeln nie- 33 Prozent der riffbildenden Korallen und mehr der: In Bayern haben 2019 mehr als 1,7 Millionen als ein Drittel aller Meeressäugetiere. Zudem sei Bürger*innen das Volksbegehren mit dem Mot- die Rate des Aussterbens mindestens 10 bis 100 to „Rettet die Bienen“ unterstützt und damit eine Mal höher als im Durchschnitt der vergangenen Reform des bayerischen Naturschutzgesetzes an- 10 Millionen Jahre. Die Natur allgemein sei in ei- gestoßen. Ähnliche Initiativen wurden auch in nem so schlechten Zustand, dass ihre Fähigkeit, anderen Bundesländern gestartet. 01 Vgl. Secretariat of the Convention on Biological Diversity TREIBER DES (SCBD), Global Biodiversity Outlook 1, Montreal, 2001, S. 59. BIODIVERSITÄTSVERLUSTES 02 Food and Agriculture Organization of the UN, In Brief. The State of the World’s Forests 2018 – Forest Pathways to Sustaina- Das wachsende Problembewusstsein und die stei- ble Development, Rom 2018, S. 14, www.fao.org/3/CA0188EN/ CA0188EN.pdf. gende Handlungsbereitschaft in der Breite der 03 SCBD, Global Biodiversity Outlook 2, Montreal 2006. Bevölkerung sind überfällige Entwicklungen, 04 Vgl. Yuanyuan Huang et al., Impacts of Species Richness denn es ist der Mensch, der für den dramatischen on Productivity in a Large-scale Subtropical Forest Experiment, Verlust von Biodiversität und die Veränderung in: Science 6410/2018, S. 80–83; Forest Isbell et al., High Plant von Ökosystemen verantwortlich ist. Diversity Is Needed to Maintain Ecosystem Services, in: Nature 477/2011, S. 199–202. Man unterscheidet zwischen direkten und in- 05 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung, For- direkten Treibern des Biodiversitätsverlustes. schungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt, 2019, www.bmbf. Beispiele für direkte Treiber sind die Zerstörung de/upload_filestore/pub/Forschungsinitiative_zum_Erhalt_der_ von Lebensräumen etwa durch Entwaldung und Artenvielfalt.pdf. Landnutzungsänderungen, der Klimawandel, Ver 06 Vgl. Intergovernmental Science-policy Platform on Biodi- versity and Ecosystem Services (IPBES), The Assessment Report schmutzung beispielsweise durch Nährstoffein of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services on Pollinators, Pollination and Food 09 Vgl. IPBES, The Global Assessment Report on Biodiversity Production, Bonn 2016. and Ecosystem Services, Bonn 2019. 07 Siehe www.iucnredlist.org; vgl. IPBES (Anm. 6). 10 Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukle- 08 Vgl. Caspar A. Hallmann et al., More than 75 Percent are Sicherheit (BMU), Umweltbewusstsein in Deutschland 2018, Decline over 27 Years in Total Flying Insect Biomass in Protected Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage, Berlin Areas, in: PLoS ONE 10/2017, https://journals.plos.org/plosone/ 2019, www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Pools/Broschueren/ article?id=10.1371/journal.pone.0185809. umweltbewusstsein_2018_bf.pdf. 05
APuZ 11/2020 trag, Über nutzung etwa durch Landwirtschaft BEMÜHUNGEN ZUM und Fischerei sowie die Einführung invasiver Ar- BIODIVERSITÄTSSCHUTZ ten, die einheimische Arten verdrängen. Indirekte Faktoren, die den Verlust von Bio- Sowohl international als auch national gibt es eine diversität antreiben, sind die demografische Ent- Vielzahl von Strategien und Programmen, die wicklung, wirtschaftliche Aktivitäten, inter- sich aufeinander beziehen und alle das Ziel ha- nationaler Handel, Konsummuster, kulturelle ben, den dramatischen Verlust von Biodiversität Faktoren sowie wissenschaftlicher und technolo- zu stoppen. gischer Wandel. Indirekte Treiber wirken vor al- lem durch die Menge an Ressourcen, die durch Internationale Gemeinschaft Menschen genutzt oder verbraucht werden. So Diskussionen um den Schutz von Biodiversi- bewirken zum Beispiel Bevölkerungswachstum tät stehen bereits seit den 1970er und 1980er und höherer Pro-Kopf-Verbrauch einen Anstieg Jahren international auf der politischen Agen- der Nachfrage nach Energie, Wasser, Land und da und resultierten 1992 in der Verabschiedung Nahrung. Die gesteigerte Nachfrage wiederum des Übereinkommens über die biologische Viel- wirkt auf die direkten Treiber wie zum Beispiel falt der Vereinten Nationen. Mit diesem Überein- Entwaldung, weil neue Flächen für die landwirt- kommen, auch „Biodiversitätskonvention“ ge- schaftliche Produktion geschaffen werden müs- nannt, hat sich die internationale Gemeinschaft sen.11 Kulturelle Faktoren, die den Biodiversi- drei Ziele gesetzt: erstens Biodiversität zu schüt- tätsverlust vorantreiben, sind zum Beispiel die zen, zweitens Biodiversität nachhaltig zu nutzen Nachfrage nach Nashornhörnern und Haifisch- und drittens die Vorteile der Nutzung genetischer flossen, die in der traditionellen asiatischen Medi- Ressourcen fair und gerecht zu teilen. zin verwendet werden. Durch mehr Elektronik- Das Übereinkommen wurde im Rahmen der und andere Abfälle oder die erhöhte Nachfrage Rio-Konferenz über Umwelt und Entwicklung nach Rohstoffen für neue Technologien können verabschiedet und orientiert sich stark an den auch technologische Innovationen zum Verlust drei Dimensionen der Nachhaltigkeit: wirtschaft- von Biodiversität beitragen. lich, sozial und ökologisch. Damit verfolgt es ei- All diese Treiber haben in den vergangenen nen ganzheitlichen Ansatz und geht über klassi- Jahrzehnten global den Druck auf Biodiversität sche Schutzansätze hinaus. Das Übereinkommen erhöht: Die Weltbevölkerung hat sich seit 1970 zählt heute 196 Vertragsparteien, nur die Verei- verdoppelt, der internationale Handel hat deut- nigten