Scheinriese Kulturwirtschaft - Die Aufgaben der Kulturpolitik
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! schwerpunkt Die Aufgaben der Kulturpolitik Scheinriese Kulturwirtschaft Es ist noch nicht lange her, da drehten sich die allermeisten kulturpolitischen Diskussionen ums Geld, um schrump- fende Kulturetats und die schlechte Lage der Kommunalhaushalte. Jetzt scheint ein neues, nicht weniger materielles Thema der Kulturfinanzierung den Rang abzulaufen – die Kultur- oder Kreativwirtschaft. Bernd Wagner Nachdem bald von allen Bundesländern nisse der Kultur- und Kreativwirtschafts- politischen Voraussetzungen dafür, dass – teilweise auch schon in mehreren Fol- berichte herangezogen. Aus denen geht Künstler tätig werden können und ein gen – und inzwischen auch von einigen hervor – gleich ob der Anteil der Kultur- entsprechend aufnahmefähiges Publikum Städten „Kulturwirtschaftsberichte“ er- Kreativwirtschaft am Bruttoinlands- finden. Das ist der öffentliche, in fast al- stellt wurden und der Bundestag im No- produkt 2,5% oder 8% beträgt, er über len Bundesländern verfassungsmäßig vember parteiübergreifend die Erarbei- der Chemie und unter der Autoindustrie verankerte Auftrag von Kulturpolitik. tung eines entsprechenden Berichtes auf liegt oder umgekehrt, ob ihre Beschäfti- Und diese Kulturpolitik ist gestaltend Bundesebene einschließlich unterstützen- gungszahlen schneller oder langsamer und normativ und nicht nur verwaltend der Maßnahmen beschlossen hat, ist die steigen als in anderen Branchen –, dass und moderierend. Denn jede Förderent- Kultur- und Kreativwirtschaft ein immer dieser Bereich groß und wichtig ist, dass scheidung für etwas ist gleichzeitig eine häufiger diskutiertes Thema in der Kul- er wächst und dass er dafür staatliche gegen etwas anderes. Jede Berufung ei- turpolitik. Kümmerten sich anfangs Wirt- Hilfe benötigt. Für wen oder was das nes Intendanten und Museumsleiters ist schaftsdezernate, Mittelstandsministerien wichtig ist, bleibt erst einmal dahinge- die Entscheidung für eine – wie vage auch und Staatskanzleien um kulturwirtschaft- stellt – Hauptsache da wächst etwas. immer – inhaltliche Konzeption. Jedem liche Fragen und gaben entsprechende Die Vergleichs- und Wachstumszahlen Spielplan und jedem Curriculum, etwa Studien in Auftrag, so sind sie seit eini- mögen für Wirtschafts-, Standort- und einer Musikschule, liegt ein wie auch ger Zeit auch Gegenstand kulturpoliti- Haushaltspolitiker von Bedeutung sein, immer offener „Kanon“ kultureller Wer- scher Aktivitäten, Initiativen und Kon- aber warum auch Kulturpolitik davor te zugrunde. Kulturpolitik hat immer – gresse. (siehe hierzu den Schwerpunkt in ehrfürchtig erstaunen und in Hosianna- auch wenn sie bemüht sein muss, mög- Kulturpolitische Mitteilungen H. 119, IV/ rufe ausbrechen soll, bleibt verborgen. lichst wenig direktiv und lenkend in die 2007) Eine skeptische Haltung gegenüber der Autonomie der Künste und die Selbst- Dabei hat sich gerade in den kommu- sich in der Kulturpolitik verbreiternden zwecksetzung der Kultur einzugreifen – nalen Debatten unter dem Einfluss anglo- Feier kulturwirtschaftlicher Erfolgszah- mit Inhalten und Werten, mit Sinn, Be- amerikanischer Diskussionen das Gegen- len hat eigentlich nichts mit altmodi- deutung und symbolischer Produktion zu standsfeld von Kultur- auf Kreativ- schem Denken zu tun, sondern damit, tun. wirtschaft erweitert – wobei offen ist, was dass Kulturpolitik eben nicht Wirtschafts- Einer solchen inhaltlich bestimmten alles dazu gehört – und ist mit Versatz- oder Beschäftigungspolitik ist und sich Kulturpolitik können noch so imponie- stücke der Raum- und Stadtplanungs- nicht auf Eventmarketing und Standort- rende Wachstumszahlen von Beschäftig- diskussion wie „kreative Klasse“ faktoren reduzieren lässt. ten und Bruttoinlandsproduktanteilen erst (Richard Florida) und „kreative Stadt“ einmal gleichgültig sein, auch wenn sie (Charles Landry) angereichert worden. Alltagsarbeit – statt modischer von der Popindustrie, Designern oder „Kreativwirtschaft“ als Zukunftsmarkt, Diskursmantras dem Kunstmarkt erzielt werden und Wirt- Wachstumsbranche und Jobmaschine, so Aufgabe von Kulturpolitik ist die Ermög- schaftsdezernenten, Stadtmarketingab- oder ähnlich werden die verlockenden lichung der Teilhabe möglichst vieler teilungen und Oberbürgermeister leuch- Zukunftsbilder ausgemalt. Wer in dieses Menschen an Kunst und Kultur, sowie der tende Augen dabei bekommen. Mantra nicht einstimmt, gilt als hoff- Schutz und die Förderung der Künste und Das heißt nicht, dass Kulturpolitik nungslos altmodisch und hängt einem KünstlerInnen. Dazu bedient sie sich ei- nichts mit der Kulturwirtschaft zu tun „alten Denken“ nach, das – so die Strei- ner vielgestaltigen Förderpolitik, setzt die hätte, sondern nur, dass sie davon ausge- ter für das „neue Denken“ – noch von ordnungspolitischen Rahmenbedingun- hen sollte, was ihre Aufgaben sind und Vorstellungen einer „entökonomisierten gen für die Entfaltung von Kunst und dabei die bestehenden vielfältigen Zu- Kultur“ geprägt sei. Kultur und schafft mit ihrer Verantwor- sammenhänge besser zum beiderseitigen Als Belege für die neuen Entwicklun- tung für kulturell-künstlerische Grund-, Vorteil nutzen und hierbei neue Wege gen werden die Ergebnisse und Erkennt- Aus- und Fortbildung die bildungs- gehen sollte. Ausgangspunkt sind aber 36 AKP 1/2008
kultur ! Foto: aboutpixel.de immer die kulturpolitischen Ziele und mus absolutistischer Höfe bezog sich zen- atern, städtischen Orchester- und Kon- nicht die wirtschafts- und beschäftigungs- tral auf kunstgewerbliche Produktionen. zerthallen. Der öffentlich getragene und politische Stärkung eines Wirtschafts- Damit ging die Gründung von Kunstaka- der privatwirtschaftliche Kultursektor sektors. Unter einer solchen Betrach- demien einher. Bis Ende des 19. Jahrhun- bildet schon seit jeher – gemeinsam mit tungsweise schrumpft auch der neue derts war Theater in Deutschland vor al- einem drittern Sektor: dem frei-gemein- „Star“ im kulturpolitischen Diskurs- und lem ein Geschäftsbetrieb von Aktienge- nützigen intermediären Sektor der Ver- Tagungsbetrieb auf ein normales Maß sellschaften und Theaterunternehmern. eine, Stiftungen und anderen gesell- und taugt nicht mehr zum modischen Der Musikmarkt expandierte fast explo- schaftlichen Kooperationen – die vielge- Wortsingsang mit dem von den Alltags- sionsartig mit der Entwicklung der staltige Kulturlandschaft Deutschlands. aufgaben der Kulturpolitik abgelenkt Schallplatte um die Wende zum 20. Jahr- In allen Kunstsparten gab es zu fast wird. hundert. Mit Film und Rundfunk entstan- allen Zeiten Einrichtungen und Angebo- den kurze Zeit später die ersten audiovi- te von allen drei Akteursgruppen. In der Die lange Tradition der Kultur- suellen Massenmedien, die die kulturel- einen dominierten zeitweise privatwirt- wirtschaft le Produktion und Rezeption revolutio- schaftliche Angebote, der anderen staat- Um was geht es eigentlich in dieser Auf- nierten. lich-kommunale und in einer dritten die merksamkeit erheischenden