Relevant - Bereit zum Aufbruch Trotz schwerem Gepäck: Raus aus den Krisen - rein in die Veränderung. Was für die Medienbranche jetzt ansteht.

 
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Relevant - Bereit zum Aufbruch Trotz schwerem Gepäck: Raus aus den Krisen - rein in die Veränderung. Was für die Medienbranche jetzt ansteht.
relevant.
Das Magazin des Bundesverbands Digitalpublisher und Zeitungsverleger        Nr 1 | 2023

                                                 Bereit zum Aufbruch
                                                 Trotz schwerem Gepäck: Raus aus
                                                 den Krisen – rein in die V
                                                                          ­ eränderung.
                                                 Was für die Medienbranche jetzt ansteht.
Relevant - Bereit zum Aufbruch Trotz schwerem Gepäck: Raus aus den Krisen - rein in die Veränderung. Was für die Medienbranche jetzt ansteht.
Die Zeitungen
    sind täglich
           relevant
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           gedruckt & digital

INTRO relevant. 1|2023
Relevant - Bereit zum Aufbruch Trotz schwerem Gepäck: Raus aus den Krisen - rein in die Veränderung. Was für die Medienbranche jetzt ansteht.
VORWORT

                                         Liebe Leserinnen und Leser,
                                         wenn Historikerinnen und Historiker die vielfäl-         All diese Krisen werden von den Medien intensiv
                                         tigen Ereignisse eines Jahrzehnts herunterbre-           journalistisch begleitet. Sie haben daran mitge-
                                         chen wollen, dann geben sie ihnen oft prägnante          wirkt, dass die Art, Nachrichten zu machen und
                                         Namen. So waren die 60er-Jahre das Jahrzehnt             Journalismus zu betreiben, sich ebenfalls im
                                         der Proteste, die 70er-Jahre waren die des (RAF-)        Umbruch befindet. Die Digitalisierung schreitet
                                         Terrors und die 80er-Jahre die des Kalten Krieges.       immer schneller voran, auch weil klassische Me-
                                         Die 2020er-Jahre werden wohl als ein Jahrzehnt           dienproduktion teurer und Papier knapper wird
                                         der Umbrüche in die Geschichte eingehen. Selten          (siehe Seite 8). Journalistinnen und Journalisten
                                         waren die ersten Jahre einer Dekade von derart           sind inzwischen zu Technikprofis geworden, die
                                         vielen gesellschaftsverändernden Umbrüchen               multimedial von überall auf der Welt berichten.
                                         geprägt. So ist die Corona-Pandemie eine Zäsur,          Datenjournalismus gehört zum Redaktionsalltag
                                         die alle Bereiche des (Zusammen-)Lebens er-              (siehe Seite 58). Genau wie digitale Zeitungspro-
                                         schüttert und nachhaltig verändert hat. Nicht nur        dukte zum Alltag der Leserinnen und Leser (siehe
                                         das Gesundheitssystem, auch das globale Wirt-            Seite 44).
                                         schaften muss sich wandeln.                              Die Digitalpublisher- und Zeitungsbranche zeigt,
                                         Der Krieg in der Ukraine beschleunigt den nächs-         dass sie sich mit Kreativität und Innovationskraft
                                         ten großen Umbruch: Den der Energiewende. In             an die veränderten Rahmenbedingungen und
                                         der Folge sind die Preise für Lebensmittel und           an gesellschaftliche Umbrüche anpassen kann.
                                         Energie in bisher nicht gekannte Höhen geklet-           Der Schwerpunkt dieser Ausgabe soll sich daher
                                         tert – die Gesellschaft muss sich aufs Sparen            damit beschäftigen: Umbrüche und ihre Auswir-
                                         einstellen. Und darauf, dass alte Glaubenssätze          kungen auf unsere Mediengesellschaft. Denn –
                                         keine Gültigkeit mehr haben. Denn nicht zuletzt          da können wir uns sicher sein – in diesem Jahr
                                         die Klimakrise verlangt nach neuem Denken und            kommt noch einiges auf uns zu. Gemeinsam
                                         massiv verändertem Handeln.                              ­können wir es meistern.
© Fotos: BDZV/Brundert, BDZV/Anja Jahn

                                                                    Dr. Andrea Gourd                      Tim Ende

                                                                                              3                                 relevant. 1|2023 INTRO
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KERNFRAGE

                                               POLITIK

                                               08 ANWENDUNG

                                               „FOKUSSIERT EUCH!“
  Umbrüche –                                   Wie die digitale Transformation
  Die Zeitenwende                              trotz knapper Ressourcen gelingt.
                                               Julia Bönisch im Interview.
  ist in den Medien-
  häusern ­deutlich                                „Man muss nicht jeden Trend mitmachen.“
                                                   Julia Bönisch, Leiterin Digitale Transformation

  spürbar.                                         und Publikationen Stiftung Warentest

  Was ­bedeutet das
                                               14 WISSEN
  für Publisher und
                                               GEFAHREN FÜR DIE
  welche Antworten                             PRESSEFREIHEIT IN EUROPA
  haben sie?                                   Die EU hat sich den „Kampf gegen Des­
                                               information“ auf die Fahnen geschrieben.
                                               Es drohen schwere Eingriffe in die
                                               ­Meinungs- und Pressefreiheit.

                                               22 MEINUNG
  KURZMELDUNGEN
                                               „FAIRER WETTBEWERB WURDE
                                               VOLLSTÄNDIG ABGESCHAFFT“
   06 NEWS                                     Im Kampf um Aufmerksamkeit und Werbe­
                                               gelder dominieren die großen Plattformen.
   EIN MEILENSTEIN                             Ihre marktbeherrschende Position muss
   FÜR DIE VERBANDS­                           aufgebrochen werden.
   GESCHICHTE
                                                   „Fehlender oder unfairer Wettbewerb im
   Modernisiert und mit neuer Struktur             Medienmarkt hat Konsequenzen für das
   ist der BDZV fit für die Herausforde-           Funktionieren unserer Demokratie.“
   rungen der Zukunft.                             Martin Andree, CEO von AMP Digital Ventures

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INHALT

MARKT                                                   PERSPEKTIVEN

28 WISSEN                                               52 ANWENDUNG

TREFFSICHERE REICHWEITEN                                WENN DIE ZEITUNG
Valide Reichweiten sind essenziell für                  PER DROHNE KOMMT
Zeitungen und Digitalpublisher. Ihre                    Lösungsorientiert: Da die Logistik der
Erhebung befindet sich im Umbruch.                      Zeitungs­zustellung immer schwieriger wird,
Wie geht es weiter?                                     hat sich der Heinen-Verlag was überlegt.

    „Koordinierende Verbandsarbeit                           „Bis die Drohnenzustellung wirtschaftlich
    ist ­unerlässlich für Verlage.“                          betrieben werden kann, muss noch
    Andreas Schmutterer, Verlagsleiter                       einiges passieren.“
    Augsburger Allgemeine                                    Johannes Heinen, Geschäftsführer Heinen-Verlag

36 ANWENDUNG                                            58 WISSEN
DIGITALE WERBUNG                                        ZAHLEN, DIE
ALS SELFSERVICE                                         GESCHICHTEN ERZÄHLEN
Lokal, leicht zu bedienen und für jedes                 Visualisierte Daten sind der Stoff
Budget geeignet: Wie das Mopo Werbelokal                für spannende Storys.
kleine Unternehmen für Online-Anzeigen
gewinnt.                                                     „Medienhäuser investieren
                                                             verstärkt in die Datenteams.“
     „Das erste Self-Service-Tool eines Regional-            Marie-Louise Timcke, Leiterin
     verlags für hyperlokale Digitalwerbung“                 Datenteam Süddeutsche Zeitung
     Arist von Harpe, Verleger Hamburger
    ­Morgenpost (Mopo)

44 MEINUNG
UMSTIEG AUF DIGITAL
Digitalangebote sind die Zukunft.
Wie können Printnutzerinnen und
-nutzer davon überzeugt werden?

                                                    5                               relevant. 1|2023 INHALT
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NEWS

„Ein Meilenstein für die
Verbandsgeschichte“
Fit für die vielfältigen Herausforderungen der Zukunft: Der BDZV hat sich
in einem Modernisierungsprozess neu aufgestellt und sich eine geänderte
Struktur an der Spitze gegeben. Der Verband wird künftig von einem
dreiköpfigen Vorstand geführt – das Amt des Präsidenten ist damit
nach über 60 Jahren Geschichte.

