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login // 02_2018 VERNETZT LEBEN Das Magazin der www.login-magazin.de Wann sind wir endlich da? Mobile Gesellschaft
login // editorial 02_2018 inhalt // Mobile Gesellschaft Bewegungsfreiheit // „Etwas Besseres als den Tod finden wir über- TITEL INSIDE OUT all“, heißt es im Märchen der Bremer Stadtmusikanten. Sich aufzumachen, um etwas Besseres zu suchen – auch auf abenteuerliche, gefährliche Weise 04 // im gespräch 21 // nachgefragt – ist ein menschliches Grundbedürfnis. Seit unsere Vorfahren vor 100 000 Ist virtuelles Reisen die Zukunft? Hin und Her. Mitarbeiterinnen Jahren aus Afrika aufbrachen, um ihre Lage zu verbessern, sind Menschen 04 Technikphilosoph Bruno Gransche und Mitarbeiter der regio iT über unterwegs. Bewegungsfreiheit ist ein elementares Menschenrecht. über den Komfort einer VR-Reise ihre berufliche Beweglichkeit. und die Beschwerlichkeiten des Moderne Nomaden // Regionale, nationale und zeitliche Grenzen Unterwegsseins. 22 // ausbildung werden durch die Digitalisierung aufgelöst. Wer will, kann als Digital- Frauen in der IT sind eine Minder- nomade mit dem Laptop unter Palmen statt im Großraumbüro arbeiten, 07 // wandergesellen heit. Wieso sie dazu gehören, solange das Netz funktioniert. Wenn globale Konzerne allerdings wie moder- Immer in Bewegung: Wieso gehen erzählen sechs Mitarbeiterinnen ne Nomaden Arbeitsplätze an einem Ort abbauen, um an anderer Stelle junge Handwerker heute noch auf der regio iT. zu günstigeren Konditionen zu produzieren, dann ist das keine Freiheit, die Walz? sondern Mobilität ohne soziale Verantwortung. Welche Formen Mobilität annimmt, hat immer Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Darum 11 // gesellschaft geht es in dieser Ausgabe. Gehen oder bleiben? Mobilität ist CAMPUS nur schön, solange man sich aus- 07 Mobilität als Mythos // Das Gebot der Stunde lautet: Reise deiner suchen kann, wie flexibel man sein 26 // zoom Verwertbarkeit nach! Wer pendeln muss, tut dies nicht aus Jux, sondern will. In Bewegung: der Braunkohle- um seinen Status zu erhalten. Und weil er nicht wegziehen will. Die meisten tagebau Hambach. Deutschen bleiben da, wo sie herkommen, so eine Studie der Universität 14 // meinung Luzern zum Mobilitätsverhalten. Andere Studien zeigen, dass eine globale Verschlafen wir die Verkehrswende 27 // erweiterte realität Identität bis jetzt sehr gering ausgeprägt ist: Selbst wer um die Welt jettet in Deutschland? Eine Frage, drei Pokémon Go war nur der Anfang: und mehr Zeit in Wartebereichen als Zuhause verbringt, ist immer noch Antworten. Die Welt mischt sich zunehmend regional verwurzelt. Man kann diesen Wunsch nach Sesshaftigkeit als unzeit- mit digitalen Elementen. gemäß abtun. Oder anerkennen, dass gerade in bewegten Zeiten Menschen 16 // kultur vermehrt nach Stabilität suchen. Und daraus Konsequenzen ziehen. Albrecht Dürer kam auf seiner einjährigen Reise nach Antwerpen regio iT in Bewegung // In der regio iT gibt es seit Oktober eine neue auch in Aachen vorbei. Aber nicht LOGOUT Organisationseinheit, den Smart Hub. Die neue Struktur bündelt Zukunfts- 22 wegen der Printen. themen wie Mobility, Internet of Things oder die intelligente Steuerung des 30 // gewinnspiel Energieverbrauchs, um sie gezielter zu entwickeln. Dafür arbeiten die zu- 20 // service Reihenrätsel ständigen Kolleginnen und Kollegen künftig in einem zentralen und inter- Rückkehrer-Romane boomen: disziplinären Team in eigenen Räumen, begleitet und geschult von Experten. Drei Empfehlungen. 31 // karikatur Läuft alles erfolgreich, sollen die agilen Strukturen später unternehmens- Impressum weit eingeführt werden. Eine aufgeschlossene Lektüre wünscht Ihnen Ihre Redaktion login 26 2 login // 02_2018 login // 02_2018 3
TITEL login // Während wir über virtuel- Wie sieht dieser Rahmen aus? Ist virtuelles Reisen eine Option, im gespräch // „Die Illusion ist hoch.“ les Reisen sprechen, sind Sie mit Wenn Sie virtuell nach Paris reisen, um Städte wie Barcelona, Vene- Ihrer Familie in Südfrankreich im dann können Sie sich nicht aus- dig oder Amsterdam vor dem Urlaub. Wieso machen Sie sich suchen, was Sie sehen wollen. Sie Touristenansturm zu schützen? noch auf den Weg? werden bei Ihrem virtuellen Rund- Ja, das ist sogar wünschenswert. Technikphilosoph Bruno Gransche über virtuelle Reisen BRUNO GRANSCHE // Weil die Un- gang an Grenzen stoßen, wo es Der wachsende globale Tourismus und wieso die wahren Abenteuer nicht im Kopf, sondern auf terschiede zwischen einer virtuellen heißt: Karte zu Ende. In der Wirk- hat viele negative Effekte. Wenn der Straße liegen. und einer wirklichen Reise unüber- lichkeit dagegen ist es immer mög- es um Reisen geht, bei denen es windbar sind. Obwohl beide Reise- lich, geplante Wege zu verlassen keinen Unterschied macht, ob ich formen technisch vermittelte Erleb- und Unbekanntes zu entdecken. physisch vor Ort bin oder nicht, DAS GESPRÄCH FÜHRTE BIRGIT-SARA FABIANEK nisse sind, wie so ziemlich