Scheinriese Kulturwirtschaft - Die Aufgaben der Kulturpolitik

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! schwerpunkt

  Die Aufgaben der Kulturpolitik

  Scheinriese Kulturwirtschaft
  Es ist noch nicht lange her, da drehten sich die allermeisten kulturpolitischen Diskussionen ums Geld, um schrump-
  fende Kulturetats und die schlechte Lage der Kommunalhaushalte. Jetzt scheint ein neues, nicht weniger materielles
  Thema der Kulturfinanzierung den Rang abzulaufen – die Kultur- oder Kreativwirtschaft.

  Bernd Wagner

  Nachdem bald von allen Bundesländern          nisse der Kultur- und Kreativwirtschafts-      politischen Voraussetzungen dafür, dass
  – teilweise auch schon in mehreren Fol-       berichte herangezogen. Aus denen geht          Künstler tätig werden können und ein
  gen – und inzwischen auch von einigen         hervor – gleich ob der Anteil der Kultur-      entsprechend aufnahmefähiges Publikum
  Städten „Kulturwirtschaftsberichte“ er-       Kreativwirtschaft am Bruttoinlands-            finden. Das ist der öffentliche, in fast al-
  stellt wurden und der Bundestag im No-        produkt 2,5% oder 8% beträgt, er über          len Bundesländern verfassungsmäßig
  vember parteiübergreifend die Erarbei-        der Chemie und unter der Autoindustrie         verankerte Auftrag von Kulturpolitik.
  tung eines entsprechenden Berichtes auf       liegt oder umgekehrt, ob ihre Beschäfti-          Und diese Kulturpolitik ist gestaltend
  Bundesebene einschließlich unterstützen-      gungszahlen schneller oder langsamer           und normativ und nicht nur verwaltend
  der Maßnahmen beschlossen hat, ist die        steigen als in anderen Branchen –, dass        und moderierend. Denn jede Förderent-
  Kultur- und Kreativwirtschaft ein immer       dieser Bereich groß und wichtig ist, dass      scheidung für etwas ist gleichzeitig eine
  häufiger diskutiertes Thema in der Kul-       er wächst und dass er dafür staatliche         gegen etwas anderes. Jede Berufung ei-
  turpolitik. Kümmerten sich anfangs Wirt-      Hilfe benötigt. Für wen oder was das           nes Intendanten und Museumsleiters ist
  schaftsdezernate, Mittelstandsministerien     wichtig ist, bleibt erst einmal dahinge-       die Entscheidung für eine – wie vage auch
  und Staatskanzleien um kulturwirtschaft-      stellt – Hauptsache da wächst etwas.           immer – inhaltliche Konzeption. Jedem
  liche Fragen und gaben entsprechende             Die Vergleichs- und Wachstumszahlen         Spielplan und jedem Curriculum, etwa
  Studien in Auftrag, so sind sie seit eini-    mögen für Wirtschafts-, Standort- und          einer Musikschule, liegt ein wie auch
  ger Zeit auch Gegenstand kulturpoliti-        Haushaltspolitiker von Bedeutung sein,         immer offener „Kanon“ kultureller Wer-
  scher Aktivitäten, Initiativen und Kon-       aber warum auch Kulturpolitik davor            te zugrunde. Kulturpolitik hat immer –
  gresse. (siehe hierzu den Schwerpunkt in      ehrfürchtig erstaunen und in Hosianna-         auch wenn sie bemüht sein muss, mög-
  Kulturpolitische Mitteilungen H. 119, IV/     rufe ausbrechen soll, bleibt verborgen.        lichst wenig direktiv und lenkend in die
  2007)                                         Eine skeptische Haltung gegenüber der          Autonomie der Künste und die Selbst-
     Dabei hat sich gerade in den kommu-        sich in der Kulturpolitik verbreiternden       zwecksetzung der Kultur einzugreifen –
  nalen Debatten unter dem Einfluss anglo-      Feier kulturwirtschaftlicher Erfolgszah-       mit Inhalten und Werten, mit Sinn, Be-
  amerikanischer Diskussionen das Gegen-        len hat eigentlich nichts mit altmodi-         deutung und symbolischer Produktion zu
  standsfeld von Kultur- auf Kreativ-           schem Denken zu tun, sondern damit,            tun.
  wirtschaft erweitert – wobei offen ist, was   dass Kulturpolitik eben nicht Wirtschafts-        Einer solchen inhaltlich bestimmten
  alles dazu gehört – und ist mit Versatz-      oder Beschäftigungspolitik ist und sich        Kulturpolitik können noch so imponie-
  stücke der Raum- und Stadtplanungs-           nicht auf Eventmarketing und Standort-         rende Wachstumszahlen von Beschäftig-
  diskussion wie „kreative Klasse“              faktoren reduzieren lässt.                     ten und Bruttoinlandsproduktanteilen erst
  (Richard Florida) und „kreative Stadt“                                                       einmal gleichgültig sein, auch wenn sie
  (Charles Landry) angereichert worden.         Alltagsarbeit – statt modischer                von der Popindustrie, Designern oder
  „Kreativwirtschaft“ als Zukunftsmarkt,        Diskursmantras                                 dem Kunstmarkt erzielt werden und Wirt-
  Wachstumsbranche und Jobmaschine, so          Aufgabe von Kulturpolitik ist die Ermög-       schaftsdezernenten, Stadtmarketingab-
  oder ähnlich werden die verlockenden          lichung der Teilhabe möglichst vieler          teilungen und Oberbürgermeister leuch-
  Zukunftsbilder ausgemalt. Wer in dieses       Menschen an Kunst und Kultur, sowie der        tende Augen dabei bekommen.
  Mantra nicht einstimmt, gilt als hoff-        Schutz und die Förderung der Künste und           Das heißt nicht, dass Kulturpolitik
  nungslos altmodisch und hängt einem           KünstlerInnen. Dazu bedient sie sich ei-       nichts mit der Kulturwirtschaft zu tun
  „alten Denken“ nach, das – so die Strei-      ner vielgestaltigen Förderpolitik, setzt die   hätte, sondern nur, dass sie davon ausge-
  ter für das „neue Denken“ – noch von          ordnungspolitischen Rahmenbedingun-            hen sollte, was ihre Aufgaben sind und
  Vorstellungen einer „entökonomisierten        gen für die Entfaltung von Kunst und           dabei die bestehenden vielfältigen Zu-
  Kultur“ geprägt sei.                          Kultur und schafft mit ihrer Verantwor-        sammenhänge besser zum beiderseitigen
     Als Belege für die neuen Entwicklun-       tung für kulturell-künstlerische Grund-,       Vorteil nutzen und hierbei neue Wege
  gen werden die Ergebnisse und Erkennt-        Aus- und Fortbildung die bildungs-             gehen sollte. Ausgangspunkt sind aber

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kultur !

                                                                                                                Foto: aboutpixel.de

immer die kulturpolitischen Ziele und        mus absolutistischer Höfe bezog sich zen-    atern, städtischen Orchester- und Kon-
nicht die wirtschafts- und beschäftigungs-   tral auf kunstgewerbliche Produktionen.      zerthallen. Der öffentlich getragene und
politische Stärkung eines Wirtschafts-       Damit ging die Gründung von Kunstaka-        der privatwirtschaftliche Kultursektor
sektors. Unter einer solchen Betrach-        demien einher. Bis Ende des 19. Jahrhun-     bildet schon seit jeher – gemeinsam mit
tungsweise schrumpft auch der neue           derts war Theater in Deutschland vor al-     einem drittern Sektor: dem frei-gemein-
„Star“ im kulturpolitischen Diskurs- und     lem ein Geschäftsbetrieb von Aktienge-       nützigen intermediären Sektor der Ver-
Tagungsbetrieb auf ein normales Maß          sellschaften und Theaterunternehmern.        eine, Stiftungen und anderen gesell-
und taugt nicht mehr zum modischen           Der Musikmarkt expandierte fast explo-       schaftlichen Kooperationen – die vielge-
Wortsingsang mit dem von den Alltags-        sionsartig mit der Entwicklung der           staltige Kulturlandschaft Deutschlands.
aufgaben der Kulturpolitik abgelenkt         Schallplatte um die Wende zum 20. Jahr-         In allen Kunstsparten gab es zu fast
wird.                                        hundert. Mit Film und Rundfunk entstan-      allen Zeiten Einrichtungen und Angebo-
                                             den kurze Zeit später die ersten audiovi-    te von allen drei Akteursgruppen. In der
Die lange Tradition der Kultur-              suellen Massenmedien, die die kulturel-      einen dominierten zeitweise privatwirt-
wirtschaft                                   le Produktion und Rezeption revolutio-       schaftliche Angebote, der anderen staat-
Um was geht es eigentlich in dieser Auf-     nierten.                                     lich-kommunale und in einer dritten die
merksamkeit erheischenden Debatte?              Diese Kunst-, Literatur-, Theater-, Mu-   gesellschaftlichen Träger und umgekehrt.
Dass es eine Kulturwirtschaft gibt und       sik- und Filmmärkte, die nach Angebot        Diese Verhältnisse verschoben sich im
diese einen gewichtigen Anteil unserer       und Nachfrage funktionieren, deren Me-       Laufe der Zeit immer wieder, aber in der
Kulturlandschaft ausmacht, sowie zudem       dium Geld und deren zentrales Motiv Ge-      Regel bildeten fast immer alle drei Trä-
auch volkswirtschaftlich nicht unbedeu-      winn ist, bildeten sich parallel und         gergruppen das Angebot einer Sparte. So
tend ist, ist wahrlich keine neue Erkennt-   teilweise auch vor den öffentlichen, hö-     gab es beispielsweise um 1900 circa 300
nis. Mit dem Beginn einer öffentlichen       fisch-staatlichen und kommunal getrage-      professionelle Theater in Deutschland,
Kunstpolitik in der Renaissance entstan-     nen Kultureinrichtungen aus: den staat-      davon waren zwei Dutzend in höfisch-
den gleichzeitig in Westeuropa ein Kunst-    lichen Kunstmuseen, Kommunal- und            staatlicher und lediglich zwei in kommu-
und ein Literaturmarkt. Der Merkantilis-     Landesbibliotheken, Stadt- und Staatsthe-    naler Trägerschaft, mehr als 90% dage-