M
           it der Gründung des Bundesverbands             gremium der Organisation, anlässlich einer au-
           Deutscher Zeitungsverleger am 14. Juli         ßerordentlichen Sitzung in Berlin vorgelegt. Die
           1954 in der damaligen Bundeshaupt-             Delegierten haben sich darauf verständigt, dass
stadt Bonn erhielt die Zeitungsbranche nicht nur          der BDZV künftig von einem Vorstand geführt
eine wichtige und einflussreiche Interessenver-           wird. Dieser ersetzt das bisherige Präsidium.
tretung. Sie erhielt mit Hugo Stenzel als erstem          An der Spitze des Vorstands stehen künftig drei
BDZV-Präsidenten auch eine Person an ihrer Spit-          Vorsitzende; zwei sind ehrenamtlich tätig, ei-
ze, die persönlich die Werte der Branche reprä-           ne(r) kommt aus dem Hauptamt, nämlich der/die
sentierte: Unabhängigkeit, hochwertiger Journa-           Hauptgeschäftsführer/in. Aktuell ist dies Sigrun
lismus, Meinungsfreiheit und der Einsatz für eine         Albert, die seit dem 1. April 2022 die Geschäfts-
demokratisch verfasste Gesellschaft. An diesen            stelle in Berlin leitet.
Werten hat sich bis heute nichts geändert.                Angesichts der Bedeutung des Themas Medien-
Doch nach 68 Jahren, neun Präsidenten und der             politik für den BDZV werden die beiden ehren-
Umbenennung in Bundesverband Digitalpubli­                amtlichen Vorstände gemeinsam dafür zuständig
sher und Zeitungsverleger im Dezember 2020 war            sein. Darüber hinaus kann der Vorstand aus bis zu
es an der Zeit, die Führungsstruktur der Verleger­        sechs weiteren Ressortvorständen bestehen. Zur-
organisation zu modernisieren. Und so hat im              zeit ist die jeweilige Zuständigkeit für die Themen
vergangenen Jahr eine Task Force, bestehend               Märkte, Journalismus, Trends & Innovation sowie
aus Vertretern des Präsidiums, der Berliner Ge-           Recht vorgesehen.
schäftsstelle und der Landesverbände, eine neue
Satzung erarbeitet, die auch Regelungen für die           BDZV ist mit neuer Struktur
                                                                                                                © Foto: BDZV Zumbansen

Führung des Verbands vorsieht.                            schlank und flexibel aufgestellt
                                                          „Dies ist ein weiterer Meilenstein in der Verbands-
Dreiköpfiger Vorstand ersetzt bisheriges ­Präsidium       geschichte“, erklärte der scheidende BDZV-Präsi-
Diese wurde am 23. November 2022 auf der Dele-            dent Dr. Mathias Döpfner, zugleich Vorstandsvorsit-
giertenversammlung, dem obersten Beschluss-               zender Axel Springer SE, auf der außerordentlichen

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Relevant - Bereit zum Aufbruch Trotz schwerem Gepäck: Raus aus den Krisen - rein in die Veränderung. Was für die Medienbranche jetzt ansteht.
Dr. Mathias Döpfner
(m.) wird von den
BDZV-Vizepräsiden-
ten Valdo Lehari jr.
(li.) und Christian
DuMont Schütte (re.)
bei einer außeror-
dentlichen Delegier-
tenversammlung im
November 2022 in
Berlin aus dem Amt
verabschiedet.

Delegiertenversammlung, der sein Amt nach ins-          1   BDZV-VORSTAND
gesamt sechs Jahren niederlegte.
„Wir leben in stürmischen Zeiten“, ergänzte Döpf-           GESCHÄFTSFÜHRENDER ­VORSTAND
ner mit Blick auf die Herausforderungen durch               •   2 Vorsitzende (Ehrenamt)
die Pandemiefolgen, den Krieg in der Ukraine                •   1 Vorsitzende (Hauptamt)
und eine zunehmende gesellschaftliche Spal-
tung. Doch sei der BDZV so schlank, flexibel und
                                                            WEITERE VORSTANDS­MITGLIEDER
professionell aufgestellt, dass die Verlegerorga-
nisation auch bei schwierigen wirtschaftlichen              •    orsitzende der Landesverbände/GF LV
                                                                V
Bedingungen die gemeinsamen Interessen der                  •   Vertreter Verlagsgruppe Direkt­
Branche unter neuer Führung weiterhin erfolg-                    mitglieder
reich vertreten werde.                                      •    Kooptierte Mitglieder (ehemaliges
Für den BDZV heißt es nun, die neue Führungs-                     Präsidium)
struktur mit Leben zu füllen. Für die Vorstands-
posten werden engagierte Ehrenamtler gesucht,
                                                        2   DELEGIERTEN-/MITGLIEDER­
die von den Delegierten gewählt werden. Diese
neue Startelf soll die kulturelle und inhaltliche
                                                            VERSAMMLUNG
Weiterentwicklung des Verbands prägen. Es geht              •    Vorsitzende der Landesverbände/GF LV
darum, die Kräfte der Branche zu bündeln und                •   Vertreter Verlagsgruppe Direkt­mitglieder
sich auf allen Ebenen für die Rahmenbedingun-               •    Delegierte
gen einzusetzen, die für eine wirtschaftlich er-            •    Kooptierte Mitglieder
folgreiche Zukunft nötig sind. «

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„Fokussiert euch!“
ANWENDUNG Digitalisierung: Sie verlangt nach neuem
Denken, neuen Arbeitsweisen, neuen Prozessen. Julia Bönisch
verantwortet die digitale Transformation bei der Stiftung Waren-
test und weiß, was dieser Umbruch bedeutet.
VON ANDREA GOURD

            F
                   rau Bönisch, Sie haben einmal          es auch schwierig, jemanden damit
                   gesagt, die digitale Transfor-         zu beauftragen, der explizit in einem
                   mation zu managen sei ein              Bereich angedockt ist. Wir brauchen
            Vollzeitjob. Das könne man nicht so           gemischte Teams und den abteilungs-

                                                                                                                          © Fotos: Hendrik Rauch/Stiftung Warentest
            nebenher machen. Was heißt das für            übergreifenden Blick auf alle Bereiche.
            die Organisationsstruktur eines Me-           Anders kann ich gar nicht gewährleis-
            dienhauses?                                   ten, dass ich alle Perspektiven auf ein
            Julia Bönisch: Meist ist das Thema            Thema berücksichtige.
            Transformation in den Chefredaktio-           Und, ebenfalls ein wichtiger Erfolgs-
            nen angedockt, die das zum Tagesge-           faktor: Wer den Wandel managt, muss
            schäft on top machen müssen. Wenn             in der Hierarchie sehr weit oben sein.
            sie aber tagesaktuell arbeiten müssen         Sonst wird so ein Prozess nicht funk- »
            und gleichzeitig online ein 24/7-Ge-
            schäft an 365 Tagen im Jahr steuern,
            dann kann das nicht funktionieren. Sie
            können nicht permanent Großlagen
            wie Corona, einen Ukrainekrieg und
            Wahlen redaktionell begleiten und ne-
            benher einen groß angelegten Trans-              ZUR PERSON Julia Bönisch
            formationsprozess gut und sinnvoll               Julia Bönisch arbeitet seit März 2020 bei der Stiftung
            strukturiert managen.                            ­Warentest als Leiterin Digitale Transformation und Publi-
                                                              kationen und gehört der vierköpfigen Geschäftsleitung
            Gleichzeitig ist die digitale Transfor-
                                                              an. Die 42-Jährige kam von der Süddeutschen Zeitung
            mation bei Weitem nicht nur ein re-               (SZ), wo sie zuletzt Chefredakteurin von sz.de und Mit-
            daktionelles Thema. Es betrifft die               glied der Print-Chefredaktion war.
            komplette Organisation. Deswegen ist                                                       »

POLITIK relevant. 1|2023                              8
Relevant - Bereit zum Aufbruch Trotz schwerem Gepäck: Raus aus den Krisen - rein in die Veränderung. Was für die Medienbranche jetzt ansteht.
9   relevant. 1|2023 POLITIK
Relevant - Bereit zum Aufbruch Trotz schwerem Gepäck: Raus aus den Krisen - rein in die Veränderung. Was für die Medienbranche jetzt ansteht.
96%
                                                                     der Verlage sind der Ansicht,
                                                                     dass die Unternehmenskultur
                                                                     ein wichtiger Erfolgsfaktor ist.