alles, Deshalb sollte sich jeder die Ver- ist es schonender, seine Reise aufs was Menschen heute tun: Ich bin im mittlungseffekte der Technik klar Virtuelle zu beschränken. Auto hierher gereist und hatte die machen. Klimaanlage an – dadurch habe ich meine Umgebung nur teilweise Was meinen Sie damit? wahrgenommen oder sogar ausge- Bevor man die VR-Brille aufsetzt, WER VIRTUELL REIST, blendet, die Hitze zum Beispiel. Bei um an einen fernen Ort zu reisen, einer virtuellen Reise geht mir aller- dings jeder Kontakt zur Wirklichkeit sollte man sich bewusst darüber sein, was bereits alles ‒ vom System, REIST NICHT MEHR verloren. Es ist eine sehr reduzierte vom Gestalter, von der Anwendung, und vorselektierte Form des tech- von der Auswahl und den Algorith- DURCH DIE WELT, nisch simulierten Erlebens. men ‒ ausgefiltert wurde und einem Was fehlt Ihnen denn dabei? an Wahlmöglichkeiten abgenom- men wurde. Und auf dieser Grund- SONDERN DIE WELT Beim virtuellen Reisen sammelt lage entscheiden, ob man damit man vor allem visuelle Eindrücke, einverstanden ist. Wer virtuell reist, REIST DURCH IHN. während Riechen, Schmecken und reist nicht mehr durch die Welt, Fühlen fast sämtlich fehlen. Wenn sondern die Welt reist durch ihn, in der Provence die Sonne auf ei- vermittelt durch eine spezielle Tech- Außerdem kostet es nicht so viel. nem Pinienwald steht oder der nik. Und was zum unbeweglichen Richtig. Virtuelles Reisen ist er- Lavendel blüht, nehme ich das mit Beobachter gelangen kann, ist nur schwinglicher und ermöglicht auch allen Sinnen wahr. Und wenn ich das, was durch diesen bestimmten Menschen mit geringerem Einkom- mich auf dem Markt mit einer frem- Kanal passt. Nur das, was von der men oder Menschen, die örtlich den Sprache abmühe und vielleicht Welt digitalisierbar ist, kann auch gebunden sind oder zu krank zum missverstanden werde und nicht über digitale Technik vermittelt Reisen, neue Eindrücke. Wenn Sie das bekomme, was ich eigentlich werden. Aber es gibt Dinge in der mit einem tollen Detailgrad virtuell möchte, dann kämpfe ich mit einer Welt, die lassen sich nicht digitali- durch Venedig gondeln, dann wa- Menge unvorhersehbarer Wider- sieren. Und diese Dinge werden ren Sie zwar nicht vor Ort, aber Sie stände. Reisen ist immer auch dem virtuellen Reisen immer fehlen. haben es gesehen und werden sich schwierig und beschwerlich. Aber zurechtfinden, sollten Sie später ich möchte mir nicht vorschreiben Sehen Sie nur Nachteile im virtu- einmal dort sein. Oder wenn Sie in lassen, welche Eindrücke ich auf ellen Reisen oder auch Vorteile? einem Regime leben, dass jede einer Reise sammle. Man kann virtuelle Reisen mit gut Reisemöglichkeit unterbindet. In gemachten Dokumentarsendungen dem Fall könnten virtuelle Reisen Branchenvertreter versprechen vergleichen. Die sind schön und vielleicht sogar revolutionäres bei richtiger Umsetzung der Tech- interessant und man kann auf einer Potenzial haben. nik authentische, einprägsame, virtuellen Reise durch den Louvre hoch emotionale und auch senso- eine halbe Stunde vor der Mona Oder man reist an Orte, die sonst rische Erfahrungen. Lisa verweilen, ohne dass ständig nicht zugänglich sind, in den Ich bin überzeugt davon, dass sich jemand durchs Bild latscht. Virtuel- Weltraum zum Beispiel. die Möglichkeiten virtuellen Rei- les Reisen hat seine Berechtigung, Man kann auch in die Steinzeit rei- sens weiter ausreizen und perfek- weil man sich einfach und unkom- sen oder ins Paris des Mittelalters. © Robert Poorten tionieren lassen. Doch es ist nicht pliziert einen Eindruck von einer Nur darf man sich davon nicht täu- möglich, den technischen Rahmen Stadt oder einem Museum verschaf- schen lassen, denken: Aha, so war dieses Mediums zu überschreiten. fen kann. es also im Mittelalter. Was Sie → 4 login // 02_2018 login // 02_2018 5
TITEL TITEL → dort sehen, sind Inszenierungen Virtualität vergisst und der Meinung von Menschen, die bei der Herstel- lung dieser Illusion bestimmte Ge- ist, man hätte alles bereist, obwohl man nur Modelle davon gesehen wandergesellen // Nur noch kurz die Welt checken staltungsentscheidungen getroffen hat. Das Problem taucht in der Tech- haben. Man lernt dadurch keine nikgestaltung häufig auf. Und dann andere Zeit kennen, sondern die werden systematisch alle Dinge Vorstellung von Gestaltern über missachtet, die im Modell nicht vor- Mit Stock und Hut gehen Handwerksgesellen bis heute auf die diese Zeit. gesehen sind und dort kein Forum bekommen. Walz. Während ihrer dreijährigen Tippelei haben sie ihr Hab und In einem Cluburlaub halte ich Gut stets dabei, folgen strengen Regeln und sind auf sich allein mich auch in einer künstlich ge- Was ist daran problematisch? stalteten und durchgestylten Solange man sich im Klaren dar- gestellt. Warum machen sie das? TEXT: BERND MÜLLENDER, FOTOS: ROBERT POORTEN Umgebung auf. Sind das Paralle- über ist, dass man eine gebaute, len zum virtuellen Reisen? inszenierte und modellierte Realität Was Sie dort vorfinden, ist gestaltete