                                                                                                                   AKP 1/2008 37
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  gen aber privatwirtschaftlich betrieben.     reich. Viele ordnungspolitische Maßnah-        Kulturpolitik herausgefordert, die späte-
  100 Jahre später sichern etwa 150 von        men der Kulturpolitik zielen besonders         ren Kulturakteure und Künstler auf neue
  Kommunen und Ländern getragene The-          auf ihn.                                       Anforderungen einer Beschäftigungs-
  ater und 185 Privattheater sowie 2000           Auf dieses kulturpolitische Aufgaben-       realität mit fließenden Tätigkeitsfeldern,
  freie Theater die professionelle Theater-    portfolio aus Bildungs-, Ordnungs- und         hohen Anforderungen an Marketing- und
  landschaft Deutschlands.                     in geringerem Anteil von Förderpolitik         Selbstvermarktungsfähigkeiten, schwan-
     Solange wie es Kulturwirtschaft und       beschränken sich bislang die Handlungs-        kenden, meist niedrigen Einkommen und
  Kulturpolitik mit öffentlich getragenen      möglichkeiten von Kulturpolitik gegen-         einem ständigen Zwang zur Weiterquali-
  Kultureinrichtungen sowie gesellschaft-      über der Kulturwirtschaft. Wenn sich das       fizierung entsprechend vorzubereiten.
  lich organisierte Kulturangebote gibt,       ändern soll, ohne die zentralen Aufgaben-         Als Ordnungspolitik kann Kulturpoli-
  solange besteht auch ein wechselseitiger     bestimmungen von Kulturpolitik – mög-          tik etwa bestehende steuerliche und so-
  Austausch zwischen diesen drei Sekto-        lichst vielen Menschen den Zugang zu           zialrechtliche Bestimmungen auf die ver-
  ren. Erst diese Übergänge und Wechsel        Kunst und Kultur zu ermöglichen und die        änderte Arbeitswirklichkeit der Künstler
  machen die Lebendigkeit des Kultur-          Künste und Künstler zu fördern – aufzu-        und vielen Klein- und Kleinstunterneh-
  bereiches aus und bringen neue Kunst-        geben, dann muss deutlich gemacht wer-         mer im kulturellen Feld anpassen. Als
  formen und künstlerische Weiterentwick-      den, was sich gegenüber den bisherigen         Förderpolitik kann sie Räume schaffen,
  lung hervor. Das trifft und traf auf die     Bedingungen verändert hat und warum            in denen die Übergänge sich leichter voll-
  große Masse der unbekannten Künstler,        ein anderes kulturpolitisches Handeln          ziehen lassen, Begegnungen zwischen
  Musiker und Schauspieler eben so zu, wie     hier sinnvoll ist.                             verschiedenen Feldern möglich sind und
  auf namhafte Künstler. Cranach und                                                          neue Allianzen entstehen können. Sie
  Dürer waren agile Kulturunternehmer.         Neujustierung: Staat – Markt –                 kann bei der Künstlerförderung, gemein-
  Cranach gleichzeitig sächsischer Hof-        Gesellschaft                                   sam mit der Wirtschaftsförderung und der
  maler, Mozart Angestellter des Kaiser-       Augenscheinlich ist, dass sich die heuti-      Beschäftigungspolitik, durch ihre spezi-
  hofes, er reüssierte mit der „Zauberflöte“   ge kulturelle Trägerlandschaft gegenüber       fischen Kenntnisse des kulturellen Fel-
  an einem privaten Wiener Vorstadttheater.    den letzten zehn bis zwanzig Jahren ver-       des passgenauere, unterstützende Maß-
     Kulturpolitik als staatlich-kommunales    ändert hat. Die stagnierenden Kulturhaus-      nahmen für den Markteintritt der jungen
  Handeln in Kunst und Kultur hat in un-       halte, ein neuer Aufschwung bürger-            Kulturunternehmer und Beratungen an-
  terschiedlichem Umfang mit allen drei        schaftlichen Engagements etwa im Stif-         bieten.
  Sektoren zu tun. Der staatlich-kommu-        tungswesen, eine stärkere marktwirt-              Das häufige Wortgebrubbel um Inno-
  nale Sektor ist der zentrale Gegenstands-    schaftliche Orientierung öffentlich getra-     vations- und Kreativitätspotenziale, Zu-
  bereich öffentlicher Kulturförderung. Die    gener Kultureinrichtungen, neue Arbeits-       kunftsressourcen, Wissensgesellschaft,
  8,3 Mrd. € an öffentlichen Kulturauf-        felder und Kulturberufe in und zwischen        immaterielle Produktion und so weiter,
  wendungen jährlich fließen zu einem gro-     privatwirtschaftlichem und freigemein-         mit denen die Debatte um die Kultur- und
  ßen Teil in diesen Bereich. Mit dem an-      nützigem Sektor und eine größere Durch-        Kreativwirtschaft vielfach garniert und in
  deren geringeren Anteil werden die An-       lässigkeit zwischen den verschiedenen          Hochglanzbroschüren unter das Kultur-
  gebote und Einrichtungen des frei-ge-        Bereichen, fließende Übergänge und viel-       volk gebracht wird, bringt dabei keinen
  meinnützigen, intermediären Sektors ge-      fältige neue Arrangement von gemeinsa-         Deut weiter. Bei Michael Endes „Jim
  fördert. Der kulturwirtschaftliche Bereich   men Trägerschaften privatwirtschaft-           Knopf“ gibt es den Scheinriesen Turtur,
  ist nicht Gegenstand der öffentlichen        licher, freier und öffentlicher Akteure sind   der übermächtig scheint, aber immer klei-
  Förderung, da er sich über den Markt fi-     einige der zentralen Veränderungen im          ner wird, je näher man ihm kommt, bis
  nanziert und trägt. Eine Ausnahme bil-       gegenwärtigen kulturellen Feld. Diese          er das normale Maß jedes Irdischen hat,
  det hier die Künstlerförderung, wie Sti-     haben das Verhältnis zwischen den Sek-         wenn man ihm gegenübersteht. Er ist ein
  pendien, Preise, Atelierprogramme, mit       toren gewandelt, ohne ihre grundsätzlich       liebenswerter Geselle, der gar nichts Ehr-
  denen Künstler als Akteure in und zwi-       unterschiedlichen Handlungslogiken und         fürchtiges mehr an sich hat, wenn er sich
  schen allen drei Sektoren unterstützt wer-   Zielsetzungen aufzuheben. Die Wechsel          in normaler Umgebung befindet. Wird
  den.                                         zwischen den Sektoren sind häufiger, die       die Kulturwirtschaft von ihrem gegen-
     Allerdings betreffen die beiden ande-     Arbeit bei unterschiedlichen Trägern üb-       wärtigen Hype befreit und wieder auf das
  ren Dimensionen der Kulturpolitik, die       lich, die Übergänge flüssiger geworden.        zurückgeführt, was sie schon immer war
  Setzung ordnungspolitischer Rahmen-          Neue Arrangements für die Einzelnen            und ist, dann kann im kulturpolitischen
  bedingungen von Kunst und Kultur wie         und kooperative Trägerschaften für die         Alltagsgeschäft auch normal über verän-
  Urheber- und Verwertungsrechte, Steuer-      Einrichtungen werden zum Alltag.               derte Anforderungen und Aufgaben dis-
  gesetzgebungen, Künstlersozialkasse und         Hier liegen neue Aufgaben für die Kul-      kutiert werden, ohne in Hochachtung vor
  Ähnliches, sowie die Qualifizierung der      turpolitik, die aber in den Kulturwirt-        irgendwelchen Prozentzahlen und Inno-
  Künstler und des Publikums in Musik-         schaftsberichten mit hoch aggregierten         vationskreativitätsgedankenverrenkun-
  und Kunsthochschulen, Kunstgewerbe-,         Beschäftigungs- und Wachstumszahlen            gen in Ehrfurcht zu erstarren.
  Musik- und Volkshochschulen und in den       von IHKs, statistischen Ämtern und
                                                                                              ! Der Autor ist wissenschaftlicher Leiter des
  allgemein bildenden Schulen das gesam-       volkswirtschaftlichen Gesamtrechnun-           Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen
  ten kulturell-künstlerische Feld und da-     gen nicht erfasst werden. Als Träger von       Gesellschaft und Herausgeber der Reihe
  mit auch den kulturwirtschaftlichen Be-      Bildungseinrichtungen ist öffentliche          Jahrbuch für Kulturpolitik.