 Die BDZV/­Schickler       »  tionieren. Die digitale Transforma­    gehört dazu – und die sind ja oft auch
 -Trendumfrage             tion ist eine Managementaufgabe, die      gesund. Denn sie führen dazu, dass wir
 zeigt bereits zum
 neunten Mal, was          aus der Chefetage heraus unterstützt      in der Führungsriege immer wieder re-
 die Digitalpubli­         und gelebt werden muss.                   flektieren, ob die Einwände berechtigt
 sher- und Zeitungs-                                                 sind, wir noch auf dem richtigen Weg
 branche beschäftigt.
                            Welche Rolle spielt in diesem Zusam-     sind oder ihn vielleicht noch mal korri-
 Befragt wurden 56
­Geschäftsführer und        menhang die ­Unternehmenskultur?         gieren müssen.
 Verleger, 48 Chef-         Eine zentrale. Es ist ja ein beliebtes
 redakteure und             Missverständnis, dass digitale Trans-    Verlangt das auch nach einer neuen
 27 Digitalpublisher.
                            formation sich hauptsächlich darum       Fehlerkultur?
 Alle Ergebnisse der        dreht, neue Messsysteme einzufüh-        Ja. Aber: Dazu sollte man im eigenen
 aktuellen Studie           ren oder neue digitale Produkte zu       Haus zunächst klären, was damit ge-
­(Februar 2023)
 finden Sie hier:           launchen. Sie bedeutet vielmehr ei-      meint ist. Denn natürlich ist es nicht
                            nen Kulturwandel im ganzen Haus,         egal, wenn Zeitungen im Aufmacher
                            eine andere Denk- und Arbeitswei-        des nächsten Tages oder wir in un-
                            se und auch eine andere Form der         seren Tests Fehler machen. Das will
                           ­Zusammen­arbeit.                         keiner und das ist auch nicht gemeint
                                                                     mit Fehlerkultur. Wir müssen vielmehr
                           Das klingt nach einer Mammut­aufgabe.     alles dafür tun, dass die Qualität der
                           Das ist es. Und natürlich sind das        Produkte weiterhin mindestens ge-
                                                                     ­
                           manchmal auch schmerzhafte Prozes-        nauso gut ist, sie im Idealfall durch die
                           se. Sie verlangen intern viel Überzeu-    Digitalisierung sogar noch besser wird,
                           gungsarbeit. Niemand verändert sich       weil zum Beispiel die Leserperspekti-
                           gern. Da gibt es auch Widerstände, das    ven mit einfließen.

POLITIK relevant. 1|2023                               10
Was wir aber lernen müssen, ist, Dinge       darum, die Nutzer und Nutzerinnen
intern in Prozessen auszuprobieren,          und ihre Interessen in den Mittelpunkt
neue Formen der Zusammenarbeit zu            zu stellen. Das ist ein Paradigmen-
testen, vielleicht auch Produkte im Klei-    wechsel, der verstanden worden ist.
nen zu launchen und nicht erst, wenn
sie groß und perfekt sind. Denn das ist      Um das Richtige zu messen und es
das Gegenteil von Agilität. Die verlangt:    auch richtig zu interpretieren, braucht
In kleinen Schritten denken und vorge-       es Datenspezialisten. Die zu bekom-
hen, immer wieder die Prozesse über-         men, ist ein großes Problem für die
prüfen. Bei Change-Prozessen und erst        Verlage. Erleben Sie das bei der Stif-
recht bei einem Großprojekt wie der di-      tung Warentest ähnlich?
gitalen Transformation muss man von          Der Fachkräftemangel ist für alle Me-
vornherein einpreisen: Man kann nicht        dienunternehmen ein Riesenproblem.
alles richtig machen. Das zu glauben         Umso wichtiger ist es, dass sich die
wäre naiv. Wenn das so einfach wäre,         Verlage nicht kaputtsparen und so
dann wären wir alle schon viel erfolg-       immer unattraktiver für gute und qua-
reicher, als wir das heute sind.             lifizierte Leute werden. Denn ob ein
                                             Change gelingt, ist am Ende auch eine
Das Umdenken und Neupositionieren            Frage der Ressourcen.
findet ja durchaus statt in den ­Verlagen.
Ja, absolut. Da hat in den letzten Jah-      Change als hoch angedockter Vollzeit-
ren ein enormer Wandel eingesetzt.           job, Rückhalt in der Geschäftsführung,
Auch, was das dateninformierte Arbei-        ein Kulturwandel, der die gesamte Or-
ten angeht. Es gibt diverse Initiativen      ganisation umfasst – haben Sie noch
innerhalb der Branche, die zeigen, dass      weitere Zutaten für eine gelingende
man versucht zu lernen, wie sich Nut-        digitale Transformation?
zerinnen und Nutzer verhalten. Es geht       Was auf jeden Fall noch wichtig ist,
                                             sind eine stete und transparente Kom-
                                             munikation und ein funktionierendes
                                             Narrativ. Wir müssen intern den »

                                             9%
                                             Allerdings finden nur

                                             der Befragten, dass ihre Unter-
                                             nehmenskultur schon ausreichend
                                             zukunftsgerichtet ist.

                               11                              relevant. 1|2023 POLITIK
»  Leuten begreiflich machen, warum               Ich möchte gar nicht beschönigen, dass
                           und mit welchem Ziel wir das Ganze                so ein Veränderungsprozess anstren-
                           machen, warum die Veränderungen                   gend ist. Umso mehr muss es dann
                           sinnvoll sind. Und dabei immer wieder             auch Dinge geben, die Spaß machen,
                           das ganze Haus mitnehmen. Ohne geht               damit die Mitarbeitenden sich weiter-

 Man muss sich klar entscheiden,
was man anpackt – das dann aber
mit ganzer Kraft. Das heißt auch,
alte Dinge auszusortieren und den
Mut zu haben, nicht
alles mitzumachen.
JULIA BÖNISCH, Leiterin Digitale Transformation und Publikationen Stiftung Warentest

                           es nicht. Viele Change-Prozesse schei-            hin mit den Zielen identifizieren und
                           tern, weil man irgendwann durch das               ihren Job gerne machen. Aber auch das
                           Tal der Tränen geht, die Lust und der             gehört zur Wahrheit: Wir werden nicht
                           Elan schwinden. Aber gerade wenn es               immer alle glücklich machen ­können.
                           anstrengend wird, ist es wichtig, nicht
                           nachzulassen. Dabei hilft es, immer               Bei aller Digitalisierung – sehen Sie
                           wieder auch kleine Erfolge und Etap-              für gedruckte journalistische Produk-
                           penziele zu feiern. Das hält die Motiva-          te noch eine Zukunft?
                           tion aufrecht und zeigt: Eure Anstren-            Ja, ich glaube schon, dass es die gibt.
                           gung lohnt sich, es funktioniert, was             Vielleicht nicht mehr für die tägliche
                           wir hier tun.                                     Printzeitung. Aber das Lean-back am

POLITIK relevant. 1|2023                                    12
Wochenende und das Abgeschlossene          drängen wir sie auch nicht, auf Digital
des Gedruckten, das bleibt attraktiv.      umzustellen. Wichtig ist aber, dass wir
Im Internet hat man oft das Gefühl,        allen, die sich online informieren wol-
nie fertig zu werden, weil sich die Welt   len, ein gutes Angebot zur Verfügung
ständig weiterdreht. Das übt einen         stellen. Ich glaube, dass sich digitale
Druck aus, den ich beim abgeschlosse-      und Printnutzung hier gut ergänzen.
nen, kuratierten Produkt nicht habe.
Ich beneide aber keine Tageszeitung        Welchen Rat würden Sie Verlagen
um die aktuellen Rahmenbedingun-           noch mit auf den Weg geben?
gen für Gedrucktes. Papierpreise,          Fokussiert euch! Ich glaube, es wird
Energiekrise, Zustellproblematik – das     oft zum Problem, dass keine Prioritä-
Umfeld ist so schwierig geworden, da       ten gesetzt werden. Sondern man ver-
stellt sich die Frage, ob überhaupt noch   sucht, alles zu machen, jedem Trend­
wirtschaftlich gearbeitet werden kann.     thema gerecht zu werden. Da muss ein
Für die Stiftung Warentest sieht das       Podcast gemacht werden und diverse
anders aus, aufgrund unserer hohen         Newsletter, TikTok muss parallel be-
und stabilen Auflage und der Postzu-       spielt werden, Insta soll auch noch
stellung. Solange unsere Magazine so       funktionieren und die Facebook-Com-
stark und unsere Leserinnen und Leser      munity dürfen wir auch nicht ver-
mit dem Printprodukt glücklich sind,       nachlässigen. So kommt immer eins
                                           obendrauf – bei ohnehin knappen
                                           Ressourcen und kleiner werdenden
                                           Teams. Das kann nicht funktionieren.
                                           Man muss sich klar entscheiden, was
                                           man anpackt – das dann aber mit gan-
                                           zer Kraft. Das heißt auch, alte Dinge
                                           auszusortieren und den Mut zu haben,
                                            nicht alles mitzumachen. Was klar
                                                ist: Es gibt nicht die eine Lösung,
                                                   die für alle passt. Jedes Haus
                                                      hat seine eigene Kultur, sein
                                                       eigenes Publikum. Natür-
                                                        lich hilft es immer, Inspi-
                                                         ration von außen zu holen.
                                                         Aber am Ende muss man
                                                         selbstbewusst genug sein,
                                                        den eigenen Weg zu finden.
                                                       Und aus meiner persönli-
                                                      chen Erfahrung heraus kann
                                                   ich sagen: Das macht Spaß! «

                                    13                               relevant. 1|2023 POLITIK
Schlägt die Europäische Union beim Kampf gegen
­Desinformation und F­ ake News den richtigen Weg ein?