virtuell bereist, hat das vielleicht Gleichartigkeit. Eine hoch artifizi- Potenzial. Aber man muss dafür elle Umgebung lässt sich viel einfa- sorgen, dass an dieser Stelle keine cher virtuell nachbauen, weil dort Missverständnisse entstehen und bereits viele Entscheidungen getrof- falsche Schlüsse aus den Erlebnis- fen worden sind, was die Auswahl sen gezogen werden. betrifft. Doch auch in einem Center- parc können Sie am Pool noch Ihren Wovor warnen Sie genau? zukünftigen Lebenspartner kennen- Vor dem Komfort, den das virtuelle lernen. Das wird auf einer virtuellen Reisen bietet. Dadurch gehen uns © Robert Poorten Reise schwierig. wesentliche Fähigkeiten verloren, die wir sonst durchs Reisen trainie- Lassen sich gemeinsame Erleb- ren: Selbst wenn Sie Cluburlaub nisse nicht virtualisieren? machen, müssen Sie zumindest zum Diese Multi-User-Option bleibt Flughafen fahren und treffen am Bruno Gransche, geboren schwierig, weil die Simulation exakt Check-In fremde Menschen, mit auf allen Geräten absolut zeitgleich denen Sie sich auseinandersetzen 1981 in Leimen nahe Heidelberg, laufen muss. Das kennen Sie vom müssen. Oder Ihre Liege ist belegt ist Fellow am Fraunhofer ISI in Skypen, wenn Ton und Bild nicht und dafür müssen Sie eine Lösung Karlsruhe und arbeitet seit 2017 als synchron laufen, und schon kleine finden. Sie setzen sich der Welt aus. Zeitverschiebungen die Kommuni- Und nur dort, wo Sie mit Wider- Technikphilosoph am Forschungs- kation sehr beeinträchtigen. Das ständen zu kämpfen haben, können kolleg „Zukunft menschlich ge- wird derzeit prototypisch erforscht Sie etwas lernen, Kompetenzen stalten“ der Universität Siegen. Er für Operationen im medizinischen gewinnen oder Ihre Weltsicht um Bereich, wo mehrere Ärzte an ver- eine neue Perspektive erweitern. forscht dort zur Philosophie neuer schiedenen Standorten zusammen Das nennt man Bildung. Mensch-Technik-Verhältnisse und über eine Multi-User-Anwendung gesellschaftlichen und ethischen eine OP durchführen. Das heißt, Sie halten es also nicht für beru- man ist auf dem Weg, aber noch higend, dass man sich auf einer Aspekten der Digitalisierung. Mit nicht soweit, dass es authentisch virtuellen Reise nicht verirren seiner Familie lebt er in Siegen. und emotional stimmig gestaltet kann? werden kann. Virtuelle Reisen sind Im Gegenteil. Das Schöne am Ver- deshalb bis auf weiteres eine indi- irren ist die Erkenntnis, dass man viduelle Sache. sich in völlig unbekanntem Gelände auf irgendeine Weise zurechtfinden Das Schöne am virtuellen Reisen und sich aus seiner misslichen Lage ist, dass es völlig risikolos ist. befreien kann. Man kommt in der Man kann es auch anders sehen: Regel immer irgendwo an. Diese Es gibt ein sehr großes Risiko – dass menschliche Grundkompetenz ist man der Illusion aufsitzt, den Un- aus meiner Sicht auf den direkten terschied zwischen Realität und Weltkontakt angewiesen. 6 login // 02_2018 login // 02_2018 7
TITEL VERBINDLICHE VERAB- und Flüchtlingen beim Hüttenbau geholfen. Und Holz gehackt für die Feuer nachts. Wir Wandersleute wissen, wie das ist, nichts zu haben. Alle Menschen sind so REDUNGEN: WER KEIN gleich. Überall. Das lernst du.“ HANDY HAT, KANN AUCH Das Wandern der Handwerker, die vielleicht unge- wöhnlichste Form der Mobilität, folgt harten Regeln: NICHT ABSAGEN. kein Handy, keine Ausgaben für Transport oder Über- nachtung; und pflegt eine seltsam antiquierte Spra- che: Sie haben den Stenz in der Hand (Wanderstab) Moritz Meyer überlegt, welche Erlebnisse er zuerst und den Charlottenburger geschultert (das Bündel mit erzählen möchte. Das Trampen auf dem holländischen dem Notwendigsten). Unterwegs schallert man schon Binnenschiff. Sollte nur ein paar Kilometer von Essen mal. Das heißt, es wird gesungen. Beim Aufnahme- bis Datteln gehen. An Bord gab es genug zu reparieren. ritual wird mit Hammer und Nagel blutig ein Ohrloch Die Reise ging dann bis nach Brügge. Die Einsamkeit geschlagen, da kommt der Ehrenring rein. Wer die im schwedischen Uppsala und das Gegenteil davon in Gemeinschaft verrät oder schummelt, dem wird der Uruguay: „Da habe ich die freundlichsten, höflichsten Ring herausgerissen. Derjenige gilt fortan als Schlitz- Menschen der Welt erlebt.“ Ein Jahr brauche es etwa, ohr, genau. um sich einzugewöhnen. Sich auf immer neue Situatio- nen einzustellen. Vertrauen in die Welt und die Men- Wer wandern will, darf keine Schulden haben, keine schen zuzulassen, wertfrei jedem gegenüberzutreten, Vorstrafen, keine Kinder und muss beim Start jünger wirklich jedem, tiefe Gelassenheit zu lernen, sich seiner sein als 30 Jahre. Während der Wanderschaft gilt es, Freiheit bewusst zu werden, auf Zufall und Glück zu eine Bannmeile von 60 Kilometern von Zuhause einzu- vertrauen und sich an kleinen Dingen zu erfreuen. Lutz halten. Dorthin darf man bis zum Ende der Walz nicht Schmerbauch fasst es so zusammen: „Man kommt in zurück – nicht mal, wenn die Mutter lebensbedrohlich Balance mit sich und der Welt.