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kultur !

Identifikation braucht Gefühle

Europas kulturelle Seele
„Europa“ – da denken heutzutage viele Menschen an einen bürokratischen Wasserkopf und an die schon fast zu
Tode zitierte Richtlinie, die angeblich den Krümmungsgrad der Banane vorgibt. Beides wird Europa nicht gerecht,
denn Europa kann mehr sein, ja, ist viel mehr als das.

Helga Trüpel

„You will not fall in love with the internal   te“ von Fatih Akin, der von der Zerris-       kein Hindernis, sondern eine Chance und
market.“ Mit diesem Satz hat                   senheit einiger Menschen zwischen             eine Bereicherung ist.
Kommissionspräsident Barroso eine der          Deutschland und der Türkei handelt, von         Schon seit 17 Jahren existiert die eu-
derzeitigen Schwächen der EU treffend          der Balance der Protagonisten zwischen        ropäische Filmförderung mit dem Pro-
zusammengefasst: Mit einer EU, die die         den Kulturen, zwischen unterschiedli-         gramm MEDIA: Damit unterstützt die
BürgerInnen als fern ab im „Raumschiff         chen Orten, die sie auf unterschiedliche      EU die Schaffung und Verbreitung euro-
Brüssel“ assoziieren, fällt es schwer sich     Weise geprägt haben und die Heimat für        päischer Filme, aber auch Filmfestivals,
zu identifizieren. Deshalb wollen und          sie sein können, ist ein wunderbarer Bei-     die wiederum als Ort der direkten Begeg-
müssen wir die EU ihren BürgerInnen            trag zu einer europäischen Öffentlichkeit.    nung, des Kennenlernens von Neuem, bis
näher bringen, sie direkt erfahrbar und        „Zu hause“ ist schon lange kein nationa-      dato Unbekanntem und den Austausch
auch zu Hause in den Städten und Dör-          ler Begriff mehr.                             darüber ermöglichen. Dies sind Schritte
fern greifbar, spürbar machen. Identifi-                                                     in Richtung auf eine gemeinsame euro-
kation braucht mehr, als den Binnenmarkt       Filmförderung                                 päische Öffentlichkeit.
– der zweifellos notwendig ist – und mehr      Eine wirklich europäische Öffentlichkeit        Die übergeordneten Ziele des von der
als Debatten über Richtlinien und Grenz-       fehlt uns bisher: es gibt in der EU viele,    EU aufgelegten Programms KULTUR
werte. Identifikation braucht Begeiste-        meist nationale Öffentlichkeiten. Auch sie    2007-2013 bestehen darin, Kunst und
rung für eine Sache. Das Europäische           sind Teil der EU und setzen sich mit ihr      Kultur, sowie KünstlerInnen und Kultur-
Parlament will die BürgerInnen für Euro-       auseinander, aber sie führen selten grenz-    schaffende mobiler zu machen und den
pa gewinnen und begeistern.                    überschreitende Diskurse über europäi-        interkulturellen Dialog innerhalb der EU
   Voraussetzung für eine Identifikation       sche Themen. Das Europäische Parla-           zu fördern. Dazu gehört auch, bislang
mit der EU ist das Vorhandensein von           ment hat sich die Ausbildung und Förde-       nicht übersetzte Werke europäischer
geteilten Erfahrungen und Werten, ge-          rung einer europäischen Öffentlichkeit        Schriftsteller übersetzen zu lassen, um sie
nauso wie die Auseinandersetzung darü-         auf die Fahnen geschrieben. Dazu gehört       möglichst vielen Menschen in ihrer je-
ber. Kollektiv geteilte Erfahrungen hat es     auch seit kurzem ein auf Initiative der       weiligen Muttersprache zugänglich zu
in Europa gegeben: nicht umsonst ist die       Grünen neu geschaffener Filmpreis             machen – der Film-Untertitelung in 23
EU, die zunächst als „Montanunion“ an-         namens LUX, der im Oktober 2007 zum           Sprachen vergleichbar. Außerdem sollen
fing, durch die Vergemeinschaftung von         ersten Mal verliehen worden ist – an den      europaweit tätige Kultureinrichtungen
Kohle und Stahl zum Wiederaufbau, aber         Film von Fatih Akin.                          gestärkt und Analysen und Informations-
auch zur Friedenssicherung, nach dem             Das Procedere sieht vor, dass zunächst      verbreitung über die kulturelle Zusam-
zweiten Weltkrieg zu einem einzigartigen       Filmexperten unter den eingereichten Fil-     menarbeit in Europa gefördert werden.
Friedensprojekt herangewachsen. Und            men eine Vorauswahl von drei Beiträgen          Aber wie und wo ist Europa in Greifs-
sie ist es bis heute. Die Forderung „Nie       treffen. Aus diesen ermitteln dann die        wald, Coesfeld oder Schwäbisch Gmünd
wieder Auschwitz“ steht an der Wiege der       EU-Abgeordneten ihren Favoriten. Ziel         erfahrbar? Wie können wir auch jenseits
EU. Ihr sind und bleiben wir verpflich-        der Preisverleihung ist es, die Verbreitung   der Metropolen und der Großprojekte an
tet.                                           europäischer Filme auch über Landes-          einer „Europäischen Erzählung“ schrei-
   Identifikation braucht Gefühle. An die-     grenzen hinweg zu fördern. Das drückt         ben? Ein Beispiel für die vielen kleine-
sem Punkt kann europäische Kulturpoli-         sich auch in der Art des Hauptgewinns         ren europäischen Erzählungen im Alltag,
tik ansetzen: Wir brauchen eine gemein-        aus: Statt einer Geldprämie winkt dem         die sich zu einer großen Erzählung zu-
same „europäische Erzählung“. Das muss         preisgekrönten Film die Untertitelung in      sammenfügen, sind die Städtepartner-
einhergehen mit einem Sich-Kennen-             23 EU-Sprachen. Diese Untertitel ma-          schaften: So lernen etwa die Einwohner-
lernen unter den mittlerweile vielen Völ-      chen eine sofortige, universelle Ausstrah-    Innen von Coesfeld die BürgerInnen der
kern der EU. Der im Herbst in die Kinos        lung des Films möglich. Das Europäische       Stadt De Bilt in den Niederlanden ken-
gekommene Film „Auf der anderen Sei-           Parlament beweist damit, dass Vielfalt        nen, GreifswalderInnen kommen in di-