Debatte? Diese Kunst-, Literatur-, Theater-, Mu- gesellschaftlichen Träger und umgekehrt. Dass es eine Kulturwirtschaft gibt und sik- und Filmmärkte, die nach Angebot Diese Verhältnisse verschoben sich im diese einen gewichtigen Anteil unserer und Nachfrage funktionieren, deren Me- Laufe der Zeit immer wieder, aber in der Kulturlandschaft ausmacht, sowie zudem dium Geld und deren zentrales Motiv Ge- Regel bildeten fast immer alle drei Trä- auch volkswirtschaftlich nicht unbedeu- winn ist, bildeten sich parallel und gergruppen das Angebot einer Sparte. So tend ist, ist wahrlich keine neue Erkennt- teilweise auch vor den öffentlichen, hö- gab es beispielsweise um 1900 circa 300 nis. Mit dem Beginn einer öffentlichen fisch-staatlichen und kommunal getrage- professionelle Theater in Deutschland, Kunstpolitik in der Renaissance entstan- nen Kultureinrichtungen aus: den staat- davon waren zwei Dutzend in höfisch- den gleichzeitig in Westeuropa ein Kunst- lichen Kunstmuseen, Kommunal- und staatlicher und lediglich zwei in kommu- und ein Literaturmarkt. Der Merkantilis- Landesbibliotheken, Stadt- und Staatsthe- naler Trägerschaft, mehr als 90% dage- AKP 1/2008 37
! schwerpunkt gen aber privatwirtschaftlich betrieben. reich. Viele ordnungspolitische Maßnah- Kulturpolitik herausgefordert, die späte- 100 Jahre später sichern etwa 150 von men der Kulturpolitik zielen besonders ren Kulturakteure und Künstler auf neue Kommunen und Ländern getragene The- auf ihn. Anforderungen einer Beschäftigungs- ater und 185 Privattheater sowie 2000 Auf dieses kulturpolitische Aufgaben- realität mit fließenden Tätigkeitsfeldern, freie Theater die professionelle Theater- portfolio aus Bildungs-, Ordnungs- und hohen Anforderungen an Marketing- und landschaft Deutschlands. in geringerem Anteil von Förderpolitik Selbstvermarktungsfähigkeiten, schwan- Solange wie es Kulturwirtschaft und beschränken sich bislang die Handlungs- kenden, meist niedrigen Einkommen und Kulturpolitik mit öffentlich getragenen möglichkeiten von Kulturpolitik gegen- einem ständigen Zwang zur Weiterquali- Kultureinrichtungen sowie gesellschaft- über der Kulturwirtschaft. Wenn sich das fizierung entsprechend vorzubereiten. lich organisierte Kulturangebote gibt, ändern soll, ohne die zentralen Aufgaben- Als Ordnungspolitik kann Kulturpoli- solange besteht auch ein wechselseitiger bestimmungen von Kulturpolitik – mög- tik etwa bestehende steuerliche und so- Austausch zwischen diesen drei Sekto- lichst vielen Menschen den Zugang zu zialrechtliche Bestimmungen auf die ver- ren. Erst diese Übergänge und Wechsel Kunst und Kultur zu ermöglichen und die änderte Arbeitswirklichkeit der Künstler machen die Lebendigkeit des Kultur- Künste und Künstler zu fördern – aufzu- und vielen Klein- und Kleinstunterneh- bereiches aus und bringen neue Kunst- geben, dann muss deutlich gemacht wer- mer im kulturellen Feld anpassen. Als formen und künstlerische Weiterentwick- den, was sich gegenüber den bisherigen Förderpolitik kann sie Räume schaffen, lung hervor. Das trifft und traf auf die Bedingungen verändert hat und warum in denen die Übergänge sich leichter voll- große Masse der unbekannten Künstler, ein anderes kulturpolitisches Handeln ziehen lassen, Begegnungen zwischen Musiker und Schauspieler eben so zu, wie hier sinnvoll ist. verschiedenen Feldern möglich sind und auf namhafte Künstler. Cranach und neue Allianzen entstehen können. Sie Dürer waren agile Kulturunternehmer. Neujustierung: Staat – Markt – kann bei der Künstlerförderung, gemein- Cranach gleichzeitig sächsischer Hof- Gesellschaft sam mit der Wirtschaftsförderung und der maler, Mozart Angestellter des Kaiser- Augenscheinlich ist, dass sich die heuti- Beschäftigungspolitik, durch ihre spezi- hofes, er reüssierte mit der „Zauberflöte“ ge kulturelle Trägerlandschaft gegenüber fischen Kenntnisse des kulturellen Fel- an einem privaten Wiener Vorstadttheater. den letzten zehn bis zwanzig Jahren ver- des passgenauere, unterstützende Maß- Kulturpolitik als staatlich-kommunales ändert hat. Die stagnierenden Kulturhaus- nahmen für den Markteintritt der jungen Handeln in Kunst und Kultur hat in un- halte, ein neuer Aufschwung bürger- Kulturunternehmer und Beratungen an- terschiedlichem Umfang mit allen drei schaftlichen Engagements etwa im Stif- bieten. Sektoren zu tun. Der staatlich-kommu- tungswesen, eine stärkere marktwirt- Das häufige Wortgebrubbel um Inno- nale Sektor ist der zentrale Gegenstands- schaftliche Orientierung öffentlich getra- vations- und Kreativitätspotenziale, Zu- bereich öffentlicher Kulturförderung. Die gener Kultureinrichtungen, neue Arbeits- kunftsressourcen, Wissensgesellschaft, 8,3 Mrd. € an öffentlichen Kulturauf- felder und Kulturberufe in und zwischen immaterielle Produktion und so weiter, wendungen jährlich fließen zu einem gro- privatwirtschaftlichem und freigemein- mit denen die Debatte um die Kultur- und ßen Teil in diesen Bereich. Mit dem an- nützigem Sektor und eine größere Durch- Kreativwirtschaft vielfach garniert und in deren geringeren Anteil werden die An- lässigkeit zwischen den verschiedenen Hochglanzbroschüren unter das Kultur- gebote und Einrichtungen des frei-ge- Bereichen, fließende Übergänge und viel- volk gebracht wird, bringt dabei keinen meinnützigen, intermediären Sektors ge- fältige neue Arrangement von gemeinsa- Deut weiter. Bei Michael Endes „Jim fördert. Der kulturwirtschaftliche Bereich men Trägerschaften privatwirtschaft- Knopf“ gibt es den Scheinriesen Turtur, ist nicht Gegenstand der öffentlichen licher, freier und öffentlicher Akteure sind der übermächtig scheint, aber immer klei- Förderung, da er sich über den Markt fi- einige der zentralen Veränderungen im ner wird, je näher man ihm kommt, bis nanziert und trägt. Eine Ausnahme bil- gegenwärtigen kulturellen Feld. Diese er das normale Maß jedes Irdischen hat, det hier die Künstlerförderung, wie Sti- haben das Verhältnis zwischen den Sek- wenn man ihm gegenübersteht. Er ist ein pendien, Preise, Atelierprogramme, mit toren gewandelt, ohne ihre grundsätzlich liebenswerter Geselle, der gar nichts Ehr- denen Künstler als Akteure in und zwi- unterschiedlichen Handlungslogiken und fürchtiges mehr an sich hat, wenn er sich schen allen drei Sektoren unterstützt wer- Zielsetzungen aufzuheben. Die Wechsel in normaler Umgebung befindet. Wird den. zwischen den Sektoren sind häufiger, die die Kulturwirtschaft von ihrem gegen- Allerdings betreffen die beiden ande- Arbeit bei unterschiedlichen Trägern üb- wärtigen Hype befreit und wieder auf das ren Dimensionen der Kulturpolitik, die lich, die Übergänge flüssiger geworden. zurückgeführt, was sie schon immer war Setzung ordnungspolitischer Rahmen- Neue Arrangements für die Einzelnen und ist, dann kann im kulturpolitischen bedingungen von Kunst und Kultur wie und kooperative Trägerschaften für die Alltagsgeschäft auch normal über verän- Urheber- und Verwertungsrechte, Steuer- Einrichtungen werden zum Alltag. derte Anforderungen und Aufgaben dis- gesetzgebungen, Künstlersozialkasse und Hier liegen neue Aufgaben für die Kul- kutiert werden, ohne in Hochachtung vor Ähnliches, sowie die Qualifizierung der turpolitik, die aber in den Kulturwirt- irgendwelchen Prozentzahlen und Inno- Künstler und des Publikums in Musik- schaftsberichten mit hoch aggregierten vationskreativitätsgedankenverrenkun- und Kunsthochschulen, Kunstgewerbe-, Beschäftigungs- und Wachstumszahlen gen in Ehrfurcht zu erstarren. Musik- und Volkshochschulen und in den von IHKs, statistischen Ämtern und ! Der Autor ist wissenschaftlicher Leiter des allgemein bildenden Schulen das gesam- volkswirtschaftlichen Gesamtrechnun- Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen ten kulturell-künstlerische Feld und da- gen nicht erfasst werden. Als Träger von Gesellschaft und Herausgeber der Reihe mit auch den kulturwirtschaftlichen Be- Bildungseinrichtungen ist öffentliche Jahrbuch für Kulturpolitik. 38 AKP 1/2008