Staaten sowie der Vatikan haben es nicht lich zugenommen, der Pro-Kopf-Konsum ist ge- ratifiziert. Die USA lehnen eine Ratifizierung vor stiegen und die Wirtschaft ist massiv gewachsen.12 allem wegen des dritten Ziels des Übereinkom- In Deutschland setzen insbesondere eine intensi- mens entschieden ab, da sie Zahlungsforderungen ve Landwirtschaft mit hohem Nährstoffeintrag an die US-amerikanische Biotechnologieindustrie und der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, die befürchten. Zerschneidung und Zersiedelung der Landschaft Wie die UN-Klimakonvention ist auch die sowie die Versiegelung von Flächen durch den Biodiversitätskonvention dynamisch. Im Ab- Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsflächen die stand von zwei Jahren treffen sich die Vertrags- Biodiversität unter Druck.13 staaten zu Vertragsstaatenkonferenzen, um den Stand der Umsetzung der Ziele des Überein- kommens zu diskutieren beziehungsweise de- 11 Vgl. SCBD, Global Biodiversity Outlook 3, Montreal 2010. ren Umsetzung voranzutreiben. Vertreter*innen 12 Vgl. Sandra Diaz et al., Pervasive Human-driven Decline of aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Industrie Life on Earth Points to the Need for Transformative Change, in: Science 6471/2019, S. 28 f. können als Beobachter*innen teilnehmen. Den 13 Vgl. Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), Umwelt- Konferenzen geht üblicherweise ein längerer Ver- gutachten 2016 – Impulse für eine integrative Umweltpolitik, handlungsprozess voraus, um die Entscheidungs- Berlin 2016, www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/ findung während der Konferenz, die nach dem DE/01_Umweltgutachten/2016_2020/2016_Umweltgutach- Konsensprinzip erfolgt, zu unterstützen. Die ten_HD.pdf?__blob=publicationFile; BMU, Biologische Vielfalt in Deutschland – Rechenschaftsbericht 2017, Berlin 2018, www. Vorbereitung der Konferenzen wird durch eine bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Pools/Broschueren/biologische_ Reihe von thematischen Arbeitsgruppen unter- vielfalt_bf.pdf. stützt, beispielsweise zu Schutzgebieten. 06
Natur- und Artenschutz APuZ Anfang der 2000er Jahre erkannte die inter- In vielen Ländern wurden in diesem Rahmen nationale Gemeinschaft, dass das Übereinkom- zahlreiche Aktionen zum Biodiversitätsschutz men kaum zu Erfolgen geführt hatte: Der Verlust durchgeführt.17 Auch in den 2015 auf dem Welt- der Biodiversität schritt unvermindert voran.14 gipfel für nachhaltige Entwicklung verabschiede- Als Reaktion darauf wurde während der sechs- ten globalen Nachhaltigkeitszielen der Vereinten ten Vertragsstaatenkonferenz in Den Haag im Nationen wurde der Biodiversitätsschutz veran- April 2002 das sogenannte 2010-Ziel verabschie- kert: Zwei der 17 Nachhaltigkeitsziele, Ziel 14 det, mit dem sich die Vertragsstaaten der Biodi- – Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sin- versitätskonvention verpflichteten, den Verlust ne nachhaltiger Entwicklung erhalten und nach- von Biodiversität bis 2010 global, regional und haltig nutzen – und Ziel 15 – Landökosysteme national als einen Beitrag zur Armutsbekämp- schützen, wiederherstellen und ihre nachhalti- fung und zum Wohle aller signifikant zu reduzie- ge Nutzung fördern –, beziehen sich unmittelbar ren. Dieses Ziel wurde im August 2002 während auf Biodiversität. des Nachhaltigkeitsgipfels in Johannesburg noch einmal bekräftigt und in der Folge nachträglich Deutschland in den Katalog der Millenniumsentwicklungszie- In Deutschland wurde 2007 unter Federführung le aufgenommen. Aber auch die folgenden zehn des Bundesumweltministeriums die Nationale Jahre reichten nicht aus, um den Verlust der Bio- Strategie zur biologischen Vielfalt zur Umset- diversität aufzuhalten. Das 2010-Ziel wurde ein- zung der Biodiversitätskonventionen beschlossen. deutig verfehlt.15 Deutschland war 2008 Gastgeber der neunten Dies nahmen die Vertragsstaaten zum An- Vertragsstaatenkonferenz, und die Verabschie- lass, 2010 auf der zehnten Vertragsstaatenkonfe- dung einer eigenen Biodiversitätsstrategie war ein renz im japanischen Nagoya in der Präfektur Ai- wichtiges Signal. Auch sie hatte zum Ziel, bis 2020 chi den „Strategischen Plan 2011–2020“ und 20 den Rückgang der Biodiversität aufzuhalten.18 Biodiversitätsziele („Aichi-Ziele“) zu entwickeln, Seit 2011 wird die Umsetzung der Strategie in der Hoffnung, endlich eine Trendwende zu er- durch das Bundesprogramm Biologische Vielfalt reichen.16 Im Strategischen Plan wurde die Visi- unterstützt, das gezielt innovative und modell- on formuliert, dass die Menschheit in Harmonie hafte Projekte fördert, die den Schutz der Bio- mit der Natur leben und bis 2050 Biodiversität diversität anstreben. Das Fördervolumen ist von geschätzt, erhalten, instandgesetzt und nachhal- 15 Millionen Euro 2015 auf 45 Millionen Euro tig genutzt sein solle. Die Aichi-Ziele sind 20 rela- 2020 angestiegen.19 Seit 2015 wird die Nationale tiv konkrete, teilweise mit Indikatoren hinterlegte Strategie ferner durch die Naturschutz-Offensi- und somit messbare Ziele. Ziel 1 lautet, dass sich ve 2020 unterstützt, nachdem ein Indikatoren- bis 2020 die Menschen des Wertes der Biodiversi- bericht 2014 belegte, dass die ergriffenen Maß- tät bewusst sind sowie der Schritte, die sie zu ihrer nahmen nicht ausreichten, um das 2020-Ziel in Erhaltung und nachhaltigen Nutzung ergreifen Deutschland zu erreichen, und auch keine Trend- müssen. Ziel 5 besagt, dass bis 2020 die Verlust- wende eingeleitet worden war.20 Die Offensive rate aller natürlichen Lebensräume einschließlich formuliert zehn Handlungsfelder, wie Äcker und Wäldern mindestens um die Hälfte und, soweit Wiesen sowie Küsten und Meere, die prioritär zu möglich, auf nahe Null reduziert werden soll. behandeln sind. Ziel 11 fordert, bis 2020 mindestens 17 Prozent der Land- und Binnenwassergebiete und 10 Pro- zent der Küsten- und Meeresgebiete durch die 17 Siehe www.undekade-biologischevielfalt.de 18 Vgl. BMU, Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt, Ausweisung von Schutzgebieten zu schützen. 