POLITIK relevant. 1|2023                                 14
Gefahren für die
Pressefreiheit in Europa
WISSEN Die Europäische Kommission will gegen die
Verbreitung von Falschinformationen vorgehen. Doch ihr
„Kampf gegen Desinformation“ birgt Gefahren. Es drohen
schwere Eingriffe in Grundrechte und -freiheiten.
VON PHILIPPE MEISTERMANN UND SONJA BOSS

       D
                 esinformation schadet unserer    tionen – ganz gleich, ob wahllos oder
                 Gesellschaft“, verlautbart die   gezielt – die Menschen, die Bürgerin-
                 Europäische Kommission auf       nen und Bürger und insbesondere die
        ihrem offiziellen Internetauftritt. Sie   Wählerinnen und Wähler, in die Irre
        untergrabe das Vertrauen in Institu-      führt. Die vermeintliche Folge: Ver-
        tionen und Medien, gefährde Wahlen,       hängnisvolle Auswirkungen auf den
        verhindere durchdachte Entschei-          gesellschaftlichen Zusammenhalt und
        dungen und beeinträchtige die Mei-        die ­Demokratie.
        nungsfreiheit. „Dass die Bürgerinnen
        und Bürger in großem Umfang Desin-        Der Weg zur Plattformzensur
        formation ausgesetzt sind, einschließ-    2017 wurde die damalige Kommissa-
        lich irreführender oder völlig falscher   rin für Digitales, Mariya Gabriel, daher
        Informationen, ist eine der größten       damit beauftragt, für die EU eine Stra-
        Herausforderungen für Europa“, heißt      tegie zur Bekämpfung von Fake News
        es im 2022 verschärften Verhaltens-       zu entwerfen. „Es ist ganz klar, dass wir
        kodex zur Bekämpfung von Desinfor-        zusätzlich zu den nationalen Geset-
        mation. Die Politik befürchtet, dass      zen und Praktiken einen europäischen
        die Verbreitung von Falschinforma-        Ansatz brauchen“, sagte ­     Gabriel »

                                    15                               relevant. 1|2023 POLITIK
»  damals. „Wenn wir das nicht tun,
                              ­                                      sicherstellen“, so ihre Kampfansage.
                           werden sich die Missbrauchsbeispie-       Die Europäische Kommission begab
                           le nur häufen. Es ist wirklich wichtig,   sich damit auf sehr dünnes Eis. Denn
                           dass wir auf EU-Ebene mehr Kohärenz       während es bei verschiedenen voran-
                                                                     gegangenen Maßnahmen auf Ebene
                                                                     der Mitgliedstaaten, wie dem deut-
                                                                     schen Netzwerkdurchsetzungsgesetz
                                                                     (NetzDG), vornehmlich um die Be-
                                                                     kämpfung von Hasskriminalität und
                                                                     anderer strafbarer Inhalte ging, geht es

      Die sozialen Medien
                                                                     bei der Fake-News- beziehungsweise
                                                                     Desinformationsdebatte insbesondere
                                                                     um rechtmäßige, legale Äußerungen.
 wurden nicht nur als                                                Die potenziellen Gefahren einer sol-
                                                                     chen Strategie für die Meinungs- und

 „digitale Stammtische”                                              Pressefreiheit liegen auf der Hand.

 wahrgenommen,
                                                                     Digitale Stammtische
                                                                     Von Anfang an im Visier der Kommis-
                                                                     sion: Facebook, Instagram, Twitter &

 sondern auch als leicht                                             Co. Die sozialen Medien wurden nicht
                                                                     nur als „digitale Stammtische“ mit

 zu ­missbrauchende                                                  dem einhergehenden Gerede wahrge-
                                                                     nommen, sondern auch als leicht zu

 ­Kanäle, die für
                                                                     missbrauchende Kanäle, die für poli-
                                                                     tische Zwecke, Agitation und Propa-
                                                                     ganda genutzt werden können. Quasi

­politische Zwecke,                                                  als Waffe gegen die Demokratie. Cam-
                                                                     bridge Analytica, Donald Trump und

  ­Agitation und                                                     Steve Bannon, Matteo Salvini und sein
                                                                     Spindoctor Luca Morisi, Jair Bolsonaro

   ­Propaganda ­genutzt
                                                                     und viele mehr haben gezeigt: Wer das
                                                                     Internet und die Netzwerke zu nutzen
                                                                     weiß, kann schnell von der politischen

    werden können. Als                                               Randfigur zur Bedrohung für das Es-
                                                                     tablishment werden und sogar an die

    Waffe gegen die                                                  Macht gelangen.

    ­Demokratie.
                                                                     Falsche Weichenstellung
                                                                     Dabei werfen diese Entwicklungen
                                                                     eine Grundsatzfrage von überragen-
PHILIPPE MEISTERMANN UND SONJA BOSS                                  der Bedeutung auf: Wie können wir

POLITIK relevant. 1|2023                               16
Zusätzlich zu den nationalen
                                                    ­Gesetzen und Praktiken
in Zeiten von Filterblasen, Echokam-                 ­brauchen wir einen
mern, von alternativen Fakten, maß-
                                                      europäischen Ansatz.
losen Übertreibungen, von Hass und
Hetze im Netz noch eine vernünftige                 MARIYA GABRIEL, BULGARISCHE POLITIKERIN
                                                    UND EHEMALIGE KOMMISSARIN
politische Debatte führen und den ge-               FÜR DIGITALE WIRTSCHAFT
sunden demokratischen Diskurs wah-                  UND GESELLSCHAFT
ren? Doch die Politik hat im Eifer des
Gefechts sehr schnell die Todsünde
begangen und den Fehler nicht an der
Funktionsweise der neuen technologi-
schen Kommunikationsmittel festge-
macht, sondern an den Aussagen und
Inhalten selbst.
                                                         Der Verhaltenskodex zur
                                                        ­Bekämpfung von ­Desinformation
Die Überlegungen der Kommis­         sion                wurde 2022 von 34 Akteuren unter-
reichen von der Kennzeichnung                            zeichnet, darunter Plattformen, Soziale
von Falschinformationen auf diesen                       Medien, Technologieunternehmen
                                                         und Vertreter der Zivilgesellschaft.
Plattformen durch sogenannte Fak-                        Gemeinsam verpflichten sich die
tenprüfer bis hin zur Schaffung von                      Teilnehmenden, finanzielle Anreize für
Gütesiegeln für „vertrauenswürdigen                      die Verbreitung von Desinformation
                                                         zu verringern sowie Nutzerinnen und
Journalismus“, wie der Journalism
                                                         Nutzer dabei zu unterstützen, Desin-
Trust Initiative (JTI) von Reporter ohne                 formationen zu erkennen.
Grenzen (RSF). In der Folge wurde im
vergangenen Jahr der verschärfte Ver-
haltenskodex zur Bekämpfung von
Desinformation beschlossen. Darin
verpflichten sich die Plattformen und       Microsoft und Twitter, die zusammen
sozialen Medien unter anderem dazu,         eine maßgebliche, wenn nicht sogar
„der Verbreitung von Desinformation         die fast alleinige Kontrolle über den On-
die Werbefinanzierung zu entziehen“         line-Werbemarkt ausüben, erkennen
oder „das Risiko zu mindern, dass ihre      darin ihre kollektive und individuelle
Dienste zur viralen Verbreitung schäd-      Verantwortung an, zusammenzuar-
licher Informationen beitragen“, indem      beiten, um Desinformation in der Wer-
sie Empfehlungssysteme einsetzen,           bung und in den Medien, einschließ-
„die darauf abzielen, die Prominenz         lich der Publisher, zu ­unterbinden.
verlässlicher Informationen [authori-       Die Markt- und Meinungsmacht der
tative information] zu erhöhen“.            Gatekeeper-Plattformen soll also sozu-
                                            sagen „im Dienst der guten Sache“ ge-
Gatekeeper-Plattformen                      nutzt werden. Die digitalen Torwächter
sind nicht neutral                          sollen Medien, einschließlich Verlagen
Die Unterzeichner des Verhaltensko-         und Publishern, die Falschinformatio-
dex, darunter Google, Meta (Facebook),      nen und vermeintlich „gefährliche »