kultur ! Identifikation braucht Gefühle Europas kulturelle Seele „Europa“ – da denken heutzutage viele Menschen an einen bürokratischen Wasserkopf und an die schon fast zu Tode zitierte Richtlinie, die angeblich den Krümmungsgrad der Banane vorgibt. Beides wird Europa nicht gerecht, denn Europa kann mehr sein, ja, ist viel mehr als das. Helga Trüpel „You will not fall in love with the internal te“ von Fatih Akin, der von der Zerris- kein Hindernis, sondern eine Chance und market.“ Mit diesem Satz hat senheit einiger Menschen zwischen eine Bereicherung ist. Kommissionspräsident Barroso eine der Deutschland und der Türkei handelt, von Schon seit 17 Jahren existiert die eu- derzeitigen Schwächen der EU treffend der Balance der Protagonisten zwischen ropäische Filmförderung mit dem Pro- zusammengefasst: Mit einer EU, die die den Kulturen, zwischen unterschiedli- gramm MEDIA: Damit unterstützt die BürgerInnen als fern ab im „Raumschiff chen Orten, die sie auf unterschiedliche EU die Schaffung und Verbreitung euro- Brüssel“ assoziieren, fällt es schwer sich Weise geprägt haben und die Heimat für päischer Filme, aber auch Filmfestivals, zu identifizieren. Deshalb wollen und sie sein können, ist ein wunderbarer Bei- die wiederum als Ort der direkten Begeg- müssen wir die EU ihren BürgerInnen trag zu einer europäischen Öffentlichkeit. nung, des Kennenlernens von Neuem, bis näher bringen, sie direkt erfahrbar und „Zu hause“ ist schon lange kein nationa- dato Unbekanntem und den Austausch auch zu Hause in den Städten und Dör- ler Begriff mehr. darüber ermöglichen. Dies sind Schritte fern greifbar, spürbar machen. Identifi- in Richtung auf eine gemeinsame euro- kation braucht mehr, als den Binnenmarkt Filmförderung päische Öffentlichkeit. – der zweifellos notwendig ist – und mehr Eine wirklich europäische Öffentlichkeit Die übergeordneten Ziele des von der als Debatten über Richtlinien und Grenz- fehlt uns bisher: es gibt in der EU viele, EU aufgelegten Programms KULTUR werte. Identifikation braucht Begeiste- meist nationale Öffentlichkeiten. Auch sie 2007-2013 bestehen darin, Kunst und rung für eine Sache. Das Europäische sind Teil der EU und setzen sich mit ihr Kultur, sowie KünstlerInnen und Kultur- Parlament will die BürgerInnen für Euro- auseinander, aber sie führen selten grenz- schaffende mobiler zu machen und den pa gewinnen und begeistern. überschreitende Diskurse über europäi- interkulturellen Dialog innerhalb der EU Voraussetzung für eine Identifikation sche Themen. Das Europäische Parla- zu fördern. Dazu gehört auch, bislang mit der EU ist das Vorhandensein von ment hat sich die Ausbildung und Förde- nicht übersetzte Werke europäischer geteilten Erfahrungen und Werten, ge- rung einer europäischen Öffentlichkeit Schriftsteller übersetzen zu lassen, um sie nauso wie die Auseinandersetzung darü- auf die Fahnen geschrieben. Dazu gehört möglichst vielen Menschen in ihrer je- ber. Kollektiv geteilte Erfahrungen hat es auch seit kurzem ein auf Initiative der weiligen Muttersprache zugänglich zu in Europa gegeben: nicht umsonst ist die Grünen neu geschaffener Filmpreis machen – der Film-Untertitelung in 23 EU, die zunächst als „Montanunion“ an- namens LUX, der im Oktober 2007 zum Sprachen vergleichbar. Außerdem sollen fing, durch die Vergemeinschaftung von ersten Mal verliehen worden ist – an den europaweit tätige Kultureinrichtungen Kohle und Stahl zum Wiederaufbau, aber Film von Fatih Akin. gestärkt und Analysen und Informations- auch zur Friedenssicherung, nach dem Das Procedere sieht vor, dass zunächst verbreitung über die kulturelle Zusam- zweiten Weltkrieg zu einem einzigartigen Filmexperten unter den eingereichten Fil- menarbeit in Europa gefördert werden. Friedensprojekt herangewachsen. Und men eine Vorauswahl von drei Beiträgen Aber wie und wo ist Europa in Greifs- sie ist es bis heute. Die Forderung „Nie treffen. Aus diesen ermitteln dann die wald, Coesfeld oder Schwäbisch Gmünd wieder Auschwitz“ steht an der Wiege der EU-Abgeordneten ihren Favoriten. Ziel erfahrbar? Wie können wir auch jenseits EU. Ihr sind und bleiben wir verpflich- der Preisverleihung ist es, die Verbreitung der Metropolen und der Großprojekte an tet. europäischer Filme auch über Landes- einer „Europäischen Erzählung“ schrei- Identifikation braucht Gefühle. An die- grenzen hinweg zu fördern. Das drückt ben? Ein Beispiel für die vielen kleine- sem Punkt kann europäische Kulturpoli- sich auch in der Art des Hauptgewinns ren europäischen Erzählungen im Alltag, tik ansetzen: Wir brauchen eine gemein- aus: Statt einer Geldprämie winkt dem die sich zu einer großen Erzählung zu- same „europäische Erzählung“. Das muss preisgekrönten Film die Untertitelung in sammenfügen, sind die Städtepartner- einhergehen mit einem Sich-Kennen- 23 EU-Sprachen. Diese Untertitel ma- schaften: So lernen etwa die Einwohner- lernen unter den mittlerweile vielen Völ- chen eine sofortige, universelle Ausstrah- Innen von Coesfeld die BürgerInnen der kern der EU. Der im Herbst in die Kinos lung des Films möglich. Das Europäische Stadt De Bilt in den Niederlanden ken- gekommene Film „Auf der anderen Sei- Parlament beweist damit, dass Vielfalt nen, GreifswalderInnen kommen in di- AKP 1/2008 39
