AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Deutsche Einheit - Bundeszentrale für ...

Die Seite wird erstellt Thorben Böhme
 
WEITER LESEN
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - Deutsche Einheit - Bundeszentrale für ...
70. Jahrgang, 28–29/2020, 6. Juli 2020

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
  Deutsche Einheit
       Kerstin Brückweh                              Noa K. Ha
 DAS VEREINTE DEUTSCHLAND                   VIETDEUTSCHLAND
    ALS ZEITHISTORISCHER                     UND DIE REALITÄT
 FORSCHUNGSGEGENSTAND                       DER MIGRATION IM
                                         VEREINTEN DEUTSCHLAND
         Steffen Mau
    EINE SKIZZE ZUR OST­                           Daniel Kubiak
  DEUTSCHEN SOZIOPOLITIK                   DEUTSCH-DEUTSCHE
                                           IDENTITÄTEN IN DER
        Edgar Wolfrum
                                         NACHWENDEGENERATION
   ZUM ENDE DER „ALTEN“
     BUNDESREPUBLIK                       Karin Thomas · Rüdiger Thomas
                                          FEHLWAHRNEHMUNGEN
        Henrik Scheller
                                              IM DEUTSCHEN
     GESCHICHTE UND
                                         VERSTÄNDIGUNGSPROZESS
     PERSPEKTIVEN DES
                                           AM BEISPIEL DER KUNST
  SOLIDARITÄTSZUSCHLAGS

                  ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                       FÜR POLITISCHE BILDUNG
              Beilage zur Wochenzeitung
Deutsche Einheit
                                   APuZ 28–29/2020
KERSTIN BRÜCKWEH                                     NOA K. HA
DAS VEREINTE DEUTSCHLAND ALS ZEIT­                   VIETDEUTSCHLAND UND DIE REALITÄT DER
HISTORISCHER FORSCHUNGSGEGENSTAND                    MIGRATION IM VEREINTEN DEUTSCHLAND
Das vereinte Deutschland hat in der Geschichts-      Auf zwei höchst unterschiedlichen Wegen
wissenschaft eine Sonderstellung zwischen            kamen Menschen aus Vietnam in die Bundesre-
sozialwissenschaftlicher Begleitforschung,           publik und in die DDR. Nach dem Kalten Krieg
zeithistorischen Meistererzählungen, ostdeutschen    hatte die Neuordnung der globalen Verhältnisse
Identitätsgeschichten, internationaler Transforma-   auch Auswirkungen auf die vietnamesische
tionsforschung und politischen Diskussionen.         Diaspora im vereinten Deutschland.
Seite 04–10                                          Seite 30–34

STEFFEN MAU                                          DANIEL KUBIAK
EINE SKIZZE ZUR OSTDEUTSCHEN                         DEUTSCH-DEUTSCHE IDENTITÄTEN
SOZIOPOLITIK                                         IN DER NACHWENDEGENERATION
In dem Beitrag wird der Versuch unternommen,         Die Ost-West-Differenz ist für nach 1990 Gebo-
die erkennbaren Unwuchten in Ostdeutschland          rene eine identitätsprägende Kategorie. Während
zu erklären. Im Zentrum stehen die schwierige        sich junge Ostdeutsche in einigen Situationen
Demokratisierung, die Blaupause West als Trans-      selbst als Ostdeutsche identifizieren, bleiben
formationsmodell, die sozialstrukturellen Mobili-    junge Westdeutsche die unsichtbare Norm und
tätsblockaden und die Veränderungs­erschöpfung.      reden über Ostdeutsche als die „Anderen“.
Seite 11–16                                          Seite 35–39

EDGAR WOLFRUM                                        KARIN THOMAS · RÜDIGER THOMAS
ZUM ENDE DER „ALTEN“ BUNDESREPUBLIK                  FEHLWAHRNEHMUNGEN IM
Die „alte“ Bundesrepublik war 1989 kein              DEUTSCHEN VERSTÄNDIGUNGSPROZESS
Provisorium mehr. Umso größer war dann der           AM BEISPIEL DER KUNST
Wandel: Verabschiedet wurde Bonn, der alte           Im gesamtdeutschen Verständigungsprozess
Parteien- und der tradierte Sozialstaat, sogar die   zeigen sich politische, gesellschaftliche und
D-Mark. Das Land wurde souverän, doch der            ideologische Wahrnehmungsblockaden, diver-
„Aufsteiger“ suchte seine neue Rolle in der Welt.    gente Mentalitätsstrukturen, aber auch kulturelle
Seite 18–21                                          Differenzierungen, die sich in noch immer
                                                     abgrenzenden Bilderwelten manifestieren.
                                                     Seite 40–45
HENRIK SCHELLER
GESCHICHTE UND PERSPEKTIVEN
DES SOLIDARITÄTSZUSCHLAGS
Der Solidaritätszuschlag war nie nur eine
steuerliche Ergänzungsabgabe, die einen
Integrationsbeitrag zur deutschen Vereinigung
leisten sollte. Vielmehr war er von Anbeginn
auch Anstoß für Verteilungskonflikte – zwischen
Steuerpflichtigen sowie Bund und Ländern.
Seite 22–28
EDITORIAL
Drei Jahrzehnte sind seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ver-
gangen, und das vereinte Deutschland wird zu einem eigenen Kapitel in den
Geschichtsbüchern. Der gesellschaftliche Aushandlungsprozess über die Frage,
wie dieses Kapitel zu schreiben ist und von wem, hat im Vorfeld des Jubiläums
Züge eines Deutungskampfes angenommen: In emotionalen Debatten werden
die Folgen der seinerzeit so rasch vollzogenen staatlichen Einheit insbesondere
für Ostdeutschland diskutiert, etwa mit Blick auf die Arbeit der Treuhand-
anstalt, die binnen kürzester Zeit Tausende DDR-Betriebe privatisierte, oder
den umfassenden Austausch der DDR-Eliten durch Personal aus dem Westen.
Damalige Fehler und Benachteiligungen wirken bis heute nach und verdecken
bisweilen das, was erreicht worden ist.
    Trotz aller Angleichungsfortschritte sind „Ost“ und „West“ in Deutschland
nach wie vor relevante Kategorien. Erhebungen zu wirtschaftlichen und sozialen
Indikatoren wie Produktivität, Infrastrukturdichte, Einkommenshöhe, Vermö-
gensverteilung oder demografische Struktur, aber auch das Wahlverhalten lassen
den einstigen Grenzverlauf immer wieder sichtbar werden. Westdeutschland
wird dabei meist als der „Normalfall“ gehandelt, an dem die Entwicklungen in
Ostdeutschland gemessen werden, und „ostdeutsch“ somit häufig zur Markie-
rung einer vermeintlich defizitären Andersartigkeit.
    Seit 1990 hat sich Deutschland insgesamt verändert: Die „alte“ Bundesrepu-
blik, das Bonner „Provisorium“, gibt es nicht mehr. International hat Deutsch-
land deutlich an politischem Gewicht gewonnen, und die deutsche Gesellschaft
ist heute vielfältiger als je zuvor. Drei Jahrzehnte nach dem Ende der deutschen
Teilung ist es an der Zeit, sich von der Fiktion einer vollständigen kulturellen
oder gesellschaftlichen „Einheit“ des Landes zu verabschieden und die „Deut-
sche Einheit“ größer zu denken als in zwei Himmelsrichtungen.