                                                   17                                       relevant. 1|2023 POLITIK
»  Inhalte“ verbreiten, den Geldhahn        vorzugehen, scheint die Kommission
                           zudrehen. Sie sollen „vertrauenswür-        den Gatekeepern immer mehr Macht
                           dige Informationen“, wie solche aus         übertragen zu wollen, um gegen uner-
                           staatlichen, institutionellen und Regie-    wünschte Inhalte auf ihren Diensten
                           rungsquellen, besser hervorheben. Der       vorzugehen. Die Binsenweisheit „don’t
                           Verhaltenskodex und der jüngst be-          shoot the messenger“ gilt im digitalen
Im Digital Services        schlossene Digital Services Act (DSA)       Zeitalter nicht mehr. Im Gegenteil.
Act (DSA) wurden           sollen ihnen die dazu notwendige            Die sozialen Medien sind keineswegs
die Pflichten digitaler
Dienste, die als Ver-      Handlungsfreiheit und die notwendi-         neutrale Vermittler, die Nachrichten
mittler fungieren und      gen Kompetenzen übertragen.                 und Aussagen lediglich an einen geziel-
Verbrauchern den           Die Vizepräsidentin der EU-Kommis­          ten und von vornehinein identifizierten
Zugang zu Waren,
                           sion, Veřa Jourová, betont gerne, dass      Verteilerkreis überbringen und nicht
Dienstleistungen und
Inhalten ermögli-          sie kein „Wahrheitsministerium“ schaf-      darüber urteilen, was verbreitet wird.
chen, festgehalten.        fen möchte, kein „Ministry of Truth“.       Sie verstärken und amplifizieren Inhalte
Der Fokus liegt            „Ich habe vor 1989 in einem System ge-      nach Belieben und hauptsächlich nach
dabei auf Verbrau-
cherschutz und             lebt, in dem es nur eine Wahrheit gab,      dem Maßstab: Was bringt die meisten
Transparenz.               keinen Pluralismus der Medien, der          Klicks, das höchste Engagement und
                           Meinungen oder gar der Gedanken“,           die meiste Aufmerksamkeit? Denn für
                           betonte sie 2020 in einer Rede zur Be-      Facebook & Co. gilt: Je mehr Zeit die Nut-
                           kämpfung von Desinformation im Rah-         zerinnen und Nutzer auf ihren Diensten
                           men der Pandemie. Doch statt gegen          verbringen, mit den Inhalten interagie-
                           die Meinungsmacht der Plattformen           ren und damit Werbung ausgesetzt sind,
                                                                       desto mehr Geld verdienen sie.

                                                                       Zensur durch Social-Media-Plattformen
                                                                       Die Plattformen daher dazu aufzufor-
                                                                       dern und darin zu bestärken, gegen

                                                                 ZUR PERSON Philippe ­Meistermann
                                                                 Philippe Meistermann leitet das Büro des BDZV in
                                                                 Brüssel und vertritt dort die Interessen der Zeitungs-
                                                                 verlage und Digitalpublisher. Er verfolgt die medien-
                                                                 politischen Entwicklungen auf europäischer Ebene
                                                                 aus nächster Nähe und setzt sich für die Presse-
                                                                 und Meinungsfreiheit ein.

POLITIK relevant. 1|2023                                18
Desinformation und vermeintlich „ge-      der Hypothese auseinandersetzten,
                                                    fährliche Inhalte“ vorzugehen, kann       das Coronavirus sei menschlichen Ur-
                                                    nur fehlschlagen. Die Plattformen         sprungs und entstamme aus einem La-
                                                    verfolgen mit ihrem Vorgehen ledig-       borunfall in Wuhan. Die Entscheidung
                                                    lich eigene Interessen, nie aber die      wurde erst rückgängig gemacht, als
                                                    Achtung und Wahrung unserer Grund-        Joe Biden eine offizielle Untersuchung
                                                    rechte und -freiheiten wie der Presse-    dieser Vermutung anordnete. Im März

                               Statt gegen die Meinungsmacht der
                              Plattformen vorzugehen, scheint die
                              Kommission den Gatekeepern immer
                              mehr Macht übertragen zu wollen, um
                              gegen unerwünschte Inhalte auf ihren
                              Diensten vorzugehen.
                              PHILIPPE MEISTERMANN UND SONJA BOSS

                                                    und Meinungsfreiheit. Eine Vielzahl       2022 sperrte Google in der EU im Zuge
                                                    an Gegenbeispielen hat dies immer         der Maßnahmen gegen russische
                                                    wieder bewiesen. 2016 entfernte Face-     Staatsmedien den YouTube-Kanal ei-
                                                    book die Titelseite der norwegischen      nes der letzten verbleibenden liberalen
                                                    Zeitung Aftonbladet, weil sie das be-     russischen Medien, Ekho Moskvy. Die
© Foto: Bernd Brundert/BDZV

                                                    rühmte Foto von Phan Thi Kim Phuc,        Plattformen werden so zu staatlich be-
                                                    dem sogenannten „Napalm Girl“, ab-        förderten „Zensoren“. Zu glauben, man
                                                    bildete. Zum Höhepunkt der Pandemie       könne diese enorme Markt- und Mei-
                                                    sperrte Facebook Posts, einschließlich    nungsmacht leiten oder steuern, er-
                                                    journalistischer Beiträge, die sich mit   scheint bestenfalls einfältig.        »

                                                                                19                              relevant. 1|2023 POLITIK
ten versuchen, vor allem in Osteuro-
                                                                      pa, die Medien unter ihre Kontrolle zu
                                                                      bringen. Sie will daher mit dem EMFA
                                                                      für mehr redaktionelle Unabhängig-
                                                                      keit sorgen und sicherstellen, dass
                                                                      Journalisten und Redaktionen frei
                                                                      von jedem externen Einfluss ihre Ar-
                                                                      beit tätigen können. Grundsätzlich ein
                                                                     ­lobenswertes Ziel.
                                                                      Doch der Vorschlag befasst sich auch
                                                                      mit dem Schutz dessen, was wir in
                                                                      Deutschland als „innere Pressefreiheit“
                                                                      kennen. Diese „innere Pressefreiheit“
                                                                      bezeichnet dabei die politische und ju-
                                                                      ristische Debatte um die Bestimmung
                                                                      und Auslotung der Position des Verle-
ZUR PERSON Dr. Sonja Boss                                             gers und der Redaktion selbst. Sie ist
Dr. Sonja Boss ist die Justiziarin des BDZV und verantwor-            die Gegenposition zur „äußeren Pres-
tet sämtliche rechtlichen Themen und Fragestellungen der              sefreiheit“, die sich unmittelbar aus
Zeitungsverlage und des Verbandes, einschließlich deren
                                                                      dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1,
Vertretung gegenüber den Sozialpartnern. Die Fachanwältin
für Arbeitsrecht berät Mitglieder zu Fragen rund um Arbeits-          S. 2 des Grundgesetzes ergibt: dem
und ­Sozialversicherungsrecht.                                        Schutz der Einzelnen vor staatlichen
                                                                      Maßnahmen als Individualgrundrecht
                                                                      und die Gewährleistung der institu­
                                                                      tionellen Garantie der freien Presse
                                                                      mit der grundrechtlich verankerten
Das europäische            »  Doch die Europäische ­Kommission        Freiheit zur Gründung von Presseor-
Medienfreiheits-           beabsichtigt, noch einen Schritt weiter    gangen sowie dem freien Zugang zu
gesetz (EMFA) soll
zum Schutz des             zu gehen: Der geplante European ­Media     den Presseorganen.
Pluralismus und der        Freedom Act (EMFA) soll eigentlich zur
Unabhängigkeit der         Wahrung der Freiheit und Vielfalt der     Die EU mischt sich ein
Medien in der EU
                           Medien beitragen, aber die Pläne könn-    Ob und in welchen Grenzen der Redak-
beitragen. BDZV
und MVFP warnen            ten nach hinten losgehen.                 tion ein Autonomiebereich im Verhält-
vor der Gefahr von                                                   nis zum Verleger (Presseunternehmer)
politischer Ver-            Droht eine europäische                   zuzustehen ist, ist auch in Deutsch-
einnahmung und
fordern grundlegen-        ­Medienaufsicht?                          land immer wieder Gegenstand von
de Änderungen am            Die sozialen Medien als Zensoren ein-    politischen Debatten. Juristisch ist die
                                                                                                                © Foto: Bernd Brundert/BDZV