! schwerpunkt rekten Austausch und persönlichen Kon- in unterschiedlichen Mitgliedstaaten, las- auf europäischer Ebene (z.B. dauerhafte takt mit den BürgerInnen der schwedi- sen sich andere europäische Geldquellen Vernetzung von Organisationen bzw. Ein- schen Stadt Lund und BewohnerInnen erschließen. Grundsätzlich gilt aber für richtungen). Er bezeichnet damit sowohl des Städtchens Schwäbisch Gmünd so gut wie alle europäischen Fördermittel den ideellen als auch den praktischen knüpfen Kontakte zu Einwohnern der im kulturellen und zivilgesellschaftlichen Nutzen eines Projekts für den europäi- ungarischen Stadt Székesfehérvár oder Bereich: Das Wegbrechen von kommu- schen Einigungsprozess. dem italienischen Faenza. nalen, regionalen oder Bundesmitteln Und auch wenn diese Definition Mit dem Programm EUROPA FÜR kann nicht einfach durch einen Antrag bei zunächst trocken klingt, so führt sie im BÜRGER/INNEN fördert die EU die der EU ersetzt werden! Denn die EU will Endeffekt wieder genau dorthin zurück, Beteiligung der Menschen beim Zusam- mehr, weil sie selbst auch ein Mehr ist. wo dieser Artikel begonnen hat: Bei der menwachsen Europas und die Verständi- In einem Antrag etwa zur Projektför- Förderung des Zusammenwachsens und gung der europäischen Völker unterein- derung wird immer von den Antrag- der Identifikation mit Europa durch das ander. Die sog. „Aktion Aktive Bürger/ stellenden verlangt, den „europäischen Sich- und andere Kulturen-Kennen- innen für Europa“ fördert Städtepartner- Mehrwert“ der Kooperation dazulegen. lernen. Zum Schluss noch ein Hinweis schaften und Bürgerprojekte, die zur Darin sind gleich zwei wichtige Fakto- und eine Ermutigung: Neben den hier Annäherung der Völker, zur Stärkung des ren enthalten: Zum einen müssen es genannten Programmen „KULTUR europäischen Bewusstseins und zur Ent- immer Kooperationsprojekte von drei bis 2007-2013“und „EUROPA FÜR BÜR- wicklung einer aktiven und teilnehmen- zu sechs beteiligten Partnern aus unter- GER/INNEN“ lohnt es sich auch immer, den Unionsbürgerschaft beitragen. Die schiedlichen Mitgliedsstaaten sein. Die sich mit dem für die eigene Heimatregion EU verfolgt mit diesen Zuschüssen das Zahl hängt von der Art des Förderpro- vorhandenen Strukturfond EFRE („Eu- wesentliche Ziel, die bestehenden Verbin- gramms ab. Zum anderen muss man mit ropäischer Fond für die Regionale Ent- dungen zwischen Städten zu festigen und dem sperrigen Begriff des „europäischen wicklung“) zu beschäftigen. Dieser dient neue Partnerschaftsinitiativen durch ge- Mehrwerts“ hantieren. zwar originär dem Ausbau von Infra- zielte Förderung anzuregen. Sie unter- struktur und der Förderung lokaler Ent- stützen die Mobilität der BürgerInnen wicklungsprojekte und Hilfen für kleine sowie das Zirkulieren von Ideen inner- ! service und mittlere Unternehmen. Es besteht halb der EU. aber die Möglichkeit, auch in diesem Auch die Idee der Städtepartnerschaf- Bereich bereitgestellte Mittel zur Kultur- Links zu den Programmen ten ist ein klassisches Friedensprojekt: förderung – meist in benachteiligten Sie entstand nach dem Zweiten Welt- www.ccp-deutschland.de Stadtteilen – ausfindig zu machen. In der krieg, um sich in Europa wieder einander www.europa-foerdert-kultur.info Regel ist es hierfür sinnvoll, sich an das anzunähern und als Nachbarn am Wie- www.helgatruepel.de/Foerderpro- jeweilige Wirtschaftsministerium zu wen- deraufbau des Friedens mitzuwirken. gramme.20.0.html den, da die Zuständigkeit für die Struktur- Städtepartnerschaften fördern durch Aus- fonds üblicherweise dort angesiedelt ist. Cultural Contact Point Deutschland, tauschaktivitäten in unterschiedlichen Haus der Kultur – c/o Kulturpolitische Die meisten Ausschreibungen für eu- Bereichen wie Bildung, kommunale Ver- Gesellschaft e.V., Weberstr. 59a, ropäische Programme haben bedauer- waltung, Jugend, Sport, Kultur etc. das 53113 Bonn, Tel: 0228/201350, Fax: licherweise einen Pferdefuß: Obwohl sie friedliche Zusammenleben zwischen 0228/2013529, info@ccp-deutschland das Zusammenwachsen und die Offen- Menschen verschiedener Nationalitäten, .de, www.ccp-deutschland.de heit für einander fördern sollen, sind sie Sprachen und Religionen und liefern po- in einer bürokratischen, abstrakten Spra- sitive Beispiele gegen Fremdenfeindlich- che verfasst, die das nicht gerade aus- keit und Ausgrenzung. Das „Lernen vom drückt. Schlimmstenfalls kann sie sogar Nachbarn“, auch im Bezug auf fremde Der europäische Mehrwert ist eines der Entmutigung, statt Ermutigung hervorru- Sprachen, kann eine große Bereicherung zentralen Bewilligungskriterien für Zu- fen. Trotzdem will ich alle europäischen für die kommunalpolitische Praxis dar- schüsse der EU. Er ist ein zusätzlicher BürgerInnen ermutigen, die Finanzquel- stellen und den Blick für die Vielfalt Wert, den ein Projekt durch die Koope- len der EU zu nutzen. Im Kulturbereich Europas öffnen – ein wichtiger Bestand- ration mit Partnern auf europäischer Ebe- haben wir die glückliche Situation, dass teil des Sich-Kennenlernens! ne erhält und der die EU-Förderung be- es eine nationale Beratungsagentur in gründet, weil die Ziele, Methoden und Bonn gibt, an die man sich bei der Suche „Europäischer Mehrwert“ Formen der Zusammenarbeit über loka- nach Unterstützung wenden kann: den Wenn es nicht gerade um europäisch ge- le, regionale oder nationale Interessen Cultural Contact Point. förderte Städtepartnerschaften geht, hof- hinaus weisen. Gemessen wird der euro- fen oft genug kleine Institutionen oder päische Mehrwert u.a. an dem Grad der Einbeziehung aller Kooperationspartner ! Dr. Helga Trüpel, stammt aus Moers und Projekte darauf, über EU-Mittel vielleicht ist Literaturwissenschaftlerin. Seit 2004 für auch ihre prekäre Finanzsituation erträg- in Planung und Durchführung des Pro- B90 / Die Grünen als Abgeordnete der Han- licher zu gestalten. Für diese kleineren jekts, der Sachkenntnis und Erfahrung sestadt Bremen im EU-Parlament; dort u.a. Projekte, wie möglicherweise die Zusam- der Projektverantwortlichen, der europä- stellvertretende Vorsitzende des Kulturaus- ischen Dimension der Zielgruppe des schusses. menarbeit und der Austausch zwischen mehreren stadtgeschichtlichen Archiven Projekts und dem nachhaltigen Nutzen 40 AKP 1/2008
kultur ! Wir werden älter Demographische Faktor und die Kultur Die Beschäftigung mit der Frage der demographischen Entwicklung ist gesellschafts- und kulturpolitisch nicht ganz leicht. Über die Interpretation und Bewertung der Fakten und Prognosen streiten sich die „Gelehrten” bis heute – ideologische Grabenkämpfe eingeschlossen – und ist diese Hürde genommen, bleibt immer noch die skepti- sche bis defätistische Haltung: Was kann Kulturpolitik daran schon ändern? Norbert Sievers Foto: aboutpixel Man gerät leicht in Gefahr, in bereit lie- dabei vergessen, dass die Tatsache, dass „Multioptionsgesellschaft“ im Alter eben gende Fallen zu treten. Da ist etwa die die Menschen heute – zumindest in den nicht teilhaben können. Es ist Aufgabe „Konservativismusfalle“, die jene gerne wohlhabenden Staaten – älter werden und der Politik, auch diese Menschen im aufstellen, die das Thema Demographie länger gesund bleiben, ein gesellschaft- Blick zu haben. Gerade im Alter wird nur im Zusammenhang mit nationalsozi- licher Fortschritt ist. Viele Menschen deutlich, wie soziale Exklusion und kul- alistischer Mutterkreuzideologie sehen können ihn erleben und genießen. turelle Exklusion eine unheilige Allianz können. Andererseits ist aber auch vor der Andererseits gibt es aber auch hier eingehen. „Alarmismusfalle“ zu warnen, in die man Schattenseiten, weil diesen vielen Men- Die Kommunalpolitik sollte dies zum durchaus geraten kann, wenn man allzu schen noch mehr gegenüberstehen, die Thema machen und versuchen, mit ihren stark die negativen Folgen des demogra- dieses Glück nicht haben, die auf Grund Möglichkeiten eine Politik der Chancen- phischen Wandels betont. Zu schnell wird von Krankheit und Geldknappheit an der gleichheit, Teilhabegerechtigkeit und Le- AKP 1/2008 41