2007, www.bfn.de/fileadmin/BfN/biologischevielfalt/Dokumen- Um die Erreichung des Strategischen Plans te/broschuere_biolog_vielfalt_strategie_bf.pdf. und der Aichi-Ziele zu unterstützen, riefen die 19 Vgl. Bundesamt für Naturschutz, Projekte des Bundespro- Vereinten Nationen das Jahrzehnt von 2011 bis gramms Biologische Vielfalt, 2016, https://biologischevielfalt.bfn. 2020 zur „UN-Dekade Biologische Vielfalt“ aus. de/fileadmin/BfN/service/Dokumente/Broschuere_BPBV_ge- samt_barrierefrei.pdf; Bundeshaushaltsplan 2020, Einzelplan 16. 20 Vgl. BMU, Indikatorenbericht 2014 zur Nationalen Strategie 14 Vgl. SCBD (Anm. 1). zur biologischen Vielfalt, 2015, https://biologischevielfalt.bfn. 15 Vgl. dass. (Anm. 11). de/fileadmin/NBS/documents/Veroeffentlichungen/indikatoren- 16 Vgl. UN Doc. UNEP/CBD/COP/DEC/X /2. bericht_biologische_vielfalt_2014_bf.pdf. 07
APuZ 11/2020 In Reaktion auf die neuen wissenschaftlichen lich sei.24 Eine Studie verschiedener Nichtregie- Erkenntnisse, unter anderem die „Krefelder Stu- rungsorganisationen attestierte 2016 nur fünf Pro- die“, hat die Bundesregierung 2019 ein Aktions- zent der Vertragsstaaten, auf einem guten Weg zu programm zum Insektenschutz verabschiedet. Im sein, die Aichi-Ziele zu erreichen. 75 Prozent der Rahmen des Aktionsprogramms soll durch ein Länder machten zwar Fortschritte, aber in kei- Insektenschutzgesetz, durch höhere finanzielle nem Land waren diese so ausgeprägt, dass sie dem Mittel für Forschung und Insektenschutz sowie 2020-Ziel auch nur nahe kamen. 20 Prozent der durch strengere Auflagen bei der Anwendung Länder konnten überhaupt keine Fortschritte im von Pestiziden eine Trendumkehr beim Insekten- Biodiversitätsschutz vorweisen.25 sterben erreicht werden.21 International gibt es die Bereitschaft, sich auf der nächsten Vertragsstaatenkonferenz im Europäische Union Oktober 2020 in Kunming in China wieder auf Auf europäischer Ebene wurde 2011 ebenfalls ein neues Ziel zu einigen. Unter dem Stichwort eine Biodiversitätsstrategie verabschiedet, die das „Post-2020 Framework“ wird schon seit eini- internationale 2020-Ziel auf Europa überträgt. gen Monaten in einer Arbeitsgruppe diskutiert Die Strategie formuliert sechs Ziele zu Vögeln, und über mögliche Inhalte verhandelt. Seit Ja- Ökosystemen, Landwirtschaft, Wald, Fischerei nuar 2020 liegt ein erster Entwurf vor, der zeigt, und für einen globalen Schutz, die dazu beitra- wie eine neue Strategie zum globalen Schutz von gen sollen, den Verlust von Biodiversität aufzu- Biodiversität aussehen könnte. Kernstück des halten.22 Entwurfs ist eine Theorie des Wandels. Biodi- Auch im European Green Deal, der Strate- versitätsschutz wird nicht als eine sektorale oder gie für klimaneutrales Wachstum für Europa, zwischensektorale Herausforderung verstanden, die 2019 von der neuen EU-Kommission vorge- sondern der Entwurf legt dar, dass die gelebten legt wurde, ist Biodiversität als einer der sieben wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Mo- zu adressierenden Politikbereiche definiert.23 So delle transformiert werden müssen, um den Ver- nimmt sich die EU vor, im März 2020 eine neue lust von Biodiversität zu stoppen. Damit geht der ambitionierte Biodiversitätsstrategie vorzulegen neue Vorschlag weiter als seine Vorgänger. Den- und international bei den Verhandlungen über noch enthält das Dokument wieder eine Reihe neue Schutzziele eine Schlüsselrolle zu spielen. von Zielen und Unterzielen, ohne viel darüber Weiterhin sollen alle politischen Maßnahmen der auszusagen, wie diese erreicht werden sollen.26 EU in Zukunft zur Erhaltung und Wiederherstel- Es stellt sich die Frage, was ein neues Zielsys- lung von Biodiversität in Europa beitragen. Ins- tem bewirken kann, wenn bisher so wenig erreicht besondere Landwirtschaft und Fischerei werden wurde. An konkreten Zielen hat es bisher nicht als zentrale Sektoren genannt. gemangelt. Trotz all der Strategien, Gesetze und Förderprogramme, ob auf internationaler, euro- WORAN HAKT ES? päischer oder nationaler Ebene, ist der Verlust von Biodiversität nicht aufzuhalten. Woran liegt das? 2020 wird erneut das globale Ziel, den Verlust Erstens findet keine ambitionierte Umset- von Biodiversität aufzuhalten, nicht erreicht wer- zung der gesteckten Ziele statt. Das zeigt sich den. Bereits 2014 äußerten Wissenschaftler*innen beispielsweise bei der Finanzierung der Schutz- Zweifel, dass ein Erreichen überhaupt noch mög- maßnahmen. Es wird geschätzt, dass etwa 150 bis 21 Vgl. BMU, Aktionsprogramm Insektenschutz, Gemeinsam 24 Vgl. Derek P. Tittensor et al., A Mid-term Analysis of wirksam gegen das Insektensterben, 2019, www.bmu.de/ Progress toward International Biodiversity Targets, in: Science fileadmin/Daten_BMU/Pools/Broschueren/aktionsprogramm_ 6206/2014, S. 241–244. insektenschutz_kabinettversion_bf.pdf. 25 Vgl. UN Environment World Conservation Monitoring 22 Vgl. Europäische Kommission, Die Biodiversitätsstrategie Centre/International Union for Conservation of Nature and der EU bis 2020, 2011, https://ec.europa.eu/environment/ Natural Resources/National Geographic Society, Protected nature/info/pubs/docs/brochures/2020%20Biod%20brochure_ Planet Report 2018, Tracking Progress towards Global Targets de.pdf. for Protected Area, 2018, https://livereport.protectedplanet.net/ 23 Vgl. Europäische Kommission, Der europäische Grüne Deal, pdf/Protected_Planet_Report_2018.pdf. 2019, https://ec.europa.eu/environment/nature/info/pubs/docs/ 26 Vgl. SCBD, Zero Draft of the Post-2020 Global Biodiversity brochures/2020%20Biod%20brochure%20final%20lowres.pdf. Framework, Montreal 2020. 08