                                                                                                                        AKP 1/2008 39
! schwerpunkt

  rekten Austausch und persönlichen Kon-       in unterschiedlichen Mitgliedstaaten, las-   auf europäischer Ebene (z.B. dauerhafte
  takt mit den BürgerInnen der schwedi-        sen sich andere europäische Geldquellen      Vernetzung von Organisationen bzw. Ein-
  schen Stadt Lund und BewohnerInnen           erschließen. Grundsätzlich gilt aber für     richtungen). Er bezeichnet damit sowohl
  des Städtchens Schwäbisch Gmünd              so gut wie alle europäischen Fördermittel    den ideellen als auch den praktischen
  knüpfen Kontakte zu Einwohnern der           im kulturellen und zivilgesellschaftlichen   Nutzen eines Projekts für den europäi-
  ungarischen Stadt Székesfehérvár oder        Bereich: Das Wegbrechen von kommu-           schen Einigungsprozess.
  dem italienischen Faenza.                    nalen, regionalen oder Bundesmitteln            Und auch wenn diese Definition
     Mit dem Programm EUROPA FÜR               kann nicht einfach durch einen Antrag bei    zunächst trocken klingt, so führt sie im
  BÜRGER/INNEN fördert die EU die              der EU ersetzt werden! Denn die EU will      Endeffekt wieder genau dorthin zurück,
  Beteiligung der Menschen beim Zusam-         mehr, weil sie selbst auch ein Mehr ist.     wo dieser Artikel begonnen hat: Bei der
  menwachsen Europas und die Verständi-          In einem Antrag etwa zur Projektför-       Förderung des Zusammenwachsens und
  gung der europäischen Völker unterein-       derung wird immer von den Antrag-            der Identifikation mit Europa durch das
  ander. Die sog. „Aktion Aktive Bürger/       stellenden verlangt, den „europäischen       Sich- und andere Kulturen-Kennen-
  innen für Europa“ fördert Städtepartner-     Mehrwert“ der Kooperation dazulegen.         lernen. Zum Schluss noch ein Hinweis
  schaften und Bürgerprojekte, die zur         Darin sind gleich zwei wichtige Fakto-       und eine Ermutigung: Neben den hier
  Annäherung der Völker, zur Stärkung des      ren enthalten: Zum einen müssen es           genannten Programmen „KULTUR
  europäischen Bewusstseins und zur Ent-       immer Kooperationsprojekte von drei bis      2007-2013“und „EUROPA FÜR BÜR-
  wicklung einer aktiven und teilnehmen-       zu sechs beteiligten Partnern aus unter-     GER/INNEN“ lohnt es sich auch immer,
  den Unionsbürgerschaft beitragen. Die        schiedlichen Mitgliedsstaaten sein. Die      sich mit dem für die eigene Heimatregion
  EU verfolgt mit diesen Zuschüssen das        Zahl hängt von der Art des Förderpro-        vorhandenen Strukturfond EFRE („Eu-
  wesentliche Ziel, die bestehenden Verbin-    gramms ab. Zum anderen muss man mit          ropäischer Fond für die Regionale Ent-
  dungen zwischen Städten zu festigen und      dem sperrigen Begriff des „europäischen      wicklung“) zu beschäftigen. Dieser dient
  neue Partnerschaftsinitiativen durch ge-     Mehrwerts“ hantieren.                        zwar originär dem Ausbau von Infra-
  zielte Förderung anzuregen. Sie unter-                                                    struktur und der Förderung lokaler Ent-
  stützen die Mobilität der BürgerInnen                                                     wicklungsprojekte und Hilfen für kleine
  sowie das Zirkulieren von Ideen inner-         ! service                                  und mittlere Unternehmen. Es besteht
  halb der EU.                                                                              aber die Möglichkeit, auch in diesem
     Auch die Idee der Städtepartnerschaf-                                                  Bereich bereitgestellte Mittel zur Kultur-
                                                Links zu den Programmen
  ten ist ein klassisches Friedensprojekt:                                                  förderung – meist in benachteiligten
  Sie entstand nach dem Zweiten Welt-           www.ccp-deutschland.de                      Stadtteilen – ausfindig zu machen. In der
  krieg, um sich in Europa wieder einander      www.europa-foerdert-kultur.info             Regel ist es hierfür sinnvoll, sich an das
  anzunähern und als Nachbarn am Wie-           www.helgatruepel.de/Foerderpro-             jeweilige Wirtschaftsministerium zu wen-
  deraufbau des Friedens mitzuwirken.           gramme.20.0.html                            den, da die Zuständigkeit für die Struktur-
  Städtepartnerschaften fördern durch Aus-                                                  fonds üblicherweise dort angesiedelt ist.
                                                Cultural Contact Point Deutschland,
  tauschaktivitäten in unterschiedlichen        Haus der Kultur – c/o Kulturpolitische         Die meisten Ausschreibungen für eu-
  Bereichen wie Bildung, kommunale Ver-         Gesellschaft e.V., Weberstr. 59a,           ropäische Programme haben bedauer-
  waltung, Jugend, Sport, Kultur etc. das       53113 Bonn, Tel: 0228/201350, Fax:          licherweise einen Pferdefuß: Obwohl sie
  friedliche Zusammenleben zwischen             0228/2013529, info@ccp-deutschland          das Zusammenwachsen und die Offen-
  Menschen verschiedener Nationalitäten,        .de, www.ccp-deutschland.de                 heit für einander fördern sollen, sind sie
  Sprachen und Religionen und liefern po-                                                   in einer bürokratischen, abstrakten Spra-
  sitive Beispiele gegen Fremdenfeindlich-                                                  che verfasst, die das nicht gerade aus-
  keit und Ausgrenzung. Das „Lernen vom                                                     drückt. Schlimmstenfalls kann sie sogar
  Nachbarn“, auch im Bezug auf fremde            Der europäische Mehrwert ist eines der     Entmutigung, statt Ermutigung hervorru-
  Sprachen, kann eine große Bereicherung       zentralen Bewilligungskriterien für Zu-      fen. Trotzdem will ich alle europäischen
  für die kommunalpolitische Praxis dar-       schüsse der EU. Er ist ein zusätzlicher      BürgerInnen ermutigen, die Finanzquel-
  stellen und den Blick für die Vielfalt       Wert, den ein Projekt durch die Koope-       len der EU zu nutzen. Im Kulturbereich
  Europas öffnen – ein wichtiger Bestand-      ration mit Partnern auf europäischer Ebe-    haben wir die glückliche Situation, dass
  teil des Sich-Kennenlernens!                 ne erhält und der die EU-Förderung be-       es eine nationale Beratungsagentur in
                                               gründet, weil die Ziele, Methoden und        Bonn gibt, an die man sich bei der Suche
  „Europäischer Mehrwert“                      Formen der Zusammenarbeit über loka-         nach Unterstützung wenden kann: den
  Wenn es nicht gerade um europäisch ge-       le, regionale oder nationale Interessen      Cultural Contact Point.
  förderte Städtepartnerschaften geht, hof-    hinaus weisen. Gemessen wird der euro-
  fen oft genug kleine Institutionen oder      päische Mehrwert u.a. an dem Grad der
                                               Einbeziehung aller Kooperationspartner       ! Dr. Helga Trüpel, stammt aus Moers und
  Projekte darauf, über EU-Mittel vielleicht
                                                                                            ist Literaturwissenschaftlerin. Seit 2004 für
  auch ihre prekäre Finanzsituation erträg-    in Planung und Durchführung des Pro-         B90 / Die Grünen als Abgeordnete der Han-
  licher zu gestalten. Für diese kleineren     jekts, der Sachkenntnis und Erfahrung        sestadt Bremen im EU-Parlament; dort u.a.
  Projekte, wie möglicherweise die Zusam-      der Projektverantwortlichen, der europä-     stellvertretende Vorsitzende des Kulturaus-
                                               ischen Dimension der Zielgruppe des          schusses.
  menarbeit und der Austausch zwischen
  mehreren stadtgeschichtlichen Archiven       Projekts und dem nachhaltigen Nutzen

40 AKP 1/2008
kultur !

Wir werden älter

Demographische Faktor und die Kultur
Die Beschäftigung mit der Frage der demographischen Entwicklung ist gesellschafts- und kulturpolitisch nicht
ganz leicht. Über die Interpretation und Bewertung der Fakten und Prognosen streiten sich die „Gelehrten” bis
heute – ideologische Grabenkämpfe eingeschlossen – und ist diese Hürde genommen, bleibt immer noch die skepti-
sche bis defätistische Haltung: Was kann Kulturpolitik daran schon ändern?

Norbert Sievers

                                                                                                                 Foto: aboutpixel

Man gerät leicht in Gefahr, in bereit lie-   dabei vergessen, dass die Tatsache, dass   „Multioptionsgesellschaft“ im Alter eben
gende Fallen zu treten. Da ist etwa die      die Menschen heute – zumindest in den      nicht teilhaben können. Es ist Aufgabe
„Konservativismusfalle“, die jene gerne      wohlhabenden Staaten – älter werden und    der Politik, auch diese Menschen im
aufstellen, die das Thema Demographie        länger gesund bleiben, ein gesellschaft-   Blick zu haben. Gerade im Alter wird
nur im Zusammenhang mit nationalsozi-        licher Fortschritt ist. Viele Menschen     deutlich, wie soziale Exklusion und kul-
alistischer Mutterkreuzideologie sehen       können ihn erleben und genießen.           turelle Exklusion eine unheilige Allianz
können. Andererseits ist aber auch vor der      Andererseits gibt es aber auch hier     eingehen.
„Alarmismusfalle“ zu warnen, in die man      Schattenseiten, weil diesen vielen Men-      Die Kommunalpolitik sollte dies zum
durchaus geraten kann, wenn man allzu        schen noch mehr gegenüberstehen, die       Thema machen und versuchen, mit ihren
stark die negativen Folgen des demogra-      dieses Glück nicht haben, die auf Grund    Möglichkeiten eine Politik der Chancen-
phischen Wandels betont. Zu schnell wird     von Krankheit und Geldknappheit an der     gleichheit, Teilhabegerechtigkeit und Le-