                                                  Anne-Sophie Friedel

                                                                              03
APuZ 28–29/2020

                  DAS VEREINTE DEUTSCHLAND
                     ALS ZEITHISTORISCHER
                  FORSCHUNGSGEGENSTAND
                                        Kerstin Brückweh

Nach einem klar definierten Forschungsbereich            Innovative zeitgeschichtliche Forschung zu
zum vereinten Deutschland sucht man auch             1989 findet derweil anderswo statt. Dazu hat sich
nach drei Jahrzehnten Deutscher Einheit in der       ein lebendiges internationales Forschungsfeld
Geschichtswissenschaft vergeblich. Erstens ist       entwickelt, in dem (Ost-)Deutschland aber der
es schlichtweg zu früh, denn die Zeitgeschichts-     Sonderfall bleibt. Denn Ostdeutschland nimmt
forschung hängt den Ereignissen prinzipiell hin-     in den zeithistorischen Forschungen eine eigen-
terher. Es bedarf eines zeitlichen Abstands, um      tümliche Sandwich-Position ein: nicht östlich ge-
mit geschichtswissenschaftlichen Methoden die        nug für die Forschungen zu Ostmitteleuropa und
Vergangenheit zu betrachten. Viel früher haben       nicht westlich genug für die Forschungen zur al-
sich die Sozialwissenschaften als gegenwartsna-      ten Bundesrepublik. Und jenseits der Forschung
he Disziplin diesem Untersuchungsfeld gewid-         vergleichen sich auch viele Ostdeutsche weniger
met. Aus ihren Studien und Daten, aber auch          mit polnischen oder tschechischen Nachbar/in-
Erfolgen und Problemen können Zeithistori-           nen als mit bayerischen und hessischen. Das Poli-
ker/innen Erkenntnisse und Quellen für eige-         tische der Zeitgeschichte könnte sichtbarer kaum
ne Analysen gewinnen. Zweitens waren in der          sein.
Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jah-
ren eher globalgeschichtliche Themen in Mode.                 EREIGNISSE BEGLEITEND:
Sich mit Ostdeutschland zu beschäftigen, hafte-              SOZIALWISSENSCHAFTLICHE
te etwas Rückschrittliches oder gar Kleingeis-                     FORSCHUNG
tiges an. Trotzdem gab es drittens jenseits der
wissenschaftlichen Trends ein lebensgeschichtli-     Von einem „forschungspragmatischen Glücks-
ches, gesellschaftliches und politisches Bedürf-     fall, der vor unseren Augen ein ‚natürliches Ex-
nis, sich mit dem vereinten Deutschland und so-      periment‘ von Dimensionen ablaufen läßt, die
mit auch mit Ostdeutschland zu beschäftigen.         unter ‚Laborbedingungen‘ auch nicht annähernd
Daraus sind – plakativ formuliert – zum einen        zu reproduzieren wären,“ schwärmte der Sozio-
politikgeschichtliche Meistererzählungen, also       loge Claus Offe 1991.02 Ähnlich äußerten sich
große sinnstiftende Geschichten entstanden, die      damals auch andere: Gesellschaftsforschung zu
mit offiziellen Positionen eine gewisse Symbiose     naturwissenschaftlichen Bedingungen – so lässt
eingingen, wie sie etwa beim Reden und Feiern        sich die Euphorie zusammenfassen. Aber aus der
„der“ Wiedervereinigung und „der“ Deutschen          westdeutschen Ferne ließ sich die Situation an-
Einheit deutlich werden. Zentral ist in diesen       ders bewerten als in Ostdeutschland, wo man
Erzählungen der alles in allem positiv gewerte-      zwar die Begeisterung teilte, aber zugleich einen
te Übergang von der Diktatur zur Demokratie          westdeutschen Import befürchtete.03 Die Karri-
und von der Plan- zur Marktwirtschaft. Zum           erewege der Forschenden in Ost und West, die
anderen sind aus verschiedenen persönlichen          Neuordnung ostdeutscher Institutionen und die
und politischen Richtungen identitätsstiftende       Geschichte der Theorien und Methoden der So-
ostdeutsche Gegenerzählungen entstanden, und         zialwissenschaften, unter die hier das weite Feld
„der Groll bei den tatsächlichen und vermeint-       von der Politik- über die Wirtschaftswissenschaft
lichen Verlierern“01 ist mittlerweile deutlich zu-   bis zur Soziologie gefasst wird, sind seit 1989/90
tage getreten.                                       mit all ihren Machtverhältnissen untrennbar ver-

04
Deutsche Einheit APuZ

bunden. Das hatte gleichsam Auswirkungen auf                       phase von 1989 bis 1991 folgte bis 1996 eine Pha-
persönliche Karrieren, die Forschungslandschaft                    se des systematischen institutionellen Aufbaus der
und Erklärungsansätze.04                                           sogenannten Ostdeutschland- und Vereinigungs-
    Inhaltlich standen ost- und westdeutsche So-                   forschung. Hier ist besonders die Kommission
zialforscher/innen vor ähnlichen Problemen:                        für die Erforschung des sozialen und politischen
Weder hier noch dort war man in der Lage gewe-                     Wandels in den neuen Bundesländern (KSPW)
sen, den Zusammenbruch der kommunistischen                         erwähnenswert, die zwischen 1991 und 1996 eine
Regime in Ostmitteleuropa vorauszusagen. Es                        Vielzahl von Daten sammelte und Forschung för-
existierte weder ein passender Begriff noch eine                   derte. Kennzeichnend für diese zweite Phase war
Theorie zur Transformation, die nach 1989 hal-                     die Orientierung an altbekannten („westlichen“)
fen, das Phänomen zu erklären.05 Im Jahr 2000                      Theorien in inhaltlicher und theoretischer Hin-
bilanzierte Stephan Weingarz, dass einzelne äl-                    sicht bei gleichzeitigem Umbau der ostdeutschen
tere Theorieansätze wie die Systemtheorie und                      Wissenschaftslandschaft. Da die Vereinigung in
akteursorientierte Ansätze bei der Erklärung ge-                   dieser Zeit zu dem gegenwartsdiagnostischen
holfen hätten, eine weiterführende transforma-                     Forschungsthema wurde, standen hier beson-
tionsspezifische Theoriebildung aber noch aus-                     ders viele Drittmittel zur Verfügung.07 So grün-
stehe. Generell war sein Resümee ernüchternd:                      deten von Umstrukturierungen und Arbeitslo-
Es sei den deutschen Sozialwissenschaften in den                   sigkeit betroffene ostdeutsche Wissenschaftler/
1990er Jahren nicht gelungen, mit Blick auf das                    innen freie Forschungsinstitute. Zugleich be-
vereinte Deutschland „einen geschlossenen For-                     warben sich auch westdeutsche Wissenschaftler/
schungsbereich mit einem klar definierten For-                     innen um die Forschungsgelder. Wissenschafts-
schungsziel, spezifischen Fragestellungen sowie                    geschichtlich sind hier die Machtstrukturen des
bestimmten sozialwissenschaftlichen Instrumen-                     Wissenschaftssystems von großer Bedeutung und
tarien zu e­ ntwickeln“.06                                         bei Weitem noch nicht erforscht. Vertraut man
    Verbindet man diese Bewertung mit den vier                     den Eindrücken der damaligen Akteure selbst, so
Phasen sozialwissenschaftlicher Erforschung des                    ergibt sich folgendes Bild: „Gefragt wurde (…)
vereinten Deutschland, die der Soziologe Raj                       praktisch nur nach dem, was im Osten aus westli-
Kollmorgen gut zehn Jahre später herausgearbei-                    cher Perspektive von Interesse war.“08
tet hat, so wird deutlich, wie stark wissenschaft-                     Die folgenden Jahre von 1996 bis 2001 be-
liche Neugier, (politische) Forschungsförderung                    zeichnet Kollmorgen als Phase der Normalisie-
und der Umbau der ostdeutschen Institutionen                       rung, in der alle großen Förderprogramme aus-
die Forschung beeinflusst haben. Nach einer kur-                   liefen und sich viele Forschende wieder anderen
zen unkonventionellen gemeinsamen Aufbruchs-                       Themen widmeten. Gleichzeitig entstanden neue
                                                                   öffentlich finanzierte Forschungsinstitute. Von
01 Christoph Kleßmann, „Deutschland einig Vaterland“?
                                                                   den freien ostdeutschen Instituten konnte sich
Politische und gesellschaftliche Verwerfungen im Prozess der       langfristig das im März 1990 gegründete Bran-
deutschen Vereinigung, in: Zeithistorische Forschungen/Studies     denburg-Berliner Institut für Sozialwissenschaft-
in Contemporary History 1/2009, S. 85–104.                         liche Studien halten.09
02 Claus Offe, Die deutsche Vereinigung als „natürliches Ex-
                                                                       Die vierte Phase ab etwa 2000, die Kollmor-
periment“, in: Bernd Giesen/Claus Leggewie (Hrsg.), Experiment
Vereinigung. Ein sozialer Großversuch, Berlin 1991, S. 77–86.
                                                                   gen als institutionelles Rearrangement bezeich-
03 Vgl. Dieter Segert, Die langen Schatten der Vergangenheit.      net und über den Zeitpunkt der Veröffentlichung
Warum es in der DDR keine Politologie gab, in: ebd., S. 111–122,   seines Aufsatzes 2011 hinausgeht, war vor allem
hier S. 111.
04 Vgl. Kerstin Brückweh, The History of Knowledge: An
Indispensable Perspective for Contemporary History, 4. 12. 2017,   07 Vgl. Raj Kollmorgen, Zwischen „nachholender Modernisie-
https://historyofknowledge.net/2017/12/04/the-history-of-          rung“ und ostdeutschem „Avantgardismus“. Ostdeutschland und
knowledge-an-indispensable-perspective-for-contemporary-           deutsche Einheit im Diskurs der Sozialwissenschaften, in: ders./
history.                                                           Frank Thomas Koch/Hans-Liudger Dienel (Hrsg.), Diskurse der
05 Zur Einführung vgl. Raj Kollmorgen/Wolfgang Merkel/             deutschen Einheit. Kritik und Alternativen, Wiesbaden 2011,
Hans-Jürgen Wagener (Hrsg.), Handbuch Transformationsfor-          S. 27–65, hier S. 39.
schung, Wiesbaden 2015.                                            08 Burkart Lutz, Einleitung, in: ders. et al. (Hrsg.), Arbeit, Ar-
06 Stephan Weingarz, Laboratorium Deutschland? Der                 beitsmarkt und Betriebe, Berichte der KSPW 1, Opladen 1996,
ostdeutsche Transformationsprozess als Herausforderung für die     S. 1–16, hier S. 1 f.
deutschen Sozialwissenschaften, Münster u. a. 2003, S. 364.        09 Siehe www.biss-online.de.