Natur- und Artenschutz APuZ 440 Milliarden US-Dollar pro Jahr nötig sind, um Drittens wird der Nutzen der biologischen die ambitionierten Aichi-Ziele zu erreichen. Die Vielfalt für die Gesellschaft als Ganzes nicht aus- jährlich bereitgestellten Mittel bleiben allerdings reichend anerkannt oder berücksichtigt. Eine deutlich dahinter zurück. 2015 beliefen sich die Vielzahl von Studien, insbesondere die der Initi- Posten für nationale Biodiversitätsschutzmaß- ative The Economics of Ecosystems and Biodi- nahmen in den öffentlichen Haushalten der Ver- versity (TEEB) oder des Projekts Naturkapital tragsstaaten auf zusammengerechnet rund 49 Mil- Deutschland,31 haben versucht, durch eine öko- liarden US-Dollar.27 Ein Verfehlen der Ziele und nomische Perspektive die Leistungen der Biodi- Strategien hat keinerlei Konsequenzen. Zwar gibt versität monetär sichtbar zu machen. Dies kann es im Rahmen der Biodiversitätskonvention ver- aber nur ein Baustein sein. Aus der Erkenntnis schiedene Instrumente zur Rechenschaftslegung heraus, dass Biodiversität nicht auf einen ökono- und Fortschrittskontrolle. So haben sich die Ver- mischen Wert reduziert werden kann, ist es viel- tragsstaaten 2010 verpflichtet, Biodiversitätsstra- mehr wichtig, dass nicht der unmittelbare wirt- tegien und Aktionspläne zu implementieren und schaftliche Gewinn durch die Biodiversität in den dies dem Sekretariat der Biodiversitätskonventi- Vordergrund gestellt wird, sondern der langfristi- on zu berichten, dem 191 Länder bis heute min- ge Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung für destens einmal nachgekommen sind.28 Ferner die Gesellschaft.32 müssen die Vertragsstaaten in regelmäßigen Ab- Viertens funktioniert die Fokussierung auf ständen nationale Berichte zum Umsetzungssta- technisch-ökonomische Lösungen beim Schutz tus einreichen. Der sechste Nationale Bericht war von Biodiversität nicht. Die Zusammenhänge Ende 2018 fällig und wurde von 85 Ländern ein- zwischen dem Verlust von Biodiversität und ih- gereicht.29 Aber letztendlich handelt es sich bei ren Ursachen sind sehr komplex. Einfache tech- der Biodiversitätskonvention um freiwillige Ver- nische Lösungen sind nicht anwendbar, und öko- einbarungen, sodass im Falle der Nichteinhaltung nomische Instrumente kommen schnell an ihre keine Sanktionsmechanismen greifen. Grenzen, wenn die tatsächlichen Kosten, die Zweitens fallen, auch wenn der Schutz von durch die Inanspruchnahme von Biodiversität Biodiversität grundsätzlich von der Gesellschaft entstehen, unberücksichtigt bleiben. für wichtig erachtet wird, individuelle Entschei- Fünftens wird der Zustand der Biodiversi- dungen oft nicht im Sinne der Biodiversität aus. tät stark von einer Vielzahl anderer Politikfelder Das kann verschiedene Gründe haben. Verhal- beeinflusst, wie zum Beispiel der Agrarpolitik, tensänderungen bedingen oft größere Einschnit- der Siedlungs- und Verkehrspolitik oder auch te in den Lebensalltag, etwa höhere Kosten oder der Verbraucherpolitik. In diesen Politikfeldern mehr Zeitaufwand, und werden deshalb abge- wird ein Rahmen definiert, in dem beispielswei- lehnt. Nutzungseinschränkungen werden teil- se Entscheidungen über Landnutzung oder Kon- weise sogar als freiheitseinschränkend wahrge- sum getroffen werden.33 Solange in diesen Poli- nommen. Manchmal ist es aber auch schlicht die tikfeldern der Schutz von Biodiversität keine Unkenntnis von verschiedenen Kausalzusam- Rolle spielt, kann nicht mit Erfolgen gerechnet menhängen, die Menschen an eingeübten Verhal- werden. tensweisen festhalten lassen.30 Sechstens beeinflussen mächtige Akteursgrup- pen mit privatwirtschaftlichen Interessen durch 27 Vgl. OECD, Biodiversity: Finance and the Economic and Lobbyarbeit die Formulierung von Schutzzie- Business Case for Action, 2019, www.oecd.org/environment/ len und die Umsetzung von Schutzmaßnahmen resources/biodiversity/G7-report-Biodiversity-Finance-and-the- etwa in den Bereichen Landwirtschaft und Ver- Economic-and-Business-Case-for-Action.pdf. kehr. Häufig verhindern sie so effektiven Biodi- 28 SCBD, National Biodiversity Strategies and Action Plans Status, 31. 1. 2020, www.cbd.int/doc/nbsap/nbsap-status.doc. versitätsschutz. 29 Über den Clearinghouse-Mechanismus der Biodiversitäts- konvention kann man die Berichte einsehen, siehe https://chm. cbd.int/search/reporting-map?filter=nr6. 31 Siehe www.ufz.de/teebde. 30 Vgl. SRU, Demokratisch regieren in ökologischen Grenzen – 32 Zur Ökonomisierung im Naturschutz siehe auch den Beitrag Zur Legitimation von Umweltpolitik, Sondergutachten, Juni 2019, von Franziska Wolff in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/02_Sondergut- 33 Vgl. Naturkapital Deutschland – TEEB DE, Werte der Natur achten/2016_2020/2019_06_SG_Legitimation_von_Umwelt- aufzeigen und in Entscheidungen integrieren. Eine Synthese, politik.pdf?__blob=publicationFile&v=13. Leipzig 2018. 09