! schwerpunkt bensqualität für alle Menschen zu formu- schen Verschiebung im Generationen- Altersdemographie und Kul- lieren. Diesen Anspruch gilt es, auch in verhältnis zu tun, die zu einer Überalte- turpolitik der Kulturpolitik wieder kenntlich zu rung respektive „Unterjüngung” der Be- Ja und ...? wird angesichts dieser Ent- machen und zwar gerade im Zusammen- völkerung führt. Gleichzeitig erhöht sich wicklungen häufig gefragt: Was hat das hang mit dem Thema Alter. Denn auch die Anzahl der alten und hoch betagten alles mit Kulturpolitik zu tun? Sehr viel. und gerade am Umgang einer Gesell- Menschen, weil die Lebenserwartung bei Wir befinden uns gewissermaßen schon schaft mit dem Alter und ihren alten Men- Männern (80 Jahre) und Frauen (84 Jah- in der Anfangsphase einer durch die schen erweist sich, welches kulturelle re) – bei besserer Gesundheit – weiter demographfischen Fakten und den Struk- Niveau sie hat. steigt (s. Kaufmann 2007: 35). turwandel der Gesellschaft beeinflussten Wenn vom demographischen Wandel Wir werden bunter: Bei einem ange- Kulturpolitik. Alter ist ein Thema der die Rede ist, folgt alsbald die Beschrei- nommenen Einwanderungsüberschuss Kulturpolitik geworden und dies aus gu- bung: Wir werden weniger, älter und bun- von ca. 200.000 Menschen pro Jahr – ten Gründen. Die Schrumpfung der Be- ter. Damit sind in der Tat die wichtigsten davon geht die 10. koordinierte Bevöl- völkerung ist auch für die Kulturpolitik Veränderungen benannt. Hier die wich- kerungsvorausberechnung des Statisti- ein Fakt und wird sich selbstverständlich tigsten Daten und Trends: schen Bundesamtes aus – wird der An- auswirken auf die Besucherstruktur der Wir werden weniger: Die Weichen für teil der Migranten einschließlich ihrer Kultureinrichtungen und bei Investitions- die demographische Entwicklung in den Nachkommen und einschließlich der entscheidungen für neue Einrichtungen. nächsten 40 Jahre sind – so scheint es – schon heute in Deutschland lebenden In den ostdeutschen Bundesländern ist unumkehrbar gestellt. Die Bevölkerung Menschen mit einem Migrationshinter- das Thema Rückbau kultureller Einrich- in Deutschland wird bis 2050 bei einem grund bis 2050 auf rund 30% im Schnitt tungen bereits kein Tabu mehr und wird angenommenen jährlichen Wanderungs- zunehmen. In Städten wie Frankfurt am richtigerweise als Gestaltungsaufgabe überschuss von 200.000 Menschen um Main und München ist dieser Anteil ernst genommen. Die SchülerInnen der ca. 7,5 Mio., bei einem Zuwanderungs- schon jetzt erreicht. Stadtteile mit einem ca. 2000 Schulen, die in den ostdeutschen saldo von Null um ca. 20 Millionen Men- Anteil von 50% und mehr Prozent an Bundesländern seit der Wende aufgrund schen abnehmen. Bis zum Ende des 21. Migranten aus einer Vielzahl von Natio- von zu geringen Schülerzahlen geschlos- Jahrhunderts wird eine Schrumpfung auf nen mit unterschiedlichen Kulturen und sen worden sind, fehlen natürlich auch 50 Mio., im schlimmsten Fall, also ohne Sprachen sind schon heute keine Selten- in den Museen, den Musikschulen und positiven Zuwanderungssaldo auf 32 heit mehr. später in den Theatern und Konzerthäu- Mio. Menschen erwartet, wenn die Ge- Diese Daten sollen nicht erschrecken sern. burtenrate auf konstant niedrigem Niveau oder ein allzu pessimistisches Bild zeich- Dort wie hier gibt es deshalb keinen von durchschnittlich 1,4 Kindern bleibt nen. Aber man sollte sich schon im Kla- politisch plausiblen Grund, weshalb Kin- (s. Kaufmann 2007: 34f.). ren darüber sein, welche wirtschaftlichen, dergärten und Schulen geschlossen wer- Diese Entwicklung vollzieht sich nicht politischen, sozialen und kulturellen Fol- den und die kulturelle Infrastruktur lang- gleichförmig, sondern – regional diffe- gen damit verbunden sind oder sein kön- fristig unangetastet bleiben sollte. Die renziert – in unterschiedlicher Intensität. nen. Die Stichworte sind bekannt und Infrastrukturpolitik der Städte ist ins- Schon jetzt gibt es ein Nebeneinander sollen hier nur kurz ins Gedächtnis geru- gesamt betroffen. Sie kann in den wachsender und schrumpfender Regio- fen werden: schrumpfenden Regionen nicht mehr auf nen. Von Schrumpfung sind vor allem die • Gefährdung der Altersversorgung Wachstum orientiert sein, sondern auf ostdeutschen Länder betroffen, aber auch (auch: Altersarmut), Optimierung und Konzentration, die die strukturschwache Gebiete wie z.B. das • Explosion der Gesundheitskosten, Nachfragesituation und den finanziellen Saarland, die Rhön, der Harz, Nordhessen • Erosion familiärer Netzwerke und Ver- Rahmen bedenkt und einen problemati- und das Bayerische Fichtelgebirge (s. schen Sog in eine Abwärtsspirale vermei- wandtschaftsbeziehungen, soziale Iso- Kocks 2007). det. lation im Alter, Pflegenotstand, Wir werden älter: Ohne gravierende Was kann Kulturpolitik angesichts der • Herausbildung von Parallelgesellschaf- Veränderung der Geburtenrate und des demographischen Entwicklung tun? Sie ten, Segregation, intergenerative Ver- Zuwanderungssaldos wird der so genann- gehört sicherlich nicht zu den politisch teilungskämpfe, te Altenquotient sich bis zum Jahr 2050 bedeutenden Instrumenten, mit denen in etwa verdoppeln. Das bedeutet, dass • sowie generell die kumulierenden Ef- etwa die Geburtenrate angehoben werden dann 100 Personen im erwerbsfähigen fekte sich gegenseitig verstärkender könnte, um jenes „Humanvermögen“ – Alter ca. 80 Senioren gegenüberstehen Problementwicklungen in schrumpfen- gemeint sind gut erzogene und gut aus- werden, wenn die Altersgrenze bei 60 den Kommunen wie etwa die geringe- gebildete Kinder und Jugendliche – zu Jahren angenommen wird, was dem bis- ren Steuereinnahmen auf der einen bilden, auf das jede zukunftsfähige Ge- herigen faktischen Berufsaustrittsalter Seite sellschaft angewiesen ist. Auch mit Blick entspricht. Gleichzeitig geht der Jugend- • und die Unterauslastung der Infra- auf eine Steuerung der Zuwanderung, sei quotient, also das Verhältnis der Kinder struktureinrichtungen bei z.T. steigen- es die Fernwanderung oder die interregio- und Jugendlichen zu den Personen im den Kosten andererseits. nale Binnenwanderung, ist sie eher irre- erwerbsfähigen Alter, bis zum Jahr 2020 Das alles macht eine Strukturanpassung levant. „Ausstattungen mit Kulturein- zurück, um dann in etwa konstant zu blei- in hoher Geschwindigkeit und zum Teil richtungen bilden kein starkes Wande- ben. Wir haben es also mit einer drasti- großer Radikalität erforderlich. 42 AKP 1/2008