                                                                                                                                   05
APuZ 28–29/2020

durch den in Halle und Jena angesiedelten Son-                              Um die Transformationszeit erklären zu kön-
derforschungsbereich 580 „Gesellschaftliche Ent-                        nen, müssen die Makro- und die Mikroebene
wicklungen nach dem Systemumbruch – Diskon-                             enger miteinander verbunden werden – das ist
tinuität, Tradition und Strukturbildung“ geprägt.                       ein Ergebnis der sozialwissenschaftlichen For-
Während dort zunächst davon ausgegangen wor-                            schungen, die aufgrund ihrer gegenwartsnahen
den war, dass es zu einer schnellen Angleichung                         Forschungsgegenstände viel stärker als die Ge-
der Verhältnisse durch eine nachholende Moder-                          schichtswissenschaft mit theoretischen Konstruk-
nisierung kommen würde, wurde der Blick in                              ten arbeitet. Das zweite wichtige Produkt ist der
der späten Förderphase stärker auf eigenständi-                         immense Umfang an Forschungsdaten, den die
ge Entwicklungen in Ostdeutschland gelenkt. In                          sozialwissenschaftliche Forschung erhoben hat.13
dieser Hinsicht war auch ein von 2007 bis 2011
vom Bundesministerium für Bildung und For-                                               RÜCKBLICKE:
schung geförderter Projektverbund bemerkens-                                      MEISTERERZÄHLUNGEN UND
wert, der im Dialog von Wissenschaft, Kunst und                                      IDENTITÄTSDISKURSE
Alltag das Überleben im Umbruch am Beispiel
der brandenburgischen Stadt Wittenberge un-                             Zeithistoriker/innen waren in den 1990er Jahren
tersuchte.10 Es stellte weniger große Strukturen,                       zunächst weniger mit dem vereinten Deutsch-
sondern vielmehr alltägliche Strategien ins Zen-                        land als mit der Erklärung der DDR beschäftigt.
trum. Damit wurde an ein grundlegendes Pro-                             Eine Fülle an Akten, die durch das Ende der DDR
blem angeknüpft: die fehlende Verbindung der                            viel früher als bei den üblichen Archivsperrfristen
Mikro- und Makroebene, also der Alltags- und                            zur Verfügung standen, schufen auch hier ein For-
Erfahrungsebene einerseits und der Ebene der                            schungsparadies. Diskussionen darüber, mit wel-
großen Strukturen und des institutionellen Wan-                         chen Ansätzen man die DDR untersuchen könne
dels andererseits.                                                      und ob es Grenzen der Diktatur gab, prägten die
    Etwa zur gleichen Zeit begann eine jüngere                          1990er Jahre.14 Das bestimmte auch die ersten Ver-
Generation von Sozialwissenschaftler/innen die                          öffentlichungen zum vereinten Deutschland, weil
Bedeutung ihrer Alterskohorte zu betonen. In ih-                        man sich damit Erklärungen für den Zustand der
ren Veröffentlichungen zeigt sich die Nähe zur                          sogenannten inneren Einheit erhoffte.15 Weitere
„3ten Generation Ostdeutschland“, einem Netz-                           Bücher von Historikern zur Geschichte des ver-
werk sogenannter Wendekinder, die zwischen                              einten Deutschlands erschienen erst ab Ende der
1975 und 1985 in der DDR geboren wurden.                                2000er Jahre. Dabei handelt es sich vorrangig um
Als Anlass für die Gründung dieses Netzwerks                            politikgeschichtliche Darstellungen, die den Ab-
wird unter anderem auf die Feierlichkeiten zum                          lauf des Einigungsprozesses beschreiben – also um
20-jährigen Jubiläum der Wiedervereinigung ver-                         Geschichten von oben.16 Sie kennzeichnet zumeist,
wiesen, bei denen sie sich durch die „betagte[n]                        dass sie Ostdeutschland nicht zuerst für sich be-
westdeutsche[n] Herren“ und ihre Interpretatio-                         trachten und analysieren, sondern die alte Bundes-
nen der Geschichte nicht oder falsch vertreten sa-                      republik als Referenzrahmen nehmen. Das ist ei-
hen.11 Das ist als gesellschaftliches und politisches                   nerseits verständlich, sollte es doch um das vereinte
Phänomen interessant, weil es auf die mangelnde                         Deutschland gehen, andererseits ergab sich gera-
Verknüpfung der Analysen auf der Erfahrungs-                            de daraus die schon aus den Sozialwissenschaften
und der Systemebene basierte.12
                                                                        13 Vgl. dazu auch Weingarz (Anm. 6), S. 365.
                                                                        14 Vgl. Richard Bessel/Ralph Jessen (Hrsg.), Die Grenzen der
10 Vgl. Heinz Bude/Thomas Medicus/Andreas Willisch (Hrsg.),             Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996.
ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge. Ansichten                Für einen Überblick vgl. Frank Bösch, Geteilt und verbunden.
einer fragmentierten Gesellschaft, Hamburg 2011.                        Perspektiven auf die deutsche Geschichte seit den 1970er Jah-
11 Vgl. Die Buchankündigung von Adriana Lettrari/Christian              ren, in: ders. (Hrsg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutsch-
Nestler/Nadja Troi-Boeck (Hrsg.), Die Generation der Wende-             land 1970–2000, Göttingen 2015, S. 7–37.
kinder. Elaboration eines Forschungsfeldes, Wiesbaden 2016              15 Vgl. Gerhard A. Ritter, Über Deutschland: Die Bundesrepu-
unter http://netzwerk.dritte-generation-ost.de/sammelband-die-          blik in der deutschen Geschichte, München 1998.
generation-der-wendekinder-elaboration-eines-forschungsfeldes.          16 Vgl. Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die
12 Diese Dissonanz wurde bereits benannt von Renate Mayntz,             Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009; Manfred
Die deutsche Vereinigung als Prüfstein für die Leistungsfähigkeit der   Görtemaker, Die Berliner Republik. Wiedervereinigung und
Sozialwissenschaften, in: Biss Public 13/1994, S. 21–24, hier S. 23.    Neuorientierung, Berlin 2009.