APuZ 11/2020 Siebtens befindet sich ein Großteil der noch Eine solche Transformation ist nur möglich, verbleibenden Biodiversität in Entwicklungs- wenn politische Entscheidungen wissensbasiert und Schwellenländern, deren Etats für Umwelt- erfolgen. Wissenschaftliche Erkenntnisse über schutz und insbesondere für Biodiversitätsschutz Ausmaß und Ursachen des Verlustes von Biodi- oft sehr klein sind, sodass sie auf Unterstützung versität sowie über den Wert von Biodiversität im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit müssen stärker Eingang in politische Entschei- angewiesen sind.34 Bisher werden seitens der In- dungsprozesse finden. Dazu muss die naturwis- dustrieländer nicht die nötigen finanziellen Mit- senschaftliche, aber auch die sozialwissenschaft- tel bereitgestellt, um biologische Vielfalt in die- liche Biodiversitätsforschung gestärkt werden. sen globalen Biodiversitätszentren zu schützen. In wachsenden Teilen der Gesellschaft entwi- Insgesamt ist jedoch ein Anstieg zu verzeichnen: ckelt sich eine positive Haltung zum Schutz der 2017 wurden bilateral im Rahmen der Öffentli- Umwelt und der Biodiversität. Die Politik sollte chen Entwicklungszusammenarbeit 8,7 Milliar- sich dem annehmen und mutige Maßnahmen zum den US-Dollar in den Schutz von Biodiversität Biodiversitätsschutz ergreifen und gleichzeitig die investiert. Das entspricht einem Plus von 15 Pro- Bürger*innen im Rahmen von Diskussions- und zent im Vergleich zu 2016.35 Konsultationsformaten beteiligen. Strategien zum Schutz von Biodiversität müssen eindeutig de- AUSBLICK finierte und messbare Ziele vorgeben, die über- prüfbar sind und deren Nichteinhaltung Konse- Die Zeit des Zögerns ist vorbei: Der alarmie- quenzen nach sich ziehen. Verantwortlichkeiten rende Zustand der Natur erfordert eine weit- in Bezug auf die Umsetzung müssen klar geregelt reichende Transformation hin zu einer Ge- und verantwortliche Ministerien und Behörden sellschaft, die sich innerhalb der planetaren gestärkt werden. Biodiversitätsschutz erfordert Belastungsgrenzen entfaltet und damit Biodi- eine sektorübergreifende Kooperation, Umwelt- versität und Ökosysteme schützt. Eine solche ministerien und Ministerien anderer Politikfel- Transformation erfordert eine entscheidende der wie Landwirtschaft und Verkehr sollten den Änderung von praktizierten Wirtschaftsweisen, Schutz von Biodiversität daher gemeinsam ange- Produktionsprozessen, Infrastrukturen und hen. Fehlanreize in anderen Sektoren, zum Bei- Konsummustern. Insbesondere muss das Para- spiel für eine intensive Landwirtschaft, sollten ab- digma eines dauerhaften Wirtschaftswachstums geschafft werden. auf Grundlage der Übernutzung natürlicher Deutschland hat hier 2020 eine besonde- Ressourcen aufgegeben werden. Wirtschaftli- re Verantwortung. Im zweiten Halbjahr hat ches Handeln muss mit den planetaren Belas- Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft inne – tungsgrenzen in Einklang gebracht werden. genau dann, wenn auf internationaler Ebene die Langfristig sichert der Erhalt der Biodiversität Weichen für den Schutz von Biodiversität für die die Lebensgrundlage der Menschen und ermög- nächsten 30 Jahre gestellt werden. licht eine nachhaltige Entwicklung. Im Zuge der Transformation müssen deshalb vielfälti- ge Pfadabhängigkeiten überwunden werden. CARMEN RICHERZHAGEN Kurzfristige nationale Interessen müssen zu- ist promovierte Agrar- und Umweltökonomin und gunsten des globalen Gemeinwohls zurückge- arbeitet als Wissenschaftliche Referentin in der stellt werden.36 Abteilung Sozial-ökologische Forschung, Bereich Umwelt und Nachhaltigkeit, im DLR Projektträger in Bonn. 34 Vgl. Carmen Richerzhagen/Jean Carlo Rodríguez de Francisco/Katharina Stepping, Why We Need More and Better carmen.richerzhagen@dlr.de Biodiversity Aid, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, Brie- fing Paper 13/2016, Bonn 2016. JEAN CARLO RODRÍGUEZ DE FRANCISCO 35 UN Doc. E/2019/68. ist promovierter Umweltökonom und arbeitet als 36 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungspro- Umweltveränderungen, Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, Berlin 2011, www.wbgu.de/ gramm Umwelt-Governance am Deutschen Institut fileadmin/user_upload/wbgu/publikationen/hauptgutachten/ für Entwicklungspolitik in Bonn. hg2011/pdf/wbgu_jg2011.pdf. jean.rodriguez@die-gdi.de 10
Natur- und Artenschutz APuZ VON GROẞEN ZAHLEN, STILLEM STERBEN UND DER SPRACHLOSIGKEIT DER MENSCHHEIT Eine kleine Geschichte des Artenschutzes Frank Uekötter Um 1900 war die deutsche Wissenschaft welt- ten Regionen zu verbannen, und Koch ließ sich weit führend. Zu den bekanntesten Köpfen zähl- bereitwillig auf den Vorschlag ein, zunächst ei- te der Mediziner Robert Koch. Er entdeckte den nen Feldversuch am Fuß der Usambara-Berge Erreger der Tuberkulose, damals eine gefürchte- im Norden des heutigen Tansanias zu unter- te Volkskrankheit, und gilt gemeinsam mit dem nehmen. In der Öffentlichkeit kam der Vor- Franzosen Louis Pasteur als Gründervater der schlag freilich weniger gut an. Binnen Wo- Bakteriologie. Auf der Suche nach dem Cho- chen entstand eine hitzige Kontroverse, in der lera-Erreger reiste er nach Ägypten und weiter Koch entgegengehalten wurde, dass die Deut- nach Indien, und nachdem er das Bakterium in schen als „Kulturvolk“ verpflichtet seien, die Kalkutta endlich identifiziert hatte, wurde sei- Tier- und Pflanzenwelt der Kolonien zu be- ne Rückkehr nach Deutschland zum Triumph- wahren. Es war eine der ersten großen Ausei- zug. 1905 erhielt er den Nobelpreis für Medizin. nandersetzungen in der Geschichte des Arten- Ab 1891 leitete Koch das eigens für ihn gegrün- schutzes in Deutschland, und der öffentliche dete Institut für Infektionskrankheiten