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70. Jahrgang, 28–29/2020, 6. Juli 2020 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Deutsche Einheit Kerstin Brückweh Noa K. Ha DAS VEREINTE DEUTSCHLAND VIETDEUTSCHLAND ALS ZEITHISTORISCHER UND DIE REALITÄT FORSCHUNGSGEGENSTAND DER MIGRATION IM VEREINTEN DEUTSCHLAND Steffen Mau EINE SKIZZE ZUR OST Daniel Kubiak DEUTSCHEN SOZIOPOLITIK DEUTSCH-DEUTSCHE IDENTITÄTEN IN DER Edgar Wolfrum NACHWENDEGENERATION ZUM ENDE DER „ALTEN“ BUNDESREPUBLIK Karin Thomas · Rüdiger Thomas FEHLWAHRNEHMUNGEN Henrik Scheller IM DEUTSCHEN GESCHICHTE UND VERSTÄNDIGUNGSPROZESS PERSPEKTIVEN DES AM BEISPIEL DER KUNST SOLIDARITÄTSZUSCHLAGS ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Deutsche Einheit APuZ 28–29/2020 KERSTIN BRÜCKWEH NOA K. HA DAS VEREINTE DEUTSCHLAND ALS ZEIT VIETDEUTSCHLAND UND DIE REALITÄT DER HISTORISCHER FORSCHUNGSGEGENSTAND MIGRATION IM VEREINTEN DEUTSCHLAND Das vereinte Deutschland hat in der Geschichts- Auf zwei höchst unterschiedlichen Wegen wissenschaft eine Sonderstellung zwischen kamen Menschen aus Vietnam in die Bundesre- sozialwissenschaftlicher Begleitforschung, publik und in die DDR. Nach dem Kalten Krieg zeithistorischen Meistererzählungen, ostdeutschen hatte die Neuordnung der globalen Verhältnisse Identitätsgeschichten, internationaler Transforma- auch Auswirkungen auf die vietnamesische tionsforschung und politischen Diskussionen. Diaspora im vereinten Deutschland. Seite 04–10 Seite 30–34 STEFFEN MAU DANIEL KUBIAK EINE SKIZZE ZUR OSTDEUTSCHEN DEUTSCH-DEUTSCHE IDENTITÄTEN SOZIOPOLITIK IN DER NACHWENDEGENERATION In dem Beitrag wird der Versuch unternommen, Die Ost-West-Differenz ist für nach 1990 Gebo- die erkennbaren Unwuchten in Ostdeutschland rene eine identitätsprägende Kategorie. Während zu erklären. Im Zentrum stehen die schwierige sich junge Ostdeutsche in einigen Situationen Demokratisierung, die Blaupause West als Trans- selbst als Ostdeutsche identifizieren, bleiben formationsmodell, die sozialstrukturellen Mobili- junge Westdeutsche die unsichtbare Norm und tätsblockaden und die Veränderungserschöpfung. reden über Ostdeutsche als die „Anderen“. Seite 11–16 Seite 35–39 EDGAR WOLFRUM KARIN THOMAS · RÜDIGER THOMAS ZUM ENDE DER „ALTEN“ BUNDESREPUBLIK FEHLWAHRNEHMUNGEN IM Die „alte“ Bundesrepublik war 1989 kein DEUTSCHEN VERSTÄNDIGUNGSPROZESS Provisorium mehr. Umso größer war dann der AM BEISPIEL DER KUNST Wandel: Verabschiedet wurde Bonn, der alte Im gesamtdeutschen Verständigungsprozess Parteien- und der tradierte Sozialstaat, sogar die zeigen sich politische, gesellschaftliche und D-Mark. Das Land wurde souverän, doch der ideologische Wahrnehmungsblockaden, diver- „Aufsteiger“ suchte seine neue Rolle in der Welt. gente Mentalitätsstrukturen, aber auch kulturelle Seite 18–21 Differenzierungen, die sich in noch immer abgrenzenden Bilderwelten manifestieren. Seite 40–45 HENRIK SCHELLER GESCHICHTE UND PERSPEKTIVEN DES SOLIDARITÄTSZUSCHLAGS Der Solidaritätszuschlag war nie nur eine steuerliche Ergänzungsabgabe, die einen Integrationsbeitrag zur deutschen Vereinigung leisten sollte. Vielmehr war er von Anbeginn auch Anstoß für Verteilungskonflikte – zwischen Steuerpflichtigen sowie Bund und Ländern. Seite 22–28
EDITORIAL Drei Jahrzehnte sind seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ver- gangen, und das vereinte Deutschland wird zu einem eigenen Kapitel in den Geschichtsbüchern. Der gesellschaftliche Aushandlungsprozess über die Frage, wie dieses Kapitel zu schreiben ist und von wem, hat im Vorfeld des Jubiläums Züge eines Deutungskampfes angenommen: In emotionalen Debatten werden die Folgen der seinerzeit so rasch vollzogenen staatlichen Einheit insbesondere für Ostdeutschland diskutiert, etwa mit Blick auf die Arbeit der Treuhand- anstalt, die binnen kürzester Zeit Tausende DDR-Betriebe privatisierte, oder den umfassenden Austausch der DDR-Eliten durch Personal aus dem Westen. Damalige Fehler und Benachteiligungen wirken bis heute nach und verdecken bisweilen das, was erreicht worden ist. Trotz aller Angleichungsfortschritte sind „Ost“ und „West“ in Deutschland nach wie vor relevante Kategorien. Erhebungen zu wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren wie Produktivität, Infrastrukturdichte, Einkommenshöhe, Vermö- gensverteilung oder demografische Struktur, aber auch das Wahlverhalten lassen den einstigen Grenzverlauf immer wieder sichtbar werden. Westdeutschland wird dabei meist als der „Normalfall“ gehandelt, an dem die Entwicklungen in Ostdeutschland gemessen werden, und „ostdeutsch“ somit häufig zur Markie- rung einer vermeintlich defizitären Andersartigkeit. Seit 1990 hat sich Deutschland insgesamt verändert: Die „alte“ Bundesrepu- blik, das Bonner „Provisorium“, gibt es nicht mehr. International hat Deutsch- land deutlich an politischem Gewicht gewonnen, und die deutsche Gesellschaft ist heute vielfältiger als je zuvor. Drei Jahrzehnte nach dem Ende der deutschen Teilung ist es an der Zeit, sich von der Fiktion einer vollständigen kulturellen oder gesellschaftlichen „Einheit“ des Landes zu verabschieden und die „Deut- sche Einheit“ größer zu denken als in zwei Himmelsrichtungen. Anne-Sophie Friedel 03
APuZ 28–29/2020 DAS VEREINTE DEUTSCHLAND ALS ZEITHISTORISCHER FORSCHUNGSGEGENSTAND Kerstin Brückweh Nach einem klar definierten Forschungsbereich Innovative zeitgeschichtliche Forschung zu zum vereinten Deutschland sucht man auch 1989 findet derweil anderswo statt. Dazu hat sich nach drei Jahrzehnten Deutscher Einheit in der ein lebendiges internationales Forschungsfeld Geschichtswissenschaft vergeblich. Erstens ist entwickelt, in dem (Ost-)Deutschland aber der es schlichtweg zu früh, denn die Zeitgeschichts- Sonderfall bleibt. Denn Ostdeutschland nimmt forschung hängt den Ereignissen prinzipiell hin- in den zeithistorischen Forschungen eine eigen- terher. Es bedarf eines zeitlichen Abstands, um tümliche Sandwich-Position ein: nicht östlich ge- mit geschichtswissenschaftlichen Methoden die nug für die Forschungen zu Ostmitteleuropa und Vergangenheit zu betrachten. Viel früher haben nicht westlich genug für die Forschungen zur al- sich die Sozialwissenschaften als gegenwartsna- ten Bundesrepublik. Und jenseits der Forschung he Disziplin diesem Untersuchungsfeld gewid- vergleichen sich auch viele Ostdeutsche weniger met. Aus ihren Studien und Daten, aber auch mit polnischen oder tschechischen Nachbar/in- Erfolgen und Problemen können Zeithistori- nen als mit bayerischen und hessischen. Das Poli- ker/innen Erkenntnisse und Quellen für eige- tische der Zeitgeschichte könnte sichtbarer kaum ne Analysen gewinnen. Zweitens waren in der sein. Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jah- ren eher globalgeschichtliche Themen in Mode. EREIGNISSE BEGLEITEND: Sich mit Ostdeutschland zu beschäftigen, hafte- SOZIALWISSENSCHAFTLICHE te etwas Rückschrittliches oder gar Kleingeis- FORSCHUNG tiges an. Trotzdem gab es drittens jenseits der wissenschaftlichen Trends ein lebensgeschichtli- Von einem „forschungspragmatischen Glücks- ches, gesellschaftliches und politisches Bedürf- fall, der vor unseren Augen ein ‚natürliches Ex- nis, sich mit dem vereinten Deutschland und so- periment‘ von Dimensionen ablaufen läßt, die mit auch mit Ostdeutschland zu beschäftigen. unter ‚Laborbedingungen‘ auch nicht annähernd Daraus sind – plakativ formuliert – zum einen zu reproduzieren wären,“ schwärmte der Sozio- politikgeschichtliche Meistererzählungen, also loge Claus Offe 1991.02 Ähnlich äußerten sich große sinnstiftende Geschichten entstanden, die damals auch andere: Gesellschaftsforschung zu mit offiziellen Positionen eine gewisse Symbiose naturwissenschaftlichen Bedingungen – so lässt eingingen, wie sie etwa beim Reden und Feiern sich die Euphorie zusammenfassen. Aber aus der „der“ Wiedervereinigung und „der“ Deutschen westdeutschen Ferne ließ sich die Situation an- Einheit deutlich werden. Zentral ist in diesen ders bewerten als in Ostdeutschland, wo man Erzählungen der alles in allem positiv gewerte- zwar die Begeisterung teilte, aber zugleich einen te Übergang von der Diktatur zur Demokratie westdeutschen Import befürchtete.03 Die Karri- und von der Plan- zur Marktwirtschaft. Zum erewege der Forschenden in Ost und West, die anderen sind aus verschiedenen persönlichen Neuordnung ostdeutscher Institutionen und die und politischen Richtungen identitätsstiftende Geschichte der Theorien und Methoden der So- ostdeutsche Gegenerzählungen entstanden, und zialwissenschaften, unter die hier das weite Feld „der Groll bei den tatsächlichen und vermeint- von der Politik- über die Wirtschaftswissenschaft lichen Verlierern“01 ist mittlerweile deutlich zu- bis zur Soziologie gefasst wird, sind seit 1989/90 tage getreten. mit all ihren Machtverhältnissen untrennbar ver- 04
Deutsche Einheit APuZ bunden. Das hatte gleichsam Auswirkungen auf phase von 1989 bis 1991 folgte bis 1996 eine Pha- persönliche Karrieren, die Forschungslandschaft se des systematischen institutionellen Aufbaus der und Erklärungsansätze.04 sogenannten Ostdeutschland- und Vereinigungs- Inhaltlich standen ost- und westdeutsche So- forschung. Hier ist besonders die Kommission zialforscher/innen vor ähnlichen Problemen: für die Erforschung des sozialen und politischen Weder hier noch dort war man in der Lage gewe- Wandels in den neuen Bundesländern (KSPW) sen, den Zusammenbruch der kommunistischen erwähnenswert, die zwischen 1991 und 1996 eine Regime in Ostmitteleuropa vorauszusagen. Es Vielzahl von Daten sammelte und Forschung för- existierte weder ein passender Begriff noch eine derte. Kennzeichnend für diese zweite Phase war Theorie zur Transformation, die nach 1989 hal- die Orientierung an altbekannten („westlichen“) fen, das Phänomen zu erklären.05 Im Jahr 2000 Theorien in inhaltlicher und theoretischer Hin- bilanzierte Stephan Weingarz, dass einzelne äl- sicht bei gleichzeitigem Umbau der ostdeutschen tere Theorieansätze wie die Systemtheorie und Wissenschaftslandschaft. Da die Vereinigung in akteursorientierte Ansätze bei der Erklärung ge- dieser Zeit zu dem gegenwartsdiagnostischen holfen hätten, eine weiterführende transforma- Forschungsthema wurde, standen hier beson- tionsspezifische Theoriebildung aber noch aus- ders viele Drittmittel zur Verfügung.07 So grün- stehe. Generell war sein Resümee ernüchternd: deten von Umstrukturierungen und Arbeitslo- Es sei den deutschen Sozialwissenschaften in den sigkeit betroffene ostdeutsche Wissenschaftler/ 1990er Jahren nicht gelungen, mit Blick auf das innen freie Forschungsinstitute. Zugleich be- vereinte Deutschland „einen geschlossenen For- warben sich auch westdeutsche Wissenschaftler/ schungsbereich mit einem klar definierten For- innen um die Forschungsgelder. Wissenschafts- schungsziel, spezifischen Fragestellungen sowie geschichtlich sind hier die Machtstrukturen des bestimmten sozialwissenschaftlichen Instrumen- Wissenschaftssystems von großer Bedeutung und tarien zu e ntwickeln“.06 bei Weitem noch nicht erforscht. Vertraut man Verbindet man diese Bewertung mit den vier den Eindrücken der damaligen Akteure selbst, so Phasen sozialwissenschaftlicher Erforschung des ergibt sich folgendes Bild: „Gefragt wurde (…) vereinten Deutschland, die der Soziologe Raj praktisch nur nach dem, was im Osten aus westli- Kollmorgen gut zehn Jahre später herausgearbei- cher Perspektive von Interesse war.“08 tet hat, so wird deutlich, wie stark wissenschaft- Die folgenden Jahre von 1996 bis 2001 be- liche Neugier, (politische) Forschungsförderung zeichnet Kollmorgen als Phase der Normalisie- und der Umbau der ostdeutschen Institutionen rung, in der alle großen Förderprogramme aus- die Forschung beeinflusst haben. Nach einer kur- liefen und sich viele Forschende wieder anderen zen unkonventionellen gemeinsamen Aufbruchs- Themen widmeten. Gleichzeitig entstanden neue öffentlich finanzierte Forschungsinstitute. Von 01 Christoph Kleßmann, „Deutschland einig Vaterland“? den freien ostdeutschen Instituten konnte sich Politische und gesellschaftliche Verwerfungen im Prozess der langfristig das im März 1990 gegründete Bran- deutschen Vereinigung, in: Zeithistorische Forschungen/Studies denburg-Berliner Institut für Sozialwissenschaft- in Contemporary History 1/2009, S. 85–104. liche Studien halten.09 02 Claus Offe, Die deutsche Vereinigung als „natürliches Ex- Die vierte Phase ab etwa 2000, die Kollmor- periment“, in: Bernd Giesen/Claus Leggewie (Hrsg.), Experiment Vereinigung. Ein sozialer Großversuch, Berlin 1991, S. 77–86. gen als institutionelles Rearrangement bezeich- 03 Vgl. Dieter Segert, Die langen Schatten der Vergangenheit. net und über den Zeitpunkt der Veröffentlichung Warum es in der DDR keine Politologie gab, in: ebd., S. 111–122, seines Aufsatzes 2011 hinausgeht, war vor allem hier S. 111. 04 Vgl. Kerstin Brückweh, The History of Knowledge: An Indispensable Perspective for Contemporary History, 4. 12. 2017, 07 Vgl. Raj Kollmorgen, Zwischen „nachholender Modernisie- https://historyofknowledge.net/2017/12/04/the-history-of- rung“ und ostdeutschem „Avantgardismus“. Ostdeutschland und knowledge-an-indispensable-perspective-for-contemporary- deutsche Einheit im Diskurs der Sozialwissenschaften, in: ders./ history. Frank Thomas Koch/Hans-Liudger Dienel (Hrsg.), Diskurse der 05 Zur Einführung vgl. Raj Kollmorgen/Wolfgang Merkel/ deutschen Einheit. Kritik und Alternativen, Wiesbaden 2011, Hans-Jürgen Wagener (Hrsg.), Handbuch Transformationsfor- S. 27–65, hier S. 39. schung, Wiesbaden 2015. 08 Burkart Lutz, Einleitung, in: ders. et al. (Hrsg.), Arbeit, Ar- 06 Stephan Weingarz, Laboratorium Deutschland? Der beitsmarkt und Betriebe, Berichte der KSPW 1, Opladen 1996, ostdeutsche Transformationsprozess als Herausforderung für die S. 1–16, hier S. 1 f. deutschen Sozialwissenschaften, Münster u. a. 2003, S. 364. 09 Siehe www.biss-online.de. 05