“ erkrankt. „Das haben wir neulich noch diskutiert“, er- klärt beim Kölsch in Kalk Lutz Schmerbauch, 52, Stein- Mehrfach hat Moritz draußen geschlafen. „Und deut- metz, in jungen Jahren selbst unterwegs. „Das sind sche Winter sind kalt.“ Man lerne, ohne Frust Dauerre- alte Regeln, die gelten.“ Ausnahme sind Beerdigungen gen zu ertragen: „Was nass wird, trocknet auch wieder.“ Jannik Karlson, Dachdecker, saniert gerade bei Sieg- Verwandter. Und dann höchstens 48 Stunden. Wichtig sei der Kontakt zu anderen Reisenden. Wie burg das Fachwerk eines 200 Jahre alten Gutshofs. denn, ohne Handy? Man verabrede sich eben über viele „Ein tolles Projekt. Aber nach acht Wochen jucken Moritz Meyer, 31, studiert am Aachener Uniklinikum Wochen im Voraus, zum Beispiel am zweiten Samstag langsam die Füße“, sagt er. Er will woanders hin, neue Medizin im sechsten Semester. Auch er war über drei im Oktober um zwölf am Rathaus Trondheim. Das funk- Arbeit suchen. Seit dreieinhalb Jahren ist der 25-Jäh- Jahre Wandergeselle. Das lag am deutschen Bildungs- tioniere, bestätigen alle. Wer kein Smartphone habe, rige aus der Nähe von Mannheim schon auf der Walz. system und seinem mäßigen Abiturdurchschnitt. Meyer könne auch nicht absagen, erzählt Felix. „Das macht es „Ein Jahr noch“ ‒ wandern und trampen, mal hier musste sechs Jahre auf seinen Studienplatz warten. verbindlicher. Und das klappt.“ arbeiten, mal dort. Jannik gehört zum Rolandschacht Nach Zivildienst und einem Jahr in Neuseeland wollte der Bauhandwerker, 1891 gegründet und einer von er auf dem Bau arbeiten. Daraus wurde eine Lehre in Dass ihre Kluft die Leute zum Staunen bringt, wissen acht Schächten in Deutschland. So heißen die Bünde einer Zimmerei. Dort lernte er Wandergesellen kennen. sie: „Für viele sind wir komische Vögel“, sagt Felix. Oft der Wandergesellen. Das habe ihm so imponiert, dass er „Riesenohren“ werden sie für Schornsteinfeger, Zauberer, Juden oder bekommen habe. Mit 25 Jahren machte er sich selbst Amish-People gehalten. „In Irland brüllte mal jemand In einer Kneipe in Köln-Kalk treffen sich die Rolands- für dreieinhalb Jahre auf den Weg. „Im Rückblick bin ich durch die Kneipe: Hey, Abraham Lincoln is back“, erzählt brüder jeden zweiten Freitag, alle in ihrer maßge- so froh über meinen schlechten NC.“ der vollbärtige Jannik. Außerhalb der deutschsprachi- schneiderten Kluft aus dickem schwarzem Cord samt gen Länder sind reisende Gesellen unbekannt. Die New weitkrempigem Hut, das „Zeichen des freien Mannes“, Moritz erzählt, wie es bei ihm losging: Exportgesellen York Times berichtete neulich ganz verwundert von wie sie es nennen. Heute ist auch Felix Kautt, 26, dabei, bringen die Neuen für ein paar Wochen auf den Weg. ein paar German Journeymen am Big Apple. „Wir fallen ein Zimmermann aus Reutlingen. „Wir könnten dich Man müsse „auch mal eine Nacht bei Regen im März auf“, sagt Moritz, „und wer auffällt, kommt sofort ins → noch zwei Tage brauchen“, sagt Jannik, „keine Lust?“ auf einer Parkbank schlafen“, also testen, ob man Felix winkt ab. Er will am nächsten Tag weiter nach „straßentauglich“ sei. Irgendwann während dieser Mecklenburg und dann „ein bisschen Berlin machen.“ Anwärterzeit müsse man endgültig Ja sagen. „Dann Linke Seite: Jannik Karlson saniert gerade das In Köln hat er gerade einen Pferdestall ausgebaut. „Da bekommt man die Ehrbarkeit.“ Das ist beim Roland- Fachwerk eines alten Gutshofs bei Siegburg. konnten wir auch schlafen. Hütte mit Couch, Luxus schacht der dünne, blaue Binder zur Staude, dem pur.“ In Schottland war er, in England – und in Calais: weißen, kragenlosen Hemd. Fortan gelte: „Vorwärts Rechte Seite: Ins Wanderbuch tragen Gesellen „Da habe ich bei einer Hilfsorganisation übernachtet immer, rückwärts nimmer.“ Arbeitszeugnisse ein und Städtesiegel. 8 login // 02_2018 login // 02_2018 9
TITEL gesellschaft // Mobilität und Macht »WIEDER NACH HAUSE ZU Mobilität kann ein Privileg sein. Oder eine Zumutung. GEHEN, IST SCHWERER ALS Und häufiger, als es sein sollte, ist sie ungerecht verteilt. TEXT: MARTIN RASPER, ILLUSTRATIONEN: MORITZ BLUMENTRITT LOSZULAUFEN.« Jannik Karlson herzuziehen, damit sie selbst und ihre Familien über- leben können, weil sie vertrieben werden oder nicht ausreichend Futter für ihr Vieh haben“, sagt Moritz. Sie dagegen seien allein, wollen sich kulturell bereichern und Erfahrungen sammeln, die es auf anderem Wege nicht gäbe, und sie gingen „absolut freiwillig“. Seit 700 Jahren ist die Walz bekannt. Bis ins 19. Jahr- hundert war sie sogar Pflicht. Ohne Wanderjahre keine Meisterprüfung. Man sollte neue Länder und Techniken kennenlernen, eben gut bewandert zurückkehren. Da- mals ging man nur zu Fuß oder nahm höchst selten mal eine Kutsche. Heute ist für den Wechsel eines Konti- nents auch Fliegen erlaubt. Ansonsten wird getrampt. „Die Menschen“, berichtet Felix, „erzählen dir dabei mehr als ihrem besten Freund. Man sieht sich ja nie wieder.“ Viele würden auch sagen: „Sonst nehmen wir nie jemanden mit. Aber Wandergesellen immer“, sagt Jannik. „Wir stehen mit unserer Kluft für Vertrauen.