06
Deutsche Einheit APuZ

bekannte Schieflage: Die Bundesrepublik wurde                       Die deutlichste Gegenerzählung hat bisher Il-
auch von Historikern als Maßstab gesetzt. Sym-                  ko-Sascha Kowalczuk geschrieben. Er bietet, ge-
ptomatisch war wohl, dass Hans-Ulrich Wehler                    rahmt durch seine persönliche Geschichte, das
als Doyen der bundesdeutschen Gesellschaftsge-                  Motiv der Übernahme des Ostens durch den
schichte 2008 vom „Intermezzo der ostdeutschen                  Westen als Gegennarrativ an. Andere ostdeutsche
Satrapie“ schrieb, die in seinem Werk nicht durch               Akteure nehmen die bereits in den 1990er Jahren
eine ausführliche Analyse aufgewertet werden                    verbreitete These von der „Kolonisierung Ost-
müsse.17 Die Debatte, die sich darüber entfachte,18             deutschlands“ wieder auf.22 Beides hilft für die
sagte nicht nur etwas über die DDR, sondern auch                Zuspitzung des Narrativs, aber nicht für die ge-
über das Deutschland von 2008 aus und trug nicht                genseitige Verständigung. Wie schon bei den So-
dazu bei, Ostdeutschland zu einem gleichberech-                 zialwissenschaften geht es auch um Machtfragen,
tigten Teil der deutschen Geschichte werden zu                  den Umbau der DDR-Forschungsinstitutionen
lassen. Zwar bemühten sich andere Historiker um                 und den Verlauf persönlicher Karrieren. Letzt-
eine differenziertere Analyse, dennoch blieben sie              lich ist es auch hier an der Zeit, genauer zu erfor-
ihren etablierten Interpretations- und Referenz-                schen, wie die Abwicklungen von ostdeutschen
rahmen treu und versuchten, Ostdeutschland in                   Historiker/innen vollzogen wurden. Eine Wis-
diese einzuschreiben: Zentral waren die alte Bun-               sens- und Wissenschaftsgeschichte ist zentral, um
desrepublik,19 die Geschichte des Westens20 oder                die Einzelerzählungen zu verbinden, zu kontex-
die (west)europäische ­Geschichte.21                            tualisieren und auf eine empirische Basis zu stel-
    Aus diesen Publikationen, auch wenn sie kri-                len.23 Dafür müssten auch die Aufarbeitungs-
tische Perspektiven bieten, ist alles in allem der              landschaft und Geschichtspolitik in den Blick
Eindruck einer politischen und wirtschaftlichen                 genommen werden.24
Erfolgsgeschichte entstanden; die Geschichte ei-                     Dass Machtstrukturen und das (west)deut-
ner Nation, die den Weg von der Diktatur in die                 sche Wissenschaftssystem eine eigene Rolle spie-
Demokratie und von der Plan- in die Marktwirt-                  len, lässt sich auch an Philipp Thers „Die neue
schaft geschafft hat. Dieser Eindruck hat sich                  Ordnung auf dem alten Kontinent“ illustrieren.
auch deshalb verfestigt, weil die politischen Ak-               Der 2014 erschienene Band ist ebenfalls ein Über-
teure der Berliner Republik selbst, etwa bei Jah-               blickswerk, eine Geschichte von oben, die aber
restagen, auf positive Erzählungen Bezug nehmen                 einen anderen Referenzrahmen für Ostdeutsch-
oder einzelne Historiker/innen sich selbst klar in              land bietet, nämlich die ostmitteleuropäischen
parteipolitischer Richtung positionieren. Die bis-              Länder und ihren Weg in den Neoliberalismus.
her genannten Titel sind besonders stark in der                 Dieses Buch hat weitere Forschungen angeregt
Öffentlichkeit präsent, von Verlagen beworben                   und ordnet sich in eine lebendige ostmitteleuro-
und im Feuilleton besprochen. Das ist vermut-                   päische Forschung ein, bei der Ostdeutschland
lich auch deshalb der Fall, weil sie dem Bedürfnis              eine Randposition einnimmt: einerseits aufgrund
nach großen Narrativen, nach Meistererzählun-                   der Sonderrolle durch die Wiedervereinigung, an-
gen entgegenkommen. Diese sollen Sinn stiften                   dererseits weil Lehrstühle in Deutschland klaren
und im Fall des vereinten Deutschland auch eine                 Strukturen folgen und die osteuropäische Ge-
gesamtdeutsche Erzählung bieten.                                schichte in dieser Ordnung nicht zur deutschen
                                                                Geschichte gehört. Die Situation scheint verfah-
17 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte,
Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008,          22 So etwa mit der Tagung „Kolonie Ost? Aspekte von
S. XV f.                                                        ‚Kolonialisierung‘ in Ostdeutschland seit 1990“ in Dresden und
18 Vgl. Patrick Bahners/Alexander Cammann (Hrsg.), Bun-         Hoyerswerda vom 3. bis 5. April 2019.
desrepublik und DDR. Die Debatte um Hans-Ulrich Wehlers         23 Sie ist noch am Anfang, vgl. z. B. die Tagung „Hochschulum-
„Deutsche Gesellschaftsgeschichte“, München 2009.               bau Ost. Die Transformation des DDR-Hochschulwesens nach
19 Vgl. jüngst Edgar Wolfrum, Der Aufsteiger. Eine Geschichte   1989/90 in typologisch-vergleichender Perspektive“ an der
Deutschlands von 1990 bis heute, Stuttgart 2020 sowie zuvor     Universität Leipzig am 13./14. April 2018 sowie das von 2019
z. B. Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhun-   bis 2022 laufende Forschungsprojekt „Die Transformation der
dert, München 2014.                                             ostdeutschen Hochschulen in den 1980/90er Jahren. Potsdam in
20 Vgl. Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Die    vergleichender Perspektive“ der Universität Potsdam.
Zeit der Gegenwart, München 2015.                               24 Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Zur Gegenwart der DDR-
21 Vgl. Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte   Geschichte. Ein Essay, 18. 3. 2019, www.zeitgeschichte-online.de/
Europas in unserer Zeit, München 2012.                          themen/zur-gegenwart-der-ddr-geschichte.