                                                                                                                 AKP 1/2008 41
! schwerpunkt

  bensqualität für alle Menschen zu formu-      schen Verschiebung im Generationen-          Altersdemographie und Kul-
  lieren. Diesen Anspruch gilt es, auch in      verhältnis zu tun, die zu einer Überalte-    turpolitik
  der Kulturpolitik wieder kenntlich zu         rung respektive „Unterjüngung” der Be-
                                                                                             Ja und ...? wird angesichts dieser Ent-
  machen und zwar gerade im Zusammen-           völkerung führt. Gleichzeitig erhöht sich
                                                                                             wicklungen häufig gefragt: Was hat das
  hang mit dem Thema Alter. Denn auch           die Anzahl der alten und hoch betagten
                                                                                             alles mit Kulturpolitik zu tun? Sehr viel.
  und gerade am Umgang einer Gesell-            Menschen, weil die Lebenserwartung bei
                                                                                             Wir befinden uns gewissermaßen schon
  schaft mit dem Alter und ihren alten Men-     Männern (80 Jahre) und Frauen (84 Jah-
                                                                                             in der Anfangsphase einer durch die
  schen erweist sich, welches kulturelle        re) – bei besserer Gesundheit – weiter
                                                                                             demographfischen Fakten und den Struk-
  Niveau sie hat.                               steigt (s. Kaufmann 2007: 35).
                                                                                             turwandel der Gesellschaft beeinflussten
     Wenn vom demographischen Wandel              Wir werden bunter: Bei einem ange-         Kulturpolitik. Alter ist ein Thema der
  die Rede ist, folgt alsbald die Beschrei-     nommenen Einwanderungsüberschuss             Kulturpolitik geworden und dies aus gu-
  bung: Wir werden weniger, älter und bun-      von ca. 200.000 Menschen pro Jahr –          ten Gründen. Die Schrumpfung der Be-
  ter. Damit sind in der Tat die wichtigsten    davon geht die 10. koordinierte Bevöl-       völkerung ist auch für die Kulturpolitik
  Veränderungen benannt. Hier die wich-         kerungsvorausberechnung des Statisti-        ein Fakt und wird sich selbstverständlich
  tigsten Daten und Trends:                     schen Bundesamtes aus – wird der An-         auswirken auf die Besucherstruktur der
     Wir werden weniger: Die Weichen für        teil der Migranten einschließlich ihrer      Kultureinrichtungen und bei Investitions-
  die demographische Entwicklung in den         Nachkommen und einschließlich der            entscheidungen für neue Einrichtungen.
  nächsten 40 Jahre sind – so scheint es –      schon heute in Deutschland lebenden
                                                                                                In den ostdeutschen Bundesländern ist
  unumkehrbar gestellt. Die Bevölkerung         Menschen mit einem Migrationshinter-
                                                                                             das Thema Rückbau kultureller Einrich-
  in Deutschland wird bis 2050 bei einem        grund bis 2050 auf rund 30% im Schnitt
                                                                                             tungen bereits kein Tabu mehr und wird
  angenommenen jährlichen Wanderungs-           zunehmen. In Städten wie Frankfurt am
                                                                                             richtigerweise als Gestaltungsaufgabe
  überschuss von 200.000 Menschen um            Main und München ist dieser Anteil
                                                                                             ernst genommen. Die SchülerInnen der
  ca. 7,5 Mio., bei einem Zuwanderungs-         schon jetzt erreicht. Stadtteile mit einem
                                                                                             ca. 2000 Schulen, die in den ostdeutschen
  saldo von Null um ca. 20 Millionen Men-       Anteil von 50% und mehr Prozent an
                                                                                             Bundesländern seit der Wende aufgrund
  schen abnehmen. Bis zum Ende des 21.          Migranten aus einer Vielzahl von Natio-
                                                                                             von zu geringen Schülerzahlen geschlos-
  Jahrhunderts wird eine Schrumpfung auf        nen mit unterschiedlichen Kulturen und
                                                                                             sen worden sind, fehlen natürlich auch
  50 Mio., im schlimmsten Fall, also ohne       Sprachen sind schon heute keine Selten-
                                                                                             in den Museen, den Musikschulen und
  positiven Zuwanderungssaldo auf 32            heit mehr.
                                                                                             später in den Theatern und Konzerthäu-
  Mio. Menschen erwartet, wenn die Ge-            Diese Daten sollen nicht erschrecken       sern.
  burtenrate auf konstant niedrigem Niveau      oder ein allzu pessimistisches Bild zeich-
                                                                                                Dort wie hier gibt es deshalb keinen
  von durchschnittlich 1,4 Kindern bleibt       nen. Aber man sollte sich schon im Kla-
                                                                                             politisch plausiblen Grund, weshalb Kin-
  (s. Kaufmann 2007: 34f.).                     ren darüber sein, welche wirtschaftlichen,
                                                                                             dergärten und Schulen geschlossen wer-
     Diese Entwicklung vollzieht sich nicht     politischen, sozialen und kulturellen Fol-
                                                                                             den und die kulturelle Infrastruktur lang-
  gleichförmig, sondern – regional diffe-       gen damit verbunden sind oder sein kön-
                                                                                             fristig unangetastet bleiben sollte. Die
  renziert – in unterschiedlicher Intensität.   nen. Die Stichworte sind bekannt und
                                                                                             Infrastrukturpolitik der Städte ist ins-
  Schon jetzt gibt es ein Nebeneinander         sollen hier nur kurz ins Gedächtnis geru-
                                                                                             gesamt betroffen. Sie kann in den
  wachsender und schrumpfender Regio-           fen werden:
                                                                                             schrumpfenden Regionen nicht mehr auf
  nen. Von Schrumpfung sind vor allem die       • Gefährdung der Altersversorgung            Wachstum orientiert sein, sondern auf
  ostdeutschen Länder betroffen, aber auch        (auch: Altersarmut),                       Optimierung und Konzentration, die die
  strukturschwache Gebiete wie z.B. das         • Explosion der Gesundheitskosten,           Nachfragesituation und den finanziellen
  Saarland, die Rhön, der Harz, Nordhessen
                                                • Erosion familiärer Netzwerke und Ver-      Rahmen bedenkt und einen problemati-
  und das Bayerische Fichtelgebirge (s.                                                      schen Sog in eine Abwärtsspirale vermei-
                                                  wandtschaftsbeziehungen, soziale Iso-
  Kocks 2007).                                                                               det.
                                                  lation im Alter, Pflegenotstand,
     Wir werden älter: Ohne gravierende                                                         Was kann Kulturpolitik angesichts der
                                                • Herausbildung von Parallelgesellschaf-
  Veränderung der Geburtenrate und des                                                       demographischen Entwicklung tun? Sie
                                                  ten, Segregation, intergenerative Ver-
  Zuwanderungssaldos wird der so genann-                                                     gehört sicherlich nicht zu den politisch
                                                  teilungskämpfe,
  te Altenquotient sich bis zum Jahr 2050                                                    bedeutenden Instrumenten, mit denen
  in etwa verdoppeln. Das bedeutet, dass        • sowie generell die kumulierenden Ef-
                                                                                             etwa die Geburtenrate angehoben werden
  dann 100 Personen im erwerbsfähigen             fekte sich gegenseitig verstärkender
                                                                                             könnte, um jenes „Humanvermögen“ –
  Alter ca. 80 Senioren gegenüberstehen           Problementwicklungen in schrumpfen-
                                                                                             gemeint sind gut erzogene und gut aus-
  werden, wenn die Altersgrenze bei 60            den Kommunen wie etwa die geringe-
                                                                                             gebildete Kinder und Jugendliche – zu
  Jahren angenommen wird, was dem bis-            ren Steuereinnahmen auf der einen
                                                                                             bilden, auf das jede zukunftsfähige Ge-
  herigen faktischen Berufsaustrittsalter         Seite
                                                                                             sellschaft angewiesen ist. Auch mit Blick
  entspricht. Gleichzeitig geht der Jugend-     • und die Unterauslastung der Infra-         auf eine Steuerung der Zuwanderung, sei
  quotient, also das Verhältnis der Kinder        struktureinrichtungen bei z.T. steigen-    es die Fernwanderung oder die interregio-
  und Jugendlichen zu den Personen im             den Kosten andererseits.                   nale Binnenwanderung, ist sie eher irre-
  erwerbsfähigen Alter, bis zum Jahr 2020       Das alles macht eine Strukturanpassung       levant. „Ausstattungen mit Kulturein-
  zurück, um dann in etwa konstant zu blei-     in hoher Geschwindigkeit und zum Teil        richtungen bilden kein starkes Wande-
  ben. Wir haben es also mit einer drasti-      großer Radikalität erforderlich.