APuZ 28–29/2020 durch den in Halle und Jena angesiedelten Son- Um die Transformationszeit erklären zu kön- derforschungsbereich 580 „Gesellschaftliche Ent- nen, müssen die Makro- und die Mikroebene wicklungen nach dem Systemumbruch – Diskon- enger miteinander verbunden werden – das ist tinuität, Tradition und Strukturbildung“ geprägt. ein Ergebnis der sozialwissenschaftlichen For- Während dort zunächst davon ausgegangen wor- schungen, die aufgrund ihrer gegenwartsnahen den war, dass es zu einer schnellen Angleichung Forschungsgegenstände viel stärker als die Ge- der Verhältnisse durch eine nachholende Moder- schichtswissenschaft mit theoretischen Konstruk- nisierung kommen würde, wurde der Blick in ten arbeitet. Das zweite wichtige Produkt ist der der späten Förderphase stärker auf eigenständi- immense Umfang an Forschungsdaten, den die ge Entwicklungen in Ostdeutschland gelenkt. In sozialwissenschaftliche Forschung erhoben hat.13 dieser Hinsicht war auch ein von 2007 bis 2011 vom Bundesministerium für Bildung und For- RÜCKBLICKE: schung geförderter Projektverbund bemerkens- MEISTERERZÄHLUNGEN UND wert, der im Dialog von Wissenschaft, Kunst und IDENTITÄTSDISKURSE Alltag das Überleben im Umbruch am Beispiel der brandenburgischen Stadt Wittenberge un- Zeithistoriker/innen waren in den 1990er Jahren tersuchte.10 Es stellte weniger große Strukturen, zunächst weniger mit dem vereinten Deutsch- sondern vielmehr alltägliche Strategien ins Zen- land als mit der Erklärung der DDR beschäftigt. trum. Damit wurde an ein grundlegendes Pro- Eine Fülle an Akten, die durch das Ende der DDR blem angeknüpft: die fehlende Verbindung der viel früher als bei den üblichen Archivsperrfristen Mikro- und Makroebene, also der Alltags- und zur Verfügung standen, schufen auch hier ein For- Erfahrungsebene einerseits und der Ebene der schungsparadies. Diskussionen darüber, mit wel- großen Strukturen und des institutionellen Wan- chen Ansätzen man die DDR untersuchen könne dels andererseits. und ob es Grenzen der Diktatur gab, prägten die Etwa zur gleichen Zeit begann eine jüngere 1990er Jahre.14 Das bestimmte auch die ersten Ver- Generation von Sozialwissenschaftler/innen die öffentlichungen zum vereinten Deutschland, weil Bedeutung ihrer Alterskohorte zu betonen. In ih- man sich damit Erklärungen für den Zustand der ren Veröffentlichungen zeigt sich die Nähe zur sogenannten inneren Einheit erhoffte.15 Weitere „3ten Generation Ostdeutschland“, einem Netz- Bücher von Historikern zur Geschichte des ver- werk sogenannter Wendekinder, die zwischen einten Deutschlands erschienen erst ab Ende der 1975 und 1985 in der DDR geboren wurden. 2000er Jahre. Dabei handelt es sich vorrangig um Als Anlass für die Gründung dieses Netzwerks politikgeschichtliche Darstellungen, die den Ab- wird unter anderem auf die Feierlichkeiten zum lauf des Einigungsprozesses beschreiben – also um 20-jährigen Jubiläum der Wiedervereinigung ver- Geschichten von oben.16 Sie kennzeichnet zumeist, wiesen, bei denen sie sich durch die „betagte[n] dass sie Ostdeutschland nicht zuerst für sich be- westdeutsche[n] Herren“ und ihre Interpretatio- trachten und analysieren, sondern die alte Bundes- nen der Geschichte nicht oder falsch vertreten sa- republik als Referenzrahmen nehmen. Das ist ei- hen.11 Das ist als gesellschaftliches und politisches nerseits verständlich, sollte es doch um das vereinte Phänomen interessant, weil es auf die mangelnde Deutschland gehen, andererseits ergab sich gera- Verknüpfung der Analysen auf der Erfahrungs- de daraus die schon aus den Sozialwissenschaften und der Systemebene basierte.12 13 Vgl. dazu auch Weingarz (Anm. 6), S. 365. 14 Vgl. Richard Bessel/Ralph Jessen (Hrsg.), Die Grenzen der 10 Vgl. Heinz Bude/Thomas Medicus/Andreas Willisch (Hrsg.), Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996. ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge. Ansichten Für einen Überblick vgl. Frank Bösch, Geteilt und verbunden. einer fragmentierten Gesellschaft, Hamburg 2011. Perspektiven auf die deutsche Geschichte seit den 1970er Jah- 11 Vgl. Die Buchankündigung von Adriana Lettrari/Christian ren, in: ders. (Hrsg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutsch- Nestler/Nadja Troi-Boeck (Hrsg.), Die Generation der Wende- land 1970–2000, Göttingen 2015, S. 7–37. kinder. Elaboration eines Forschungsfeldes, Wiesbaden 2016 15 Vgl. Gerhard A. Ritter, Über Deutschland: Die Bundesrepu- unter http://netzwerk.dritte-generation-ost.de/sammelband-die- blik in der deutschen Geschichte, München 1998. generation-der-wendekinder-elaboration-eines-forschungsfeldes. 16 Vgl. Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die 12 Diese Dissonanz wurde bereits benannt von Renate Mayntz, Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009; Manfred Die deutsche Vereinigung als Prüfstein für die Leistungsfähigkeit der Görtemaker, Die Berliner Republik. Wiedervereinigung und Sozialwissenschaften, in: Biss Public 13/1994, S. 21–24, hier S. 23. Neuorientierung, Berlin 2009. 06
