RUNDBRIEF FOTOGRAFIE Analoge und digitale Bildmedien in Archiven und Sammlungen
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
ISSN 0945-0327 Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] Rundbrief Fotografie, Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] RUNDBRIEF FOTOGRAFIE Analoge und digitale Bildmedien in Archiven und Sammlungen
INHALT EDITORIAL BERICHTE Sonja Feßel Kurt Deggeller 2019–2049 ff. (S. 1) „Das fotografische Kulturerbe im digitalen Zeitalter“: Eine internatio- nale Tagung an der Université de I N H A LT Lausanne, 15./16. November 2018 (S. 52–54) EIN BILD FORSCHUNG Franziska Scheuer Steffen Siegel Ein Bild einer Ausstellung: Wols als Photography Studies an der Folkwang Fotograf des Pavillon de l’Élégance Universität der Künste in Essen 1937 (S. 4–7) (S. 55/56) MEDIENGESCHICHTE LITER AT UR Bernd Stiegler Rezensionen The Digital Turn Revisited. Oder was Noch ein Foto-Auge: Die Wieder wir aus den „Blade Runner“-Filmen entdeckung des Architekten und über die Fotografie lernen können Foitografen Fritz Block (S. 8–18) (Rolf Sachsse) (S. 57/58) Wolfgang Hesse Neu eingegangen Fotografie, Design und Zeichenkunst: Zeitschriftenauswertung Rekonstruktion einer Porträtgalerie gefallener Offiziere des Krieges 1870/71 im Besitz des Stadtmuseums FORTBILDUNG Dresden (S, 19–30) BE S TÄ NDE Mitteilungen Stephan Graf, Birgit Huber, Ankündigungen Aila Özvegyi und Nicole Peduzzi Call for Papers Das Fotoarchiv der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde: Ein Ort Termine der Forschung, der Begegnungen und Affekte (S. 31–40) IMPRES SUM AUSSTELLUNGEN Kathrin Schönegg 100 Jahre Fotografie als abstrakte Kunst: Zur Retrospektive “Shape of Light“ in der Tate Modern, London (S. 41–51)
eiN EI n B b ILD ild ein bild Franziska Scheuer gemeinsam mit Max Vibert ausgestaltet, lag an der Seine an gleich hat die Wols-Forschung schon früh zwischen solchen einem ‚Nebenschauplatz‘, während sich der deutsche und Aufnahmen unterschieden, die „für den kommerziellen Ge- russische Länderpavillon in der Flucht von Eiffelturm und brauch“ [14] gedacht waren, und jenen vom Aufbau, die auf EIN BILD EINER AUSSTELLUNG Palais de Tokyo in Monumentalarchitektur gegenüberstanden. Die überlängten, rosafarbenen Gips-Mannequins des franzö- sischen Bildhauers Robert Couturier, die vor neoklassizisti- Wols’ fotokünstlerisches Interesse an den Einzelbestandteilen der Ausstellung verweisen und ihn, wie im vorgestellten Bei- spiel, zu abstrahierenden Variationen ausgewählter Objekte Wols als Fotograf des Pavillon de l’Élégance 1937 scher Ausstellungskulisse auf terrakottafarbener Erde und anregten. Folgerichtig ergab sich hieraus, wie Nina Schleif unter einem blauen Gewölbe manieristisch verrenkt die Ent- feststellte, „dass die Fotos vom Aufbau in der zeitgenössischen würfe der wichtigsten französischen Modeschöpferinnen und Berichterstattung nicht berücksichtigt wurden, vermutlich Designer präsentierten, erregten dennoch einige Aufmerk- hat Wols sie nicht einmal angeboten.“ [15] samkeit. Die Ausstellungsgestalter hatten die klassische Form Eine zeitliche Zäsur zwischen den in der Aufbauphase, der Warenpräsentation aufgebrochen [6]. Dem Kunstkritiker in der der Künstler eigenen Prämissen der Motivwahl und Laszlo Glozer ist es zu verdanken, die Pressestimmen ge- Komposition folgte, entstandenen Aufnahmen und jenen re- bündelt zu haben, die von einer herrschaftlichen Bühne mit präsentativen Fotografien der fertigen Präsentation, die er Grottenarchitektur sprachen, auf der die Puppen Versteiner- ten gleich wandelten [7]. Wols’ eingangs beschriebene Aufnahme, die während der Aufbauphase entstand, ist von einer Ausstellungsfotografie, „Seine Schwester Elfriede die das Raumerlebnis einzufangen versuchte, weit entfernt. Offensichtlich fasziniert von den „grobschlächtigen Manne- Schulze-Battmann griff nach den quins“ [8], behandelt er deren ‚corps morcelés‘ nicht als not- ersten posthumen Ausstellun- wendige Requisiten der Schau, sondern betrachtet sie sepa- riert als ganz eigenständige „Dinge“ [9]. Mit seiner drastischen gen […] in die nachträgliche Hell-Dunkel-Gestaltung, die auf den Abzügen in stark kont- Abzugspolitik […] ein und forderte rastierende Graustufen resultiert, erzielt er Formenspiele, deren gewächsartige Anmutung sich erst beim Vordringen den Abzug der Negative […] des Blicks in die Bildtiefe klärt. Auch der kontrastarmen, pu- jeweils vom vollständigen Negativ derfarbenen Gestaltung des Pavillon-Interieurs erteilt er so eine Absage und negiert einmal mehr den Auftrag der foto- und ohne Retuschen […].“ grafischen Dokumentation der Ausstellung. Das Mittelformat schließlich drängt die überlängten Gliedmaßen ins Quadrat; Abb. 1 – Wols: Pavillon de l’Élégance während des Aufbaus, 1937, Reproduktion von 1978 nach einem sie scheinen sich in gespenstischem Eigenleben nach einer zum Verkauf anbot, ist allerdings nur bedingt nachvollzieh- modernen Abzug, Silbergelatinepapier, 17,7 x 23,6 cm (Blattmaß) (Inv.-Nr. D 1982-100 © Kupferstich- unsichtbaren Decke zu strecken. Wols liefert hier nicht ein bar. Es lässt sich nicht mehr exakt rekonstruieren, wann Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden; Foto: Herbert Boswank). Bild einer Ausstellung, sondern ein Bild, in dem er sich der Wols den offiziellen Auftrag als Fotograf des Pavillons er- Ausstellung bedient, um fotokünstlerische Mittel zu erproben hielt. Dass er sich in der Vorbereitungsphase bereits frei und seine eigenen Interpretationen des Präsentierten vorzu- darin bewegen durfte, setzt den Auftrag fast schon voraus und stellen. lässt seine Bildschöpfungen von dieser Etappe umso radikaler Die Dinge der Ausstellung lässt. Der Hintergrund, der in seiner Helligkeit im Vergleich erscheinen. Die glatte zeitliche Scheidung verdeckt aber vor zum Mittelgrund etwas zurückgenommen ist, erstreckt sich Die Frage des Formats allem die Betrachtung eines zentralen kompositorischen De- Der Abzug zeigt eine Schwarz-Weiß-Aufnahme im Mittel- als homogene Fläche hinter den aufragenden Gliedmaßen bis tails des überlieferten Bildkonvoluts zum Pavillon: die Frage format samt der inneren Begrenzung des Negativrandes [1]. zum oberen Bildrand. Bezüglich Wols’ Aufnahmepraxis sowie über die Negative und des Aufnahmeformats. Sie lässt sich in drei in die Bildtiefe gestaffelte Zonen eintei- Die Aufnahme gehört zu einem Konvolut von Fotografien, Abzüge, die vom Pavillon de l’Élégance entstanden sind, ist Für den Pavillon de l’Élégance finden sich über die ge len. Aus einer schwarzen Fläche, die fast das gesamte untere die Wols (eig. Alfred Wolfgang Otto Schulze, 1913–1951) im wenig bekannt. Belegt ist indes, dass er am Ein- und Ausgang samte Verlaufsdauer von Wols’ fotografischer Tätigkeit an Bilddrittel einnimmt, ragen im Vordergrund in der rechten Auftrag des Mode-Ausschusses der Exposition internationale der Ausstellung einen Stand unterhielt, an dem Silbergela- dem Projekt sowohl Hoch- beziehungsweise Querformate als Bildhälfte schattenrissartige, organisch-verästelte Formen über des arts et des techniques dans la vie moderne 1937 in Paris vom tineabzüge im Postkartenformat – gestempelt mit dem erst