Vorschlag.                  zusetzen, scheint der Kommission         Frage, ob Art. 5 I, 2 Grundgesetz den
                            zum Erreichen ihrer Ziele noch nicht     Staat zum Schutz der Journalisten
                            genug zu sein. Die EU ist – zu Recht –   und Journalistinnen auch gegenüber
                            besorgt darüber, dass Oligarchen und     ihrem Verleger verpflichtet, ob also
                            einige Staaten mit böswilligen Absich-   die „innere Pressefreiheit“ von Verfas-

POLITIK relevant. 1|2023                                       20
sungs wegen gewährleistet sein muss,     wichtige Grundpfeiler und Grundsätze
noch nicht völlig geklärt. Das Bundes-   unserer Gesellschaft und Lehren aus
verfassungsgericht hat die Frage, ob     unserer Geschichte einfach so von der
und gegebenenfalls in welchem Um-        Hand zu weisen, wäre ein großer Feh-
fang Redakteuren entsprechende pub-      ler. Wir müssen darauf vertrauen, dass
lizistische Mitgestaltungsrechte durch   die Europäische Union ihren Werten
Gesetze zugesprochen werden dürfen,      von Freiheit, Demokratie und Rechts-
das heißt ob auch die Einflussnah-       staatlichkeit treu bleibt und die Euro-
me von Redakteuren einen solchen         päische Kommission tatsächlich alles
mit der Tendenzfreiheit des Verlegers    in die Wege leitet, um die Freiheit und
unvereinbaren Einfluss darstellt, aus-   Vielfalt der Medien in Europa zu wah-
drücklich offengelassen.                 ren und zu schützen. Dafür müsste sie
Jetzt droht also die Gefahr, dass sich   allerdings sowohl im Kampf gegen die
die EU in das Verhältnis zwischen        Desinformation wie auch im EMFA von
Journalisten und Verlag einmischt        solchen gefährlichen Unternehmun-
und Regeln vorschreibt oder zumin-       gen absehen. Ihre weltweite Ausstrah-
dest Empfehlungen darüber abgibt, in     lung als Raum der Freiheit und der De-
welchem Rahmen sich dieses Verhält-      mokratie kann die Europäische Union       Digitale Medien-
nis abzuspielen hat.                     nur erhalten, wenn sie die Presse- und    kommunikation
                                                                                   stellt die EU vor
                                         Meinungsfreiheit auch im 21. Jahrhun-     neue Heraus­
Pressefreiheit bewahren                  dert wahrt und aufrechterhält. «          forderungen.
Seit Jahren bewegt sich die EU-Ge-
setzgebung mehr und mehr in Rich-
tung einer allgemeinen europäischen
Medienregulierung. Die politischen
Entscheidungsträger berufen sich da-
bei insbesondere auf das Argument
der Medienkonvergenz. Im digitalen
Zeitalter sei es nicht mehr möglich,
eindeutig zwischen verschiedenen
Mediengattungen zu unterscheiden.
Der Pressefreiheit müssten daher im
digitalen Raum eigentlich auch neue
Grenzen gesetzt werden. Dass in die-
sem Kontext auch überlegt wird, die
digitalen Zeitungen und Digitalpub-
lisher, wie den Rundfunk, einer Auf-
sicht zu unterstellen, erscheint dabei
nicht abwegig. Das wäre freilich das
Ende der freien, unabhängigen und
staatsfernen Presse. Im Angesicht von
unbestritten vorhandenen Gefahren

                                                21
„Fairer Wettbewerb wurde
vollständig abgeschafft“
MEINUNG Den Kampf um Aufmerksamkeit und Werbegelder
dominieren die marktbeherrschenden Plattformen. Was die extreme
Asymmetrie der Machtverhältnisse für Politik und Publisher bedeutet,
beantwortet Medienforscher Martin Andree.
VON ANDREA GOURD

POLITIK relevant. 1|2023           22
H
         err Andree, digitale Medien             Realnutzung messen, stehen unsere
         gehören zum Alltag, wir nut-            Ergebnisse im Widerspruch zu reich-
         zen sie ständig. Sie haben die          weitenbasierten Betrachtungen oder
digitale Mediennutzung mit Ihrem                 den Ergebnissen von Befragungen.
„Atlas der digitalen Welt“ erstmals              Dort wird eine Anbietervielfalt sugge-
quantifiziert. Was sind Ihre zentralen           riert, die de facto nicht existiert.
Erkenntnisse?                                    Interessanterweise können wir diesel-
Martin Andree: Unser Atlas stellt zum            be extreme Unwucht jedoch jenseits
ersten Mal die Gesamtheit der digi-              unserer Studie auch in der Verteilung
talen Mediennutzung dar. Für alle                der Werbeinvestitionen innerhalb
Angebote, egal wie groß oder wie un-             der digitalen Medien erkennen. Denn
bedeutend sie sind, verwenden wir                je nach Studie liegt der Anteil der
immer denselben Maßstab, nämlich                 Top-3-Plattformen (Alphabet, Meta,
die aggregierte Nutzungsdauer für die            Amazon) in den Ländern der Welt zwi-
deutsche Gesamtbevölkerung. Deshalb              schen 80 und 90 Prozent. Plakativ ge-
können wir auch erstmals alle existie-           sprochen, müssten sich die Urheber
renden Angebote präzise miteinander              der Befragungen ja wundern, warum
vergleichen. Unsere Messungen bele-              jenseits der Plattformen so wenig Wer-
gen eine extreme Traffic-Konzentra-              bung geschaltet wird, obwohl so viele
tion, vereinfacht gesagt: Ganz wenige            Menschen behaupten, diese Inhalte zu
haben fast alles, alle anderen so gut            nutzen. Die Antwort ist einfach: Weil
wie nichts. Die Top-4-Digitalkonzer-             die echte Nutzung dort in Wirklich-
ne, also Alphabet, Meta, Amazon und              keit viel geringer ist, als es in solchen
Apple, erzielen etwa 45 Prozent des              Studien erscheint. Die werbetreiben-
gesamten Traffics. Wir sehen eine ext-           den Unternehmen handeln hier also
reme Dominanz des Plattformmodells:              durchaus rational: Sie investieren ganz
Von den größten zehn Angeboten sind              einfach dort, wo die Aufmerksamkeit
neun Plattformen.                                des P­ ublikums ist.

Nicht nur auf der Inhaltsebene, auch             Wie beurteilen Sie die Entwicklungs-
im digitalen Werbemarkt gibt es eine             möglichkeiten von digitalen Geschäfts-
massive Schieflage zugunsten der                 modellen der Verlage vor dem Hinter-
großen Plattformen. Inwiefern?                   grund dieser Plattformökonomie?
Die extreme Ungleichverteilung der di-           Durch den Konzentrationssog der
gitalen Werbeinvestitionen ist tatsäch-          Plattformen sitzen die Medienschaf-
lich ein sehr starker Beleg dafür, wie           fenden in einer Falle, und es wird im-
genau unsere Messungen die Wirklich-             mer schwieriger werden, hier Lösun-
keit wiedergeben. Kurios ist ja: Weil wir        gen zu finden. Plakativ gesprochen »