                                                                                                                              07
APuZ 28–29/2020

ren, aber ist nicht aussichtslos. An dieser Stel-                               TRANSFORMATIONS­
le bleibt zunächst festzuhalten, dass die als west-                         GESCHICHTEN: ERFAHRUNGEN,
deutsch gelabelten Erfolgsgeschichten für viele                                PERSPEKTIVEN, RÄUME
Ostdeutsche kein Dach bieten. Die ostdeutsche                                      UND AKTEURE
Wirklichkeit verlangt ein genaues Hinsehen und
­Differenzieren.                                                    Ein eigenes Forschungsfeld, das sich dezidiert
     Der Sozialwissenschaftler und Publizist Tho-                   der Geschichte des vereinten Deutschlands wid-
mas Ahbe kam 2019 zu einem ähnlichen Resultat,                      met, wird es vermutlich auch in Zukunft nicht ge-
indem er auf jene drei Viertel der DDR-Bevöl-                       ben. Denn was einerseits der Nachteil der Zeitge-
kerung verwies, „die nicht zu den entschiede-                       schichte ist, ist andererseits ihr Vorteil: Sie kann
nen Gegner/-innen des DDR-Systems zählten                           mit größerem zeitlichen Abstand die bisheri-
(…), sich eben nicht einfach als Opfer eines Un-                    gen Entwicklungen beobachten und daraus For-
rechtsregimes fühlten“ und für die die Groß-                        schungsbedarfe formulieren. Das größte Problem
erzählungen deshalb nicht passen.25 Zeitzeu-                        stellt derzeit auch hier die Unverbundenheit von
 genschaft wird an dieser Stelle gleichermaßen                      Makro- und der Mikroperspektive dar, also die
 wichtig und schwierig, weil die Erinnerung von                     widersprüchlichen Erzählungen von oben und
 heute nicht gleichzusetzen ist mit der Geschich-                   von unten. In dieser Hinsicht ordnet sich Ost-
 te von damals. Und doch ist diese „Mehrheit der                    deutschland nahtlos in andere ostmitteleuropä-
 Gesellschaft“ bisher vernachlässigt worden. In                     ische Länder ein, die ebenfalls ein Auseinander-
 die Lücke, die die großen Erzählungen hinter-                      fallen von öffentlichen Meistererzählungen und
 lassen haben, sind derweil andere Deutungsan-                      persönlichen Erfahrungen verzeichnet haben.27
 gebote getreten, die wie die Meistererzählungen                    Zeithistoriker/innen, die sich mit Ostdeutsch-
 relativ laut zu hören sind: Sie können als identi-                 land beschäftigen, haben sich deshalb verstärkt
 tätsstiftende Erzählungen bezeichnet werden, die                   den ostmitteleuropäischen Umbrüchen von 1989
ein ostdeutsches Bewusstsein ins Zentrum stellen                    bis 1991 zugewandt. Dabei sind weniger die For-
und zugleich zeigen, dass es „die“ Ostdeutschen                     schungsvorhaben selbst vergleichend angelegt als
nicht gibt.26 Auch hier hat sich zuletzt eine jün-                  vielmehr die wissenschaftlichen Diskussionszu-
 gere Generation aufgemacht, sich über ihre ost-                    sammenhänge. Ostdeutschland kann dabei ana-
 deutsche Herkunft und Erfahrung zu definieren,                     lytisch als ein Fall betrachtet und in verschiede-
 und auch hier gibt es große Unterschiede in der                    ne Kontexte eingeordnet werden. Das ist bereits
 Qualität der Analyse. Schwierig wird es für die                    für die DDR-Forschung gefordert worden28 und
 zeithistorische Forschung dann, wenn eine Be-                      erscheint so auch für die Geschichte Ostdeutsch-
 rechtigung dafür, über Ostdeutschland forschen                     lands über den Epochenbruch hinaus hilfreich.
 zu dürfen, aus der eigenen ostdeutschen Biogra-                        Das Ergründen des Auseinanderfallens der Ge-
 fie abgeleitet wird beziehungsweise im Gegenzug                    schichten verlangt zudem eine Perspektiverweite-
 so bezeichneten Westdeutschen die Kompetenz                        rung im Hinblick auf die historischen Akteure.
 qua Geburtsort abgesprochen wird. Dabei ist un-                    Während in den Geschichten von oben vor allem
 klar, wer und was eigentlich „ostdeutsch“ ist. Die                 die politischen Protagonist/innen im Vordergrund
 geschichtswissenschaftliche Forschung geht der-                    standen und für die Perspektive von unten in die-
 weil anders vor.                                                   sen Erzählungen meist nur auf Meinungsumfra-
                                                                    gen Bezug genommen wurde, ist das für eine Ge-
25 Thomas Ahbe, Revolution und Vereinigung. Viele Erfahrun-         schichte, die die verschiedenen Akteure und ihre
gen und eine Große Erzählung, in: Journal für politische Bildung    Erfahrungen ergründen und darstellen will, nicht
4/2019, S. 10–17, hier S. 16.
                                                                    ausreichend. Meinungsumfragen haben in die-
26 Vgl. die Kritik an Valerie Schönian, Ostbewusstsein, Mün-
chen 2020 durch den ebenfalls in der DDR geborenen Frank
                                                                    ser Hinsicht eine begrenzte Aussagekraft, weil
Pergande, Schau an, ich bin ein Ossi, in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 28. 4. 2020, S. 5. Vgl. zur Problematik und zum Poten-
zial der Identitätspolitik Silke van Dyk, Identitätspolitik gegen   27 Vgl. Aron Buzogány, 25 Jahre 1989: Osteuropa zwischen
ihre Kritik gelesen, in: APuZ 9–11/2019, S. 25–32. Konkret auf      Euphorie und Ernüchterung, in: APuZ 24–26/2014, S. 10–15.
Ost-Westdeutschland bezogen vgl. Jörg Ganzenmüller, Ostdeut-        28 Vgl. Dorothee Wierling, Die DDR als Fall-Geschichte, in:
sche Identitäten. Selbst- und Fremdbilder zwischen Transfor-        Ulrich Mählert (Hrsg.), Die DDR als Chance. Neue Perspektiven
mationserfahrung und DDR-Vergangenheit, 24. 4. 2020, www.           auf ein altes Thema, Berlin 2016, S. 205–213; Thomas Lindenber-
bpb.de/308016.                                                      ger, Ist die DDR ausgeforscht?, in: APuZ 24–26/2014, S. 27–32.

08
Deutsche Einheit APuZ

sie Antworten auf vorformulierte Fragen geben:                 schungsbedarf. Gerade dann, wenn man die Da-
Wenn Umfrageinstitute beziehungsweise ihre Auf-                ten der Sozialwissenschaften aus den 1990er Jahren
traggeber sich für Ost-West-Unterschiede interes-              als Quellen für die Zeitgeschichte verwenden will,
sieren, dann bekommen sie dazu auch Antwor-                    wird eine Wissensgeschichte der akademischen In-
ten, unabhängig davon, ob die Befragten das von                stitutionen, ihrer Mitarbeiter/innen und Methoden
sich aus thematisiert hätten. Außerdem haben ers-              zentral, um eine fundierte Quellenkritik leisten zu
te wissensgeschichtliche Tiefenbohrungen gezeigt,              können. Im Bereich des Institutionenumbaus exis-
dass Anfang der 1990er Jahre die Methoden sehr                 tieren viele persönliche Geschichten, aber wenig
stark von westdeutschen Gegebenheiten ausgin-                  systematische Untersuchungen. Besonders deut-
gen, die nur begrenzt auf die ostdeutsche Situati-             lich wird das mit Blick auf den „erinnerungskultu-
on zutrafen.29 Die Quellenbasis muss also erwei-               rellen Zombie der Wiedervereinigung“ Treuhand,31
tert werden. Die Methode der Oral History wird                 zu der fast jeder Ostdeutsche eine persönliche Er-
dann ebenso wichtig wie die Zweitanalyse der qua-              fahrungsgeschichte oder eine Meinung hat, um die
litativen und quantitativen Daten aus der umfas-               sich aber nach wie vor auch viele Mythen ranken.
senden sozialwissenschaftlichen Forschung der                  Neben den mittlerweile für das Institut für Zeit-
1990er Jahre. Dahinter steht ein Erkenntnisinte-               geschichte geöffneten Archivquellen gibt es zur
resse an Erfahrungen, Mentalitäten, Ideen, Alltag              Treuhand eine Vielzahl von Daten aus der sozial-
und Gesellschaft – eben an solchen Themen, die                 wissenschaftlichen Transformationsforschung der
über den Epochenbruch von 1989 hinweg Bestand                  1990er Jahre. Der Zeitgeschichtsforschung kommt
hatten beziehungsweise die von Menschen gestal-                hier die Aufgabe zu, die unterschiedlichen Quellen
tet werden mussten. Zwangsläufig ergibt sich aus               zu sichten, das Wissen zu ordnen und in eine sinn-
dieser Verschiebung der thematischen Erkenntnis-               volle Geschichte zu bringen.
interessen auch eine Verschiebung des Untersu-                     Geschichten zu Institutionen beginnen oft
chungszeitraums. Nun wird vermehrt auf die Zeit                1990, aber erst aus der Zusammenschau der Zeit-
vor, während und nach 1989 geblickt. Denn ba-                  abschnitte vor, während und nach 1989/90 las-
nal formuliert ging das Leben weiter: Es fing nicht            sen sich die Lebensgeschichten mit ihren Ge-
1989 an und hörte dann auch nicht auf. Um sinn-                winn- und Verlusterzählungen verstehen.32 Das
volle Lebensgeschichte erzählen zu können, muss                im Staatssozialismus erlernte Wissen und die dort
die Zäsur integriert werden.                                   gesammelten Erfahrungen wirken nach 1989 fort.
     Die so angelegten Untersuchungen bieten ein               So zeigt sich, dass Ostdeutsche sich in ihrem All-
breites Dach für Themen, Vergleiche, Perspektiv­               tag und im Berufsleben an ähnlichen Werten ori-
erweiterungen und Erklärungen. Drei Beispie-                   entierten wie ihre westdeutschen Nachbar/innen.
le seien hier herausgegriffen: Aus zeithistorischer            Sparsamkeit und Leistung bildeten zentrale Be-
Perspektive wissen wir bisher etwa – abseits der               zugspunkte, die nicht erst nach 1990 handlungs-
grundsätzlichen Regelungen – relativ wenig über                leitend wurden.33 Wichtig ist diese lange Perspek-
den konkreten Ablauf des Ab- oder Umbaus ost-                  tive über die Zäsur von 1989/90 hinaus auch, weil
deutscher Institutionen, also über Personalzusam-              davor konkrete Erwartungen an Freiheit, Demo-
mensetzungen, Arbeitsverträge, Fluktuationen                   kratie und Marktwirtschaft beobachtet werden
und Arbeitsabläufe. Das gilt einmal mehr in fö-                können, die mit den Erfahrungen der 1990er Jah-
derativer Hinsicht, denn die neuen Bundesländer                re teilweise kollidierten. Das Zusammenspiel von
wurden erst Anfang der 1990er Jahre eingeführt                 Erwartungen und Erfahrungen ist elementar für
und unterscheiden sich auch in der administrati-
ven und praktischen Umsetzung der Gesetze, die
                                                               31 Marcus Böick, Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung
im Zuge des Beitritts erlassen wurden.30 Auch zur
                                                               1990–1994, Göttingen 2018, S. 15.
Wissenschaftsgeschichte besteht noch großer For-               32 So der Ansatz der von 2016 bis 2020 von Kerstin Brück-
                                                               weh geleiteten Forschungsgruppe „Die lange Geschichte der
29 Vgl. Kerstin Brückweh, Wissen über die Transformation.      ‚Wende‘. Lebenswelt und Systemwechsel in Ostdeutschland vor,
Wohnraum und Eigentum in der langen Geschichte der „Wen-       während und nach 1989“ am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische
de“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary   Forschung Potsdam.
History 1/2019, S. 19–45.                                      33 Vgl. Kerstin Brückweh/Clemens Villinger/Kathrin Zöller, Ein
30 Vgl. Stefan Creuzberger/Fred Mrotzek/Mario Niemann          Schriftgespräch zu unseren Ergebnissen, in: dies. (Hrsg.), Die lan-
(Hrsg.), Land im Umbruch. Mecklenburg-Vorpommern nach dem      ge Geschichte der „Wende“. Geschichtswissenschaft im Dialog,
Ende der DDR, Berlin 2018.                                     Berlin (i. E.).