auch Mittelformate [16]. Die genauen Kameratypen, Film- zwei Drittel der Bildhöhe auf. Auch die rechte obere Bildecke Pavillon de l’Élégance aufnahm [2]. Für Wols, der sich mit seit Kurzem verwendeten Künstlernamen „Wols“ – verkauft oder Plattenmaße lassen sich nur schwer rekonstruieren. Sei- wird durch eine schwarze Fläche angeschnitten. Im Mittel- Gelegenheitsarbeiten als Porträt- und Werbefotograf durch- wurden [10]. Aus Briefen zum Fotoauftrag für den Pavillon ne Schwester Elfriede Schulze-Battmann griff nach den ers- grund gewinnen die rätselhaften Gebilde durch den von oben schlug [3], war dies ein später nie mehr erreichter „Riesen- gehen zwei repräsentative Abzugsmaße von Vintageprints ten posthumen Ausstellungen zum fotografischen Werk ab links einfallenden Lichtschein an Helligkeit und zugleich job“ [4]. Er fotografierte sowohl den Aufbau als auch die Schau von 24 x 30 cm beziehungsweise 70 x 55 cm hervor, allerdings den 1960er Jahren jedoch in die nachträgliche Abzugspolitik an Tiefe. Es handelt sich um Unterarme samt Händen, die selbst. Dabei sollen mehrere Tausend Negative entstanden ohne Motivangaben [11]. Als von Wols verwendetes Nega- ihrer Schwägerin und Erbin Gréty Wols ein und forderte den senkrecht aus einem Untergrund aus Stroh ragen und deren sein; bekannt als Vintageprints und moderne Abzüge sind tivmaterial nennt die jüngste Forschung sowohl Kleinbild Abzug der Negative, die den Krieg überdauert hatten, jeweils gespreizte Finger sich nach oben recken. Am linken unteren heute etwa 200 Motive [5]. negative als auch solche mit den Abmessungen 6 x 6 cm [12] vom vollständigen Negativ und ohne Retuschen; diese Mo- Bildrand wird man einer Verbretterung gewahr, die zusam- Der Mode-Pavillon der Weltausstellung, von Émile Aill- – ein Mittelformat, wie es die hier vorgestellte Reproduk- dern Prints wurden, wie im vorgestellten Beispiel, teilweise men mit dem Stroh gesehen an eine Transportkiste denken aud und Étienne Kohlmann entworfen und im Innenraum tion von 1978 nach einem früheren Abzug zeigt [13]. Zu- und vermutlich zu Dokumentationszwecken nochmals repro- 4 Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] 5
M EDIE edieNng G Ee Ssch C H Ii Cch H TE te M e d i e ng e sch i ch t e Bernd Stiegler in denen die Fotografie eine nicht unerhebliche Rolle spielt: für ferne Planeten wie den Mars produziert werden. Von Ridley Scotts Blade Runner von 1982 und die Fortsetzung dort entkommt ein Raumschiff mit sechs Replikanten, deren Blade Runner 2049 von 2017, bei der Denis Villeneuve Regie Lebenszeit qua Programm auf vier Jahre begrenzt ist und die THE DIGITAL TURN REVISITED führte und Ridley Scott als Produzent firmierte. Die zeitliche Differenz zwischen der Handlung im ersten Teil und jener des Sequels entspricht grosso modo jener der Veröffentlichung sich auf die Erde absetzen, um gegen diese Begrenzung zu rebellieren und ihre Aufhebung zu erwirken. Auf der Erde werden sogenannte Blade Runner eingesetzt, um solche Oder was wir aus den „Blade Runner“-Filmen über die Fotografie lernen können und legt daher nahe, dass wir, wenn wir denn einen Film als Replikanten, die Menschen täuschend ähnlich sehen, mithil- Gegenwartsdiagnostik begreifen, die vorgenommenen Analy- fe eines besonderen Tests, bei dem ihre Augenreaktionen bei sen auch auf die unterschiedlichen historischen Situationen der Beantwortung bestimmter Fragen gemessen werden, zu beziehen können. detektieren und diese dann, so der Euphemismus, „in den Das ist durchaus erläuterungsbedürftig, da der erste Blade Ruhestand zu versetzen“. Der Film schildert die Jagd des Bla- Runner-Film, anders als es den Anschein hat, komplett ana- de Runners Deckard auf die entkommenen Replikanten, die log gedreht wurde, und auch die digitale Fotografie noch in schließlich nur dadurch erfolgreich ist, dass Roy, der Anfüh- ihren Kinderschuhen steckte. Ein erster digitaler Kameratyp rer der Gruppe, sein Ende kommen sieht und bevor er stirbt, stammt bekanntlich aus den 1970er Jahren, auf dessen Prin- Deckard auf das Dach eines Hochhauses zurückzieht, von zipien dann die Mavica, eine Magnetic Video Camera, von dem er in die Tiefe zu stürzen drohte. Diese vermeintlich Sony zurückgriff, die 1981 vorgestellt wurde. Auf dem Markt menschliche Geste des Mitleids ist nur das Ende einer Bewe- setzten sich hingegen digitale Kameramodelle erst Ende der gung des Films, die Replikanten immer menschlicher und 1980er Jahre allmählich durch und die erste Photoshop-Soft- die Menschen immer technokratisch-zweckrational kalku- ware kam 1990 in den Handel, um dann aber fast im Jahres lierender und grausamer werden lässt. Es geht, mit anderen takt durch aktualisierte, erweiterte und verbesserte Versionen Worten, um die Unterscheidung von Natur und Technik, des ersetzt zu werden. Wir haben es also, wenn wir den ersten Menschlichen und des künstlich konstruierten Humanoi- Blade Runner-Film betrachten, mit dem Bereich des kulturell den. Parallel zur Verfolgungsgeschichte entwickelt sich da- Abbildungen 1–5 – Filmstills aus Ridley Scott (Regie): Imaginären zu tun, der aber durchaus von heuristischem bei eine ‚Lovestory‘ zwischen Deckard und Rachael, der As- Blade Runner, USA/Hongkong, 1982, 117 Minuten. Interesse ist, da er die Umbruchsituation, die als solche im sistentin des Besitzers der Tyrell Corporation, der die Film wie auch von den medientheoretischen Diskursen der Replikanten erschaffen hat. Er hatte Deckard aufgefordert, Zeit konstatiert wird, mitsamt ihren befürchteten, erhofften auch an ihr den Test durchzuführen, um ihn auf die – am Im Zuge der aufgeregten medientheoretischen Debatten The Digital Turn Revisited: Or What We Can Learn oder erwarteten Implikationen ausbuchstabiert. Wir sehen, Ende erfolgreich bestandene – Probe zu stellen, da es sich bei der 1980er Jahre, die heute zweifellos historisch geworden About Photography from the “Blade Runner” Films wie man sich im Jahre 1982 die Zukunft der Fotografie – und ihr um das am weitesten fortgeschrittene Modell der Repli- sind, wurde ein baldiges Ende des fotografischen Zeitalters As part of the heated debate on media theory in the 1980s nicht nur dieser – vorstellte. Dass es Ridley Scott um diese kanten handelte. Als Rachael das Gebäude der Firma ver- prognostiziert. Es ist, wie wir heute wissen, anders gekom- that has doubtless since become history, it was predicted zu tun war, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die der Foto- lässt, wird Deckard aufgefordert, auch sie zu töten, was er men. Dennoch ist die damalige theoretische Nervosität that the photographic age was about to end. As we now grafie gewidmeten Sequenzen in der literarischen Vorlage von nicht tut – im Gegenteil: Am Ende des Films flieht er mit ihr nach wie vor bemerkenswert. Anhand der beiden „Blade know, things turned out differently. Yet despite this, the Philip K. Dicks Roman Träumen Androiden von elektrischen aus seiner Wohnung. Offen bleibt, was mit ihnen geschieht Runner“-Filme wird der Blick zurückgerichtet, um die considerable nervousness with relation to media theory Schafen (1968) keine Entsprechung haben. und auch die Frage, ob nicht auch Deckard