                                            23                                 relevant. 1|2023 POLITIK
»  ist die Kernfrage, ob man Content         Practices es gibt. Wir müssten daher
                           ­ ratis anbietet oder auf Paid setzt. Aus
                           g                                            offensiv angehen, wie wir das Hor-
                           der Perspektive unserer Messungen ist        rorszenario für die Branche abwenden
                           nach wie vor der überwältigende Teil         können. Was wäre denn, wenn die Mas-
                           des genutzten Contents gratis. Gratis-       se der Menschen in Zukunft vor allem
                           content ist aus ökonomischer Pers-           durch Gratis User Generated Con­tent
                           pektive jedoch Selbstmord, zumal man         aus den Plattformen bedient wird – in
                           damit die Plattformen noch zusätzlich        der charakteristischen Mischung aus
                           weiter füttert. Also bleibt als einziger     Clickbait, Fake News, Meinungsmache
Laut BDZV/                 Ausweg der bezahlte Content. Weil die        und so fort?
ZMG-Studie „Digi-          Bereitschaft zur Zahlung im Netz aber        In der großen Mitte der Mediennutzung
taler Journalismus“
geben 78 Prozent           gering ist, bedeutet dies, dass man als      würden die Plattformen das Gros des
derjenigen, die noch       Medienunternehmen eine äußerst prä-          Traffics auf sich ziehen, allein schon
nicht für journalis-       zise Value Proposition, also ein kon-        wegen ihrer unschlagbaren Kosten-
tische Inhalte im
                           kretes Nutzenversprechen, entwickeln         vorteile. Aber auch an den Rändern
Internet bezahlt
haben, als Grund an,       muss, das so enorm viel Wert für Nut-        hätten sie einen unfairen Vorteil da-
dass es ausreichend        zer bietet, dass sie bereit sind, dafür zu   durch, dass sie Inhalte algorithmisch
kostenlose Inhalte im      zahlen. Exakt hier haben viele Medien-       targetieren und personalisieren kön-
Web gebe. Das Gra-
tisangebot drosselt        unternehmen oft strategische Positio-        nen – und hier je nach Zielgruppe ra-
also die Zahlungsbe-       nierungsschwächen, die sie konsequent        dikalere Beiträge ausspielen können,
reitschaft.                angehen müssten.                             die dort besser einschlagen. Für die
                                                                        Plattformen ist diese zweifelhafte „Sie-
                           Wie können oder sollten sich Medien          ger“-Strategie leicht formuliert: In die
                           denn positionieren, um im digitalen          Mitte Mainstream, in die Pole extre-
                           Markt erfolgreich zu sein? Sehen Sie         mere Inhalte, das alles gratis und ohne
                           da innovatives Potenzial in den Ver-         Verbreiterhaftung.
                           lagshäusern?                                 Natürlich können wir jetzt für die Ver-
                           Das ist eine echte Herausforderung,          lage innovative Ansätze aufgreifen,
                           denn wir sehen ja alle, wie wenige Best      wie etwa Sebastian Turners Ruf nach
                                                                        Domänenkompetenz. Solche Auswege
                                                                        haben aber ebenfalls eine dunkle Seite,
                                                                        denn das würde bedeuten, dass sich sol-
                                                                        che bezahlten Inhalte zukünftig immer
                                                                        mehr an eine sehr kleine Schicht von
INFO Domänenspezifische Kompetenz                                       Profis, Opinion Leader sowie Unterneh-
Als „domänenspezifische Kompetenz“ beschreibt Sebastian Turner,         men richtet – weil im klassischen Me-
Herausgeber Table.Media, die gründliche Kenntnis von Zusammen-          dienbusiness die Plattformen einfach
hängen. „Nur mit dieser Domänenkompetenz können die Medien ihre
                                                                        in allen Dimensionen massiv über-
gesellschaftliche Rolle wahrnehmen – als unabhängiges Frühwarn-
system, bevor Entscheidungen getroffen und Entwicklungen weit           vorteilt und privilegiert sind, hier also
fortgeschritten sind.“                                                  quasi kaum noch massenfähige Game­
                                                                        changerkonzepte realisierbar sind. Wenn

POLITIK relevant. 1|2023                                 24
ZUR PERSON Dr. Martin Andree
                            Dr. Martin Andree ist Digital- und Marke-
                            tingexperte. Der habilitierte Medienwissen-
                            schaftler unterrichtet digitale Medien an der
                            Universität Köln und ist Gründer und CEO von
                            AMP Digital Ventures. Seine Medienforschung
                            verbindet Andree mit einer 20-jährigen Pra-
                            xiserfahrung im digitalen Marketing. Auf dem
                            BDZV-Jahreskongress im September 2022
                            hatte Andree über die Rolle der Digitalkonzer-
                            ne im Kontext des ­Ukrainekriegs informiert.

                         Medienunternehmen hier nicht schnell                der digitalen Medien vollständig abge-
                         zu langfristig tragfähigen strategischen            schafft. Durch unsere jahrzehntelange
                         Positionierungen finden, wird der seit              politische Tatenlosigkeit gefährden wir
                         Jahren stattfindende digitale Disrupti-             tatsächlich die Grundlage unserer De-         Google sammelt eine
                         onsprozess gnadenlos weiterlaufen.                  mokratie. Wir waren naiv, als wir dach-       gigantische Menge
                                                                                                                           an Daten und kann
                                                                             ten, die Plattformen könnten diese Rolle      die eigenen Dienste
                         Mit fatalen Konsequenzen. Schließlich               in der Zukunft mitgestalten. Wenn in          immer weiter opti-
                         hat fehlender oder unfairer Wettbewerb              der digitalen Zukunft aber ganze Me-          mieren. Das stellt
                                                                                                                           eine große Hürde für
                         im Medienmarkt unter Umständen                      diengattungen einzelnen Privatunter-
                                                                                                                           den Wettbewerb dar.
© Foto: BDZV/Zumbansen

                         weitreichende Konsequenzen für gesell-              nehmen gehören, dann ist es auch um           Der BDZV fordert
                         schaftliche Diskurse und letztlich für              die Freiheit der Medien geschehen. Die        deswegen neue Re-
                         das Funktionieren unserer Demokratie.               Twitter-Übernahme von Elon Musk gibt          gelungen im Umgang
                                                                                                                           mit marktdominan-
                         Wie konkret sehen Sie diese G
                                                     ­ efahr?                uns einen ersten Vorgeschmack auf das,        ten Plattformen und
                         Fairer Wettbewerb wurde auf dem Feld                was uns in Zukunft bevorsteht.         »      Aggregatoren.

                                                                                    25                                  relevant. 1|2023 POLITIK
Alle Initiativen bringen nichts,
solange man nicht den Status
quo der Monopole infrage stellt.
MARTIN ANDREE, DIGITAL- UND MARKETINGEXPERTE

                           »  Braucht es angesichts der Macht-       Die Politik kann umgekehrt aber nur
                           strukturen im Digitalen nicht einen       Themen aufgreifen, die durch das
                           gesellschaftlichen Aufschrei, einen       Agendasetting der Medien in der Öffent-
                           Bewusstseinswandel in Politik und         lichkeit bereits Relevanz besitzen. Des-
                           Gesellschaft?                             halb führt kein Weg daran vorbei, dass
                           Fatalerweise haben ausgerechnet die       die Medien über ihren Schatten sprin-
                           redaktionellen Medien das Thema bis-      gen und diesem Thema eine sehr hohe
                           lang weitgehend ausgeblendet. Ihre        Priorität einräumen, bevor es zu spät ist.
                           Rolle hier ist allerdings nicht leicht,
                           weil sie in dieser medienpolitischen      Was müsste angesichts der dominie-
                           Angelegenheit selbst Betroffene sind –    renden Position der GAFAs auf Seiten
                           ihre Kritik würde also naturgemäß als     des Gesetzgebers passieren? Bereits
                           parteiisch und voreingenommen, qua-       mehrfach hat die EU Milliardenstra-
                           si als Lobbyismus für die Presse, wahr-   fen gegen Google wegen seines Ge-
                           genommen werden.                          schäftsgebahrens verhängt. Hat das
                                                                     überhaupt eine Wirkung? Und wenn
                                                                     nein: Was hätte Wirkung?
                                                                     Alle Initiativen bringen nichts, solange
                                                                     man nicht den Status quo der Monopo-
                                                                     le infrage stellt. Wenn wir als Gesell-
                                                                     schaft mutig und kreativ handelten,
                                                                     gäbe es viele interessante Lösungsop­
                                                                     tionen: Wir könnten geschlossene
                                                                     Standards für alle Plattforminhalte
                                                                     verbieten. Wir könnten Plattformen
                                                                     zwingen, den Contenturhebern zu er-
                                                                     lauben, auf allen Ebenen Outlinks zu
                                                                     setzen, sodass User die Silos der Platt-
                                                                     formen jederzeit verlassen können.
                                                                     Wir könnten die Monetarisierung straf-
                                                                     barer Inhalte durch die Plattformen in-

POLITIK relevant. 1|2023                               26
frage stellen. Wir könnten die Digital-      werden wir in einigen Jahren sehen –
konzerne zwingen, eine ökonomische           aber dann ist erneut zu viel wertvolle
Trennung zwischen Übertragungsweg            Zeit verstrichen. Besonders tragisch
und Inhalten durchzuführen, um die           daran ist, dass die vielen Kommenta-
Plattformen für Wettbewerb zu öffnen.        re aus den redaktionellen Medien über
Dagegen werden die gutgemeinten In-          den DMA in einer überwältigenden
itiativen des „Digital Markets Act“ an       Mehrheit positiv in der Einschätzung
den existierenden marktbeherrschen-          waren. Die Digitalkonzerne dürften
den Stellungen nichts substanziell           also sehr zufrieden sein mit dem Lauf
ändern. Diese Situation ist gefährlich –     der Dinge. «
denn die Politik wird jetzt erst einmal
abwarten wollen, was die neuen Ge-
setze bringen. Dass sie nichts bringen,

                      Alle medienpolitischen Themen des BDZV finden Sie
                      unter: www.bdzv.de/alle-themen/medienpolitik