“ Einen tröstete er einmal unterwegs, weil seine Freundin → Gespräch.“ Unterschiedlichste Unterkünfte habe ihn zwei Stunden zuvor verlassen hatte. „Der hat mich er kennengelernt, Einladungen von Hartz IV-Beziehern, so dankbar umarmt nachher.“ Wandergesellen als von Pfarreien, aber auch von „richtig Reichen“. mobile Seelentröster. „Alles, was bei mir über Autolänge geht, wird getrampt“, sagt Jannik, „andere latschen Etwa 500 Handwerker sind in Deutschland auf der immer, selbst von Kiel nach Basel“. Die Schweiz sei bei Walz, rund 50 davon sind Frauen. Allerdings nicht beim Wandergesellen beliebt, wegen der hohen Löhne. Die Deutschen fliegen in den Urlaub Mobilität kostet Geld, Zeit und Ner- bestimmte Aufträge schon nicht Rolandschacht. „Bei uns sind keine Frauen“, sagt Lutz mal eben nach Thailand oder auf ven, und sie belastet die Umwelt. mehr annehmen, weil so viel Zeit Schmerbauch. Wieso? Er überlegt eine Weile. „Ich kann Drei Jahre die Welt checken – und dann? „Manche ha- die Malediven, so wie man früher Und je mehr Menschen gleichzeitig für die Anfahrt draufgeht. es nicht begründen. Vielleicht ist es gut, wenn es etwas ben nachher Probleme, wieder ins bürgerliche Leben nach Frankreich oder Südtirol fuhr. unterwegs sind, desto unbeweg- gibt, das sich nicht vermischt.“ zurückzukommen“, sagt Moritz. Jannik meint: „Wieder Auch beruflich sind wir mobil, mehr licher werden sie. In Nordrhein- Mobil zu sein, ist eine menschliche nach Hause zu gehen, ist schwerer als loszulaufen.“ als acht Millionen Menschen in Westfalen stauten sich im vergan- Konstante. Lange Zeit gingen For- Die Tischlerin Kirsten Berg aus dem Eifelstädtchen Und nach kurzer Pause: „Ich kann mir das Aufhören Deutschland pendeln täglich zur genen Jahr Autos auf einer Länge scher davon aus, dass die Zeit, die Blankenheim war mehr als vier Jahre als Gesellin auf noch gar nicht vorstellen.“ Felix glaubt, man sei da- Arbeit. Und erreichbar sind wir so- von rund 455 000 Kilometern, eine Menschen im Laufe eines Tages für der Walz. Die Kölnische Rundschau berichtete groß nach überall zu Hause. „Heimat löst sich auf. Es gibt wieso jederzeit und an jedem Ort. Strecke, die elfmal um die Erde ihre Wege aufwenden, unabhängig darüber. Auch die heute 34-Jährige berichtete begeis- ja auch Schöneres als Reutlingen.“ Die meisten, sagt Wir werden ständig mobiler – wenn reicht; ein Kölner Autofahrer ver- von ihrer Lebensweise und den tert von ihren Erlebnissen. Heute blockt ihr Vater jeden Lutz Schmerbauch, blieben ihrem Schacht verbunden, auch der Einzelne nicht immer ge- bringt im Jahr die Zeit eines kom- technischen Möglichkeiten immer Kontakt ab. „Meine Tochter war sehr enttäuscht von „auch 30 Jahre später, auch mit eigener Familie, eige- fragt wird, ob er oder sie denn über- pletten Wochenendes damit, im ähnlich sei, ganz gleich, welches den Zeitungsartikeln“, sagt er am Telefon. Warum? nem Haus oder eigenem Betrieb.“ haupt so mobil sein will. Klar ist: Auto auf der Straße zu stehen. In Verkehrsmittel sie benutzen. Con- „Das müsste sie erklären. Ich gebe ihr Bescheid.“ Sie Auf welche Weise wir mobil sind Städten wie München oder Ham- stant travelling time, konstante meldet sich nicht. Medizinstudent Moritz will Chirurg werden. Das liege und wie wir Mobilität organisieren, burg sind die großen Zufahrts- Wegezeit, hieß dieser Grundsatz. doch nahe. Wieso? „Chirurgen sind auch Handwerker. ist keine Frage der persönlichen straßen im morgendlichen Berufs- Früher lebte man im Dorf und ging Die Bezeichnung „moderne Nomaden“ gefällt keinem Und die Werkzeuge sind ähnlich: Hammer, Meißel, Vorlieben, sondern wirkt sich auf verkehr so verstopft, dass Hand- viel zu Fuß, dafür waren die Wege der Wandergesellen. „Nomaden sind gezwungen um- Stemmeisen, Bohrer, Schrauben.“ Moritz grinst. unsere gesamte Gesellschaft aus. werksfirmen aus dem Umland kürzer; heute legt man längere → 10 login // 02_2018 login // 02_2018 11
TITEL sollen sich ständig weiterbilden ner Teil der Beschäftigten, für die Autofahrer noch die für Fußgänger oder umschulen – auch ihre Arbeits- Homeoffice in Frage kommt, es sind exakt ausgewiesen, alle teilen zeiten verflüssigen sich immer mehr auch tatsächlich nutzen kann. „Nur sich den Raum. Bei manchen Shared und vermischen sich mit der Zeit, zwölf Prozent aller abhängig Be- Spaces sind die Unfallzahlen zu- die einmal Feierabend genannt schäftigten in Deutschland arbeiten rückgegangen; in jedem Fall waren wurde. überwiegend oder gelegentlich die Unfälle weniger gravierend. von zu Hause aus, obwohl dies bei Auch die Durchschnittsgeschwindig- Das macht Stress. Einer Studie 40 Prozent der Arbeitsplätze theo- keit der Autos ist in Shared Spaces zufolge hatten 60 Prozent der Be- retisch möglich wäre“, schreibt geringer: Wer aufeinander achtet, fragten den Eindruck, immer mehr Brenke. „Flexible Arbeit ist ein Ver- kann eben nicht mit maximaler Arbeit in der gleichen Zeit schaffen teilungsthema“, sagt Arbeitsmarkt- Geschwindigkeit durch den Raum zu müssen. Yvonne Lott, Arbeits- forscherin Lott. „Wir müssen soziale düsen, sondern nur so schnell, wie marktforscherin am Wirtschafts- Ungleichheiten auch in diesem er auf andere reagieren kann. Aber und Sozialwissenschaftlichen Insti- Punkt bekämpfen.