seinerseits ein Unruhe, die diese Debatten auszeichnet, besser verstehen that prevailed then still persists today. Here, the two “Blade Replikant ist. und einordnen zu können. In einem zweiten Schritt werden Runner” films are used as aids to look back at that time, to 1. Im Reich der Simulation: „Blade Runner“ (1982) Was hat nun das alles mit Fotografie zu tun? Es gibt im dann die aktuellen Entwicklungen in der Gegenwart kur- better understand the trepidation so characteristic of these Film zwei Szenen, bei denen die Fotografie eine zentrale sorisch betrachtet, um mit der größeren Gelassenheit des debates and to place it in context. Subsequently, contem- Zu Beginn eine kurze Zusammenfassung der Handlung, die Rolle spielt. Beide scheinen auf den ersten Blick kontradikto- zeitlichen Abstands einige wenige wichtige Tendenzen zu porary developments are given a cursory examination and, dahingehend etwas kompliziert ist, weil der Film Blade Run- risch zu sein, da die eine auf Simulation und Konstruktion, benennen. with the greater detachment that comes from passing time, ner auf Ambivalenzen setzt und aus diesen sein kulturanaly- die andere aber auf Zeugenschaft und Evidenz setzt. Bei der a few key trends are defined. tisches Potenzial zieht. Noch dazu existieren mehrere Versio- ersten sucht Rachael den Replikantenjäger Deckard in dessen nen, die sich zum Teil erheblich unterscheiden [2]. Wie dem Wohnung auf, um ihn davon zu überzeugen, dass sie keine auch sei: Wir befinden uns im Los Angeles im November des Replikantin ist. Ihr Beweis ist eine Fotografie, die sie als Kind Die Geschichte der Fotografie hat viele Evolutionen und Re- Deutungsperspektive, eine neue Ära des Fotografischen im Jahres 2019, dessen düstere Atmosphäre mit gigantischen mit ihrer Mutter zeigt. Die Replikantin Rachael ist gerade des- volutionen zu verzeichnen. Eine jede brachte neue Anwen- Sinne einer „Fotografie nach der Fotografie“ oder aber das Leuchtreklamen, Dauerregen und überfüllten Straßen die halb überzeugt, ein Mensch zu sein, weil sie nicht nur über dungsfelder hervor, verschob und erweiterte das Feld des „Ende des fotografischen Zeitalters“ einläutete [1]. Dieses gin- Bildsprache regiert. Ridley Scott, der damit die Tradition des ein umfangreiches Setting von (implantierten) Erinnerungen, Fotografischen. Zu nennen sind unter anderem der Wandel ge, so wiederum andere kulturdiagnostische Stimmen, mit Film Noir aufgriff, prägte zugleich einen neuen Typ der visu- sondern sogar über fotografische Kinderbilder verfügt, die sie von der Daguerreotypie als Unikat zum reproduzierbaren Pa- dem Ende des Gutenbergzeitalters oder der Gutenberggalaxis ellen Gestaltung, der über lange Zeit die Ästhetik der Science- zusammen mit ihrer Mutter zeigen. Beide kann sie zudem pierbild, der Übergang von der schwarz-weißen zur farbigen einher. Wir haben es mit dem seinerzeit erhobenen apokalyp- Fiction-Filme bestimmen sollte. Evoziert wird dabei eine miteinander verknüpfen. Die inneren mentalen Erinnerungs- Fotografie, aber auch die kürzeren Verschlusszeiten, die neue tischen Ton der Medientheorie zu tun, der über ein Jahrzehnt postapokalyptische Situation der Erde, deren natürliche Res- bilder korrespondieren mit den äußeren Anschauungsbildern Bereiche des Sichtbaren eröffneten, oder Techniken wie die hinweg recht aufgeregt die Debatten prägte. Ein Umweg ge- sourcen allmählich verbraucht sind. Tiere und Nahrung wer- in Gestalt der Fotografien. Die Fotografie scheint offenkun- Röntgen- oder die Infrarotfotografie. Keine dieser Verände- stattet es, die eigentümlichen Neubesetzungen und Verschie- den künstlich hergestellt wie auch humanoide Replikanten, dig – zusammen mit den Erinnerungen – Beleg dafür zu sein, rungen stellte jedoch die Fotografie als Medium infrage, wie bungen des fotografischen Feldes mitsamt ihren weitreichen- die von der mächtigen Tyrell Corporation als Arbeitssklaven dass sie keine Replikantin sein ‚kann‘ zumal die Fotografie of- es dann bei der digitalen Fotografie der Fall war, die, je nach den Fragen in anderer Weise zu perspektivieren – zwei Filme, 8 Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] 9
M e d i e ng e sch i ch t e M e d i e ng e sch i ch t e lungen, sondern Transformationen, Medien des Übergangs. [6] Ebd., S. 18. Wolfgang Hesse Selbst wenn ihnen – und das in eigentümlich privilegierter [7] Ebd. Weise – zugeschrieben wird, im Herzen der ‚Suche nach et- was Echtem‘ zu stehen, so ist das vor allem Effekt einer eigen- tümlichen kulturellen, individuellen wie gesellschaftlichen Praxis, die fortwährend zwischen Stabilisierung und Ver- [8] Diese Annahme teilt er mit Jean Baudrillard. Vgl. etwa seinen Aufsatz „Videowelt und fraktales Subjekt“, in: Jean Baudrillard , Hannes Böhringer, Vilém Flusser, Friedrich FOTOGRAFIE, DESIGN UND ZEICHENKUNST sicherung einerseits und Destabilisierung und Verunsiche- Kittler, Heinz von Foerster und Peter Weibel: Philosophien Rekonstruktion einer Porträtgalerie gefallener Offiziere des Krieges 1870/71 rung andererseits oszilliert. Und vielleicht ist das der Effekt der neuen Technologie, hrsg. v. Ars Electronica, Berlin: Merve im Besitz des Stadtmuseums Dresden 1989, S. 113–131, des digital turn: Bilder hervorgebracht zu haben, die in vieler bes. S. 122–125. Hinsicht selbstbestimmend sind. Fotografien sind – und auch das ist eine Lehre der Blade Runner-Filme – Reflexionsmedien, [9] So der Untertitel („Fotokritik am Ende des fotografischen bei denen es nicht mehr und nicht weniger um unsere Exis- Zeitalters“) der beiden von Herta Wolf zur Theorie der Foto- grafie herausgegebenen Bände Paradigma Fotografie tenz geht. Sie stellen unser Selbstverhältnis und das zu un- (siehe Anm. 1) und Diskurse der Fotografie (Frankfurt am serer Wirklichkeit aus – und diese sind durch und durch his- Main: Suhrkamp 2003). torisch, auf die jeweilige Gegenwart bezogen und haben die Unterscheidung zwischen analog und digital ebenso hinter [10] William J. Mitchell: The Reconfigured Eye. Visual Truth in the sich gelassen wie zwischen Natur und Kultur oder Menschen Post-photographic Era, Cambdridge, Mass.: MIT Press 1998 (1992), S. 225. und Dingen. Wir stehen nicht am Ende oder sogar jenseits des Endes des fotografischen Zeitalters, sondern vielmehr am An- [11] Peter Lunenfeld: „Digitale Fotografie. Das dubitative Bild“, fang eines Verständnisses der Fotografie, das diese und mit ihr in: Wolf 2002 (wie Anm. 1), S. 158–177. die Wirklichkeit als einen Raum der Transformation begreift. [12] Mitchell 1998 (wie Anm. 10), S. 99; zit. nach: Winfried Ger- ling, Susanne Holschbach und Petra Löffler: Bilder verteilen. Abb. 1 – Kassette zum Anmerkungen Fotografische Praktiken in der digitalen Kultur, Bielefeld: Album der im Kriege von transcript 2018, S. 12. 