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lisher müssen ihre Leistungen mehr
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für Leser und Werbemarkt attraktiv
sein wollen. Dazu braucht es valide
Reichweiten- und Nutzungsdaten.
Deren Erhebung befindet sich im
Umbruch.
VON ANDREA GOURD

           W
                       enn man Gerhard Müller
                       nach seiner wichtigsten
                       persönlichen Erfahrung aus
           den vergangenen Berufsjahren fragt,
           zögert er nicht lange mit der Antwort.
           „Vertrauen. Nur mit einer gemeinsa-            allen tragbare Kompromisse gekämpft.
           men Vertrauensbasis und der sozialen           Konsens – das ist der Auftrag der All-
           Kompetenz, auch bei unterschiedli-             media-Dachorganisation.
           chen Ausgangspositionen lösungsori-            Leicht war das nicht immer, sagt Mül-
           entiert zusammenzuarbeiten, bist du            ler. Aber es ist gelungen. Die Reichwei-
           erfolgreich.“                                  ten und Standards der Agma sind die
           Eine Erfolgsformel, die für Müller es-         anerkannte Werbewährung im deut-
           senziell ist. Als Vorstand Tageszeitun-        schen Markt. Das soll so bleiben. Weil
           gen bei der Arbeitsgemeinschaft Me-            sich aber die Mediennutzung und die
           dia-Analyse (Agma) hat er sich viele           Anforderungen an die Mediaplanung
           Jahre leidenschaftlich für die Zeitun-         grundlegend verändert haben, ist auch
           gen eingesetzt, im Austausch mit den           die Agma im Begriff, ihre Reichwei-
           Spitzenvertretern anderer Medien und           tenerhebung auf eine gänzlich neue
           der Werbewirtschaft aber auch für von          Grundlage zu stellen.

MARKT relevant. 1|2023                               28
TREFFER
                                                                6 1 %
                                                               Die Frankenpost erreicht 61 %
                                                                 aller Menschen in ihrem
                                                                    Verbreitungsgebiet.

                                                                                       Welche Marken-
                                                                                       reichweite ein Titel
                                                                                       insgesamt erzielt,
                                                                                       zeigt sich erst, wenn
                                                                                       die verschiedenen
Markenreichweite aus Print & Online      unterschiedliche Zielgruppen? Das             Ausspielkanäle zu-
Konvergente Reichweiten sind das         bekomme ich nur raus, wenn ich eine           sammen betrachtet
Gebot der Stunde. „Letztlich geht es     Konvergenzdatei über eine Marken-             werden. Für die Ge-
                                                                                       samtschau braucht
um die Markenreichweite einer Ta-        reichweite erhebe.“
                                                                                       es daher crossme­
geszeitung“, erläutert Müller den et-    Also weg von der separaten Betrach-           diale Reichweiten
was sperrigen Begriff. „Medien bieten    tung von gedruckten und digitalen             aus Print und Digital.
ihre Inhalte heute auf allen verfügba-   Reichweiten und hin zu einem Mess-
ren Wegen an. Die Leser entscheiden,     wert, der beide Welten miteinander
wann und wie sie etwas nutzen. Für       verbindet. Gebildet durch ein aufwen-
Verlage ist es aber wichtig zu wissen,   diges Fusionsverfahren, in der Anwen-
wie viele und welche Menschen sie        dung aber denkbar einfach: Mit einem
über welchen Kanal erreichen. Gibt es    Klick ist für jeden sichtbar, wie hoch
Überschneidungen bei der Print- und      die Gesamtnutzung einer Zeitungs-
Onlinenutzung oder sind das völlig       marke ist. Für jeden einzelnen Titel »

                                               29                                   relevant. 1|2023 MARKT
schenden Erkenntnissen. So ist es die
                                                                   Frankenpost aus Hof, die das Ranking
                                                                   der Regionalen anführt. Sie erreicht
                                                                   täglich rund 61 Prozent aller Personen
                                                                   in ihrem heimischen Verbreitungsge-
                                                                   biet und damit mehr als alle anderen
                                                                   an der Ausweisung beteiligten Zei-
                                                                   tungstitel. Erst die neue Konvergenz-
                                                                   datei eröffnet den Blick darauf, wie gut
  Die Neuaufstellung bei der Reich-                                Publisher ihr jeweiliges Marktpoten­
weiten-Erhebung zeigt, wie wichtig                                 zial ausschöpfen.
für die Verlage das geschlossene
Auftreten ist – und wie unerlässlich                               Notwendig für die Vermarktung
                                                                   Nicht nur für die Verlage sind die
die koordinierende Verbandsarbeit.                                 kombinierten Print-Online-Reichwei-
Der BDZV hat den gesamten Prozess                                  ten als Gradmesser für den Erfolg im
schnell, effizient und erfolgreich                                 eigenen Verbreitungsgebiet und für
organisiert, vom ersten Aktionsplan                                das Benchmarking von publizistischen
                                                                   Angeboten essenziell. Sie sind es auch
über die internen Abstimmungen und                                 für eine zeitgemäße Vermarktung.
Informationsveranstaltungen bis zur                                Denn ohne Reichweiten- und Struk-
wirkungsvollen Durchsetzung der                                    turdaten gibt es keine Mediaplanung
Mitgliedsinteressen. Das war eine                                  – und keine Buchung. „Die einheitli-
                                                                   che Kennzahl für die Leistungsstärke
Top-Verbandsarbeit!                                                einer Zeitungsmarke war eine zentra-
ANDREAS SCHMUTTERER, VERLAGSLEITER                                 le Forderung der Werbekunden“, weiß
AUGSBURGER ALLGEMEINE
                                                                   Müller. Und fügt hinzu: „Wir dürfen
                                                                   ruhig ein wenig stolz sein, dass wir
                                                                   dieses Gemeinschaftsprojekt zusam-
                                                                   men mit der Arbeitsgemeinschaft On-
                                                                   line-Forschung (Agof) so erfolgreich
                                                                   geschultert haben. Es ist ein wichtiger
                         »  und sein lokales und regionales Ver-   Baustein für die Zukunftsfähigkeit der
                                                                                                              © Foto: Bernhard Weizenegger

                         breitungsgebiet.                          Reichweitenmessung.“
                         Im Oktober 2022 hat die Agma erstmals     Für Gerhard Müller soll es der letzte
                         solche konvergenten Leser- und User-      Meilenstein in seiner Gremientätig-
                         zahlen von 130 Zeitungstiteln veröf-      keit sein. Ein Lächeln huscht über sein
                         fentlicht. Mit großem Echo und überra-    Gesicht, als er sagt: „Ich bin jetzt vom

MARKT relevant. 1|2023                               30
11 %                     11 %
                                  Zeitschriften          Tageszeitungen

               11 %                                                                 11 %
              Radio/Audio                                                            Internet

                                    Agma Stimmen­verhältnis

            11 %                                                                        11 %
           Out of Home                                                                      TV

                                   34 %           Werbeagenturen/
                                                  Werbungtreibende

Spielfeld auf die Zuschauertribüne ge-
wechselt.“ Zum Jahreswechsel hat er
sein Amt an Alexander Potgeter über-
geben. Der neu gewählte Vorstand Ta-
                                                       INFO Über die Arbeitsgemeinschaft
geszeitungen ist kein Unbekannter. Als
                                                       Media-Analyse (Agma)
Mitglied der technischen Kommission                    Die Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse e.V. ist eines der
war der ZMG-Geschäftsführer schon                      großen Joint Industry Committees, kurz JIC, im deutschen
                                                       Markt. Ihr Ziel ist es, gemeinsam und partnerschaftlich
an der Geburtsstunde der Konvergenz-                   Mediaforschung von höchster Qualität anzubieten. Dafür
datei maßgeblich beteiligt. Dass er das                erhebt die Agma transparent und medienübergreifend die
Amt in einer Zeit gravierender Umbrü-                  Reichweiten- und Mediennutzungsdaten von Zeitungen, Zeit-
                                                       schriften, Radio, Fernsehen, Plakat und Internet. Werbung-
che übernimmt, ist Potgeter bewusst.                   treibende Unternehmen und Mediaagenturen sind ebenso
„Die Aufgaben sind groß, keine Frage.                  Mitglied bei dem Verein wie Vermarkter und Medienanbie-
Das wird nicht immer bequem sein,                      ter. Mit den Agma-Analysen können ihre Werbeleistungen
                                                       miteinander und innerhalb einer Gattung verglichen werden.
auch nicht einfach. Davor habe ich Re-
                                                       Dass das einen Interessensausgleich zwischen den mehr als
spekt. Aber wir werden auch künftig                    250 Mitgliedern notwendig macht, liegt auf der Hand. Alle
Lösungen finden, die für unsere Gat-                   Entscheidungen werden konsensual getroffen.
tung die bestmöglichen sind.“         »

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