42 AKP 1/2008
kultur !

rungsmotiv.“ (Göschel 2007: 37) – allen        Kultureinrichtungen Bedarfsanalysen          gehen aus ihren Häusern heraus in die
gut meinenden Mutmaßungen zum Trotz.           durchgeführt werden. In konzeptioneller      Stadtteile und Vororte, um neue Be-
Lediglich im Wettbewerb der Wachs-             Perspektive macht es Sinn, das Instru-       suchergruppen zu erschließen. Hinzu
tumsregionen untereinander mögen sie           ment der Kulturentwicklungsplanung aus       kommen zielgruppenorientierte Veran-
eine gewisse Rolle spielen – also etwa         den 1970er Jahren wieder zu beleben, wie     staltungszeiten, Optimierung der Ver-
bei der Elbphilharmonie in Hamburg oder        es in verschiedenen Städten jetzt auch       kehrsanbindungen, Länge der Pausen,
ähnlichen Renommierprojekten. Trotz-           gemacht wird. In schrumpfenden Städ-         Barrierefreiheit der Gebäude, bessere In-
dem ist die Kulturpolitik herausgefordert,     ten und Regionen werden in Zukunft           formationen und die Schulung des Per-
sich der demographischen Frage zu stel-        sicherlich neue kulturelle Infrastrukturen   sonals etc. Es gibt eine Vielzahl von Mög-
len und auf mindestens drei Handlungs-         gebraucht, die wieder stärker auf Bringe-    lichkeiten, kulturelle Angebote und Ein-
ebenen zu reagieren.                           strukturen setzen, Selbsttätigkeit fördern   richtungen für ältere Menschen attraktiv
                                               und Beteiligungsbarrieren reduzieren.        zu machen.
Die erste Handlungsebene: Das ist die
strategischen Ausrichtung der Kulturpo-                                                     Fazit
litik. Dominierte in den vergangenen
                                                                                            Generell ist die Ausgangs- und Zukunfts-
dreißig Jahren eher eine Politik der An-
                                                                                            lage so schlecht nicht: Noch nie zuvor
gebotsvermehrung, so bedarf es jetzt ei-
                                                                                            gab es so viele ältere Menschen, die über
nes Wechsels von der Angebots- zur
                                                                                            so viel Zeit, Geld und Bildung verfügen
Nachfrageorientierung. Wichtig sind ak-
                                                                                            konnten wie die heutigen Senioren – und
tivierende Strategien, um neues Interes-
                                                                                            es werden immer mehr. Es gibt also ein
se zu wecken und damit Nachfrage zu
                                                                                            großes Potenzial von Menschen, die prin-
erzeugen. Hier kommen die kulturelle
                                                                                            zipiell für kulturelle Angebote und Akti-
Bildung, die ästhetische Erziehung an den
                                                                                            vitäten ansprechbar sind. Aber Vorsicht
allgemein bildenden Schulen und im Vor-
                                                                                            bei langfristigen Planungen: Spätestens
schulbereich, aber auch die vielfältigen
                                                                                            wenn die „Babyboomer“ ins Alter der
außerschulischen Angebote ins Spiel. Es
                                                                                            Hochbetagten kommen, also etwa ab
ist bekannt: Wenn es nicht gelingt, Kin-
                                                                                            2030, kann nicht mehr damit gerechnet
der und Jugendliche sehr früh für Kunst
                                                                                            werden, dass die Alten die Kulturein-
und Kultur zu begeistern, werden sie ent-
                                                                      Foto: aboutpixel.de   richtungen noch füllen.
sprechende Präferenzen auch im Erwach-
senenalter nicht ausbilden. Die großen                                                         Die beschriebenen Probleme und An-
Modellprojekte wie „Jedem Kind ein In-            Im ländlichen Raum wird man nicht         merkungen sind nur einige Indizien dafür,
strument“, „Jedem Kind eine Stimme“            umhin kommen, Einrichtungen zusam-           dass Kulturpolitik sich angesichts der
und „Schule & Kultur“ in NRW sind Bei-         men zu legen und intelligente Koopera-       demographischen Entwicklung neu “er-
spiele dafür, wo dies erkannt wurde.           tionsformen zu entwickeln. Die Unter-        finden” muss, um für das 21. Jahrhun-
                                               stützung der Vereinskultur und des bür-      dert gewappnet zu sein. Um ihrer selbst
   Ein großes Defizit deutscher Kulturpo-
                                               gerschaftlichen Engagements wird hier in     willen muss es der Kulturpolitik um mehr
litik besteht darin, dass sie die Gruppe
                                               Zukunft noch an Bedeutung gewinnen.          als um vordergründige Bestandssiche-
der Migranten bisher nicht berücksich-
                                               Auch dafür bedarf es neuer Konzepte.         rung gehen – um ihre Neubegründung im
tigt hat. Sie ist in den Kultureinrichtungen
                                               Unter dem Gesichtspunkt der Auslastung       Kontext einer veränderten Gesellschaft,
statistisch kaum nachweisbar. Anderer-
                                               sind hier Standorte zu wählen, die gut       in der es für den Kulturbetrieb nicht we-
seits wissen wir, dass zumindest in den
                                               erreichbar sind und wo Menschen ohne-        niger Aufmerksamkeit und Aufgaben
Ballungsräumen schon in ein paar Jah-
                                               hin zusammen kommen. Vom Programm            geben wird, aber ganz sicher andere Kon-
ren nahezu 50% der unter 25-jährigen
                                               her wird es sich anbieten, die Einrichtun-   zepte und neue Argumente geben muss.
einen Migrationshintergrund haben und
                                               gen möglichst multifunktional auszurich-
sich die Bevölkerung in den nächsten
                                               ten und ggf. mit kulturtouristischen An-
Jahrzehnten immer mehr multiethnisch                                                        Literatur:
                                               geboten und Attraktionen zu verknüpfen.
durchmischen wird. Das ist eine große                                                       Göschel, Albrecht (2007): Schrumpfung, demogra-
                                               Dies erfordert ein ressortübergreifendes     phischer Wandel und Kulturpolitik, in: Kulturpo-
Herausforderung für die Kulturpolitik                                                       litische Mitteilungen Nr. 117, S. 35-39
                                               Denken und koordiniertes Handeln.
und für alle Kultureinrichtungen. Sie                                                       Kaufmann, Franz-Xaver (2007): Der demografi-
müssen sich interkulturell qualifizieren,      Die dritte Handlungsebene: Schließlich       sche Wandel in Deutschland und seine Folgen, in:
                                                                                            Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 116, S. 34-42
wenn denn das Prinzip der kulturellen          sind auch die Kultureinrichtungen selbst
                                                                                            Kocks, Martina (2007): Infrastrukturentwicklung
Chancengleichheit noch gelten soll.            gefordert, sich auf die neue Nachfrage-      im Zeichen der Schrumpfung, in: Kulturpolitische
                                               situation einzustellen. Auch auf dieser      Mitteilungen Nr. 117, S. 31-35
Die zweite Handlungsebene: Die Ein-
                                               Handlungsebene des Kulturmanage-
stellung der Kulturpolitik auf die demo-
                                               ments ist die Nachfrage- und Kunden-         ! Dr. Norbert Sievers, geb. 1954, ist Ge-
graphfische Frage hat selbstverständlich
                                               orientierung ein wichtiges Stichwort. Sta-   schäftsführer der Kulturpolitischen Gesell-
auch Folgen für die Infrastruktur-                                                          schaft e.V., Bonn
                                               tionäre Einrichtungen wie Theater und
entwicklung im Kulturbereich. Zunächst
                                               Konzerthäuser setzen schon heute wieder
sollte es selbstverständlich werden, dass
                                               verstärkt auf dezentrale Aktivitäten. Sie
vor der Entscheidung für den Bau von

                                                                                                                          AKP 1/2008 43
! schwerpunkt

  Kulturkonzept Freiburg

  Kulturell sein – oder nicht sein
  Sind kommunale Kulturkonzepte geeignet, die neuen Herausforderungen der Städte, Gemeinden und Kreise in Kul-
  tur und Kunst voranzubringen, sie zu modernisieren und weiterzuentwickeln? Helfen sie, Antworten auf die kultu-
  rellen und sozialen Risiken und Chancen der Globalisierung zu geben? Erreichen sie Kinder und Jugendliche? Fe-
  dern sie die Auswirkungen der schwierigen finanziellen Situation vieler Kommunen ab, die Kunst und Kultur trifft,
  und leiten sie notwendige strukturelle Reformen bei Kulturinstitutionen ein?Freiburg hat den Prozess eines Kultur-
  konzeptes vor zweieinhalb Jahren begonnen. Erste Ergebnisse liegen vor.