1870 und 1871 gefallenen Der vorliegende Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, der Offiziere des XII. (Koenigl. im September 2018 im Rahmen des Spectrum-Weekends [13] Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der Saechs.) Armee-Corps, Data & Matter in Soglio (Bergell) gehalten wurde. Siehe dazu äußeren Wirklichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964. Dresden: Ernst Arnold 1871, die Webseite von Spectrum – Photography in Switzerland, große Ausführung, Holz, . [14] Roland Barthes: „Die Photographie als Botschaft“, in: Leder, Papier, Metall, 43 x Peter Geimer und Bernd Stiegler (Hg.): Auge in Auge. Kleine 35 x 8,5 cm (SLUB Dresden, [1] Vgl. Hubertus von Amelunxen, Stefan Iglhaut und Florian Schriften zur Photographie, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 77– Hist.Sax.M.59.w,misc.1; Rötzer (Hg.): Fotografie nach der Fotografie, Dresden: Verlag 92, S. 81. Foto: André Rous). der Kunst 1995, und Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt [15] Im Film spielt ansonsten Vladimir Nabokovs Roman am Main: Suhrkamp 2002. Pale Fire (1962) eine entscheidende Rolle. Er wird nicht nur gelesen, sondern Textbestandteile dienen zur Über [2] Vgl. dazu die „Ultimate Edition“, die 2007 mit 5 DVDs erschie- prüfung der sogenannten Basiswerte der Replikanten. Zur Porträtfotografiesammlung des Stadtmuseums Dres- Photography, Design and the Art of Drawing: nen ist und alle Fassungen dokumentiert. Informationen den gehört eine große Gruppe gleichartiger Bildnisse von Reconstruction of a Portrait Gallery of Officers finden sich auch im beiliegenden Booklet. Vgl. auch die [16] Diese Beobachtung verdanke ich Maurice Batras, dem ich Rezension https://www.dvd-forum.at/review/3303-dvd- Soldaten. Die Tafeln mit 45 montierten Fotografien sind Fallen in the War of 1870/71, Property of Stadt für seine Kommentare herzlich danke. blade-runner-5-disc-ultimate-collector-s-edition (zuletzt Fragmente des „Albums der im Kriege von 1870 und 1871 museum Dresden eingesehen am 09.02.2019). [17] Gerling, Holschbach und Löffler 2018 (wie Anm. 12), S. 79. gefallenen Offiziere des XII. (Koenigl. Sächs.) Armee- The portrait photography collection of Stadtmuseum Corps“ aus dem Verlag der Kunsthandlung Ernst Arnold in Dresden includes a large body of similar images of soldiers. [3] Vgl. etwa den frühen Text zur Erfindung der Daguerreotypie, Autor Dresden. Die erste Teillieferung des Werks erschien noch The plates with 45 mounted photographs are fragments „Der Daguerrotyp“, in: Kunstblatt (Beilage zum Morgenblatt für gebildete Stände), No. 77 (24.9.1839), S. 305–308, hier während der Kampfhandlungen, abgeschlossen war es im of the “Album of the officers of the XII (Royal Saxon) Army S. 306. Prof. Dr. Bernd Stiegler, Professor für Neuere Deutsche Juli 1871. Bei den Porträts handelt es sich um Medien- Corps fallen in the War of 1870 and 1871” published by Literatur mit Schwerpunkt Literatur des 20. Jahrhun- hybride, die in einem aufwendigen Prozess fotografischer Kunsthandlung Ernst Arnold in Dresden. The first deliv [4] Vgl. hierzu Walter Benjamin: „Kleine Geschichte der Photo derts im medialen Kontext, Universität Konstanz, Reproduktion und zeichnerischer Überarbeitung entstan- ery happened while fighting was still in progress; it was graphie [1931]“, in: ders.: Medienäthetische Schriften, mit Fachbereich Literaturwissenschaft, Fach D 156, den sind. Die so gestalteten Bilder zeigen die Toten als completed in July 1871. The portraits are media hybrids einem Nachwort von Detlev Schöttker, Frankfurt am Main: 78457 Konstanz, Germany, Tel. +49-7531-882445, Suhrkamp 2002, S. 300–324. bernd.stiegler@uni-konstanz.de Lebende und gleichen zudem in der Memoria die Rangun- produced in a complex process that involved them being terschiede aus. Die opulente Ausstattung mit gedruckten reworked. The resulting images present the deceased as [5] Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen: Untersatzkartons, einer Titelallegorie und einer gestalteten living persons, whose different ranks are erased in this European Photography 1983, S. 19. Vgl. auch S. 73f. Kassette macht das Album zu einem der frühen Denkmäler commemoration. The opulent presentation with printed des Deutsch-Französischen Krieges und damit der Grün- underlay cardboard, a cover allegory and a designed slip- dung des Deutschen Kaiserreichs. case make the album one of the early memorials of the Franco-Prussian war and as such of the founding of the German Empire. 18 Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] 19
M e d i e ng e sch i ch t e M e d i e ng e sch i ch t e Abb. 4 – Verzeichniss der im deutsch- französischen Kriege von 1870 und 1871 bis zum Präliminar-Friedens- schlusse g efallenen und verstorbenen Offiziere und Mannschaften des XII. (Koeniglich Sächsischen) Armee- Corps., bearbeitet von C. Jul. Jüchtzer, Secretair im Statistischen Bureau des K. Ministeriums des Innern, Dresden: Ernst Arnold 1871, 1. Seite (SLUB Dresden, Hist.Sax.M.59.w, misc.2; Foto: André Rous). te „das rühmlich bekannte Atelier von F. und O. Brockmann’s Individuen vor; zugleich generieren der gleichförmige Duk- Nachfolger“ [13] mittels Nasskollodiumnegativen Reproduk- tus wie die Reihung der Porträts ein homogenes Gesamtbild tionen in einem schichtlosen Positivprozess, vermutlich als des Offizierskorps „ohne Unterschied des Ranges“ [14], dessen Salzpapierabzüge. Diese Zwischenoriginale wurden von ver- Hierarchie sich einzig aus den Beschriftungen der Bildnisse sierten Retuscheuren bearbeitet. Die sichtbaren Spuren ihrer ersehen lässt. Dass diese fotografisch vervielfältigt sind, wird Eingriffe reichen von der Angleichung der Bildausschnitte die Käufer nicht irritiert haben – derart illustrierte Bücher und den ähnlichen Vignettierungen über die großzügige Kor- waren ihnen seit den 1850er Jahren vertraut [15]. rektur von Frisuren und Gesichtern oder womöglich hinzuge- fügte Orden und Schulterstücke bis hin zu etlichen Bildern, Verewigung die so anmuten, als habe man hier einen Kopf auf eine Uni- form montiert oder es sei gar eine freie Zeichnung entstan- Im Gegensatz zur formprägenden Tätigkeit der seriell und an- den (Abb. 5–7). Ob dies auch für einen Teil der Uniformjacken onym arbeitenden Retuscheure steht hinter dem Frontispiz gilt, lässt sich nicht entscheiden, doch legt die Durchsicht der des Albums ein unikales Kunstwerk des erfolgreichen und Tafeln diesen Verdacht nahe. Es war ein Medienhybrid ent- 1864 zum Ehrenmitglied der Dresdner Kunstakademie er- standen. Entsprechend fotografierte der Fachbetrieb die so nannten Malers Theodor Grosse (1829–1891). Das „trefflich gewonnenen Porträts dann in unterschiedlichen Negativfor- ausgeführte Blatt“ nach seiner Sepiazeichnung lag, ebenfalls maten ab, stellte hiervon die Abzüge in den Maßen und Aufla- von F. und O. Brockmann’s Nachfolger „photographisch re- gen für das große wie das kleine Album und die Sonderanfer- produciert und vervielfältigt“, Mitte März 1871 und damit tigungen her und montierte sie vermutlich auch. bald nach dem Präliminarfrieden vom 26. Februar vor [16]. Just in diesem vereinheitlichenden Überarbeitungspro- Vier Monate später dann war das Original, werbewirksam zess besteht – abgesehen vom vielfältigen Zusatzangebot und zeitgleich mit der Komplettierung des Albums und pünktlich dem schieren Umfang des Albums – der entscheidende Un- kurz vor dem Jahrestag des Kriegsbeginns, in der Akademi- terschied zu thematisch verwandten Memorabilien. Denn mit schen Kunst-Ausstellung (1. Juli bis 30. September) zu sehen Abb. 5 – Porträt „Friedr. Adolf Bekenn. Premier-Lieutenant und Adjutant ihm schlossen die Herausgeber gezielt an eine andere Konven- – ebenso wie die „78 [sic!] Bildnisse aus dem Album der im der 3. Infanterie-Brigade No. 47. Verwundet: St. Privat, 18. August – † Roncourt, 21. August 1870“, Albuminpapier auf bedrucktem Untersatz tion adliger wie bürgerlicher Gruppenporträts an. Entstanden deutsch-französischen Kriege von 1870/71 gefallenen Offizie- karton, Karton: 32,0 x 23,7 cm, Bildmaß: 20,5 x 16,7 cm, Tafel aus: Album der ist ein großformatiges Galeriewerk in der Tradition gestoche- re des XII. (Königl. Sächs.) Armeecorps.