in Ber- Aufschrei hinterließ bei dem Nobelpreisträger lin, und in dieser Eigenschaft beschäftigte er sich einen nachhaltigen Eindruck. Als Koch nach auch mit der Schlafkrankheit und der Rinder- der Rückkehr von einer Reise nach Japan und pest in Afrika. Seine langjährigen Forschungen in die USA von den empörten Reaktionen er- führten ihn zu der Überzeugung, dass afrikani- fuhr, bemühte er sich, das Ganze als Missver- sche Großtierarten wie Gnus und Kaffernbüffel ständnis hinzustellen.01 der entscheidende Wirt der Krankheitserreger waren und dass die Übertragung durch Tsetse- WAS IST DAS fliegen erfolgte. Die Frage war, was man dage- PROBLEM? gen unternehmen konnte. Gegen Abermillionen von Fliegen waren Mediziner damals ziemlich Die Kontroverse wirft ein erhellendes Schlaglicht hilflos. Aber vielleicht sah das bei den Säugetie- darauf, wie sich Artensterben von anderen öko- ren anders aus? Eine ordentliche Rinderzucht logischen Herausforderungen unterschied. Vie- in Afrika war für Koch nur denkbar, wenn jede le Umweltprobleme waren nämlich ohne großes Übertragung durch infizierte Wildtiere ausge- Vorwissen verständlich. Jeder aufmerksame Bau- schlossen werden konnte. Deshalb formulierte er merkte, wenn der Boden auf seinem Ackerland er im Februar 1908 bei einem Vortrag vor dem erodierte. Über die Folgen der Abholzung dach- Deutschen Landwirtschaftsrat in Anwesenheit ten die Menschen bereits in der Antike nach. Der prominenter Zuhörer bis hoch zum Kaiser einen Smog von London war ein Gesprächsthema, lan- radikalen Vorschlag: Man müsse die Wildtiere ge bevor die ersten wissenschaftlichen Messun- einfach ausrotten. gen begannen. Artensterben konnte man hinge- Aus heutiger Sicht klingt der Vorschlag ra- gen nicht einfach beim aufmerksamen Blick in dikaler, als er gemeint war. Es ging nicht um die natürliche Umwelt erkennen. Mehr als andere eine restlose Eliminierung, sondern vielmehr Umweltprobleme hing der Artenschutz an einem darum, die Tiere aus landwirtschaftlich genutz- Prozess kultureller Konstruktion, der insbeson- 11
APuZ 11/2020 dere von den Ergebnissen der neuzeitlichen Wis- Die Interessen eines Großwildjägers konzen- senschaft angetrieben wurde. trierten sich zwangsläufig auf große Säugetiere, Die Konzepte, die unserer Vorstellung von und sie waren nicht die einzigen Naturschützer, Artensterben zugrunde liegen, mussten erst müh- die mit Vorliebe auf ausgewählte Arten blickten. sam entwickelt werden und sich dann in der Kon- Neben der charismatischen Megafauna der kolo- kurrenz mit anderen Wissensregimen behaupten. nialen Welt waren vor allem die Vögel organisa- In dieser Hinsicht markierte das 18. Jahrhundert torisch bestens vertreten, und in manchen Län- und speziell die Aufklärung eine Wasserschei- dern – allen voran Großbritannien – wurde das de, die auf eine scharfe Trennung zwischen den sorgsame Beobachten der Vogelwelt geradezu Wissenswelten der Vormoderne und der heutigen zur Massenbewegung bis hin zu frühmorgend- Welt hinauslief. Um Artensterben als Problem zu lichen Expeditionen mit Fernglas und Gummi- markieren, brauchte es eine Vorstellung von Ar- stiefeln. Wenn es um den Schutz der Arten ging, ten als kognitiven Einheiten und die Idee, dass waren Tiere und Pflanzen alles andere als eine nicht nur einzelne Tiere sterben können, son- Gemeinschaft der Gleichen, und das hat sich dern auch sämtliche Vertreter einer Art. Solange auch im ökologisch aufgeklärten 21. Jahrhun- die Erde nur ein paar Tausend Jahre alt zu sein dert nicht grundsätzlich geändert. Wenn es um schien und die Tier- und Pflanzenwelt als göttli- attraktive Bilder für die Spendenwerbung geht, che Schöpfung galt, waren die heute so vertrau- haben Elefanten, Tiger und Menschenaffen wei- ten Sorgen im wörtlichen Sinne undenkbar. Hin- terhin bessere Chancen als die meisten anderen zu kam die ethische Frage, ob die Dezimierung Arten, und der World Wide Fund for Nature einer Art gerechtfertigt war, wenn es dem Men- (WWF) pflegt weiterhin den kuscheligen Panda schen diente. Ein Mediziner wie Koch war in die- als Symboltier. ser Hinsicht berufsbedingt besonders schwach sensibilisiert. Der massenhafte Tod von Lebewe- IKONE DES ARTENSTERBENS: sen war schließlich das, worauf Bakteriologen ge- DER DODO zielt hinarbeiteten. Und warum sollten für Gnus andere Regeln gelten als für Mikroorganismen? So hatte der Umgang mit den bedrohten Tieren Kochs Gegenspieler hatten ihre eigenen von Anfang an einen Hauch von Model-Wett- Scheuklappen. Der Naturschutz war im koloni- bewerb. Um in die engere Wahl zu kommen, alen Afrika fest in den Händen einer Gruppe von brauchte es eine gewisse Mindestgröße, ein wei- Männern, die niemand einer übermäßigen Senti- ches Fell oder Federn waren zumindest hilfreich, mentalität beschuldigte. Diese Männer waren die und dann war da noch das gewisse Extra. Beim Großwildjäger. Zum Reiz der kolonialen Welt ge- Dodo, vielleicht das Symboltier der ausgestorbe- hörte eine charismatische Megafauna, und das Ti- nen Arten schlechthin, war es ein großer Schna- gerfell an der Wand sowie testosteronlastige Ge- bel und eine pummelige Figur, die dem flugun- schichten von der Pirsch dienten als Ausweis, fähigen Vogel eine charmante Unbeholfenheit dass ein Mann seinen Dienst für die Verbreitung verliehen. Von seinem ganzen Erscheinungsbild der westlichen Zivilisation geleistet hatte. Es be- her scheint der Dodo nach einer Menschheit zu durfte nicht der rückblickenden Weisheit einer rufen, die sich von seinem Anblick rühren lässt postkolonialen Welt, um die Spannung zwischen und das für sein Überleben Erforderliche in die Naturbewahrung und männlicher Bewährung zu Wege leitet. Als aussterbende Spezies war der erkennen. Die britische Presse titulierte die zum Dodo, der auf Mauritius im Indischen Ozean Naturschutz konvertierten Großwildjäger, die lebte, schließlich alles andere als singulär. Allein sich 1903 in der Society for the Preservation of auf der Inselgruppe der Maskarenen, zu der ne- the Wild Fauna of the Empire organisierten, als ben Mauritius noch Rodrigues und das franzö- „reumütige Schlächter“.02 sische Übersee-Département La Réunion gehö- ren, starben vor 1800 mindestens 48 endemische Arten aus.03 01 Zu dieser Kontroverse vgl. Bernhard Gissibl, The Nature of German Imperialism. Conservation and the Politics of Wildlife in Colonial East Africa, New York 2016, S. 153–158. 