“ Aber wie? vielleicht ist genau das die ange- tut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, messene Formel für Mobilität als bestätigt das: „Die gefühlte Über- Es gibt einen interessanten Ansatz, gesellschaftliche Frage: Nicht neben- lastung nimmt eindeutig zu.“ Dazu der sich in der Verkehrsplanung in einander her und aneinander vor- kommt, dass die sogenannte „Nor- den vergangenen Jahren teilweise bei zu brausen, jeder in seiner Spur malarbeitszeit“ immer seltener verbreitet hat: Shared Spaces. Das und in seiner Geschwindigkeit, normal ist. Das einstige Standard- sind öffentliche Verkehrsflächen, sondern aufeinander Rücksicht zu modell – um 9 Uhr zur Arbeit, um in denen nur noch wenige Regeln nehmen und einander wahrzuneh- 12 Uhr Mittag, um 17 Uhr Feierabend gelten, wie rechts vor links. Ansons- men. Und zu entdecken: Es gibt – sei „ein Auslaufmodell“, so Lott. ten müssen die Verkehrsteilnehmer auch noch andere Leute. Und die einfach aufeinander Rücksicht haben ihr eigenes Tempo und ihre Überraschenderweise kann die zu- nehmen. Weder die Flächen für eigene Art sich zu bewegen. nehmende Flexibilität traditionelle »MOBILITÄT UND SOZIALE am Karlsruher Institut für Techno- logie (KIT), erforscht Mobilität und „All das sind auch politische Fra- gen“, sagt die Forscherin. „Wer Rollen verstärken, sagt Yvonne Lott. Frauen gelinge es in der Regel bes- ihre Wirkung auf die Gesellschaft. bestimmt die Zeitmaße der Mobili- ser, sich gegen überzogene Ansprü- UNGLEICHHEIT HÄNGEN Anhand zweier sogenannter Zeit- tät, etwa in der Stadt?“ Also, wie che ihrer Chefs abzugrenzen, auch budgetstudien hat sie das Mobili- schnell die Ampeln umschalten, weil sie oft neben ihrem Beruf noch ZUSAMMEN.« Caroline Kramer tätsverhalten der Deutschen unter- sucht. „Mobilität und soziale Un- wie lange die Tram hält, wie schnell die Türen schließen, wie schnell Haushalt und Kinder managen müssten. Männer hätten in der Regel gleichheit hängen zusammen“, die Rolltreppen laufen? Das sind mehr Möglichkeiten, die Erwartun- sagt Kramer. Je wichtiger Mobilität Absprachen, die alle betreffen – gen ihrer Arbeitgeber zu erfüllen, im Alltag ist, desto mehr bildet sie aber von denen längst nicht alle und daher auch ein höheres Risiko, auch Ungleichheit ab: Wer sich gleichermaßen profitieren. Zeitfra- sich dabei selbst auszubeuten. → Wege zurück, das aber schneller. mehr leisten kann, kann sich auch gen, sagt Caroline Kramer, seien Die insgesamt aufgewendete Zeit, mehr Mobilität leisten. Umgekehrt immer auch Machtfragen: „Jeman- Übrigens trifft der Ruf nach mehr etwa eine Stunde pro Tag, bleibt werden viele Menschen zur Mobili- den warten zu lassen, ist auch eine Flexibilität zwar irgendwie alle, dabei ungefähr gleich – so die An- tät gezwungen, ohne sich wirklich Form der Machtausübung.“ Solche aber die Vorteile flexibleren Arbei- nahme. Doch das stimmt nicht wehren zu können. Wenn etwa die Fragen zu entscheiden und dabei tens kommen eher den ohnehin mehr. Tatsächlich sind wir heute Mieten in Städten immer weiter die Schwächeren nicht zu benach- schon Privilegierten zugute. „Die im Durchschnitt fast eineinhalb steigen, können sich immer weni- teiligen, müsse als politische Auf- schönen Formen der selbstbe- Stunden am Tag unterwegs; Fach- ger Menschen eine Stadtwohnung gabe begriffen werden, fordert die stimmten Arbeit sind meist den leute vom Statistischen Bundesamt leisten und sind gezwungen zu Professorin: „Es geht darum, gleich- höheren Statusgruppen vorbe- kamen mit einer etwas anderen pendeln. Und auf dem Land oder wertige Lebensverhältnisse für alle halten“, sagt Lott. „Homeoffice in Regionen mit hoher Arbeitslosig- zu schaffen.“ © plainpicture / Carmen Spitznagel Methodik sogar auf mehr als zwei zum Beispiel ist in Deutschland Stunden täglich – ein Ergebnis, keit, bleibt den Bewohnern nichts teilweise ein Privileg.“ das sie selbst überraschte. anderes übrig, als jeden Tag weite Auch in anderer Hinsicht ist die Wege auf sich zu nehmen, um ihre mobile Gesellschaft gefordert: Ar- Das stützen wissenschaftliche Stu- Was passiert mit einer Gesellschaft, Existenz zu sichern. Oder zum Arzt, beitgeber erwarten eine immer dien. Der Soziologe und Volkswirt die immer mobiler wird? Und wer in die Schule oder aufs Amt zu höhere Flexibilität von ihren Mitar- Karl Brenke vom Deutschen Institut macht die Regeln? Caroline Kramer, kommen. Wer dann kein Auto hat, beitern. Sie sollen umziehen, wenn für Wirtschaftsforschung zeigte Professorin für Humangeographie steckt fest. das Unternehmen es verlangt, 2015, dass tatsächlich nur ein klei- 12 login // 02_2018 login // 02_2018 13