kultur ! rungsmotiv.“ (Göschel 2007: 37) – allen Kultureinrichtungen Bedarfsanalysen gehen aus ihren Häusern heraus in die gut meinenden Mutmaßungen zum Trotz. durchgeführt werden. In konzeptioneller Stadtteile und Vororte, um neue Be- Lediglich im Wettbewerb der Wachs- Perspektive macht es Sinn, das Instru- suchergruppen zu erschließen. Hinzu tumsregionen untereinander mögen sie ment der Kulturentwicklungsplanung aus kommen zielgruppenorientierte Veran- eine gewisse Rolle spielen – also etwa den 1970er Jahren wieder zu beleben, wie staltungszeiten, Optimierung der Ver- bei der Elbphilharmonie in Hamburg oder es in verschiedenen Städten jetzt auch kehrsanbindungen, Länge der Pausen, ähnlichen Renommierprojekten. Trotz- gemacht wird. In schrumpfenden Städ- Barrierefreiheit der Gebäude, bessere In- dem ist die Kulturpolitik herausgefordert, ten und Regionen werden in Zukunft formationen und die Schulung des Per- sich der demographischen Frage zu stel- sicherlich neue kulturelle Infrastrukturen sonals etc. Es gibt eine Vielzahl von Mög- len und auf mindestens drei Handlungs- gebraucht, die wieder stärker auf Bringe- lichkeiten, kulturelle Angebote und Ein- ebenen zu reagieren. strukturen setzen, Selbsttätigkeit fördern richtungen für ältere Menschen attraktiv und Beteiligungsbarrieren reduzieren. zu machen. Die erste Handlungsebene: Das ist die strategischen Ausrichtung der Kulturpo- Fazit litik. Dominierte in den vergangenen Generell ist die Ausgangs- und Zukunfts- dreißig Jahren eher eine Politik der An- lage so schlecht nicht: Noch nie zuvor gebotsvermehrung, so bedarf es jetzt ei- gab es so viele ältere Menschen, die über nes Wechsels von der Angebots- zur so viel Zeit, Geld und Bildung verfügen Nachfrageorientierung. Wichtig sind ak- konnten wie die heutigen Senioren – und tivierende Strategien, um neues Interes- es werden immer mehr. Es gibt also ein se zu wecken und damit Nachfrage zu großes Potenzial von Menschen, die prin- erzeugen. Hier kommen die kulturelle zipiell für kulturelle Angebote und Akti- Bildung, die ästhetische Erziehung an den vitäten ansprechbar sind. Aber Vorsicht allgemein bildenden Schulen und im Vor- bei langfristigen Planungen: Spätestens schulbereich, aber auch die vielfältigen wenn die „Babyboomer“ ins Alter der außerschulischen Angebote ins Spiel. Es Hochbetagten kommen, also etwa ab ist bekannt: Wenn es nicht gelingt, Kin- 2030, kann nicht mehr damit gerechnet der und Jugendliche sehr früh für Kunst werden, dass die Alten die Kulturein- und Kultur zu begeistern, werden sie ent- Foto: aboutpixel.de richtungen noch füllen. sprechende Präferenzen auch im Erwach- senenalter nicht ausbilden. Die großen Die beschriebenen Probleme und An- Modellprojekte wie „Jedem Kind ein In- Im ländlichen Raum wird man nicht merkungen sind nur einige Indizien dafür, strument“, „Jedem Kind eine Stimme“ umhin kommen, Einrichtungen zusam- dass Kulturpolitik sich angesichts der und „Schule & Kultur“ in NRW sind Bei- men zu legen und intelligente Koopera- demographischen Entwicklung neu “er- spiele dafür, wo dies erkannt wurde. tionsformen zu entwickeln. Die Unter- finden” muss, um für das 21. Jahrhun- stützung der Vereinskultur und des bür- dert gewappnet zu sein. Um ihrer selbst Ein großes Defizit deutscher Kulturpo- gerschaftlichen Engagements wird hier in willen muss es der Kulturpolitik um mehr litik besteht darin, dass sie die Gruppe Zukunft noch an Bedeutung gewinnen. als um vordergründige Bestandssiche- der Migranten bisher nicht berücksich- Auch dafür bedarf es neuer Konzepte. rung gehen – um ihre Neubegründung im tigt hat. Sie ist in den Kultureinrichtungen Unter dem Gesichtspunkt der Auslastung Kontext einer veränderten Gesellschaft, statistisch kaum nachweisbar. Anderer- sind hier Standorte zu wählen, die gut in der es für den Kulturbetrieb nicht we- seits wissen wir, dass zumindest in den erreichbar sind und wo Menschen ohne- niger Aufmerksamkeit und Aufgaben Ballungsräumen schon in ein paar Jah- hin zusammen kommen. Vom Programm geben wird, aber ganz sicher andere Kon- ren nahezu 50% der unter 25-jährigen her wird es sich anbieten, die Einrichtun- zepte und neue Argumente geben muss. einen Migrationshintergrund haben und gen möglichst multifunktional auszurich- sich die Bevölkerung in den nächsten ten und ggf. mit kulturtouristischen An- Jahrzehnten immer mehr multiethnisch Literatur: geboten und Attraktionen zu verknüpfen. durchmischen wird. Das ist eine große Göschel, Albrecht (2007): Schrumpfung, demogra- Dies erfordert ein ressortübergreifendes phischer Wandel und Kulturpolitik, in: Kulturpo- Herausforderung für die Kulturpolitik litische Mitteilungen Nr. 117, S. 35-39 Denken und koordiniertes Handeln. und für alle Kultureinrichtungen. Sie Kaufmann, Franz-Xaver (2007): Der demografi- müssen sich interkulturell qualifizieren, Die dritte Handlungsebene: Schließlich sche Wandel in Deutschland und seine Folgen, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 116, S. 34-42 wenn denn das Prinzip der kulturellen sind auch die Kultureinrichtungen selbst Kocks, Martina (2007): Infrastrukturentwicklung Chancengleichheit noch gelten soll. gefordert, sich auf die neue Nachfrage- im Zeichen der Schrumpfung, in: Kulturpolitische situation einzustellen. Auch auf dieser Mitteilungen Nr. 117, S. 31-35 Die zweite Handlungsebene: Die Ein- Handlungsebene des Kulturmanage- stellung der Kulturpolitik auf die demo- ments ist die Nachfrage- und Kunden- ! Dr. Norbert Sievers, geb. 1954, ist Ge- graphfische Frage hat selbstverständlich orientierung ein wichtiges Stichwort. Sta- schäftsführer der Kulturpolitischen Gesell- auch Folgen für die Infrastruktur- schaft e.V., Bonn tionäre Einrichtungen wie Theater und entwicklung im Kulturbereich. Zunächst Konzerthäuser setzen schon heute wieder sollte es selbstverständlich werden, dass verstärkt auf dezentrale Aktivitäten. Sie vor der Entscheidung für den Bau von AKP 1/2008 43
! schwerpunkt Kulturkonzept Freiburg Kulturell sein – oder nicht sein Sind kommunale Kulturkonzepte geeignet, die neuen Herausforderungen der Städte, Gemeinden und Kreise in Kul- tur und Kunst voranzubringen, sie zu modernisieren und weiterzuentwickeln? Helfen sie, Antworten auf die kultu- rellen und sozialen Risiken und Chancen der Globalisierung zu geben? Erreichen sie Kinder und Jugendliche? Fe- dern sie die Auswirkungen der schwierigen finanziellen Situation vieler Kommunen ab, die Kunst und Kultur trifft, und leiten sie notwendige strukturelle Reformen bei Kulturinstitutionen ein?Freiburg hat den Prozess eines Kultur- konzeptes vor zweieinhalb Jahren begonnen. Erste Ergebnisse liegen vor. Pia Maria Federer In einem Konzeptpapier1 wurde seiner- Diskussionen ihrer Widersprüche ak- tenden Workshops unter begrenzter Be- zeit definiert, welches die herausragen- tiv gestaltet werden sollen. teiligung von BürgerInnen inhaltlich ver- den Aufgabenfelder der Freiburger Kul- 5.Förderung der Stadtteilkultur um Iden- tieft wurden. Eine Stärken-Schwächen- turpolitik für die nächsten Jahre sein sol- titätspotentiale zu stärken. Analyse der Kulturstadt Freiburg wurde len: 6.Gewolltes Bürgerengagement und neue erhoben. • Kulturelle Bildung in allen Bereichen Verantwortungspartnerschaften. Nach dieser 1½ jährigen Phase wurden und für alle Teile der Bevölkerung; 7.Beachtung der Kulturwirtschaft, in der kulturpolitische Leitlinien und Ziele ent- • die Bewahrung und Stärkung der kul- private und kommerzielle Angebote als wickelt und im Januar 2007 durch den turellen Vielfalt sowie die Förderung Bereicherung verstanden werden. Gemeinderat verabschiedet. In der nun der Möglichkeit interkultureller Identi- 8.Entwicklung der Kultureinrichtungen andauernden zweiten Phase werden für tätsbildung der Bewohnerinnen und durch Vorrang einer nachhaltigen Qua- die vier herausragenden Arbeitsfelder Bewohner Freiburgs; litätsentwicklung vor einer weiteren konkrete Maßnahmen entwickelt werden, räumlichen Erweiterung. die finanziellen Auswirkungen geprüft • eine pointierte Förderung der Künste, und Umsetzungsschritte ins Zentrum ge- die das erstklassige Musikprofil als Die Phasen der Umsetzung rückt. (gemeinderätliche Verabschiedung Freiburger Stärke beachtet; Der politische Wunsch nach einem Frei- im Nov. 2007)4. In einer dritten Phase sol- • die Bewahrung und lebendige Vermitt- burger Kulturkonzept reicht bis in die len mit den Kultureinrichtungen Ziel- lung des kulturellen Erbes. 