Deutsche Einheit APuZ bekannte Schieflage: Die Bundesrepublik wurde Die deutlichste Gegenerzählung hat bisher Il- auch von Historikern als Maßstab gesetzt. Sym- ko-Sascha Kowalczuk geschrieben. Er bietet, ge- ptomatisch war wohl, dass Hans-Ulrich Wehler rahmt durch seine persönliche Geschichte, das als Doyen der bundesdeutschen Gesellschaftsge- Motiv der Übernahme des Ostens durch den schichte 2008 vom „Intermezzo der ostdeutschen Westen als Gegennarrativ an. Andere ostdeutsche Satrapie“ schrieb, die in seinem Werk nicht durch Akteure nehmen die bereits in den 1990er Jahren eine ausführliche Analyse aufgewertet werden verbreitete These von der „Kolonisierung Ost- müsse.17 Die Debatte, die sich darüber entfachte,18 deutschlands“ wieder auf.22 Beides hilft für die sagte nicht nur etwas über die DDR, sondern auch Zuspitzung des Narrativs, aber nicht für die ge- über das Deutschland von 2008 aus und trug nicht genseitige Verständigung. Wie schon bei den So- dazu bei, Ostdeutschland zu einem gleichberech- zialwissenschaften geht es auch um Machtfragen, tigten Teil der deutschen Geschichte werden zu den Umbau der DDR-Forschungsinstitutionen lassen. Zwar bemühten sich andere Historiker um und den Verlauf persönlicher Karrieren. Letzt- eine differenziertere Analyse, dennoch blieben sie lich ist es auch hier an der Zeit, genauer zu erfor- ihren etablierten Interpretations- und Referenz- schen, wie die Abwicklungen von ostdeutschen rahmen treu und versuchten, Ostdeutschland in Historiker/innen vollzogen wurden. Eine Wis- diese einzuschreiben: Zentral waren die alte Bun- sens- und Wissenschaftsgeschichte ist zentral, um desrepublik,19 die Geschichte des Westens20 oder die Einzelerzählungen zu verbinden, zu kontex- die (west)europäische Geschichte.21 tualisieren und auf eine empirische Basis zu stel- Aus diesen Publikationen, auch wenn sie kri- len.23 Dafür müssten auch die Aufarbeitungs- tische Perspektiven bieten, ist alles in allem der landschaft und Geschichtspolitik in den Blick Eindruck einer politischen und wirtschaftlichen genommen werden.24 Erfolgsgeschichte entstanden; die Geschichte ei- Dass Machtstrukturen und das (west)deut- ner Nation, die den Weg von der Diktatur in die sche Wissenschaftssystem eine eigene Rolle spie- Demokratie und von der Plan- in die Marktwirt- len, lässt sich auch an Philipp Thers „Die neue schaft geschafft hat. Dieser Eindruck hat sich Ordnung auf dem alten Kontinent“ illustrieren. auch deshalb verfestigt, weil die politischen Ak- Der 2014 erschienene Band ist ebenfalls ein Über- teure der Berliner Republik selbst, etwa bei Jah- blickswerk, eine Geschichte von oben, die aber restagen, auf positive Erzählungen Bezug nehmen einen anderen Referenzrahmen für Ostdeutsch- oder einzelne Historiker/innen sich selbst klar in land bietet, nämlich die ostmitteleuropäischen parteipolitischer Richtung positionieren. Die bis- Länder und ihren Weg in den Neoliberalismus. her genannten Titel sind besonders stark in der Dieses Buch hat weitere Forschungen angeregt Öffentlichkeit präsent, von Verlagen beworben und ordnet sich in eine lebendige ostmitteleuro- und im Feuilleton besprochen. Das ist vermut- päische Forschung ein, bei der Ostdeutschland lich auch deshalb der Fall, weil sie dem Bedürfnis eine Randposition einnimmt: einerseits aufgrund nach großen Narrativen, nach Meistererzählun- der Sonderrolle durch die Wiedervereinigung, an- gen entgegenkommen. Diese sollen Sinn stiften dererseits weil Lehrstühle in Deutschland klaren und im Fall des vereinten Deutschland auch eine Strukturen folgen und die osteuropäische Ge- gesamtdeutsche Erzählung bieten. schichte in dieser Ordnung nicht zur deutschen Geschichte gehört. Die Situation scheint verfah- 17 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008, 22 So etwa mit der Tagung „Kolonie Ost? Aspekte von S. XV f. ‚Kolonialisierung‘ in Ostdeutschland seit 1990“ in Dresden und 18 Vgl. Patrick Bahners/Alexander Cammann (Hrsg.), Bun- Hoyerswerda vom 3. bis 5. April 2019. desrepublik und DDR. Die Debatte um Hans-Ulrich Wehlers 23 Sie ist noch am Anfang, vgl. z. B. die Tagung „Hochschulum- „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“, München 2009. bau Ost. Die Transformation des DDR-Hochschulwesens nach 19 Vgl. jüngst Edgar Wolfrum, Der Aufsteiger. Eine Geschichte 1989/90 in typologisch-vergleichender Perspektive“ an der Deutschlands von 1990 bis heute, Stuttgart 2020 sowie zuvor Universität Leipzig am 13./14. April 2018 sowie das von 2019 z. B. Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhun- bis 2022 laufende Forschungsprojekt „Die Transformation der dert, München 2014. ostdeutschen Hochschulen in den 1980/90er Jahren. Potsdam in 20 Vgl. Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Die vergleichender Perspektive“ der Universität Potsdam. Zeit der Gegenwart, München 2015. 24 Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Zur Gegenwart der DDR- 21 Vgl. Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Geschichte. Ein Essay, 18. 3. 2019, www.zeitgeschichte-online.de/ Europas in unserer Zeit, München 2012. themen/zur-gegenwart-der-ddr-geschichte. 07
APuZ 28–29/2020 ren, aber ist nicht aussichtslos. An dieser Stel- TRANSFORMATIONS le bleibt zunächst festzuhalten, dass die als west- GESCHICHTEN: ERFAHRUNGEN, deutsch gelabelten Erfolgsgeschichten für viele PERSPEKTIVEN, RÄUME Ostdeutsche kein Dach bieten. Die ostdeutsche UND AKTEURE Wirklichkeit verlangt ein genaues Hinsehen und Differenzieren. Ein eigenes Forschungsfeld, das sich dezidiert Der Sozialwissenschaftler und Publizist Tho- der Geschichte des vereinten Deutschlands wid- mas Ahbe kam 2019 zu einem ähnlichen Resultat, met, wird es vermutlich auch in Zukunft nicht ge- indem er auf jene drei Viertel der DDR-Bevöl- ben. Denn was einerseits der Nachteil der Zeitge- kerung verwies, „die nicht zu den entschiede- schichte ist, ist andererseits ihr Vorteil: Sie kann nen Gegner/-innen des DDR-Systems zählten mit größerem zeitlichen Abstand die bisheri- (…), sich eben nicht einfach als Opfer eines Un- gen Entwicklungen beobachten und daraus For- rechtsregimes fühlten“ und für die die Groß- schungsbedarfe formulieren. Das größte Problem erzählungen deshalb nicht passen.25 Zeitzeu- stellt derzeit auch hier die Unverbundenheit von genschaft wird an dieser Stelle gleichermaßen Makro- und der Mikroperspektive dar, also die wichtig und schwierig, weil die Erinnerung von widersprüchlichen Erzählungen von oben und heute nicht gleichzusetzen ist mit der Geschich- von unten. In dieser Hinsicht ordnet sich Ost- te von damals. Und doch ist diese „Mehrheit der deutschland nahtlos in andere ostmitteleuropä- Gesellschaft“ bisher vernachlässigt worden. In ische Länder ein, die ebenfalls ein Auseinander- die Lücke, die die großen Erzählungen hinter- fallen von öffentlichen Meistererzählungen und lassen haben, sind derweil andere Deutungsan- persönlichen Erfahrungen verzeichnet haben.27 gebote getreten, die wie die Meistererzählungen Zeithistoriker/innen, die sich mit Ostdeutsch- relativ laut zu hören sind: Sie können als identi- land beschäftigen, haben sich deshalb verstärkt tätsstiftende Erzählungen bezeichnet werden, die den ostmitteleuropäischen Umbrüchen von 1989 ein ostdeutsches Bewusstsein ins Zentrum stellen bis 1991 zugewandt. Dabei sind weniger die For- und zugleich zeigen, dass es „die“ Ostdeutschen schungsvorhaben selbst vergleichend angelegt als nicht gibt.26 Auch hier hat sich zuletzt eine jün- vielmehr die wissenschaftlichen Diskussionszu- gere Generation