TITEL meinung // Verschlafen wir die Verkehrswende? Eine Frage, drei Antworten. Im Jahr 2015 überschritten 90 deutsche 2) Weniger Flächen für Autos Städte die EU-Grenzwerte für den Aus- 76 Millionen Fahrräder befinden sich in Deutschland © e.GO Mobile AG © Georg Heimes stoß von Stickstoffdioxid. 2017 waren es in privatem Besitz. Sie sind der Schatz, den eine Ver- kehrswende heben kann ‒ und muss. Auf dem Weg zur immer noch 65 Städte. Ein Fortschritt Arbeit passiere ich ein Ghostbike, dass an eine im Jahr im Schneckentempo. 2017 getötete Radfahrerin erinnert – mitten in Aachen. 1) Bezahlbare Elektromobilität 3) Mobilität nutzen statt besitzen Dass sie es war und nicht ich, ist Zufall; auch ich erlebe als Radfahrerin regelmäßig existenziell bedrohliche Situationen. Die Verkehrswende wird in den Städten stattfinden. Klar ist, dass neue Fahrzeugtechnologien unsere aktuelle Das Beste wäre ein U-Bahn-Konzept, doch das lässt sich Für eine Verkehrswende wünsche ich mir eine Infrastruk- Mobilität nicht Eins-zu-eins ersetzen können. Ich halte nachträglich kaum implementieren. Daher brauchen tur, die intuitiv für alle Nutzenden von 6 bis 99 Jahren ist es für unrealistisch, dass wir in zehn Jahren tausend wir einen Innenstadtverkehr, der aus Bussen, Kleinbus- und die Fehler verzeiht. Kommunen können ihre Ver- Kilometer in einem Rutsch mit einem Elektrofahrzeug sen und Sammeltaxen besteht, die alle emissionsfrei kehrswende einleiten, indem sie Fuß-, Rad- und öffent- unterwegs sind. Die Mobilität der Zukunft muss deshalb fahren und nicht mehr nach Fahrplan, sondern nach lichem Verkehr mehr Flächen zur Verfügung stellen. ein Mix sein. Wer innerstädtisch mobil ist, nutzt andere Bedarf. Ein Peoplemover-System, das den Verkehr regelt Und mehr Geld. Amsterdam, Kopenhagen, Stockholm, Angebote, als wenn er in den Urlaub fährt. Wichtig ist, und steuert und dabei nicht nur die Sicherheit berück- Wien oder Barcelona haben das so entschieden und dass Mobilität künftig leichter zu buchen und zu kombi- sichtigt, sondern Angebot und Nachfrage koordiniert. umgesetzt. Ihre Bürgermeister erklären die Verkehrs- nieren ist: Ich lease etwa ein Elektrofahrzeug inklusive Bei dem ich keinen Parkplatz mehr brauche und das wende zur Chefsache. So soll es sein. Denn ihre Ent- einer Mobilitätsrate, das heißt, ich kann 20 Tage jähr- System weiß, wo ich bin. Und ich dem System nur auf scheidungen vor Ort haben Auswirkungen, die die ganze lich auf einen Mietwagen in jeder Klasse zurückgreifen Knopfdruck sagen muss, wo ich hin will. Eine Digitalisie- Welt betreffen: Sie reduzieren die Erderwärmung, weil und bekomme Bahnkilometer oder Flugmeilen gratis rung der Mobilität also mit Plattform und App-System: sie das Klima nicht weiter anheizen und schaffen mehr hinzu. Solche individuellen Pakete kann der Hersteller ganz autonom, wirtschaftlicher und sicherer. Lebensqualität für Stadtbewohner. Also: Aufwachen! oder Verkäufer natürlich kalkulieren. Und ich wähle den Mix, der zu mir passt. Das bedeutet aber nicht, kein eigenes Auto mehr haben Almuth Schauber ist promovierte Soziologin und zu dürfen. Wir brauchen einen echten und ehrlichen arbeitet als Referentin für Städtische Armut und Das setzt voraus, dass wir uns von dem Gedanken Markt für Elektrofahrzeuge. Batteriegetriebene Autos globale Zukunftsfragen bei Misereor in Aachen. verabschieden, Mobilität zu besitzen – und zu Nutzern müssen nicht weit und schnell fahren, sondern sie sollen werden. Allerdings hat sich die Besitzer-Mentalität das Problem lösen, das am dringendsten ist: das Gift zur Zeit des Verbrennungsmotors über hundert Jahre aus unseren Städten zu verbannen. Für die meisten entwickeln können, vielleicht braucht es ebenso lange, Autofahrer in der Stadt reicht ein Wagen mit einer Reich- eine Nutzer-Mentalität zu entwickeln. Für ein Umden- weite von 150 Kilometern. Dafür werden nur kleinere ken brauchen wir eine Win-win-Situation. Wir haben ja Batterien benötigt und das Auto kann im Prinzip so auch kein Problem damit, dass uns der Dienstwagen günstig werden, dass es die bezahlbarste Alternative nicht gehört. Warum sollte ich künftig mein Auto, wenn wird. ich noch eines besitze, nicht während meiner Arbeits- zeit gegen Gebühr in den Fahrzeugpool der Firma stel- Günther Schuh ist Inhaber des Lehrstuhls für Pro- len, anstatt als totes Kapital in die Tiefgarage? duktionssystematik an der RWTH Aachen, Direktor des Forschungsinstituts für Rationalisierung e. V., Jörg Röhlen ist Diplom-Ingenieur und arbeitet als Geschäftsführer der RWTH Aachen Campus GmbH, Teamleiter für das Center Energie & Versorgung Mitbegründer des Elektrofahrzeugherstellers der regio iT. Er leitet die Forschungsgruppe Smart Streetscooter sowie Vorstandsvorsitzender des Mobility und entwickelt Plattformen wie den Elektrofahrzeugherstellers e.GO Mobile aus Aachen. Mobility Broker mit. © privat 14 login // 02_2018 login // 02_2018 15