1990-Jahre zurück.3 Die Wahl des grü- vereinbarungen zu den kulturpolitschen Qualität, chancengleicher Zugang, Gen- nen Oberbürgermeisters – und damit ver- Schwerpunkten (kulturelle Bildung, In- der-Meanstreaming, Sicherung des zen- bunden ein neuer Zuschnitt der Dezer- tegration) getroffen und evaluiert wer- tralen Bestandes an kulturellen Angebo- nate – hatte eine bessere personelle Aus- den. ten und Bildung einer kompetenten Öf- stattung des Kulturdezernats zur Folge. Kommunale Kulturkonzepte werden fentlichkeit sollen diese Schwerpunkte Schwerpunkt dieser neuen Stelle sollte seit den 70iger Jahren eingefordert und unterstützten. Acht Leitziele 2 dienen die Kulturplanung sein. entwickelt. „Wer Kultur sagt, sagt auch künftig als Eckpfeiler Freiburger Kultur- Die Entwicklung des Kultukonzeptes Verwaltung…“ und „die Antinomie von politk: ist über mehrere Jahre und Phasen an- Planung und Kulturellem, zeigt den dia- 1.Förderung der Künste, vor allem jun- gelegt. Er wird durch eine beratende Be- lektischen Gedanken, das Nichtgeplante, ger KünstlerInnen, und Beachtung der gleitgruppe reflektiert, bestehend aus Ver- Spontane selber in die Planung aufzuneh- Qualitäten, die am Markt keine Chan- treterinnen der Verwaltung und Persön- men, ihm Raum zu schaffen, seine Mög- ce haben. lichkeiten der Freiburger Kultur- und lichkeiten zu verstärken,“ sagte Adorno5. 2.Verantwortungsvolle Pflege des kul- Kunstszene. Eine Auftaktveranstaltung Kulturentwicklungpläne „entstanden in turellen Erbes als regionales und kom- mit inhaltlichen Statements leitete die engem Bezug zur Neuorientierung der munales Gedächtnis. Entwicklung des Freiburger Kulturkon- Kulturpolitk unter den Stichworten „Bür- 3.Kulturelle Bildung als zentraler politi- zeptes ein. gerrecht Kultur“, „Soziokultur“ und Kul- scher Schwerpunkt. In dieser ersten Phase wurde die Be- tur für alle und von allen,“ so Bernd Wag- 4.Kulturelle Selbstbestimmung und Ge- völkerung und Fachöffentlichkeit über ner6 vom Kulturpolitischen Institut der rechtigkeit in der „offenen“ Stadt Frei- Fragebögen und Internetstatements in- Kulturpolitischen Gesellschaft. Verbun- burg, in der Vielfalt als Reichtum ver- haltlich beteiligt und Schwerpunkte für den war damit die Vorstellung, durch standen wird und in der die kritischen die Weiterarbeit festgelegt, die in beglei- Analysen der Kultureinrichtungen, kul- 44 AKP 1/2008
kultur ! turpolitische Ziele entwickeln zu können, Zusätzlich zu Aufführungen in drei mobilen Außenstelle, dem ORBIT, unter- konkretisiert durch Maßnahmenpakete, Häusern, kommen hochkarätig besetzte sucht. Die Ergebnisse werden in Thea- wie diese Ziele zu erreichen seien. Hnzu Veranstaltungsreihen hinzu, die in Koo- terstücke mit Jugendlichen, auch aus be- kommen Beschreibungen der notwendi- perationen mit wichtigen Kulturträgern nachteiligten Stadtteilen, überführt und gen infrastrukturellen und finanziellen Freiburgs11 stattfinden. Diese Reihen sind im Werkraum des Theaters, der eigens Rahmenbedingungen. durchweg sehr gut besucht. War die Kul- dafür hergerichtet wurde, aufgeführt. Achim Könneke7, Kulturamtsleiter von turverwaltung zufrieden mit den 500 Im Konzept „Theater-Stadt-Wirklich- Freiburg, stellte im April 2005 in seinem Menschen, die das Kulturkonzept inhalt- keit“ werden unterschiedlichste sinnliche, Eröffnungreferat gleich eingangs klar: lich begleiteten, so sind die Veranstaltun- intellektuelle, emotionale wie künstleri- „Ziel des Kulturkonzeptes ist es nicht, gen des Theaters mit rund 1.000 Plätzen sche Sprachen eingesetzt, um dieses The- Einsparungen und Umverteilungen im sonntagmorgens gefüllt, wenn in der Rei- ater für die Menschen zu einem bedeu- Kulturbereich zu verhindern. (…) Inhalt- he „captalism now“ z.B. der Wirtschafts- tenden städtischen Mittelpunkt werden zu lich geht es um den Versuch einer zeitge- nobelpreisträger Joseph Stiglitz zu den lassen und „lebenswichtige Fragen“ zu mäßen Neubestimmung des öffentlichen Chancen der Globalisierung spricht, der stellen, etwa: Wollen wir unendlich sein? Kulturauftrages, eingebettet in eine lang- Bourdieu-Schüler Luc Boltansky zum Was ist der Unterschied zwischen einem fristige strategische Stadtentwicklung . „Neuen Geist des Kapitalismus“ oder Kopftuch und einem Kreuz? Kann man Welchen Zielen muss sich Kulturpolitik Saskia Sassen über Nation und Globali- mit dem Elterngeld mehr deutsche Ba- stellen? Welche finanziellen Strukturen sierung referiert. Hinzu kommen Reihen bys kaufen? sind dazu erforderlich ? Welche Schwer- wie „Rebellen“, in der z.B. die RAF ei- Befördert wird dieser Prozess durch die punkte sind zu setzen? Und schließlich: ner vertieften Untersuchung von Utopie Intendantin Barbara Mundel und den wer soll sie umsetzen?... Es geht um die und Terror unterzogen wird, begleitet Chefdramturgen Josef Mackert u.a. auch Erprobung eines neuen Politikstils, der durch Plakate mit provozierenden Äu- dadurch, dass versucht wird, mit der Po- die Partizipation im Sinne einer zu stär- ßerungen zu Regeln des Terrors, etwa litik eine gegenseitige Verantwortungen kenden Bürgergesellschaft wesentlich „Der Schnellere gewinnt“. zu formulieren. Gemeinsam wurde fol- ernster nimmt.“ Der Sozialraum Freiburg wird vom gendes festgelegt: Theater stadtteilweit mit einer kleinen Freiburg wird kulturell sein – • Die Verantwortung für die Tradition oder nicht sein8 einer aufgeklärten Moderne, die um die Freiburg hat sich mit seinen kultur- elementare Bedeutung von Kunst-Räu- ! UNESCO men weiß, die frei von unmittelbarer politischen Aufgabenfeldern und Leit- zielen ein ehrgeiziges Programm vorge- politischer und ökonomischer Einfluss- nommen. Ein solches Kulturkonzept lässt Funktionen von Kultur nahme sind. sich nach den Vorstellungen der grünen - Selbstbeschreibung von Einzelnen, • Die Verantwortung für die kulturelle Fraktion jedoch nur auf der Basis eines Gruppen, Gesellschaften, Zeitab- Bildung. umfassenden Kunst- und Kulturver- schnitten, Selbstbeobachtung • Die Verantwortung für die Erhaltung ständnisses verwirklichen, wie es die - Angstbewältigung angesichts gesell- gleichberechtigter Zugangsmöglich- UNESCO vorschlägt: „.Es geht nicht nur keiten zu Theater und Konzerten für schaftlicher und individueller Risi- um die Erarbeitung von Kriterien für die BürgerInnen aller sozialen Schichten ken Vergabe städtische Zuschüsse an Kultur- - Integration und Einkommensklassen. schaffende in der Stadt, sondern um die • Die Verantwortung für die wechselsei- grundlegende Zielrichtung der Entwick- - Entwicklung von Zeitbewusstsein im Hinblick auf Vergangenheit und Zu- tigen Zusammenhänge zwischen The- lung unserer Stadt.