aufgemacht, sich über ihre ost- sammenhänge. Ostdeutschland kann dabei ana- deutsche Herkunft und Erfahrung zu definieren, lytisch als ein Fall betrachtet und in verschiede- und auch hier gibt es große Unterschiede in der ne Kontexte eingeordnet werden. Das ist bereits Qualität der Analyse. Schwierig wird es für die für die DDR-Forschung gefordert worden28 und zeithistorische Forschung dann, wenn eine Be- erscheint so auch für die Geschichte Ostdeutsch- rechtigung dafür, über Ostdeutschland forschen lands über den Epochenbruch hinaus hilfreich. zu dürfen, aus der eigenen ostdeutschen Biogra- Das Ergründen des Auseinanderfallens der Ge- fie abgeleitet wird beziehungsweise im Gegenzug schichten verlangt zudem eine Perspektiverweite- so bezeichneten Westdeutschen die Kompetenz rung im Hinblick auf die historischen Akteure. qua Geburtsort abgesprochen wird. Dabei ist un- Während in den Geschichten von oben vor allem klar, wer und was eigentlich „ostdeutsch“ ist. Die die politischen Protagonist/innen im Vordergrund geschichtswissenschaftliche Forschung geht der- standen und für die Perspektive von unten in die- weil anders vor. sen Erzählungen meist nur auf Meinungsumfra- gen Bezug genommen wurde, ist das für eine Ge- 25 Thomas Ahbe, Revolution und Vereinigung. Viele Erfahrun- schichte, die die verschiedenen Akteure und ihre gen und eine Große Erzählung, in: Journal für politische Bildung Erfahrungen ergründen und darstellen will, nicht 4/2019, S. 10–17, hier S. 16. ausreichend. Meinungsumfragen haben in die- 26 Vgl. die Kritik an Valerie Schönian, Ostbewusstsein, Mün- chen 2020 durch den ebenfalls in der DDR geborenen Frank ser Hinsicht eine begrenzte Aussagekraft, weil Pergande, Schau an, ich bin ein Ossi, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. 4. 2020, S. 5. Vgl. zur Problematik und zum Poten- zial der Identitätspolitik Silke van Dyk, Identitätspolitik gegen 27 Vgl. Aron Buzogány, 25 Jahre 1989: Osteuropa zwischen ihre Kritik gelesen, in: APuZ 9–11/2019, S. 25–32. Konkret auf Euphorie und Ernüchterung, in: APuZ 24–26/2014, S. 10–15. Ost-Westdeutschland bezogen vgl. Jörg Ganzenmüller, Ostdeut- 28 Vgl. Dorothee Wierling, Die DDR als Fall-Geschichte, in: sche Identitäten. Selbst- und Fremdbilder zwischen Transfor- Ulrich Mählert (Hrsg.), Die DDR als Chance. Neue Perspektiven mationserfahrung und DDR-Vergangenheit, 24. 4. 2020, www. auf ein altes Thema, Berlin 2016, S. 205–213; Thomas Lindenber- bpb.de/308016. ger, Ist die DDR ausgeforscht?, in: APuZ 24–26/2014, S. 27–32. 08
Deutsche Einheit APuZ sie Antworten auf vorformulierte Fragen geben: schungsbedarf. Gerade dann, wenn man die Da- Wenn Umfrageinstitute beziehungsweise ihre Auf- ten der Sozialwissenschaften aus den 1990er Jahren traggeber sich für Ost-West-Unterschiede interes- als Quellen für die Zeitgeschichte verwenden will, sieren, dann bekommen sie dazu auch Antwor- wird eine Wissensgeschichte der akademischen In- ten, unabhängig davon, ob die Befragten das von stitutionen, ihrer Mitarbeiter/innen und Methoden sich aus thematisiert hätten. Außerdem haben ers- zentral, um eine fundierte Quellenkritik leisten zu te wissensgeschichtliche Tiefenbohrungen gezeigt, können. Im Bereich des Institutionenumbaus exis- dass Anfang der 1990er Jahre die Methoden sehr tieren viele persönliche Geschichten, aber wenig stark von westdeutschen Gegebenheiten ausgin- systematische Untersuchungen. Besonders deut- gen, die nur begrenzt auf die ostdeutsche Situati- lich wird das mit Blick auf den „erinnerungskultu- on zutrafen.29 Die Quellenbasis muss also erwei- rellen Zombie der Wiedervereinigung“ Treuhand,31 tert werden. Die Methode der Oral History wird zu der fast jeder Ostdeutsche eine persönliche Er- dann ebenso wichtig wie die Zweitanalyse der qua- fahrungsgeschichte oder eine Meinung hat, um die litativen und quantitativen Daten aus der umfas- sich aber nach wie vor auch viele Mythen ranken. senden sozialwissenschaftlichen Forschung der Neben den mittlerweile für das Institut für Zeit- 1990er Jahre. Dahinter steht ein Erkenntnisinte- geschichte geöffneten Archivquellen gibt es zur resse an Erfahrungen, Mentalitäten, Ideen, Alltag Treuhand eine Vielzahl von Daten aus der sozial- und Gesellschaft – eben an solchen Themen, die wissenschaftlichen Transformationsforschung der über den Epochenbruch von 1989 hinweg Bestand 1990er Jahre. Der Zeitgeschichtsforschung kommt hatten beziehungsweise die von Menschen gestal- hier die Aufgabe zu, die unterschiedlichen Quellen tet werden mussten. Zwangsläufig ergibt sich aus zu sichten, das Wissen zu ordnen und in eine sinn- dieser Verschiebung der thematischen Erkenntnis- volle Geschichte zu bringen. interessen auch eine Verschiebung des Untersu- Geschichten zu Institutionen beginnen oft chungszeitraums. Nun wird vermehrt auf die Zeit 1990, aber erst aus der Zusammenschau der Zeit- vor, während und nach 1989 geblickt. Denn ba- abschnitte vor, während und nach 1989/90 las- nal formuliert ging das Leben weiter: Es fing nicht sen sich die Lebensgeschichten mit ihren Ge- 1989 an und hörte dann auch nicht auf. Um sinn- winn- und Verlusterzählungen verstehen.32 Das volle Lebensgeschichte erzählen zu können, muss im Staatssozialismus erlernte Wissen und die dort die Zäsur integriert werden. gesammelten Erfahrungen wirken nach 1989 fort. Die so angelegten Untersuchungen bieten ein So zeigt sich, dass Ostdeutsche sich in ihrem All- breites Dach für Themen, Vergleiche, Perspektiv tag und im Berufsleben an ähnlichen Werten ori- erweiterungen und Erklärungen. Drei Beispie- entierten wie ihre westdeutschen Nachbar/innen. le seien hier herausgegriffen: Aus zeithistorischer Sparsamkeit und Leistung bildeten zentrale Be- Perspektive wissen wir bisher etwa – abseits der zugspunkte, die nicht erst nach 1990 handlungs- grundsätzlichen Regelungen – relativ wenig über leitend wurden.33 Wichtig ist diese lange Perspek- den konkreten Ablauf des Ab- oder Umbaus ost- tive über die Zäsur von 1989/90 hinaus auch, weil deutscher Institutionen, also über Personalzusam- davor konkrete Erwartungen an Freiheit, Demo- mensetzungen, Arbeitsverträge, Fluktuationen kratie und Marktwirtschaft beobachtet werden und Arbeitsabläufe. Das gilt einmal mehr in fö- können, die mit den Erfahrungen der 1990er Jah- derativer Hinsicht, denn die neuen Bundesländer re teilweise kollidierten. Das Zusammenspiel von wurden erst Anfang der 1990er Jahre eingeführt Erwartungen und Erfahrungen ist elementar für und unterscheiden sich auch in der administrati- ven und praktischen Umsetzung der Gesetze, die 31 Marcus Böick, Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung im Zuge des Beitritts erlassen wurden.30 Auch zur 1990–1994, Göttingen 2018, S. 15. Wissenschaftsgeschichte besteht noch großer For- 32 So der Ansatz der von 2016 bis 2020 von Kerstin Brück- weh geleiteten Forschungsgruppe „Die lange Geschichte der 29 Vgl. Kerstin Brückweh, Wissen über die Transformation. ‚Wende‘. Lebenswelt und Systemwechsel in Ostdeutschland vor, Wohnraum und Eigentum in der langen Geschichte der „Wen- während und nach 1989“ am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische de“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary Forschung Potsdam. History 1/2019, S. 19–45. 33 Vgl. Kerstin Brückweh/Clemens Villinger/Kathrin Zöller, Ein 30 Vgl. Stefan Creuzberger/Fred Mrotzek/Mario Niemann Schriftgespräch zu unseren Ergebnissen, in: dies. (Hrsg.), Die lan- (Hrsg.), Land im Umbruch. Mecklenburg-Vorpommern nach dem ge Geschichte der „Wende“. Geschichtswissenschaft im Dialog, Ende der DDR, Berlin 2018. Berlin (i. E.). 09