“ [17] im Kriege von 1870 und 1871 gefallenen Offiziere des XII. (Koenigl. Saechs.) ner oder lithografierter Alben bedeutender Persönlichkeiten, Zwar konnte die Jahresausstellung mit Arbeiten von Leh- Armee-Corps, 1871, große Ausführung, b eschnitten auf Museumsformat das zwei Perspektiven zusammenfasst: Es stellt nahsichtig rern und Schülern der Akademie sowie auswärtigen Künstle- (Stadtmuseum Dresden, Porträtsammlung, Tafel 111). 22 Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] 23
M e d i e ng e sch i ch t e B Ee Ss Tt Ään N DE de [34] Monogrammist C. 1873 (wie Anm. 31), Sp. 701; vgl. zur [37 Aus der Festansprache von Hofrat Karl Gustav Ackermann Stephan Graf, Birgit Huber, Aila Özvegyi und Nicole Peduzzi Kunstreproduktion in Dresden Agnes Matthias: „Sammlungs- zur Rückkehr der Truppen, in: Constitutionelle Zeitung, geschichte – Mediengeschichte. Fotografie am Dresdner 13. Juli 1871, nach: Siegfried Weichlein: Nation und Region. Kupferstich-Kabinett“, in: dies. (Hg.): KunstFotografie. Kata- Integrationsprozesse im Bismarckreich, Reihe: Beiträge log der Fotografien von 1839 bis 1945 aus der Sammlung des Dresdner Kupferstich-Kabinetts, Berlin: Deutscher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 137, Düsseldorf: Droste 2004, S. 344/345, DAS FOTOARCHIV DER SCHWEIZERISCHEN Kunstverlag 2011, S. 16–31, hier S. 16–19; Kordelia Knoll: „ ‚26 Jahre lang, in stets zeitgemäßer Vollendung‘. Hermann Krones Dokumentation der Skulpturensammlung“, in: hier S. 345. [38] Fontane 1873 (wie Anm. 24), S. 340. GESELLSCHAFT FÜR VOLKSKUNDE Wolfgang Hesse und Timm Starl (Hg.): Photographie und Ein Ort der Forschung, der Begegnungen und Affekte Apparatur. Der Photopionier Hermann Krone. Bildkultur und [39] Vgl. zur Geschichte der Sammlung und zum Entstehungs- Phototechnik im 19. Jahrhundert, Marburg: Jonas 1998, zusammenhang dieses Beitrags Wolfgang Hesse: „Fotogra- S. 267–278. fien ohne Licht. Anmerkungen zu Platinselbstdrucken in der Porträtfotografiesammlung des Stadtmuseums Dresden“, in: [35] Vgl. Ruth Negendanck: Die Galerie Ernst Arnold (1893– Rundbrief Fotografie, Vol. 25 (2018), No. 3, S. 8–18; Ders. 1951). Kunsthandel und Zeitgeschichte, Weimar: VDG 1998 und Holger Starke (Hg.): Die im Licht steh’n. Fotografische (1997), S. 65–69 mit Erwähnung des Offiziersalbums in Porträts Dresdner Bürger des 19. Jahrhunderts, Kromsdorf: Anm. 183. Jonas 2019, passim. [36] Monogrammist C. 1873 (wie Anm. 31), Sp. 702. Autor Wolfgang Hesse, Seydlitzstr. 12, 23564 Lübeck, Germany, hesserundbrief@gmx.de Anzeige Werte bewahren Abb. 1 – Hans K aeser: Herunterschlagen der Früchte (Kastanien) in den alpinen Talschaften, ca. 1930–1941, Silbergelatineabzug auf Barytpapier, 12 x 17 cm, Trägerkarton 25 x 32 cm (Inv.-Nr. SGV_04P_02313). Alle Abbildungen: © Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde. 1896 gegründet, begann die Schweizerische Gesellschaft The Photo Archive of the Swiss Society for Folk für Volkskunde (SGV) ab den 1930er Jahren Fotografien lore Studies: A Place for Research, Encounters zu sammeln und sie als Forschungsquellen zu betrachten. and Affect Q-Lab In diesem Beitrag werden acht der dreißig SGV-Fotosamm- Founded in 1896, from the 1930s onwards the Swiss Society lungen präsentiert, wobei auf ihre jeweils heterogenen for Folklore (Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde, Die Zukunft der Vergangenheit Entstehungskontexte eingegangen wird. Die zwischen SGV) began collecting photographs and regarding them as Das KLUG Q-Lab steht ganz im Zeichen von Forschung 1860 und 1980 entstandenen Aufnahmen stammen sowohl source material for research work. This article presents und Entwicklung. Ein Team aus Wissenschaftlern, von Berufs- als auch von Amateurfotografen. Dank ihrer eight of the thirty SGV photograph collections and explores Technikern und Anwendern entwickelt stetig verbesserte vielfältigen Überlieferungs- und Präsentationsformen the heterogeneous contexts of their origins. Produced und neue Produkte zur Erhaltung von Kulturgut. Unsere ermöglichen sie neue und vielfältige Perspektiven für die between 1860 and 1980, the pictures were taken by both Entwicklungsabteilung mit hauseigenem Labor sorgt für Erforschung des Alltags in der Schweiz und in anderen professional and amateur photographers. Since they come höchste Qualität und einen Vorsprung an Wissen. Ländern. Rund die Hälfte der SGV-Fotosammlungen from so many different sources and are equally diverse Das ist KLUG. wurde im Rahmen eines 2014 initiierten Fotoprojekts as regards presentation, they provide new and varied aufgearbeitet und ist seit Herbst 2018 auf der Website perspectives for researching everyday life in Switzerland öffentlich zugänglich. and other countries. Around half of the SGV photograph Mehr zu unserem Q-Lab unter: collections were reappraised as part of a photo project www.klug-conservation.de/q-lab initiated in 2014 and since fall 2018 have been available for public viewing on the website . 30 Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] 31
B e s t än d e B e s t än d e Abb. 7 – Ernst Brunner: [Von Lawine zerstörte Häuser: Dorfbewohner/-innen und Militär bei den Aufräumarbeiten], Andermatt, Kanton Uri, Januar 1951, Schwarz-weiß-Negativ, 6 x 6 cm (Inv.-Nr. SGV_12N_37132). ten Abzügen, Glasdias in Holzkisten sowie Stereonegativen 8 000 Positive, 390 digital zu Positiven konvertierte Negative in Kartonschachteln, die einen Einblick in die Geschichte der und 850 Dias, darunter auch Stereonegative und Stereodias. Familie Kreis – zurückgehend bis zu den Großeltern von Wal- ter Kreis – ermöglichen. Berufsberatung der Stadt Zürich Mehrheitlich besteht die Sammlung aus Fotografien, Am 14. Oktober 1980 gingen rund 1 200 großformatige Glas- auf denen das private Familienleben und die rege Reisetä- diapositive des Amts für Berufsberatung der Stadt Zürich tigkeit von Paula (1876–1941) und Oscar (1872–1956) Kreis- (B.B.Z.) aus den 1930er Jahren in den Besitz der SGV über Flüglistaller und ihren Kindern zu sehen ist. In Fotoalben (SGV_02). Bei den teilweise handkolorierten Dias handelt es und Serien loser Abzüge wird immer wieder an Wander sich um Dokumentations- und Vorführmaterialien des B.B.Z. ausflüge in die Schweizer Alpen (Abb. 9) sowie an Reisen nach Sie zeigen Männer und Frauen bei der Ausführung verschie- Frankreich und Italien erinnert. Zum Ausdruck kommt da- dener Berufe: Manche Aufnahmen wurden mit Kindern in- bei ein Freizeit- und Kulturverständnis des deutschschwei- szeniert (Abb. 