  Pia Maria Federer

  In einem Konzeptpapier1 wurde seiner-           Diskussionen ihrer Widersprüche ak-         tenden Workshops unter begrenzter Be-
  zeit definiert, welches die herausragen-        tiv gestaltet werden sollen.                teiligung von BürgerInnen inhaltlich ver-
  den Aufgabenfelder der Freiburger Kul-        5.Förderung der Stadtteilkultur um Iden-      tieft wurden. Eine Stärken-Schwächen-
  turpolitik für die nächsten Jahre sein sol-     titätspotentiale zu stärken.                Analyse der Kulturstadt Freiburg wurde
  len:                                          6.Gewolltes Bürgerengagement und neue         erhoben.
  • Kulturelle Bildung in allen Bereichen         Verantwortungspartnerschaften.                 Nach dieser 1½ jährigen Phase wurden
    und für alle Teile der Bevölkerung;         7.Beachtung der Kulturwirtschaft, in der      kulturpolitische Leitlinien und Ziele ent-
  • die Bewahrung und Stärkung der kul-           private und kommerzielle Angebote als       wickelt und im Januar 2007 durch den
    turellen Vielfalt sowie die Förderung         Bereicherung verstanden werden.             Gemeinderat verabschiedet. In der nun
    der Möglichkeit interkultureller Identi-    8.Entwicklung der Kultureinrichtungen         andauernden zweiten Phase werden für
    tätsbildung der Bewohnerinnen und             durch Vorrang einer nachhaltigen Qua-       die vier herausragenden Arbeitsfelder
    Bewohner Freiburgs;                           litätsentwicklung vor einer weiteren        konkrete Maßnahmen entwickelt werden,
                                                  räumlichen Erweiterung.                     die finanziellen Auswirkungen geprüft
  • eine pointierte Förderung der Künste,
                                                                                              und Umsetzungsschritte ins Zentrum ge-
    die das erstklassige Musikprofil als        Die Phasen der Umsetzung                      rückt. (gemeinderätliche Verabschiedung
    Freiburger Stärke beachtet;
                                                Der politische Wunsch nach einem Frei-        im Nov. 2007)4. In einer dritten Phase sol-
  • die Bewahrung und lebendige Vermitt-        burger Kulturkonzept reicht bis in die        len mit den Kultureinrichtungen Ziel-
    lung des kulturellen Erbes.                 1990-Jahre zurück.3 Die Wahl des grü-         vereinbarungen zu den kulturpolitschen
  Qualität, chancengleicher Zugang, Gen-        nen Oberbürgermeisters – und damit ver-       Schwerpunkten (kulturelle Bildung, In-
  der-Meanstreaming, Sicherung des zen-         bunden ein neuer Zuschnitt der Dezer-         tegration) getroffen und evaluiert wer-
  tralen Bestandes an kulturellen Angebo-       nate – hatte eine bessere personelle Aus-     den.
  ten und Bildung einer kompetenten Öf-         stattung des Kulturdezernats zur Folge.          Kommunale Kulturkonzepte werden
  fentlichkeit sollen diese Schwerpunkte        Schwerpunkt dieser neuen Stelle sollte        seit den 70iger Jahren eingefordert und
  unterstützten. Acht Leitziele 2 dienen        die Kulturplanung sein.                       entwickelt. „Wer Kultur sagt, sagt auch
  künftig als Eckpfeiler Freiburger Kultur-        Die Entwicklung des Kultukonzeptes         Verwaltung…“ und „die Antinomie von
  politk:                                       ist über mehrere Jahre und Phasen an-         Planung und Kulturellem, zeigt den dia-
  1.Förderung der Künste, vor allem jun-        gelegt. Er wird durch eine beratende Be-      lektischen Gedanken, das Nichtgeplante,
     ger KünstlerInnen, und Beachtung der       gleitgruppe reflektiert, bestehend aus Ver-   Spontane selber in die Planung aufzuneh-
     Qualitäten, die am Markt keine Chan-       treterinnen der Verwaltung und Persön-        men, ihm Raum zu schaffen, seine Mög-
     ce haben.                                  lichkeiten der Freiburger Kultur- und         lichkeiten zu verstärken,“ sagte Adorno5.
  2.Verantwortungsvolle Pflege des kul-         Kunstszene. Eine Auftaktveranstaltung            Kulturentwicklungpläne „entstanden in
     turellen Erbes als regionales und kom-     mit inhaltlichen Statements leitete die       engem Bezug zur Neuorientierung der
     munales Gedächtnis.                        Entwicklung des Freiburger Kulturkon-         Kulturpolitk unter den Stichworten „Bür-
  3.Kulturelle Bildung als zentraler politi-    zeptes ein.                                   gerrecht Kultur“, „Soziokultur“ und Kul-
     scher Schwerpunkt.                            In dieser ersten Phase wurde die Be-       tur für alle und von allen,“ so Bernd Wag-
  4.Kulturelle Selbstbestimmung und Ge-         völkerung und Fachöffentlichkeit über         ner6 vom Kulturpolitischen Institut der
     rechtigkeit in der „offenen“ Stadt Frei-   Fragebögen und Internetstatements in-         Kulturpolitischen Gesellschaft. Verbun-
     burg, in der Vielfalt als Reichtum ver-    haltlich beteiligt und Schwerpunkte für       den war damit die Vorstellung, durch
     standen wird und in der die kritischen     die Weiterarbeit festgelegt, die in beglei-   Analysen der Kultureinrichtungen, kul-

44 AKP 1/2008
kultur !

turpolitische Ziele entwickeln zu können,        Zusätzlich zu Aufführungen in drei         mobilen Außenstelle, dem ORBIT, unter-
konkretisiert durch Maßnahmenpakete,          Häusern, kommen hochkarätig besetzte          sucht. Die Ergebnisse werden in Thea-
wie diese Ziele zu erreichen seien. Hnzu      Veranstaltungsreihen hinzu, die in Koo-       terstücke mit Jugendlichen, auch aus be-
kommen Beschreibungen der notwendi-           perationen mit wichtigen Kulturträgern        nachteiligten Stadtteilen, überführt und
gen infrastrukturellen und finanziellen       Freiburgs11 stattfinden. Diese Reihen sind    im Werkraum des Theaters, der eigens
Rahmenbedingungen.                            durchweg sehr gut besucht. War die Kul-       dafür hergerichtet wurde, aufgeführt.
   Achim Könneke7, Kulturamtsleiter von       turverwaltung zufrieden mit den 500              Im Konzept „Theater-Stadt-Wirklich-
Freiburg, stellte im April 2005 in seinem     Menschen, die das Kulturkonzept inhalt-       keit“ werden unterschiedlichste sinnliche,
Eröffnungreferat gleich eingangs klar:        lich begleiteten, so sind die Veranstaltun-   intellektuelle, emotionale wie künstleri-
„Ziel des Kulturkonzeptes ist es nicht,       gen des Theaters mit rund 1.000 Plätzen       sche Sprachen eingesetzt, um dieses The-
Einsparungen und Umverteilungen im            sonntagmorgens gefüllt, wenn in der Rei-      ater für die Menschen zu einem bedeu-
Kulturbereich zu verhindern. (…) Inhalt-      he „captalism now“ z.B. der Wirtschafts-      tenden städtischen Mittelpunkt werden zu
lich geht es um den Versuch einer zeitge-     nobelpreisträger Joseph Stiglitz zu den       lassen und „lebenswichtige Fragen“ zu
mäßen Neubestimmung des öffentlichen          Chancen der Globalisierung spricht, der       stellen, etwa: Wollen wir unendlich sein?
Kulturauftrages, eingebettet in eine lang-    Bourdieu-Schüler Luc Boltansky zum            Was ist der Unterschied zwischen einem
fristige strategische Stadtentwicklung .      „Neuen Geist des Kapitalismus“ oder           Kopftuch und einem Kreuz? Kann man
Welchen Zielen muss sich Kulturpolitik        Saskia Sassen über Nation und Globali-        mit dem Elterngeld mehr deutsche Ba-
stellen? Welche finanziellen Strukturen       sierung referiert. Hinzu kommen Reihen        bys kaufen?
sind dazu erforderlich ? Welche Schwer-       wie „Rebellen“, in der z.B. die RAF ei-          Befördert wird dieser Prozess durch die
punkte sind zu setzen? Und schließlich:       ner vertieften Untersuchung von Utopie        Intendantin Barbara Mundel und den
wer soll sie umsetzen?... Es geht um die      und Terror unterzogen wird, begleitet         Chefdramturgen Josef Mackert u.a. auch
Erprobung eines neuen Politikstils, der       durch Plakate mit provozierenden Äu-          dadurch, dass versucht wird, mit der Po-
die Partizipation im Sinne einer zu stär-     ßerungen zu Regeln des Terrors, etwa          litik eine gegenseitige Verantwortungen
kenden Bürgergesellschaft wesentlich          „Der Schnellere gewinnt“.                     zu formulieren. Gemeinsam wurde fol-
ernster nimmt.“                                  Der Sozialraum Freiburg wird vom           gendes festgelegt:
                                              Theater stadtteilweit mit einer kleinen
Freiburg wird kulturell sein –                                                              • Die Verantwortung für die Tradition
oder nicht sein8                                                                                einer aufgeklärten Moderne, die um die
Freiburg hat sich mit seinen kultur-                                                            elementare Bedeutung von Kunst-Räu-
                                                ! UNESCO                                        men weiß, die frei von unmittelbarer
politischen Aufgabenfeldern und Leit-
zielen ein ehrgeiziges Programm vorge-                                                          politischer und ökonomischer Einfluss-
nommen. Ein solches Kulturkonzept lässt        Funktionen von Kultur                            nahme sind.
sich nach den Vorstellungen der grünen         - Selbstbeschreibung von Einzelnen,
                                                                                            •   Die Verantwortung für die kulturelle
Fraktion jedoch nur auf der Basis eines           Gruppen, Gesellschaften, Zeitab-              Bildung.
umfassenden Kunst- und Kulturver-                 schnitten, Selbstbeobachtung              •   Die Verantwortung für die Erhaltung
ständnisses verwirklichen, wie es die          - Angstbewältigung angesichts gesell-            gleichberechtigter Zugangsmöglich-
UNESCO vorschlägt: „.Es geht nicht nur                                                          keiten zu Theater und Konzerten für
                                                  schaftlicher und individueller Risi-
um die Erarbeitung von Kriterien für die                                                        BürgerInnen aller sozialen Schichten
                                                  ken
Vergabe städtische Zuschüsse an Kultur-
                                               - Integration                                    und Einkommensklassen.
schaffende in der Stadt, sondern um die                                                     •   Die Verantwortung für die wechselsei-
grundlegende Zielrichtung der Entwick-
                                               - Entwicklung von Zeitbewusstsein im
                                                  Hinblick auf Vergangenheit und Zu-            tigen Zusammenhänge zwischen The-
lung unserer Stadt.“9                                                                           ater und allen übrigen Einrichtungen
                                                  kunft
  Der bisherige Prozess des Konzeptes                                                           der Stadt und des Umlandes.
                                               - Entwicklung von Raumbewusstsein
lässt eine solche Einbindung in die Stadt-                                                  •   Die Verantwortung für die Funktion der
                                               - Identitätsbildung von Personen und
entwicklung jedoch vermissen. Er be-                                                            Stadt Freiburg als Zentrum für den…
                                                  Gruppen
wegte sich bisher hoch strukturiert nur
                                               - Herstellung und Aushalten von Plu-         •   Die Verantwortung für die Funktion der
in der Kunst- und Kulturszene und ver-
                                                  ralität                                       Stadt im europäischen Kontext.
weigerte sich einer öffentlichen Diskus-
                                               - Angebot von Deutungen und Deu-             •   Die Verantwortung für die Auswirkun-
sion. Dies ist umso verwunderlicher, als
                                                  tungsmustern, Weltbildern                     gen des kulturellen Angebotes auf die
sich interessanterweise parallel zum Kul-
                                               - Angebote für Lebensführungen und               stadtwirtschaftlichen Entwicklung des
turkonzept am Theater Freiburg ein für
                                                  Lebensbeschreibungen                          Standortes Freiburg.
die gesamte Stadt hochpolitischer Prozess
                                               - Angebot von Lebensstilen
in Gang setzte, der auf breite öffentliche
                                               - De-Legitimation von Prozessen in           Kulturelle Bildung und
Resonanz stößt. Seit 1½ Jahren stellt das
Theater Freiburg per riesigem Transpa-
                                                  den gesellschaftlichen Bereichen          Teilhabe für alle
                                                  der Politik, des Marktes der Ge-          In den Mittelpunkt des Freiburger Kultur-
rent an die BürgerInnen die provozieren-
                                                  meinschaft, des Rechts, etc.              konzeptes wurden zunächst Handlungs-
de Frage: „In welcher Zukunft wollen wir
                                               - Reflexivität je aktueller Formen von       konzepte und umfangreiche Maßnah-
leben?“. Eingebettet ist diese Frage in ein
                                                  Sittlichkeit und Moral                    men12 in den Bereichen „Kulturelle Bil-
umfangreiches Gesamkonzept.10