APuZ 28–29/2020 die Formung und Formulierung der Erinnerun- ropäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts bezie- gen von heute – sie sagen aber häufig mehr über hungsweise ihres Übergangs zur Demokratie an, die Bewertung der Gegenwart aus als über die Er- etwa in Spanien, Portugal oder Griechenland. Ob fahrungen der Vergangenheit. Hier bedarf es wei- man das Transformation, verstanden als beson- terer Mikro- oder Lokalstudien und einer Kom- ders tief greifender, umfassender und beschleunig- bination aus Oral History und erneuten Analysen ter Wandel des politischen Systems, der Wirtschaft qualitativer Interviews aus den 1990er Jahren. und Gesellschaft, nennen soll,38 bleibt dabei unter Freiheit, Demokratie, Kapitalismus und die den Forschenden umstritten. In mehrfacher Hin- Orientierung an der EU folgten in der einen oder sicht hat sich also eine florierende internationale anderen Form in allen ostmitteleuropäischen Län- Forschungslandschaft entwickelt. dern, vor allem aber erlebten diese Länder in der konkreten Zeit des Umbruchs und danach eine be- SONDERFALL sondere Betonung des Nationalen. „Aufgrund sei- (OST-)DEUTSCHLAND ner Vielschichtigkeit und symbolischen Aufladung eignet sich das Symboljahr 1989 besonders gut zur Nun könnte der Eindruck entstanden sein, dass politischen Instrumentalisierung.“34 Gegenerzäh- es zwar spannende zeithistorische Forschung zur lungen, dass hinter den politischen Umwälzun- Transformationsgeschichte gibt, diese aber im El- gen weniger das „Volk“ als vielmehr der Zusam- fenbeinturm verbleibt, sie also in gewisser Weise menbruch des so wjetischen Herrschaftssystems den Meistererzählungen und Identitätspolitiken – standen,35 gibt es ebenso wie empirisch gesättigte und der Aufarbeitungslandschaft – den Platz in Studien über die Gesellschaft im Spätsozialismus den gesellschaftlichen Diskussionen überlässt. und in der Umbruchszeit.36 Instrumentalisierun- Die Situation kann auch anders beschrieben wer- gen der Begriffe von 1989 ließen sich jüngst auch den: Allen wissenschaftlichen Bemühungen zum in Ostdeutschland beobachten, als die AfD mit Trotz, Ostdeutschland als Teil dieser verschiede- „Wende 2.0“ oder „Wir sind das Volk“ bei Land- nen Transformationsgeschichten zu analysieren, tagswahlen für sich warb. Da populistische Strö- kreisen die Diskussionen in Deutschland vielfach mungen aber nicht allein ein ostmitteleuropäisches um sich selbst. Wahrscheinlich sind auch deswe- Phänomen sind, sollte schnellen Rückführungen gen die bundesrepublikanischen Erfolgsgeschich- auf die DDR-Vergangenheit mit Skepsis und vor ten und die ostdeutschen Gegenerzählungen so allem mit empirischer Forschung begegnet wer- präsent und viel beachtet. Ostmitteleuropäische den. Auch die globalgeschichtlichen Forschungs- Länder dienen im Alltag nicht als Referenz für die trends der zurückliegenden Jahre haben für inte- eigenen ostdeutschen Erfahrungen und Perspek- ressante Kontextualisierungen und Relativierung tiven. Angebotene positive ostdeutsche Narrati- der Ereignisse von 1989 bis 1991 gesorgt.37 Zudem ve wie die von der besonderen „Umbruchkompe- bieten sich diachrone Vergleiche mit anderen eu- tenz“39 oder den Ostdeutschen als „Avantgarde“40 haben sich ebenfalls nicht durchgesetzt. Im drei- 34 Buzogány (Anm. 27), S. 15. ßigsten Jahr nach 1989/90 werden die Debat- 35 Vgl. Stephen Kotkin, Uncivil Society. 1989 and the Implosion ten oft emotional geführt – eine Versachlichung of the Communist Establishment, New York 2009. und empirische Fundierungen von Meinungsäu- 36 Vgl. Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2006; Olga ßerungen wären wünschenswert. Wenn die zeit- Shevchenko, Crisis and the Everyday in Postsocialist Moscow, historische Transformationsforschung dazu bei- Bloomington–Indianapolis 2009; James Krapfl, Revolution with tragen will, muss sie stärker als bisher ihr Wissen a Human Face. Politics, Culture and Community in Czechoslo- nach außen kommunizieren. Letztlich geht es da- vakia 1989–1992, Ithaca–London 2013; Corinna Kuhr-Korolev, rum, die Vielfalt zuzulassen und auszuhalten. Gerechtigkeit und Herrschaft. Von der Sowjetunion zum neuen Russland, Paderborn 2015. 37 Vgl. Ulf Engel/Frank Hadler/Matthias Middell (Hrsg.), 1989 in a Global Perspective, Leipzig 2015. KERSTIN BRÜCKWEH 38 Vgl. Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Konti- ist promovierte Historikerin, Fellow am nent, Frankfurt/M. 2014, S. 28. Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und 39 Matthias Platzeck, Zukunft braucht Herkunft. Deutsche Fragen, ostdeutsche Antworten, Hamburg 2009. Privatdozentin an der Eberhard-Karls-Universität 40 Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin Tübingen. 2002. kerstin.brueckweh@uni-tuebingen.de 10