“9 ater und allen übrigen Einrichtungen kunft Der bisherige Prozess des Konzeptes der Stadt und des Umlandes. - Entwicklung von Raumbewusstsein lässt eine solche Einbindung in die Stadt- • Die Verantwortung für die Funktion der - Identitätsbildung von Personen und entwicklung jedoch vermissen. Er be- Stadt Freiburg als Zentrum für den… Gruppen wegte sich bisher hoch strukturiert nur - Herstellung und Aushalten von Plu- • Die Verantwortung für die Funktion der in der Kunst- und Kulturszene und ver- ralität Stadt im europäischen Kontext. weigerte sich einer öffentlichen Diskus- - Angebot von Deutungen und Deu- • Die Verantwortung für die Auswirkun- sion. Dies ist umso verwunderlicher, als tungsmustern, Weltbildern gen des kulturellen Angebotes auf die sich interessanterweise parallel zum Kul- - Angebote für Lebensführungen und stadtwirtschaftlichen Entwicklung des turkonzept am Theater Freiburg ein für Lebensbeschreibungen Standortes Freiburg. die gesamte Stadt hochpolitischer Prozess - Angebot von Lebensstilen in Gang setzte, der auf breite öffentliche - De-Legitimation von Prozessen in Kulturelle Bildung und Resonanz stößt. Seit 1½ Jahren stellt das Theater Freiburg per riesigem Transpa- den gesellschaftlichen Bereichen Teilhabe für alle der Politik, des Marktes der Ge- In den Mittelpunkt des Freiburger Kultur- rent an die BürgerInnen die provozieren- meinschaft, des Rechts, etc. konzeptes wurden zunächst Handlungs- de Frage: „In welcher Zukunft wollen wir - Reflexivität je aktueller Formen von konzepte und umfangreiche Maßnah- leben?“. Eingebettet ist diese Frage in ein Sittlichkeit und Moral men12 in den Bereichen „Kulturelle Bil- umfangreiches Gesamkonzept.10 AKP 1/2008 45
! schwerpunkt Fußnoten 1 Kulturkonzept, Handlungskon- zept kulturelle Bildung und in- terkulturelle Vielfalt, 31.10. 2007, Drucksache G-07/194, S. 3 (siehe Homepage Stadt Frei- burg, Gemeinderat online) 2 Kulturkonzept, Kulturpoliti- sche Leitziele Drucksache (G- 06/200), Anhang Leitziele (sie- he Homepage Stadt Freiburg, Gemeinderat online) 3 Damit verbunden waren die Vorstellungen durch messbare Kriterien für Kultur- und Kunst- förderung den historisch ge- wachsene Förderdschungel neu und transparenter zu gestalten, alte Zöpfen lösen zu, Neuerun- gen zu ermöglichen , Konflikte mit traditionell geförderten Kul- tur- und Kunstinstitutionen zu minimieren, die finanziellen Ressourcen gezielter ein zu set- zen und sich über einen gemein- samen Kunst- und Kulturbegriff zu verständigen. 4 Handlungskonzept Kulturelle Bildung sowie Kulturelle und Interkulturelle Vielfalt; Gemein- deratsdrucksache G-07/194; Foto: aboutpixel.de 31.10.2007 5 Adorno, Theodor W. (1960/ 1997); Kultur und Verwaltung stoßen werden. So wurden in Freiburg 6 Wagner, Bernd: Kulturentwicklungplanung - Kul- dung“ und „(Inter)KulturelleTeilhabe für sog. Hausgespräche vereinbart. Erste turelle Planung in „Kompendium Kulturmanage- Alle“ gestellt. An erster Stelle wird es politische Auswirkungen dieser Gesprä- ment“ Armin Weis (Hrsg) dabei um eine Vernetzung von Kultur- 7 Könneke, Achim; Gegen den Bedeutungsverlust che waren zu beobachten, als sich, alle öffentlicher Kultur , Auftaktveranstaltung Freibur- und Bildungseinrichtungen gehen, sowie freien und städtischen Kulturinstitutionen ger Kulturkonzept 20.04.2005; siehe auch darum, jedem Schulkind über einen übergreifend, die Initiative „Kultur macht 8 www.Stadt-Freiburg.de, Kulturkonzept; mehrjährigen Zeitraum die aktive Ausei- In Abwandlung eines Plakattextes des Freibur- reich“ konstituierte, die sich z.B. ent- ger Theaters aus diesem Sommer: „Europa wird nandersetzung mit Kunst und Kultur zu schieden gegen Kürzungen im Kultur- kulturell sein – oder es wird nicht sein“ von Ja- ermöglichen. ques Lang, ehem. Kulturminister unter Mitterand. bereich wandte und in großen, an den 9 Viehten, Maria: Antrag Zum Kulturbegriff , Mai Gerade für uns Grüne sind diese beiden Kulturinstitutionen aufgehängten Trans- 2005, Fraktion Junges Freiburg/Die Grünen grundlegenden Aufgabenfelder von zen- parenten stadtweit auf die neuen kultur- 10 Barbara Mundel/Josef Mackert, Erkundungen traler Bedeutung. In einer Veranstaltung zum Stadttheater der Zukunft, auf dem Weg zur politischen Ziele hinwies.13 Wirklichkeit; in die Deutsche Bühne 7/07, S. 22- unseres kulturpolitischen Forums „Grü- 27 ner Salon“, wurde z.B. herausgearbeitet, Fazit 11 z.B. Centre Culturel Francais Freiburg, Carl dass es inzwischen für die Bevölkerung Schurz Haus, E-Werk oder der Uni Freiburg Zu Recht kann gefragt werden: Ist ein 12 Handlungskonzept Kulturelle Bildung sowie nicht mehr nur um den Zugang der sog. Kulturkonzept die angemessene Form um Kulturelle und Interkulturelle Vielfalt; Gemeinde- bildungsfernen Schichten zu kultureller das Kulturelle und die Potentiale von ratsdrucksache G-07/194; 31.10.2007 Bildung geht („Rhythm is it“ mit Simon 13 Vorausgegangen war ein 10 % Kürzungsbe- Kunst in einer Stadt heute zu erfassen? schluss im Zuschussbereich des Gemeindrates im Ruttle steht hierfür als Synonym), son- Eine Antwort kann sein: Jedes Nachden- Sommer 2006 für die Bereiche Sport, Soziales, dern um den Zugang aller Kinder zu ei- ken, ob provoziert von Kulturkonzepten, Bildung und Kultur, als eine Antwort auf die da- malige katastrophale Haushaltssituation der Stadt. ner nur über künstlerischer Prozesse an- ob auf Quartiersebene im Rahmen von Die 10% Zuschusskürzungen sind in der Kultur gestoßenen Erfahrensweise Ihrer selbst. Stadtteilentwicklungskonzepten oder ob nicht vollzogen. Allerdings besteht die politische Erwartung das Kulturkonzept sich haushaltsneu- Zum Versagen einer bundesdeutschen ausgehend von kulturellen Institutionen, tral umsetzen lässt und weitere Finanzquellen er- Bildungspolitik zählt eben auch, dass das dazu beiträgt, Kultur und Bildung als schlossen werdenwie etwa durch Mittel der Bun- deskulturstiftung für einem institutionsübergrei- Kunst- und Musikunterricht bis zur Un- kreative Motoren individueller wie ge- fenden Konzept „MehrKlang“ zu Neuer Musik. kenntlichkeit minimiert wurden, und dass meinschaftlicher Identitätsentwicklung das Kreative als wichtige Funktion der zu fördern, wird Städte lebenswerter und ! Die Autorin, Dipl. Soz., ist psychotherapeu- Persönlichkeitsentwicklung – als eine attraktiver machen. tisch an einer Rehaklinik tätig; seit 1989 Städt- Schlüsselkompetenz in der heutigen Wis- rätin für Bündnis 90/Die Grünen, stellv. Frak- sensgesellschaft – in der Schule zu kurz tionsvorsitzende, Kulturausschussmitglied seit kommt. 1994; Gründungsmitglied des Freiburger kul- turpolitischen Forums „Grüner Salon“. Ohne Zweifel konnte durch das Kultur- konzept eine bessere Vernetzung der Kulturinstitutionen untereinander ange- 46 AKP 1/2008
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