                                                                                                                               09
APuZ 28–29/2020

die Formung und Formulierung der Erinnerun-                       ropäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts bezie-
gen von heute – sie sagen aber häufig mehr über                   hungsweise ihres Übergangs zur Demokratie an,
die Bewertung der Gegenwart aus als über die Er-                  etwa in Spanien, Portugal oder Griechenland. Ob
fahrungen der Vergangenheit. Hier bedarf es wei-                  man das Transformation, verstanden als beson-
terer Mikro- oder Lokalstudien und einer Kom-                     ders tief greifender, umfassender und beschleunig-
bination aus Oral History und erneuten Analysen                   ter Wandel des politischen Systems, der Wirtschaft
qualitativer Interviews aus den 1990er Jahren.                    und Gesellschaft, nennen soll,38 bleibt dabei unter
    Freiheit, Demokratie, Kapitalismus und die                    den Forschenden umstritten. In mehrfacher Hin-
Orientierung an der EU folgten in der einen oder                  sicht hat sich also eine florierende internationale
anderen Form in allen ostmitteleuropäischen Län-                  Forschungslandschaft entwickelt.
dern, vor allem aber erlebten diese Länder in der
konkreten Zeit des Umbruchs und danach eine be-                                   SONDERFALL
sondere Betonung des Nationalen. „Aufgrund sei-                                (OST-)DEUTSCHLAND
ner Vielschichtigkeit und symbolischen Aufladung
eignet sich das Symboljahr 1989 besonders gut zur                 Nun könnte der Eindruck entstanden sein, dass
politischen Instrumentalisierung.“34 Gegenerzäh-                  es zwar spannende zeithistorische Forschung zur
lungen, dass hinter den politischen Umwälzun-                     Transformationsgeschichte gibt, diese aber im El-
gen weniger das „Volk“ als vielmehr der Zusam-                    fenbeinturm verbleibt, sie also in gewisser Weise
menbruch des so­   wje­tischen Herrschaftssystems                 den Meistererzählungen und Identitätspolitiken –
standen,35 gibt es ebenso wie empirisch gesättigte                und der Aufarbeitungslandschaft – den Platz in
Studien über die Gesellschaft im Spätsozialismus                  den gesellschaftlichen Diskussionen überlässt.
und in der Umbruchszeit.36 Instrumentalisierun-                   Die Situation kann auch anders beschrieben wer-
gen der Begriffe von 1989 ließen sich jüngst auch                 den: Allen wissenschaftlichen Bemühungen zum
in Ostdeutschland beobachten, als die AfD mit                     Trotz, Ostdeutschland als Teil dieser verschiede-
„Wende 2.0“ oder „Wir sind das Volk“ bei Land-                    nen Transformationsgeschichten zu analysieren,
tagswahlen für sich warb. Da populistische Strö-                  kreisen die Diskussionen in Deutschland vielfach
mungen aber nicht allein ein ostmitteleuropäisches                um sich selbst. Wahrscheinlich sind auch deswe-
Phänomen sind, sollte schnellen Rückführungen                     gen die bundesrepublikanischen Erfolgsgeschich-
auf die DDR-Vergangenheit mit Skepsis und vor                     ten und die ostdeutschen Gegenerzählungen so
allem mit empirischer Forschung begegnet wer-                     präsent und viel beachtet. Ostmitteleuropäische
den. Auch die globalgeschichtlichen Forschungs-                   Länder dienen im Alltag nicht als Referenz für die
trends der zurückliegenden Jahre haben für inte-                  eigenen ostdeutschen Erfahrungen und Perspek-
ressante Kontextualisierungen und Relativierung                   tiven. Angebotene positive ostdeutsche Narrati-
der Ereignisse von 1989 bis 1991 gesorgt.37 Zudem                 ve wie die von der besonderen „Umbruchkompe-
bieten sich diachrone Vergleiche mit anderen eu-                  tenz“39 oder den Ostdeutschen als „Avantgarde“40
                                                                  haben sich ebenfalls nicht durchgesetzt. Im drei-
34 Buzogány (Anm. 27), S. 15.                                     ßigsten Jahr nach 1989/90 werden die Debat-
35 Vgl. Stephen Kotkin, Uncivil Society. 1989 and the Implosion   ten oft emotional geführt – eine Versachlichung
of the Communist Establishment, New York 2009.
                                                                  und empirische Fundierungen von Meinungsäu-
36 Vgl. Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was
No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2006; Olga
                                                                  ßerungen wären wünschenswert. Wenn die zeit-
Shevchenko, Crisis and the Everyday in Postsocialist Moscow,      historische Transformationsforschung dazu bei-
Bloomington–Indianapolis 2009; James Krapfl, Revolution with      tragen will, muss sie stärker als bisher ihr Wissen
a Human Face. Politics, Culture and Community in Czechoslo-       nach außen kommunizieren. Letztlich geht es da-
vakia 1989–1992, Ithaca–London 2013; Corinna Kuhr-Korolev,
                                                                  rum, die Vielfalt zuzulassen und auszuhalten.
Gerechtigkeit und Herrschaft. Von der So­wjet­union zum neuen
Russland, Paderborn 2015.
37 Vgl. Ulf Engel/Frank Hadler/Matthias Middell (Hrsg.), 1989
in a Global Perspective, Leipzig 2015.                            KERSTIN BRÜCKWEH
38 Vgl. Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Konti-       ist promovierte Historikerin, Fellow am
nent, Frankfurt/M. 2014, S. 28.
                                                                  Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und
39 Matthias Platzeck, Zukunft braucht Herkunft. Deutsche
Fragen, ostdeutsche Antworten, Hamburg 2009.
                                                                  Privatdozentin an der Eberhard-Karls-Universität
40 Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin       Tübingen.
2002.                                                             kerstin.brueckweh@uni-tuebingen.de

10
Deutsche Einheit APuZ

           DER OSTEN ALS PROBLEMZONE?
                  Eine Skizze zur ostdeutschen Soziopolitik
                                             Steffen Mau