Deutsche Einheit APuZ DER OSTEN ALS PROBLEMZONE? Eine Skizze zur ostdeutschen Soziopolitik Steffen Mau Manche Historiker, die in langen historischen Bah- eine selbstbewusste und differenzierte Aneignung nen des zu sich selbst gekommenen Westens den- der Geschichte gehen, jenseits von Verteufelung ken, haben die DDR zur „Fußnote“ in der Entwick- oder Verherrlichung der DDR. Ähnliches kann lung der Bundesrepublik erklärt.01 Sie sahen mit der man auch in den Anforderungskatalog der Ana- Wiedervereinigung die Kontinuität des Bismarck- lyse des Vereinigungsprozesses hineinschreiben. Staates wiederhergestellt und mithin wenig Anlass, Wer den Weg in die Einheit und den ostdeutschen der DDR-Sozialgeschichte einen besonderen Platz Transformationspfad verstehen will, muss sich ge- einzuräumen. In der Soziologie ist das ein wenig an- genüber dem politisch Wünschbaren weitgehend ders, aber auch hier gibt es 30 Jahre nach der Wie- immunisieren. Immerhin handelt es sich um ein dervereinigung einen Mangel an Forschung und politisch umkämpftes Deutungsfeld, wo stets die Reflexion: Große Mentalitätsstudien, Sozialstruk- Vereinnahmung oder Abwehr von Erkenntnissen turanalysen, Ethnografien oder sozialgeschichtliche droht. Jürgen Habermas hat jüngst in einem Inter- Abhandlungen, die auch international reüssieren view angemahnt, es hätte „seit Langem informier- konnten, gibt es für Ostdeutschland nicht. te und anhaltende Debatten über die Fehler beider Das erstaunt vor allem deshalb, weil es sich Seiten beim Modus der Wiedervereinigung geben bei der Wiedervereinigung um ein soziologi- sollen“.02 Erst wer sich Geschichte selbstbewusst sches Experimentierfeld par excellence handelt: und kritisch aneignet, kann verstehen, warum vie- Was kann für Soziologen spannender sein als das les noch nicht so zusammengewachsen ist, wie man Zusammentreffen zweier unterschiedlicher, anti- es politisch erwartet hatte. podischer, politisch-militärisch sogar verfeinde- Dies vorangestellt, werde ich im Folgenden ei- ter Gesellschaften mit dem Ziel der Vereinigung? nige Thesen zum Vereinigungsprozess skizzieren, Ein besseres soziologisches Labor kann man sich die die soziopolitische Verfasstheit der ostdeut- nicht vorstellen, zumal damit die Gelegenheit schen Teilgesellschaft ins Zentrum stellen. Mit dem verbunden war, die gesellschaftliche Entwicklung Begriff der „Soziopolitik“ ziele ich auf die spezi- von Anbeginn mit dem gesamten Instrumentari- fischen Übertragungsverhältnisse gesellschaftlicher um der Sozialforschung zu begleiten. Allerdings Strukturen, Mentalitäten und Lebensweisen in die gelang es weder im Fachdiskurs noch in den in- politische Arena. Dabei interessiert mich nicht Par- ternationalen Debatten, die spezifische ostdeut- teipolitik im engeren Sinne, ich möchte vielmehr sche Transformationsgeschichte so aufzubereiten, auf Politisierungsformen, also Haltungen, Ansprü- dass sie als Brennglas für eine verallgemeinerbare che und Artikulationsweisen hinaus. In diesem Zu- Erfahrung hätte dienen können. Viele Analysen, sammenhang fokussiere ich mich vor allem auf jene so verdienstvoll sie im Einzelnen auch sein mö- strukturellen Brüche und Fehlstellungen, die auf gen, waren eher kleines Karo statt großer Wurf. die politische Kultur einwirken. Was lässt sich nunmehr – nach 30 Jahren – zu Ostdeutschland sagen? Was bietet die Nachbe- SCHWIERIGE DEMOKRATISIERUNG trachtung mit zeitlichem Abstand mehr als eine Fußnotenkorrektur und den unentwegten Kampf Die DDR war ein gängelnder und kontrollieren- um Deutungshoheit darüber, was die DDR ge- der Staat, der seinen Bürgern wesentliche Mitwir- wesen ist und was nicht, und welche der heute er- kungsmöglichkeiten an politischen Entscheidun- kennbaren Frakturen Ostdeutschlands als Erbe gen versagte. Daher konnte sich auch kein gelebtes der DDR gelten dürfen und welche als Brüche der Repertoire an demokratischer Beteiligung ausbil- Transformationszeit? Zunächst einmal muss es um den. Erst in der Phase seines Ablebens emanzipier- 11
APuZ 28–29/2020 ten sich die Bürger von der Bevormundung und schaft abzulegen und im Einigungsprozess auch zu forderten auf der Straße Meinungsfreiheit und De- einem neuen politischen Bewusstsein zu kommen, mokratisierung ein. Dies mündete in die erste und noch gab man den Ostdeutschen zu verstehen, es letzte freie Wahl der Volkskammer der DDR am handele sich um mehr als einen Beitritt zum ins- 18. März 1990. Die Wahlerfolge der „Allianz für titutionellen und rechtlichen Regelwerk der Bun- Deutschland“ statteten die letzte Regierung der desrepublik und ihre eigenen Vorstellungen über DDR mit einem starken Handlungsmandat dafür das Wie der gemeinsamen politischen Gemein- aus, die Weichen in Richtung Wiedervereinigung schaft seien gefragt. zu stellen. Allerdings führten die eklatanten öko- So weitete sich die Bundesrepublik in der Flä- nomischen und politischen Schwächen der dem che aus und inkorporierte die DDR ohne weiter- Untergang geweihten DDR dazu, dass ihre Reprä- gehende Berücksichtigung der Strukturen und sentanten als Sachwalter der Interessen der DDR- Mentalitäten vor Ort. Manche sprechen recht Bevölkerung nur wenig Einfluss auf die weitere drastisch von einer „Übernahme“,05 angemesse- Entwicklung haben konnten. Es stellte sich zwi- ner ist der Begriff des „ready-made state“,06 der schen Ost und West ein erhebliches Machtgefälle in den Osten transferiert wurde. Beide Begriff- ein. Auch stand das von der Mehrheit der DDR- lichkeiten implizieren einen politischen „Subjekt- Bevölkerung unterstützte Ziel der schnellen Ein- verlust“, weil die Eigenleistungen der politischen heit einer Vereinigung auf Augenhöhe entgegen.03 Akteure vor Ort nun nur noch insoweit gefragt Der „Einigungsvertrag“ mag aus Sicht der Ver- waren, als es darum ging, das im Osten zu imple- handlungsführer das Beste gewesen sein, was man mentieren, was im Westen schon vorhanden war. in der damaligen historischen Situation und unter Das Gefühl, überrollt oder übernommen worden dem Druck der zeitlichen Abläufe bewerkstelligen zu sein oder an Handlungsmacht einzubüßen, konnte, dennoch entlässt einen eine solche Feststel- stellte sich bei vielen ein, interessanterweise auch lung nicht aus der Verantwortung, die Effekte des bei jenen, die im Herbst 1989 euphorisch aufge- Modus der Wiedervereinigung für die nachgängi- sprungen waren. Bei manchen gipfelte dies im an ge Entwicklung in Ostdeutschland zu reflektieren. den Westen gerichteten Vorwurf der „Koloniali- Man kann den Übergang von der Friedlichen sierung“ des Ostens durch den Westen – ein letzt- Revolution zur Deutschen Einheit als „ausge- lich schiefer historischer Vergleich, da der Prozess bremste Demokratisierung“04 interpretieren: Ge- mehrfach durch Wahlergebnisse bestätigt wurde. nau in jenem Moment, als sich die Ostdeutschen Im Zuge der Wiedervereinigung blieb das mit als politische Subjekte erfanden und sich eine Spra- der Friedlichen Revolution verbundene Potenzi- che herausbildete, mit der sich Interessen artiku- al an demokratischer Mobilisierung vielfach unge- lieren ließen und Foren der Aushandlung gesell- nutzt. Viel zu wenig dachte man daran, dass man schaftlicher Verhältnisse entstanden, setzte mit der den demokratischen Einsatz und das Erleben von Weichenstellung in Richtung Wiedervereinigung Selbstwirksamkeit der Ostdeutschen selbst brauch- ein starkes Entpolitisierungsmoment ein. Hier ent- te, um die Demokratie mit Leben zu füllen. Durch stand eine Verriegelungssituation, bei der der Wille den Mangel an Beteiligung entstand ein bis heu- der Mehrheit der Bevölkerung, schnell zur Einheit te fortwirkender antiinstitutioneller Affekt. Die zu kommen – gepaart mit dem Machtkalkül west- vor allem auf Flächenextension setzenden „West- deutscher Politikzentralen –, alternative Gestal- parteien“ waren zwar im Osten durchaus erfolg- tungsoptionen von vornherein ausschloss. Weder reich, blieben aber mit Blick auf mitgliedschaftliche mutete man der alten Bundesrepublik zu, über die Struktur und Breite der gesellschaftlichen Träger- eigenen Gewissheiten und Besitzstände Rechen- schaft schwach. Hinzu kommt, dass der vorpoli- tische Raum im Osten bis heute anders ausgestal- 01 Vgl. z. B. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschich- tet ist als im Westen, wo es einen dichten Kranz an te, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008. zivilgesellschaftlichen Initiativen, pfadfinderischer 02 Jürgen Habermas, Moralischer Universalismus in Zeiten politischer Regression, in: Leviathan 1/2020, S. 7–28, hier S. 15. 03 Vgl. Claus Offe, Der Tunnel am Ende des Lichts: Erkundungen 05 Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Übernahme. Wie Ostdeutsch- der politischen Transformation im Neuen Osten, Frankfurt/M. land Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019. 1994., S. 21 ff. 06 Richard Rose/Christian Haerpfer, The Impact of a Ready- 04 Steffen Mau, Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Trans- made State: East Germans in Comparative Perspective, in: formationsgesellschaft, Berlin 2019, S. 122. German Politics 1/1997, S. 100–121. 12
Deutsche Einheit APuZ Jugendarbeit, gewerkschaftlicher Initiative und geahmten, und zudem davon ausgingen, dass sie kirchlichem Engagement gibt. In der DDR hatten eingeladen waren, der ‚freien Welt‘ auf Augenhöhe die staatlichen Instanzen und die volkseigenen Be- mit ihren europäischen Nachbarn b eizutreten“.07 triebe eine große Rolle gespielt. Nach der Wende Auf Ostdeutschland übertragen, lässt sich ein entstanden hier Leerstellen, in die rechte politische solches Argument zuspitzen: Mit dem Institutio- Akteure hineindrängen konnten. Etliche von ih- nen- und Normentransfer von West nach Ost galt nen kamen aus Westdeutschland in den Osten, weil als ausgemacht, dass sich im Osten alles und im sie dort mehr „Beinfreiheit“ für nationalistische Westen nichts verändern sollte. Das Aufgeben der und völkische Programmatiken fanden. Außerdem DDR-geprägten Lebensweise und die schnelle Um- konnten sie an auch in der DDR ausgeprägte nati- gewöhnung und Anpassung, auch das Abschwö- onalistische und rassistische Sentiments anknüpfen. ren, wurden als zentral für die erfolgreiche Verei- Die Pulverisierung des alten ideologischen Über- nigung angesehen. Jürgen Habermas’ einschlägige baus, die dadurch hervorgerufene ideelle Orien- Diagnose von der „nachholenden Revolution“ war tierungslosigkeit und die im Einigungsprozess for- der intellektuelle Wegweiser der damaligen Zeit.08 cierte Aufwallung nationaler Gemeinschaftsgefühle Nachdem der Staatssozialismus à la DDR erle- taten ihr Übriges. digt war, sollten nun im Osten jene Entwicklun- gen greifen, die im Westen schon vollzogen waren. IMITATION UND NACHBAU WEST Die Westdeutschen selbst hatten nach dem Zweiten Weltkrieg diese Erfahrung mit den westlichen Alli- Nicht nur in Ostdeutschland, auch in vielen ande- ierten gemacht. Aus westdeutscher Sicht stellte sich ren Ländern Osteuropas zeigt sich heute ein ge- die Frage, wie die „Bekehrung zu unseren Normen höriges Maß an Skepsis gegenüber liberalen In- und Werten“, die „Re-education des deutschen Os- stitutionen und Prinzipien. Die Fieberkurve des tens“,09 möglichst reibungslos über die Bühne ge- Demokratiebewusstseins erscheint als kritisch, das bracht werden könnte. Die Vorstellung war, dass es Vertrauen in die politischen Eliten ist gering, Sys- mit dem Institutionentransfer auch zu einer nach- temkritik macht sich lautstark bemerkbar. Unmit- gelagerten Mentalitätsangleichung kommen wer- telbar nach dem Fall der Mauer war die Erwar- de. Es schien also ausgemacht, dass es mit dem Bei- tung eine andere. Das Motto lautete: Im Westen tritt zu einer Verwestlichung des Ostens und einer ankommen und die Basisinstitutionen Demokra- sukzessiven mentalen Anpassung von Ost an West tie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft möglichst kommen werde. Ein langfristiges Überleben sozi- schnell übernehmen. Die Politologen Ivan Krastev aler und kultureller Besonderheiten wurde damals und Stephen Holmes haben 2019 in ihrem Buch nicht in Erwägung gezogen, ebenso wenig wie die „Das Licht, das erlosch“ der These breiten Raum Frage, ob ein neues politisches Bewusstsein nicht gegeben, dass es dieser Nachahmungsimperativ im einen eigenen Aneignungsprozess braucht, was Post-1989-Osteuropa war, der langfristig einen auch die Auseinandersetzung mit den verschlei- Widerwillen gegen ebenjenes Modell hat wachsen erten und verschleppten autoritären Strukturen in lassen. Mit dem erlöschenden Licht ist die schwin- der DDR bedeutet hätte. dende Strahlkraft des liberalen Gesellschaftsmo- Die Nachahmung trat im Osten nicht nur im dells gemeint, das in Osteuropa auf immer mehr Sinne eines normativen Leitmodells auf, sondern Vorbehalte treffe, die bis hin zu Forderungen nach wurde auch durch Transfereliten personifiziert. Da der Errichtung einer „illiberalen Demokratie“ wie die Ostdeutschen als Anfänger in Sachen Rechts- in Ungarn oder der politisch offen propagierten staat, Marktwirtschaft und Demokratie galten, gesellschaftlichen Marginalisierung von Minder- übernahmen häufig Westdeutsche das Ruder. In heiten reichen. Sie führen den Populismus in Ost- den 1990er Jahren gingen mehrere Zehntausend europa unter anderem darauf zurück, dass in der Nachahmung immer auch ein Verlust an eigenen 07 Ivan Krastev/Stephen Holmes, Das Licht, das erlosch. Eine Gestaltungsoptionen liegt. Zugleich sind Nachah- Abrechnung, Berlin 2019, S. 107. mer, sofern sie die Vorbilder nicht souverän über- 08 Jürgen Habermas, Kleine politische Schriften. Die nachho- lende Revolution, Frankfurt/M. 1990. holen können, stets dem Risiko eines anhaltenden 09 Heinz Hartmann, Für alles gerüstet? Die deutsche Verei- Insuffizienzgefühls ausgesetzt. In Mitteleuropa sei nigung als Herausforderung für die Soziologie, in: Bernhard hinzugekommen, dass „die Nachahmer glaubten, Giesen/Claus Leggewie (Hrsg.), Experiment Vereinigung, Berlin zum selben Kulturraum zu gehören wie die Nach- 1991, S. 100–110, hier S. 102. 13
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