03 Vgl. Samuel T. Turvey/Anthony S. Cheke, Dead as a Dodo. 02 Richard Fitter/Peter Scott, The Penitent Butchers. The Fauna The Fortuitous Rise to Fame of an Extinction Icon, in: Historical Preservation Society 1903–1978, London 1978, S. 8. Biology 2/2008, S. 149–163, hier S. 150. 12
Natur- und Artenschutz APuZ Abbildung des Dodos in „Gleanings of Natural History“ von George Edwards, 1758–1764. Quelle: Education Images/Kontributor. Der Dodo machte schon zu Lebzeiten Furo- Wissenschaft einen besonderen Stellenwert hat- re. Europäische Naturforscher diskutierten ihn ten. Später machte der Schriftsteller Lewis Caroll, mit Leidenschaft, sei es, weil sein ungewöhnli- eigentlich als Charles Lutwidge Dodgson Dozent ches Aussehen lebhafte Debatten über biologi- an der Universität Oxford, den Dodo zu seinem sche Klassifikationen erlaubte, oder einfach weil Alter Ego in seinem Roman „Alice im Wunder- Kuriositäten in der Frühzeit der akademischen land“, aber die kulturelle Überformung der Spe- 13
APuZ 11/2020 zies begann schon früher. Es ist gut möglich, dass Ob sich derzeit ein vergleichbares Massen- der Dodo von den Naturforschern des 17. Jahr- sterben vollzieht, hängt auch an den wissen- hunderts träger und unförmiger gemacht wurde, schaftlichen Unsicherheiten und insbesondere als er in Wirklichkeit war. Damals war Mauritius der Vergleichbarkeit fossiler Funde mit heutigem im Besitz der niederländischen Ostindien-Kom- biologischen Wissen. Man braucht jedoch nicht panie, einer reichen und mächtigen Handelsge- unbedingt den erdgeschichtlichen Vergleich, um sellschaft, deren Geschäftsgebaren so berüchtigt alarmiert zu sein. Der Raubbau an einer biologi- war, dass das Kürzel der Firma – VOC – nach ih- schen Vielfalt, die unser Planet in Millionen von rem Untergang als vergaan onder corruptie (Un- Jahren akkumuliert hat, ist in jedem Fall dra- tergang durch Korruption) gelesen wurden. Ein matisch, und anders als beim Klimawandel, wo fetter, flugunfähiger Vogel war da ein probates das Heer der Skeptiker auch dank generöser fi- Vehikel der Kritik. nanzieller Unterstützung von einschlägigen In- Die genauen Ursachen für das Aussterben teressenten einfach nicht verschwinden will, hat des Dodo sind weiterhin umstritten. Vielleicht beim Schwinden der Arten in der Moderne noch war es die Bejagung durch hungrige Seeleute, die niemand ernsthaft die These vertreten, dass der auf dem langen Weg von den Niederlanden nach Mensch daran unschuldig sei. Ostasien in Mauritius Station machten – wobei Ein derart dramatisches Geschehen ver- „Jagd“ vielleicht ein arg heroisches Wort ist bei langt eigentlich aus Gründen der moralischen einem Tier, das man einfach einsammeln konn- Symmetrie nach ähnlich dramatischen Ursa- te. Vielleicht lag es auch an den Ratten, die mit chen. Aber der Dodo verschwand lediglich, den Schiffen auf die Insel kamen. Der Dodo war weil niederländische Seeleute nach Wochen auf besonders empfindlich für invasive Arten, weil dem Meer eine kleine Unterbrechung ihrer Rei- er auf Mauritius bis zur Ankunft der Niederlän- se goutierten. Nichts spricht für eine bewusste der keine natürlichen Feinde hatte. Womöglich Dezimierung oder gar die Absicht, der Spezi- gab es auch andere Ursachen, die im komplexen es den Garaus zu machen, und ähnlich war es Wechselspiel der natürlichen Umwelt verborgen beim stillen Sterben vieler anderer Arten: Nie- blieben. Es ist noch nicht einmal klar, wann der mand wollte deren Verschwinden, kaum jemand Dodo eigentlich ausstarb. Bis 1620 berichteten bemerkte etwas, und als sich das änderte, war es Reisende regelmäßig über den Dodo, aber da- zu spät. Anders als bei der Klimapolitik gab es nach taucht der Vogel in den überlieferten Dar- in vielen Fällen keine Profiteure. Die industrie- stellungen nur noch sporadisch auf, und irgend- förmige Land- und Forstwirtschaft, die weitaus wann vor dem Ende des 17. Jahrhunderts starb wichtigste Ursache für das Schwinden der Ar- die Art aus. Biologen sind bemerkenswert ge- ten, hatte mit Biodiversität nicht das geringste schickt darin, das Aussehen und die Lebensge- Problem, solange sie sich nicht auf den eigenen wohnheiten des Dodos aus Knochenfunden zu Feldern oder in den eigenen Ställen entfaltete. rekonstruieren, aber das Jahr, in dem der letz- Ausrottungsfantasien gab es allenfalls bei Aka- te Dodo sein Leben aushauchte, wird wohl auf demikern im Höhenrausch – Robert Koch lässt ewig unbekannt bleiben. grüßen. Das stille Sterben des Dodo ist mehr als eine In den sozialen Bewegungen, die sich um historische Fußnote. Das Artensterben, das mit den Schutz der natürlichen Umwelt bemüh- dem Aufstieg des Menschen zur dominanten Spe- ten, war das Artensterben deshalb lange Zeit zies der Erde begann, ist eine Zäsur von planetari- ein