10), andere zeigen erwachsene Berufstätige bei zerischen Bürgertums zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Da- ihrer Arbeit. Auf diese Weise werden Berufswege, Weiterbil- rüber hinaus dokumentieren die Bilder die Studienzeit von dungsmöglichkeiten und allgemeine Einblicke in die Arbeits- Oscar Kreis – mit Eindrücken aus dem Seziersaal, seinen welt gegeben. Die Glasdiapositive sind alphabetisch nach Einsätzen in der Schweizer Armee und seiner Mitgliedschaft Berufsgattungen geordnet und beschriftet. Die meisten Auf- im schweizerischen Zofingerverein. Anhand dicker Porträt nahmen sind wahrscheinlich im Raum Zürich entstanden. alben voller Cartes de visite und Cartes de cabinet lässt sich Mindestens zwei Serien von Dias entstammen den damals im seine Familie zudem in einem weitreichenden sozialen Netz- Fachhandel erhältlichen Unterrichtsmaterialien. werk verorten. Die SGV begann bereits Mitte der 1990er Jahre mit der Die Sammlungen Ghirardelli Aufarbeitung dieses Bestandes. Damals wurden die losen Ab- Die Sammlungen „Gennaro Ghirardelli und Georges Mül- züge in Kartonschachteln verpackt, die nach den Familienmit- ler Kälin“ (SGV_17) und „Familie Ghirardelli-Schelhaas“ Abb. 8 – Gebrüder Wehrli, Kilchberg, Zürich: gliedern der drei Generationen geordnet wurden. Zwischen (SGV_18) wurden zwischen 2016 und 2018 vom Schweizer 9011. Unterwaldnerin / Nidwaldnermädchen 2015 und 2017 wurden die Abzüge diesen Kartonschachteln Ethnologen Gennaro Ghirardelli (*1944) an die SGV über- 1870, 1897–1910, Silbergelatineabzug auf Barytpapier (Inv.-Nr. SGV_15P_00147). entnommen, wenn naheliegend chronologisch und thema- geben. Das erste Konvolut besteht aus zwei Teilen. Einerseits tisch geordnet, mit Signaturen versehen und in archivfeste handelt es sich um Fotografien, die im Rahmen eines eth- Umschläge umgelagert. Online einsehbar sind derzeit rund nologischen Forschungsprojekts (1971–1983) Ghirardellis in 36 Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] 37
B e s t än d e A U S S TELL U N G E N Forschung von kulturhistorischer Bedeutung sind. Die Kon- [3] Vgl. dazu Josef Mooser: „Die ‚Geistige Landesverteidigung‘ in Kathrin Schönegg servierung des analogen Archivs und die Restaurierungsar- den 1930er Jahren. Profile und Kontexte eines vielschichti- gen Phänomens der schweizerischen politischen Kultur in beiten wurden dem Basler Atelier für Restaurierung Anklin der Zwischenkriegszeit“, in: Schweizerische Zeitschrift für & Assen anvertraut. Das Digital Humanities Lab der Univer- sität Basel ist für die Datenbankinfrastruktur verantwortlich Geschichte, Vol. 47 (1997), No. 4, S. 685–708, sowie Marco Jorio: „Geistige Landesverteidigung“, in: Historisches Lexi- 100 JAHRE FOTOGRAFIE und übernimmt im Auftrag der SGV die Digitalisierung der Sammlungsobjekte. kon der Schweiz, 23.11.2006, www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/ D17426.php (zuletzt eingesehen am 08.02.2019). ALS ABSTRAKTE KUNST Die Fotografien tragen nicht nur Informationen zum Bil- dinhalt, sondern geben durch ihre Erscheinungsformen und [4] O. A.: „Jahresbericht der Schweizerischen Gesellschaft für Zur Retrospektive „Shape of Light“ in der Tate Modern, London Volkskunde, 1942“, in: Schweizer Volkskunde. Korrespon- Präsentationsweisen wertvolle Hinweise auf ihre historischen denzblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde, Entstehungs- und Verwendungskontexte, die durch die Kon- Vol. 33 (1943), No. 2, S. 30. servierung, Restaurierung, Digitalisierung und Erschließung [5] Ebd. erhalten werden sollen. Ziel des SGV-Fotoarchivs ist es, die Originale unter optimalen konservatorischen Bedingungen in [6] Zu Paul Hugger siehe etwa Ueli Gyr: „Paul Hugger zum 65. einem klimatisierten und überwachten Depot aufzubewahren Geburtstag: mit einem Verzeichnis seiner Schriften 1958– und den Forschenden einen Zugang zu den analogen und di- 1995“, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Vol. 91 gitalen Sammlungen zu gewähren, der eine differenzierte Be- (1995), No. 1, S. 33–52. Zur Reihe FotoSzeneSchweiz siehe Thomas Wiegand: „FotoSzeneSchweiz. Buchreihe zur Wieder trachtung der Fotoobjekte in ihren spezifischen Entstehungs- entdeckung von fotografischem Archivmaterial“, in: Rund- zusammenhängen ermöglicht. brief Fotografie, Vol. 13 (2006), No. 3, N.F. 51, S. 36/37. Anmerkungen [7] Siehe „Florence Declaration – Recommendations for the Pre- servation of Analogue Photo Archives“, (zuletzt eingesehen am 22.10.2018). zer Volkskunde. Korrespondenzblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde, Vol. 21 (1931), No. 3, S. 33–43. Autorinnen und Autoren [2] Der Begriff „Enquête“ kommt aus dem Französischen und Dr. Nicole Peduzzi, Projektkoordination, Stephan Graf, steht für „Untersuchung, Erhebung, Umfrage“. Die meist groß Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Birgit Huber, Wissen- angelegten Projekte der Datenerhebung beziehen sich ge- schaftliche Mitarbeiterin, und Aila Özvegyi, Wissen- wöhnlich auf sozial- oder wirtschaftspolitische Verhältnisse. schaftliche Mitarbeiterin, Fotoarchiv der Schweizeri- Die Sammlung „Enquête I“ ist auch bekannt unter dem Na- schen Gesellschaft für Volkskunde, Spalenvorstadt 2, men „Generalenquête“. 4051 Basel, Switzerland, Tel: +41-61-207-1164, archiv@sgv-sstp.ch, http://archiv.sgv-sstp.ch/ Anzeige Abb. 1 – Maya Rochat (*1985): A Rock Is A River, 2017, Installations ansicht, Tate Modern, 2018 (Courtesy Lily Robert and VITRINE, London Alte Fotografien für die Zukunft sichern: und Basel, © Maya Rochat, Foto: © Tate [Seraphina Neville]). Schutzverpackungen für fotografische Dokumente aller Ar t Die Abstraktion ist ein zentrales Paradigma der Moder- 100 Years of Photography as Abstract Art: ne. Vermeintlich steht sie im Widerspruch zur Fotografie: On the Retrospective “Shape of Light” Prominenten Medientheorien von André Bazin bis Roland at Tate Modern, London Barthes zufolge zeichnet sich die Fotografie nicht durch Abstraction is a central paradigm of modernism. One that Abstraktion, sondern durch ihren chemisch-physischen seemingly runs contrary to photography. According to well- Bezug zum Realen und durch ihren Abbildrealismus aus. known media theories posited by luminaries from André Nach wie vor ist die Geschichte der abstrakten Fotografie Bazin to Roland Barthes, photography is not characterized wenig bearbeitet. In London hat sich nun eine große Retro by abstraction but by its chemical and physical relationship Aufbewahrungsboxen für liegende und stehende Lagerung, Fotohüllen und Umschläge aus Pergamin, Melinex und Papier spektive dem Thema angenommen und die Verbindung von to the real and its depiction of realism. The history of ab- Umfangreiches Sortiment für alle gängigen Fotoformate, Liste unter: www.schemppbox.de Fotografie und abstrakter Kunst vom Anfang des 20. Jahr- stract photography has received little attention to date. Just hunderts bis in die Gegenwart nachvollzogen. recently in London, a large retrospective has taken on the Schempp® Bestandserhaltung GmbH * Solitudeallee 101, 70806 Kornwestheim www.schemppbox.de * mail@schemppbox.de * Tel.: +49(0)7154/22233 * Fax: +49(0)7154/3298 topic and retraced the connection between photography and abstract art from the early 20th century to the present day. 40 Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] 41