Manche Historiker, die in langen historischen Bah-     eine selbstbewusste und differenzierte Aneignung
nen des zu sich selbst gekommenen Westens den-         der Geschichte gehen, jenseits von Verteufelung
ken, haben die DDR zur „Fußnote“ in der Entwick-       oder Verherrlichung der DDR. Ähnliches kann
lung der Bundesrepublik erklärt.01 Sie sahen mit der   man auch in den Anforderungskatalog der Ana-
Wiedervereinigung die Kontinuität des Bismarck-        lyse des Vereinigungsprozesses hineinschreiben.
Staates wiederhergestellt und mithin wenig Anlass,     Wer den Weg in die Einheit und den ostdeutschen
der DDR-Sozialgeschichte einen besonderen Platz        Transformationspfad verstehen will, muss sich ge-
einzuräumen. In der Soziologie ist das ein wenig an-   genüber dem politisch Wünschbaren weitgehend
ders, aber auch hier gibt es 30 Jahre nach der Wie-    immunisieren. Immerhin handelt es sich um ein
dervereinigung einen Mangel an Forschung und           politisch umkämpftes Deutungsfeld, wo stets die
Reflexion: Große Mentalitätsstudien, Sozialstruk-      Vereinnahmung oder Abwehr von Erkenntnissen
turanalysen, Ethnografien oder sozialgeschichtliche    droht. Jürgen Habermas hat jüngst in einem Inter-
Abhandlungen, die auch international reüssieren        view angemahnt, es hätte „seit Langem informier-
konnten, gibt es für Ostdeutschland nicht.             te und anhaltende Debatten über die Fehler beider
    Das erstaunt vor allem deshalb, weil es sich       Seiten beim Modus der Wiedervereinigung geben
bei der Wiedervereinigung um ein soziologi-            sollen“.02 Erst wer sich Geschichte selbstbewusst
sches Experimentierfeld par excellence handelt:        und kritisch aneignet, kann verstehen, warum vie-
Was kann für Soziologen spannender sein als das        les noch nicht so zusammengewachsen ist, wie man
Zusammentreffen zweier unterschiedlicher, anti-        es politisch erwartet hatte.
podischer, politisch-militärisch sogar verfeinde-          Dies vorangestellt, werde ich im Folgenden ei-
ter Gesellschaften mit dem Ziel der Vereinigung?       nige Thesen zum Vereinigungsprozess skizzieren,
Ein besseres soziologisches Labor kann man sich        die die soziopolitische Verfasstheit der ostdeut-
nicht vorstellen, zumal damit die Gelegenheit          schen Teilgesellschaft ins Zentrum stellen. Mit dem
verbunden war, die gesellschaftliche Entwicklung       Begriff der „Soziopolitik“ ziele ich auf die spezi-
von Anbeginn mit dem gesamten Instrumentari-           fischen Übertragungsverhältnisse gesellschaftlicher
um der Sozialforschung zu begleiten. Allerdings        Strukturen, Mentalitäten und Lebensweisen in die
gelang es weder im Fachdiskurs noch in den in-         politische Arena. Dabei interessiert mich nicht Par-
ternationalen Debatten, die spezifische ostdeut-       teipolitik im engeren Sinne, ich möchte vielmehr
sche Transformationsgeschichte so aufzubereiten,       auf Politisierungsformen, also Haltungen, Ansprü-
dass sie als Brennglas für eine verallgemeinerbare     che und Artikulationsweisen hinaus. In diesem Zu-
Erfahrung hätte dienen können. Viele Analysen,         sammenhang fokussiere ich mich vor allem auf jene
so verdienstvoll sie im Einzelnen auch sein mö-        strukturellen Brüche und Fehlstellungen, die auf
gen, waren eher kleines Karo statt großer Wurf.        die politische Kultur einwirken.
    Was lässt sich nunmehr – nach 30 Jahren – zu
Ostdeutschland sagen? Was bietet die Nachbe-                SCHWIERIGE DEMOKRATISIERUNG
trachtung mit zeitlichem Abstand mehr als eine
Fußnotenkorrektur und den unentwegten Kampf            Die DDR war ein gängelnder und kontrollieren-
um Deutungshoheit darüber, was die DDR ge-             der Staat, der seinen Bürgern wesentliche Mitwir-
wesen ist und was nicht, und welche der heute er-      kungsmöglichkeiten an politischen Entscheidun-
kennbaren Frakturen Ostdeutschlands als Erbe           gen versagte. Daher konnte sich auch kein gelebtes
der DDR gelten dürfen und welche als Brüche der        Repertoire an demokratischer Beteiligung ausbil-
Transformationszeit? Zunächst einmal muss es um        den. Erst in der Phase seines Ablebens emanzipier-

                                                                                                         11
APuZ 28–29/2020

ten sich die Bürger von der Bevormundung und                         schaft abzulegen und im Einigungsprozess auch zu
forderten auf der Straße Meinungsfreiheit und De-                    einem neuen politischen Bewusstsein zu kommen,
mokratisierung ein. Dies mündete in die erste und                    noch gab man den Ostdeutschen zu verstehen, es
letzte freie Wahl der Volkskammer der DDR am                         handele sich um mehr als einen Beitritt zum ins-
18. März 1990. Die Wahlerfolge der „Allianz für                      titutionellen und rechtlichen Regelwerk der Bun-
Deutschland“ statteten die letzte Regierung der                      desrepublik und ihre eigenen Vorstellungen über
DDR mit einem starken Handlungsmandat dafür                          das Wie der gemeinsamen politischen Gemein-
aus, die Weichen in Richtung Wiedervereinigung                       schaft seien gefragt.
zu stellen. Allerdings führten die eklatanten öko-                        So weitete sich die Bundesrepublik in der Flä-
nomischen und politischen Schwächen der dem                          che aus und inkorporierte die DDR ohne weiter-
Untergang geweihten DDR dazu, dass ihre Reprä-                       gehende Berücksichtigung der Strukturen und
sentanten als Sachwalter der Interessen der DDR-                     Mentalitäten vor Ort. Manche sprechen recht
Bevölkerung nur wenig Einfluss auf die weitere                       drastisch von einer „Übernahme“,05 angemesse-
Entwicklung haben konnten. Es stellte sich zwi-                      ner ist der Begriff des „ready-made state“,06 der
schen Ost und West ein erhebliches Machtgefälle                      in den Osten transferiert wurde. Beide Begriff-
ein. Auch stand das von der Mehrheit der DDR-                        lichkeiten implizieren einen politischen „Subjekt-
Bevölkerung unterstützte Ziel der schnellen Ein-                     verlust“, weil die Eigenleistungen der politischen
heit einer Vereinigung auf Augenhöhe entgegen.03                     Akteure vor Ort nun nur noch insoweit gefragt
Der „Einigungsvertrag“ mag aus Sicht der Ver-                        waren, als es darum ging, das im Osten zu imple-
handlungsführer das Beste gewesen sein, was man                      mentieren, was im Westen schon vorhanden war.
in der damaligen historischen Situation und unter                    Das Gefühl, überrollt oder übernommen worden
dem Druck der zeitlichen Abläufe bewerkstelligen                     zu sein oder an Handlungsmacht einzubüßen,
konnte, dennoch entlässt einen eine solche Feststel-                 stellte sich bei vielen ein, interessanterweise auch
lung nicht aus der Verantwortung, die Effekte des                    bei jenen, die im Herbst 1989 euphorisch aufge-
Modus der Wiedervereinigung für die nachgängi-                       sprungen waren. Bei manchen gipfelte dies im an
ge Entwicklung in Ostdeutschland zu reflektieren.                    den Westen gerichteten Vorwurf der „Koloniali-
    Man kann den Übergang von der Friedlichen                        sierung“ des Ostens durch den Westen – ein letzt-
Revolution zur Deutschen Einheit als „ausge-                         lich schiefer historischer Vergleich, da der Prozess
bremste Demokratisierung“04 interpretieren: Ge-                      mehrfach durch Wahlergebnisse bestätigt wurde.
nau in jenem Moment, als sich die Ostdeutschen                            Im Zuge der Wiedervereinigung blieb das mit
als politische Subjekte erfanden und sich eine Spra-                 der Friedlichen Revolution verbundene Potenzi-
che herausbildete, mit der sich Interessen artiku-                   al an demokratischer Mobilisierung vielfach unge-
lieren ließen und Foren der Aushandlung gesell-                      nutzt. Viel zu wenig dachte man daran, dass man
schaftlicher Verhältnisse entstanden, setzte mit der                 den demokratischen Einsatz und das Erleben von
Weichenstellung in Richtung Wiedervereinigung                        Selbstwirksamkeit der Ostdeutschen selbst brauch-
ein starkes Entpolitisierungsmoment ein. Hier ent-                   te, um die Demokratie mit Leben zu füllen. Durch
stand eine Verriegelungssituation, bei der der Wille                 den Mangel an Beteiligung entstand ein bis heu-
der Mehrheit der Bevölkerung, schnell zur Einheit                    te fortwirkender antiinstitutioneller Affekt. Die
zu kommen – gepaart mit dem Machtkalkül west-                        vor allem auf Flächenextension setzenden „West-
deutscher Politikzentralen –, alternative Gestal-                    parteien“ waren zwar im Osten durchaus erfolg-
tungsoptionen von vornherein ausschloss. Weder                       reich, blieben aber mit Blick auf mitgliedschaftliche
mutete man der alten Bundesrepublik zu, über die                     Struktur und Breite der gesellschaftlichen Träger-
eigenen Gewissheiten und Besitzstände Rechen-                        schaft schwach. Hinzu kommt, dass der vorpoli-
                                                                     tische Raum im Osten bis heute anders ausgestal-
01 Vgl. z. B. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschich-
                                                                     tet ist als im Westen, wo es einen dichten Kranz an
te, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008.           zivilgesellschaftlichen Initiativen, pfadfinderischer
02 Jürgen Habermas, Moralischer Universalismus in Zeiten
politischer Regression, in: Leviathan 1/2020, S. 7–28, hier S. 15.
03 Vgl. Claus Offe, Der Tunnel am Ende des Lichts: Erkundungen       05 Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Übernahme. Wie Ostdeutsch-
der politischen Transformation im Neuen Osten, Frank­furt/M.         land Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019.
1994., S. 21 ff.                                                     06 Richard Rose/Christian Haerpfer, The Impact of a Ready-
04 Steffen Mau, Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Trans-       made State: East Germans in Comparative Perspective, in:
formationsgesellschaft, Berlin 2019, S. 122.                         German Politics 1/1997, S. 100–121.