                                                                                                                       AKP 1/2008 45
! schwerpunkt

                                                                                                               Fußnoten
                                                                                                               1
                                                                                                                 Kulturkonzept, Handlungskon-
                                                                                                               zept kulturelle Bildung und in-
                                                                                                               terkulturelle Vielfalt, 31.10.
                                                                                                               2007, Drucksache G-07/194, S.
                                                                                                               3 (siehe Homepage Stadt Frei-
                                                                                                               burg, Gemeinderat online)
                                                                                                               2
                                                                                                                 Kulturkonzept, Kulturpoliti-
                                                                                                               sche Leitziele Drucksache (G-
                                                                                                               06/200), Anhang Leitziele (sie-
                                                                                                               he Homepage Stadt Freiburg,
                                                                                                               Gemeinderat online)
                                                                                                               3
                                                                                                                 Damit verbunden waren die
                                                                                                               Vorstellungen durch messbare
                                                                                                               Kriterien für Kultur- und Kunst-
                                                                                                               förderung den historisch ge-
                                                                                                               wachsene Förderdschungel neu
                                                                                                               und transparenter zu gestalten,
                                                                                                               alte Zöpfen lösen zu, Neuerun-
                                                                                                               gen zu ermöglichen , Konflikte
                                                                                                               mit traditionell geförderten Kul-
                                                                                                               tur- und Kunstinstitutionen zu
                                                                                                               minimieren, die finanziellen
                                                                                                               Ressourcen gezielter ein zu set-
                                                                                                               zen und sich über einen gemein-
                                                                                                               samen Kunst- und Kulturbegriff
                                                                                                               zu verständigen.
                                                                                                               4
                                                                                                                 Handlungskonzept Kulturelle
                                                                                                               Bildung sowie Kulturelle und
                                                                                                               Interkulturelle Vielfalt; Gemein-
                                                                                                               deratsdrucksache G-07/194;
                                                                                      Foto: aboutpixel.de 31.10.2007
                                                                                                               5
                                                                                                                 Adorno, Theodor W. (1960/
                                                                                                               1997); Kultur und Verwaltung
                                              stoßen werden. So wurden in Freiburg 6 Wagner, Bernd: Kulturentwicklungplanung - Kul-
  dung“ und „(Inter)KulturelleTeilhabe für    sog. Hausgespräche vereinbart. Erste turelle Planung in „Kompendium Kulturmanage-
  Alle“ gestellt. An erster Stelle wird es    politische Auswirkungen dieser Gesprä- ment“          Armin Weis (Hrsg)
  dabei um eine Vernetzung von Kultur-                                                      7
                                                                                              Könneke, Achim; Gegen den Bedeutungsverlust
                                              che waren zu beobachten, als sich, alle öffentlicher Kultur , Auftaktveranstaltung Freibur-
  und Bildungseinrichtungen gehen, sowie      freien und städtischen Kulturinstitutionen ger Kulturkonzept 20.04.2005; siehe auch
  darum, jedem Schulkind über einen           übergreifend, die Initiative „Kultur macht 8
                                                                                            www.Stadt-Freiburg.de, Kulturkonzept;
  mehrjährigen Zeitraum die aktive Ausei-                                                      In Abwandlung eines Plakattextes des Freibur-
                                              reich“ konstituierte, die sich z.B. ent- ger Theaters aus diesem Sommer: „Europa wird
  nandersetzung mit Kunst und Kultur zu       schieden gegen Kürzungen im Kultur- kulturell sein – oder es wird nicht sein“ von Ja-
  ermöglichen.                                                                              ques Lang, ehem. Kulturminister unter Mitterand.
                                              bereich wandte und in großen, an den 9 Viehten, Maria: Antrag Zum Kulturbegriff , Mai
     Gerade für uns Grüne sind diese beiden   Kulturinstitutionen aufgehängten Trans- 2005, Fraktion Junges Freiburg/Die Grünen
  grundlegenden Aufgabenfelder von zen-       parenten stadtweit auf die neuen kultur- 10 Barbara Mundel/Josef Mackert, Erkundungen
  traler Bedeutung. In einer Veranstaltung                                                  zum Stadttheater der Zukunft, auf dem Weg zur
                                              politischen Ziele hinwies.13                  Wirklichkeit; in die Deutsche Bühne 7/07, S. 22-
  unseres kulturpolitischen Forums „Grü-                                                    27
  ner Salon“, wurde z.B. herausgearbeitet,    Fazit                                         11
                                                                                                z.B. Centre Culturel Francais Freiburg, Carl
  dass es inzwischen für die Bevölkerung                                                    Schurz Haus, E-Werk oder der Uni Freiburg
                                               Zu Recht kann gefragt werden: Ist ein 12 Handlungskonzept Kulturelle Bildung sowie
  nicht mehr nur um den Zugang der sog.       Kulturkonzept die angemessene Form um Kulturelle und Interkulturelle Vielfalt; Gemeinde-
  bildungsfernen Schichten zu kultureller     das Kulturelle und die Potentiale von ratsdrucksache          G-07/194; 31.10.2007
  Bildung geht („Rhythm is it“ mit Simon                                                    13
                                                                                               Vorausgegangen war ein 10 % Kürzungsbe-
                                              Kunst in einer Stadt heute zu erfassen? schluss im Zuschussbereich des Gemeindrates im
  Ruttle steht hierfür als Synonym), son-     Eine Antwort kann sein: Jedes Nachden- Sommer 2006 für die Bereiche Sport, Soziales,
  dern um den Zugang aller Kinder zu ei-      ken, ob provoziert von Kulturkonzepten, Bildung         und Kultur, als eine Antwort auf die da-
                                                                                            malige katastrophale Haushaltssituation der Stadt.
  ner nur über künstlerischer Prozesse an-    ob auf Quartiersebene im Rahmen von Die 10% Zuschusskürzungen sind in der Kultur
  gestoßenen Erfahrensweise Ihrer selbst.     Stadtteilentwicklungskonzepten oder ob nicht         vollzogen. Allerdings besteht die politische
                                                                                            Erwartung das Kulturkonzept sich haushaltsneu-
  Zum Versagen einer bundesdeutschen          ausgehend von kulturellen Institutionen, tral umsetzen lässt und weitere Finanzquellen er-
  Bildungspolitik zählt eben auch, dass       das dazu beiträgt, Kultur und Bildung als schlossen       werdenwie etwa durch Mittel der Bun-
                                                                                            deskulturstiftung für einem institutionsübergrei-
  Kunst- und Musikunterricht bis zur Un-      kreative Motoren individueller wie ge- fenden Konzept „MehrKlang“ zu Neuer Musik.
  kenntlichkeit minimiert wurden, und dass    meinschaftlicher Identitätsentwicklung
  das Kreative als wichtige Funktion der      zu fördern, wird Städte lebenswerter und           ! Die Autorin, Dipl. Soz., ist psychotherapeu-
  Persönlichkeitsentwicklung – als eine       attraktiver machen.                                tisch an einer Rehaklinik tätig; seit 1989 Städt-
  Schlüsselkompetenz in der heutigen Wis-                                                        rätin für Bündnis 90/Die Grünen, stellv. Frak-
  sensgesellschaft – in der Schule zu kurz                                                       tionsvorsitzende, Kulturausschussmitglied seit
  kommt.                                                                                         1994; Gründungsmitglied des Freiburger kul-
                                                                                                 turpolitischen Forums „Grüner Salon“.
     Ohne Zweifel konnte durch das Kultur-
  konzept eine bessere Vernetzung der
  Kulturinstitutionen untereinander ange-

46 AKP 1/2008
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