randständiges Thema. Das gilt selbst für die scher Bedeutung. Solche Formulierungen klingen Tierschutzbewegung, die sich bereits zur Mitte leicht wie rhetorische Kraftmeierei, aber tatsäch- des 19. Jahrhunderts formierte. Den einschlägi- lich wird unter Biologen über die These eines gen Vereinen ging es nicht um Arten, sondern sechsten Massensterbens in der Geschichte der um konkrete Tiere und deren Wohlergehen. Erde diskutiert. Ausgangspunkt ist der Befund Gerne wurde dabei in den frühen Jahren das aus Analysen von Fossilien, dass sich das Arten- despektierliche Verhalten der niederen Klas- sterben an bestimmten Punkten der Erdgeschich- sen thematisiert, so etwa bei Hahnenkämpfen te dramatisch beschleunigte. Als dies das letzte in den Hinterhöfen englischer Arbeiterquartie- Mal vor 66 Millionen Jahren geschah, starben die re oder bei Kutschern, die ihre Pferde mit Peit- Dinosaurier aus. schenschlägen traktierten. Später wurden auch 14
Natur- und Artenschutz APuZ die Tierversuche in der medizinischen For- Schutzgebieten ging es immer auch um die schung thematisiert. Es gab für engagierte Tier- Macht des modernen Territorialstaats. Das ist schützer im langen 19. Jahrhundert viele The- nur lange Zeit nicht so recht aufgefallen, weil men, aber das Aussterben ganzer Arten zählte staatliche Autorität auf den ersten Blick kein nicht dazu. großes Problem zu sein schien. Als in den Etwas komplizierter lagen die Dinge bei der 1960er Jahren der große Boom der Schutzge- Naturschutzbewegung, die sich in der Zeit um bietsausweisungen begann, waren die Interven- 1900 in den meisten Ländern des Westens for- tionsstaaten des Westens auf dem Höhepunkt mierte. Was diese Bewegungen jeweils als die zu ihrer Macht. In den folgenden Jahrzehnten er- schützende Natur identifizierten, hing nämlich wies sich staatliche Macht jedoch zunehmend in hohem Maße von der jeweils verfügbaren Flo- als fragil bis hin zu den gescheiterten Staaten des ra und Fauna sowie von nationalen und kultu- Globalen Südens, und diese Entwicklung hat rellen Besonderheiten der einzelnen Länder ab. unter Historikern ein Interesse am Verhältnis Am nächsten kamen wohl die Wildtierreservate von Naturschutz und staatlicher Autorität ge- in den Kolonien, die von den erwähnten Groß- weckt. Lange galt als ausgemacht, dass der Na- wildjägern unterstützt und später häufig in Na- turschutz im späten 19. Jahrhundert aus neu- tionalparks umgewandelt wurden. Oft ging es en Ideen über die Bedrohung der freien Natur freilich in erster Linie um visuelle Reize: spekta- durch die Industriemoderne entstand, aber das kuläre Felsformationen, ikonische Landschaften, war nur die halbe Geschichte. Der Naturschutz beliebte Ausflugsziele, Superlative der Natur. Die moderner Prägung basierte auch auf der Neuer- Vereinigten Staaten, die um 1870 mit Yellowstone findung staatlicher Macht in der zweiten Hälfte und Yosemite die ersten Nationalparks der Welt des 19. Jahrhunderts. schufen, brauchten bis 1934, um mit den Evergla- Der Umschwung wird deutlich, wenn man des erstmals die Schaffung eines Nationalparks die Naturschutzgebiete der Moderne mit älte- ökologisch zu begründen. ren Schutzgebieten vergleicht. Wenn ein Mon- arch im 17. oder 18. Jahrhundert ein Gebiet un- SCHUTZGEBIETE ter besonderen Schutz stellte, dann ging es in aller Regel um die Jagd, die als fürstliches Privi- Wenn Naturschutzgebiete vor 1950 Arten vor leg einen besonderen Aufwand rechtfertigte. Die dem Aussterben retteten, dann war das meist ein Jagdgebiete wurden mit großem Aufwand mar- Nebeneffekt. Ohnehin sollte man sich vor der kiert bis hin zu Bretterwänden zur Einhegung Illusion hüten, dass es bei solchen Schutzgebie- des Wilds, und doch war die Macht der Herr- ten lediglich um die Bewahrung einer bedrohten schenden fragil: Die Konflikte zwischen bäuerli- Natur gegangen wäre. Schweden schuf zum Bei- cher Landwirtschaft und fürstlicher Jagd ziehen spiel im frühen 20. Jahrhundert Nationalparks sich durch die Geschichte der Frühen Neuzeit. im Land der indigenen Samen, um die Autorität Staatliche Macht war stets an bestimmten Orten der schwedischen Regierung im hohen Norden konzentriert, insbesondere in den Schlössern der zu konsolidieren. Großbritannien verfolgte ähn- Landesherren, und sie verringerte sich mit wach- liche Interessen, als es nach dem Zweiten Welt- sender Distanz vom Sitz des Souveräns. Die Na- krieg die Ausweisung von Nationalparks in sei- turschutzgebiete, die seit dem späten 19. Jahr- nen afrikanischen Kolonien forcierte. Sie waren hundert oft in peripheren Regionen eingerichtet ein Signal, dass sich London nun mit besonde- wurden, wären unter den Bedingungen des früh- rer Sorgfalt um seinen kolonialen Besitz küm- neuzeitlichen Staates eine leere Geste gewesen. mern würde. Außerdem sollten sie das weitsich- Es gab einfach nicht die Mittel, dem Wort des tige Management natürlicher Ressourcen durch Souveräns auf der gesamten Fläche Geltung zu den weißen Mann symbolisieren, der angeblich verschaffen. weiter blicken konnte als die einheimische Be- Das änderte sich in der zweiten Hälfte des völkerung, die aus Sicht der Kolonialherren le- 19. Jahrhunderts. Mit der Eisenbahn und den Te- diglich auf die kurzfristige Bedürfnisbefriedi- legrafen gewannen Menschen und Informatio- gung fixiert war. nen eine neuartige Mobilität, die Zentrale konnte Naturschutz konnte auch ein politisches auch abgelegene Regionen in einer Weise kon- Statement sein, und bei der Ausweisung von trollieren, die in früheren Zeiten schon am Tem- 15
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