Auss t e l l ungE N Auss t e l l ungE N Abb. 3 – Luo Bonian: Untitled, 1930er Jahre (Courtesy The Three Shadows Photography Art Centre, Beijing © Luo Bonian). Abb. 2 – Shape of Light. 100 Years of Photography and Abstract Art, Installationsansicht, Tate Modern, 2018 (Foto: © Tate [Andrew Dunkley]). Seit der Jahrtausendwende ist die Abstraktion in der Foto- wundert insofern. Noch irritierender und darin symptoma- geschichtlichen Popularität des Themas zwar unverständlich, betrachtet werden muss, entspricht die dominante theoreti- grafie populär. Diverse kleinere Galeriepräsentationen sind tisch für das Thema ist aber zweitens, dass die aktuelle Wieder- aber im Großen und Ganzen dennoch zutreffend. sche (Zu-)Richtung auch der jüngeren Zusammenstellungen seitdem gezeigt worden. Auf dem Fotokunstmarkt heißt es, kehr der Abstraktion auch historisch auf erstaunlich ungesi- Im Format der Überblicksausstellung ist das Zusammen- zur Fotografie noch ebenjenem Diskurs des Modernismus, man könne aktuell einen „Abstraktionsboom“ [1] beobachten. chertem Grund steht. Begriff und Konzept der Abstraktion spiel von Abstraktion und Fotografie bislang kaum behandelt der unter dem Label der Abstraktion retrospektiv auf das Me- Auch in den großen Institutionen ist das Thema angekom- sind weder in der Historiografie der Fotografie auffallend prä- worden. Neben einzelnen Präsentationen, die die Abstraktion dium und seine Geschichte übertragen wurde. Mit dem Ziel, men: Das Team um Simon Baker, der zwischenzeitlich als Di- sent gewesen, noch hat sich die Forschung dem Phänomen im Titel trugen, finden sich weitere, die das Thema unter kon- die abstrakte Fotografie „aus einem kunstgeschichtlichen rektor an das Pariser Maison Européenne de la Photographie rückblickend angenommen. Eine systematische Aufarbeitung kurrierenden Begriffen wie autonome, experimentelle oder Mauerblümchendasein“ zu holen und sie „den Leistungen von gewechselt ist, hat der Geschichte von abstrakter Fotografie der problematischen Beziehung des gemeinhin auf Abbildung konkrete Fotografie behandelt haben [4]. Dabei wurden Bilder abstrakter Malerei und Skulptur während des 20. Jahrhun- und Kunst eine umfassende Retrospektive gewidmet: Shape of verpflichteten Mediums Fotografie und der Abstraktion als im einen Fall als „abstrakt“ vorgestellt, dienten im anderen derts vergleichbar“ [6] zu machen, wie dies Thomas Kellein Light. 100 Years of Photography and Abstract Art war vom 2. Mai zur Exemplifizierung der verwandten, aber durchaus variie- formulierte, wurde ein Medium durch das andere erklärt und bis zum 18. Oktober 2018 in der Tate Modern in London zu renden Konzepte. In den unterschiedlichen Terminologien, damit zugleich verklärt. Wie zuvor Gemälde erschienen so sehen (Abb. 1). die weitgehend auf dasselbe Bildmaterial angewandt wurden, auch Fotografien Gottfried Jäger zufolge als „auf sich selbst Es ist gleich in doppelter Hinsicht bemerkenswert, dass das „Abstraktion war Mitte spiegelt sich eine Verlegenheit der Theorie- und Gegenstands- verweisende, selbstreferenzielle, autopoietische Bildstruktu- Thema im Kontext der Fotografie vermehrt in den Fokus gerät. bestimmung, die dem Thema offenbar eingeschrieben ist. ren.“ [7] In das Londoner Projekt hat diese ‚klassisch‘-moder- Erstens geschieht dies zu einem Zeitpunkt, an dem die Abs- des 20. Jahrhunderts nicht Ontologisch scheint sich der Begriff der Abstraktion der nistische Lesart erfreulicherweise keinen Eingang gefunden. traktion als kunstgeschichtliches Paradigma an Kontur verlo- nur ein formales Konzept, Definition zu entziehen. Seine Verwendungsweise kann viel- Allerdings enthalten sich sowohl Ausstellung als auch Kata- ren hat. Der sie begleitende modernistische Diskurs ist längst mehr nur zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten be- log verallgemeinernder Thesen zu Geschichte und Theorie überholt: Als Leitdifferenz der Moderne war die Abstraktion sondern wurde […] eng mit stimmt werden. Daher gilt Abstraktion in der Kunstgeschichte der Abstraktion, die man bei einem Überblicksprojekt dieser eng mit dem 20. Jahrhundert verbunden, sie stand der Figura- modernistischen Diskursen heute als plurales Phänomen: Die „Geschichte der Abstrakti- Größe und Strahlkraft doch erwarten würde. tion gegenüber, wurde ideologisch gedacht und galt als Inbe- on ist eine von Einzelbewegungen und Strömungen“, so Sven Die ansprechend inszenierte und gleichermaßen mate griff für den ‚freien Westen‘. Mit der Erweiterung der Kunstfor- verbunden.“ Drühl [5]. Diese historisierende Perspektive liegt auch den we- rial- wie umfangreiche Ausstellung gliederte sich in einen men in den 1970er Jahren löste sich dann die ontologische nigen vorliegenden Aufarbeitungen zur Fotografie zugrunde, chronologisch angeordneten Ausstellungsdurchgang in Form Unterscheidung ‚abstrakt‘ versus ‚figürlich‘ im fröhlichen Pot- gerät aber zum Problem, wenn über die Einzelphänomene hi- von zwölf Kapiteln. Auf einen unbetitelten Prolog folgten pourri postmoderner Pluralität auf. Heute, so scheint es, ist das Leitdiskurs der modernen Kunst steht noch immer aus [2]. naus keine theoriegeschichtliche Reflexion geleistet wird. Ab- „Camera Work“, „New Vision“, „Objects and Construction“, Phänomen nur im Modus der Wiederholung zu lesen. Die Wenn die Ausstellung Shape of Light. 100 Years of Photography straktion war Mitte des 20. Jahrhunderts nicht nur ein forma- „Finding Form“, „Drawing with Light“, „Subjectivity and Abstraktion ist zum Zitat und die abstrakte Kunst selbst eine and Abstract Art daher mit dem unbescheidenen Postulat auf- les Konzept, sondern wurde, wie bereits angedeutet, eng mit Expression“, „Surface and Texture“, „Sense of Abstraction“, Tradition unter anderen geworden. Dass im Kontext der Foto- tritt, es handele sich um „[the] first major exhibition to explore modernistischen Diskursen verbunden. Obschon dieser onto- „Optical Effects“ (Abb. 2), „Minimalism and Series“ und „Cont- grafie gegenwärtig also ein entleerter Begriff fluktuiert, ver- the relationship of the two“ [3], so ist das angesichts der kunst- logisierende Zuschnitt heute selbst als historisches Phänomen emporary Abstraction“. Sie präsentierte mehrere Hundert 42 Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] 43