12
Deutsche Einheit APuZ

Jugendarbeit, gewerkschaftlicher Initiative und         geahmten, und zudem davon ausgingen, dass sie
kirchlichem Engagement gibt. In der DDR hatten          eingeladen waren, der ‚freien Welt‘ auf Augenhöhe
die staatlichen Instanzen und die volkseigenen Be-      mit ihren europäischen Nachbarn b  ­ eizutreten“.07
triebe eine große Rolle gespielt. Nach der Wende             Auf Ostdeutschland übertragen, lässt sich ein
entstanden hier Leerstellen, in die rechte politische   solches Argument zuspitzen: Mit dem Institutio-
Akteure hineindrängen konnten. Etliche von ih-          nen- und Normentransfer von West nach Ost galt
nen kamen aus Westdeutschland in den Osten, weil        als ausgemacht, dass sich im Osten alles und im
sie dort mehr „Beinfreiheit“ für nationalistische       Westen nichts verändern sollte. Das Aufgeben der
und völkische Programmatiken fanden. Außerdem           DDR-geprägten Lebensweise und die schnelle Um-
konnten sie an auch in der DDR ausgeprägte nati-        gewöhnung und Anpassung, auch das Abschwö-
onalistische und rassistische Sentiments anknüpfen.     ren, wurden als zentral für die erfolgreiche Verei-
Die Pulverisierung des alten ideologischen Über-        nigung angesehen. Jürgen Habermas’ einschlägige
baus, die dadurch hervorgerufene ideelle Orien-         Diagnose von der „nachholenden Revolution“ war
tierungslosigkeit und die im Einigungsprozess for-      der intellektuelle Wegweiser der damaligen Zeit.08
cierte Aufwallung nationaler Gemeinschaftsgefühle       Nachdem der Staatssozialismus à la DDR erle-
taten ihr Übriges.                                      digt war, sollten nun im Osten jene Entwicklun-
                                                        gen greifen, die im Westen schon vollzogen waren.
      IMITATION UND NACHBAU WEST                        Die Westdeutschen selbst hatten nach dem Zweiten
                                                        Weltkrieg diese Erfahrung mit den westlichen Alli-
Nicht nur in Ostdeutschland, auch in vielen ande-       ierten gemacht. Aus westdeutscher Sicht stellte sich
ren Ländern Osteuropas zeigt sich heute ein ge-         die Frage, wie die „Bekehrung zu unseren Normen
höriges Maß an Skepsis gegenüber liberalen In-          und Werten“, die „Re-education des deutschen Os-
stitutionen und Prinzipien. Die Fieberkurve des         tens“,09 möglichst reibungslos über die Bühne ge-
Demokratiebewusstseins erscheint als kritisch, das      bracht werden könnte. Die Vorstellung war, dass es
Vertrauen in die politischen Eliten ist gering, Sys-    mit dem Institutionentransfer auch zu einer nach-
temkritik macht sich lautstark bemerkbar. Unmit-        gelagerten Mentalitätsangleichung kommen wer-
telbar nach dem Fall der Mauer war die Erwar-           de. Es schien also ausgemacht, dass es mit dem Bei-
tung eine andere. Das Motto lautete: Im Westen          tritt zu einer Verwestlichung des Ostens und einer
ankommen und die Basisinstitutionen Demokra-            sukzessiven mentalen Anpassung von Ost an West
tie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft möglichst          kommen werde. Ein langfristiges Überleben sozi-
schnell übernehmen. Die Politologen Ivan Krastev        aler und kultureller Besonderheiten wurde damals
und Stephen Holmes haben 2019 in ihrem Buch             nicht in Erwägung gezogen, ebenso wenig wie die
„Das Licht, das erlosch“ der These breiten Raum         Frage, ob ein neues politisches Bewusstsein nicht
gegeben, dass es dieser Nachahmungsimperativ im         einen eigenen Aneignungsprozess braucht, was
Post-1989-Osteuropa war, der langfristig einen          auch die Auseinandersetzung mit den verschlei-
Widerwillen gegen ebenjenes Modell hat wachsen          erten und verschleppten autoritären Strukturen in
lassen. Mit dem erlöschenden Licht ist die schwin-      der DDR bedeutet hätte.
dende Strahlkraft des liberalen Gesellschaftsmo-             Die Nachahmung trat im Osten nicht nur im
dells gemeint, das in Osteuropa auf immer mehr          Sinne eines normativen Leitmodells auf, sondern
Vorbehalte treffe, die bis hin zu Forderungen nach      wurde auch durch Transfereliten personifiziert. Da
der Errichtung einer „illiberalen Demokratie“ wie       die Ostdeutschen als Anfänger in Sachen Rechts-
in Ungarn oder der politisch offen propagierten         staat, Marktwirtschaft und Demokratie galten,
gesellschaftlichen Marginalisierung von Minder-         übernahmen häufig Westdeutsche das Ruder. In
heiten reichen. Sie führen den Populismus in Ost-       den 1990er Jahren gingen mehrere Zehntausend
europa unter anderem darauf zurück, dass in der
Nachahmung immer auch ein Verlust an eigenen            07 Ivan Krastev/Stephen Holmes, Das Licht, das erlosch. Eine
Gestaltungsoptionen liegt. Zugleich sind Nachah-        Abrechnung, Berlin 2019, S. 107.
mer, sofern sie die Vorbilder nicht souverän über-      08 Jürgen Habermas, Kleine politische Schriften. Die nachho-
                                                        lende Revolution, Frank­furt/M. 1990.
holen können, stets dem Risiko eines anhaltenden
                                                        09 Heinz Hartmann, Für alles gerüstet? Die deutsche Verei-
Insuffizienzgefühls ausgesetzt. In Mitteleuropa sei     nigung als Herausforderung für die Soziologie, in: Bernhard
hinzugekommen, dass „die Nachahmer glaubten,            Giesen/Claus Leggewie (Hrsg.), Experiment Vereinigung, Berlin
zum selben Kulturraum zu gehören wie die Nach-          1991, S. 100–110, hier S. 102.

                                                                                                                    13
Sie können auch lesen