B ERI C H TE F OR S C H U N G (Leiterin des Bildarchivs der ETH-Bibliothek, Zürich) präsen- digital zu konzentrieren, wäre die Vermittlung unter dem As- Steffen Siegel tieren. Der zwischen 2011 und 2015 durchgeführte Versuch, pekt der Distanz in Betracht zu ziehen. In einer Welt, in der die Bildbestände wie eine Bildagentur zu vermarkten, habe alles überall und zu jeder Zeit verfügbar werden soll, könnte nicht den erwarteten Ertrag erbracht und zur Erkenntnis ge- führt, dass es für eine mit Steuergeldern finanzierte Instituti- die Wiedereinführung von Distanz eine neue Methode sein, mit der die Überlieferung des Erbes ins Auge gefasst werden PHOTOGRAPHY STUDIES AN DER FOLKWANG on geeigneter wäre, den Zugang so weit als möglich zu öffnen. Nach umfangreichen Abklärungen der Rechtelage wurde könnte.“ [3] Im Rahmen der Tagung wurde auf einem sehr hohen Ni- UNIVERSITÄT DER KÜNSTE IN ESSEN dies für nicht gemeinfreies Material unter der Creative-Com- veau zum aktuellen Stand der Kenntnisse über die Erhaltung mons-Lizenz BY-SA 4.0 möglich gemacht. der Fotografie sowie zu empfehlenswerten Vorgehensweisen Manuel Sigrist, Verantwortlicher für Web-Projekte und im Sinne der Best Practice referiert. Das entsprach den Er- Neue Medien am Musée de l’Elysée, stellte in seinem Referat wartungen der meisten Teilnehmenden und der durch sie ver- die Frage, ob die Digitalisierung und die Bereitstellung in digi- tretenen Institutionen. Zugleich sind aber auch fundamentale talen Datenbanken das Kulturgut wirklich zugänglich mache. Fragen, wie sie Treleani gestellt hat, zu diskutieren: Fragen Er kritisierte den allzu akademischen Umgang der Museen nach dem Sinn des Sammelns, Erhaltens und Vermittelns, mit dem Web und nannte als Alternativen die Nutzung von nach der Art und Weise, wie wir Artefakte unserer Zeit an Facebook, Instagram und SMS sowie verschiedener Storytell spätere Generationen weiterreichen. Der durch ‚Bilderflut‘, ing-Tools, wie sie etwa vom Northwestern University Knight Konservierungsproblematik und permanenten Technologie- Lab angeboten werden. Auch er plädierte für die Öffnung der wandel erzeugte Handlungsdruck erlaubt es offenbar nicht, Daten, für die vermehrte Partizipation des Publikums sowie viel Zeit mit solchen Überlegungen zu verbringen. Das führt eine verbesserte Kontextualisierung der Bilder. wiederum dazu, dass die Frage, was denn überhaupt wie Die Fotohistorikerin Estelle Blaschke (Université de Lau- überliefert werden soll, nicht mit der nötigen Beharrlichkeit sanne) stellte ihre Zusammenfassung der Tagung unter das verhandelt wird. Als Konsequenz droht eine Sinnkrise, deren Motto „Fragen über Fragen“. Die Fotografie, auch jene zu Do- Auswirkungen umso schlimmer sind, als das Verständnis für kumentationszwecken, sei heute als Kulturgut anerkannt. De- die Tätigkeit von Gedächtnisinstitutionen jenseits der unmit- finitionen seien aber unsicher geworden: Was ist ein Original, telbaren Zurschaustellung von Vergangenheit auf allen Kanä- was sind Metadaten, wer ist der Autor? Der Dialog zwischen len in der Gesellschaft kaum vorhanden ist. Technikern und Archivarinnen, IT-Spezialisten und Histori- Abb. 1 – Der Punkt, an dem das Bild an das Reale rührt, Ausstellung kerinnen sei wegen verschiedener Sprachgewohnheiten oft Anmerkungen im SANAA-Gebäude der Folkwang Universität der Künste, Juni 2018 schwierig. Das Abwägen zwischen Machbarem und Wün- (Foto: Elke Seeger). schenswertem und das ehrliche Sprechen über begangene [1] Das Programm ist online zugänglich unter (zuletzt eingesehen am 30.01.2019). bei der Vermittlung oft der Anreiz zum Ansehen, aber nicht Lange schon lassen sich die Medienwissenschaften kaum auf ihren Gegenstand disziplinierende Wirkung ausüben. Ich zum Verstehen dominiere. [2] (zuletzt eingesehen am 21.01.2019). Archäologie gehört hierher die Literaturwissenschaft in all te: Auf herausfordernde Weise ist die Fotografie ein undiszi- Beschränkung auf 20 Minuten leider erheblich eingeschränkt, ihren Spielarten von den Nationalphilologien bis zur Kompa- pliniertes Forschungsobjekt geblieben. Ohnehin ist es, genau sprach der italienische Semiologe Matteo Treleani (Université [3] Das Zitat stammt aus dem noch unveröffentlichten Manu- ratistik. Bereits seit Jahrzehnten wird dieser klassische Kanon besehen, eine Unmöglichkeit, von der Fotografie im Singular skript des Autors. Ausführlicher sind diese Überlegungen in de Lille) über „Zugänglichkeit und Medienberichterstattung. den folgenden beiden Publikationen enthalten: Matteo überdies erweitert – durch die Filmwissenschaft zum Beispiel zu sprechen. Sie sollte als ein Pluraletantum der Medienge- Die Zirkulation von Archivbildern zwischen Distanz und Treleani: Qu’est-ce que le patrimoine numérique? Une sémio- oder neuerdings durch eine Computerspielwissenschaft. Nur schichte gedacht werden. Ins Spiel kommt hierdurch eine Transparenz“. Es ging ihm darum, die digitale Zugänglichkeit logie de la circulation des archives, Lormont: Édtitions die Beschäftigung mit Theorie und Geschichte der Fotografie bemerkenswerte Vielzahl von Forschungsperspektiven. Von theoretisch zu hinterfragen. Ausgehend von der Feststellung, Le Bord de l’Eau 2017, sowie Matteo Treleani: Mémoires bleibt eine über die Disziplinen und Institutionen verstreute Geschichts- bis Kunstwissenschaft, von Philosophie bis Sozio- dass das Konzept Kulturgut die Weitergabe an spätere Genera- audiovisuelles. Les archives en ligne ont-elles un sens?, logie, von Ethnologie bis Gender Studies – das Spektrum in Angelegenheit. Bislang hat noch niemand von einer Fotowis- Montréal: Presse de l’Université 2014, online einsehbar tionen beinhalte, sieht er die digitale Übertragung durch das unter (zuletzt senschaft gesprochen. Ein solcher Befund ist gerade dann er- Frage stehender Forschungsfelder ist mit der Nennung solcher Web als das nächstliegende Verfahren. Dahinter versteckten eingesehen am 21.01.2019). staunlich, wenn man bedenkt, wie unverzichtbar die Präsenz Namen einzig angerissen. sich aber zahlreiche Fragen: Warum zirkulieren gewisse Bil- fotografischer Bilder geworden ist und wie weit ihr Einfluss Nicht nur am Rand sei bemerkt: Wie kaum eine zweite der im Web und andere nicht? Nach welcher Logik werden Autor inzwischen reicht. Doch ist damit wohl der wichtigste Grund Zeitschrift trägt der Rundbrief Fotografie gerade dieser Fest- gewisse Bilder zu Ikonen? Treleani plädierte dafür, statt die benannt, warum es die Fotowissenschaft im Sinn einer akade- stellung in jedem seiner Hefte auf bemerkenswerte Weise Vergangenheit den Nutzenden immer näher zu bringen, mehr Kurt Deggeller, Im Kugelfang 27, 4102 Binningen, Swit- mischen Disziplin nicht gibt. Rechnung. Soweit ich sehe, gibt es kein zweites wissenschaft- Distanz zu ihr zu schaffen: „Statt sich auf den Gegensatz zerland, Tel. +41-61-383-2845, k.deggeller@bluewin.ch Gewiss gibt es Anlass, eine solche Situation zu bedauern; liches Periodikum, in dem Archivarinnen und Restauratoren zwischen zugänglich und nicht zugänglich, digital und nicht allemal mit Blick auf Forschungsanträge und Stellenbewer- ebenso selbstverständlich publizieren wie Kuratoren oder Me- bungen. Dennoch müssen die gar nicht selten unternomme- dienwissenschaftlerinnen. Kein Zufall jedenfalls ist es, dass nen Versuche, fotogeschichtliche Forschung einer bestimm- die Beiträge des Rundbriefs an der Folkwang Universität in ten Disziplin – der Kunstwissenschaft etwa – zuzuschlagen, Essen aufmerksam gelesen werden. Seit inzwischen drei Jah- an der Sache des Fotografischen vorbeigehen. Disziplinen ren existiert an unserer Hochschule ein Studienprogramm, heißen ja auch deshalb gerade so, da sie, gewollt oder nicht, dem wir den Namen Photography Studies gegeben haben und 54 Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] Rundbrief Fotografie – Vol. 26 (2019), No. 1 [N.F. 101] 55
Sie können auch lesen