TITEL Albrecht Dürer, Hl. Hieronymus, 1521, © Museu Nacional de Arte Antiga, Lisbon, Portugal / Bridgeman Images REISEN IN DER RENAISSANCE: NICHTS IST STANDARDISIERT, ÜBERALL HERRSCHEN REGIONALE UNTERSCHIEDE, GELTEN ANDERE LÄNGEN- MASSE, GEWICHTE, PAPIER- FORMATE, MÜNZEN. Albrecht Dürer, Das Aachener Münster, 1520, © British Museum, London kultur // Reisen für die Leibrente Wissenschaftler nichts Ungewöhn- beste Gelegenheit, ihn zu treffen, ihm einige Kunstwerke und erhält liches. Kollegen besuchen, sich bot die Kaiserkrönung in Aachen im im Gegenzug neben mehreren Emp- Der Maler Albrecht Dürer ging gerne shoppen, wenn er unterwegs war. inspirieren lassen, Kontakte knüp- Oktober 1520. fehlungsschreiben jenen Zollfrei- fen, geistige und ästhetische An- brief, der sich zumindest eine Zeit- Auf seiner einjährigen Reise von Nürnberg nach Antwerpen kam er auch regungen erhalten. Dürer selbst war Es wird auch noch andere Motive lang als sehr nützlich erweisen wird. in Aachen vorbei. Aber nicht wegen der Printen. TEXT: MARTIN RASPER bereits zweimal in Italien gewesen für die Reise gegeben haben. Dürer Von Bamberg geht es per Schiff auf und hatte von dort neue Ideen war so bekannt, dass er erwarten Main und Rhein über Frankfurt und mitgebracht. Die lange Reise nach konnte, in den Kunst- und Handels- Mainz, wo sie jeweils einige Tage Antwerpen war dennoch etwas städten wohlwollend empfangen bleiben, nach Köln. Besonderes. zu werden. Dabei hoffte er nicht nur auf neue Kontakte und inspirieren- Anfang August, drei Wochen später, Albrecht Dürer ist genervt. Immer Sankt Goar darf er frei passieren, Reisen ist beschwerlich in diesen Ein Anlass war klar: Ein Jahr zuvor de Begegnungen, sondern auch auf erreicht Dürer Antwerpen. Die Stadt diese Grenzen! Schon bei der Fahrt in Boppard dagegen gibt es wieder Zeiten. Deutschland ist ein Flicken- war Kaiser Maximilian I. gestorben, gute Geschäfte; neben seinen Ar- an der Schelde war damals Finanz- auf dem Main war alle naselang Diskussionen. „Ich wies meinen teppich aus Fürsten- und Herzog- Dürers wichtigster Förderer. Er hat- beitsutensilien hatte er Kunstwerke zentrum und Handelsmetropole, eine Zollstation in Sicht gekommen Zollbrief an der Trierischen Zoll- tümern, Hochstiften, Freien Reichs- te Dürer nicht nur zahlreiche Auf- mit, auch von befreundeten Künst- ähnlich wie heute London. Über – die er zum Glück jedes Mal an- schranke“, vermerkt Dürer in seinem städten. Jedes Territorium wacht träge gegeben, sondern auch eine lern wie Hans Baldung Grien. Außer- ihren Hafen gelangten Gewürze, Öl, standslos passieren konnte, dank Tagebuch, „da ließ man mich fah- eifersüchtig über seine Grenzen – jährliche Leibrente von einhundert dem ging Dürer gerne shoppen, Zucker, Metalle, kostbare Stoffe und eines Zollfreibriefs, den der Bischof ren. Allein ich musste mit einer und seine eigenen Regeln. Nichts Gulden, die Nürnberg von der kai- liebte wertvolle Kleider oder Kurio- andere Waren aus aller Welt nach von Bamberg ihm ausgestellt hatte. kleinen Schrift unter meinem Insie- ist standardisiert, überall herrschen serlichen Steuer abzuziehen und an sitäten für sein Naturalienkabinett. West- und Mitteleuropa. „Es ist ohne 24 Grenzen, nur um von Bamberg gel bezeugen, dass ich keine ge- regionale Unterschiede, gelten Dürer auszuzahlen hatte. Nach Zweifel der größte Markt der christ- nach Frankfurt zu kommen! wöhnliche Kaufmannsware mit mir andere Längenmaße, Gewichte, Maximilians Tod weigerte sich die Es ist also eine Mischung aus Ver- lichen Welt, und man findet dort führe.“ Das ist zwar leicht geschwin- Papierformate, Münzen. Stadt jedoch, das Geld weiterzuzah- gnügungs- und Geschäftsreise, zu alle Arten von Gütern“, berichtet ein Auf dem Rhein läuft es bei ihm nicht delt, denn Dürer hat jede Menge len. Dürer hatte deshalb vor, von der Dürer am 12. Juli 1520 mit italienischer Reisender. mehr so glatt. In Ehrenfels muss Kunstwerke dabei, die er unterwegs Doch wer sich neue Horizonte er- Maximilians Nachfolger eine Verlän- seiner Frau Agnes und deren Magd er zum ersten Mal tatsächlich Zoll zu verkaufen gedenkt. Aber ohne schließen wollte, musste sich auch gerung zu erwirken. Nachfolger Susanna in Nürnberg aufbricht. Dürer findet in Antwerpen be- bezahlen. Auch in Bacharach und ein bisschen Frechheit geht es schon damals auf den Weg machen. Sol- wurde der spanische König; der aber Erste Station ist Bamberg. Dort wird geisterte Aufnahme. Von einem Kaub heißt es: Geldbeutel raus! In damals nicht. che Reisen waren für Künstler oder hielt sich meist in Madrid auf. Die er vom Bischof empfangen, schenkt Empfang durch die Malerzunft → 16 login // 02_2018 login // 02_2018 17
TITEL 3 Fragen an ... Sarvenaz Ayooghi, Kurato- rin der Ausstellung „Dürers Reise in die Niederlande“ 2020 in Aachen Dürers wunderbare Reise und die regio iT Den Kopf eines Walrosses zeich- Exakt 500 Jahre nach Dürers Ankunft in Aachen, am 7. Oktober Wozu eine Ausstellung übers Dürers nete Dürer mit Feder und brauner 2020, werden drei Ausstellungen in Aachen eröffnet: Das Suer- Reise? Tusche nach seiner Reise an die mondt-Ludwig-Museum, das Ludwig Forum für Internationale SARVENAZ AYOOGHI: Es wird sogar drei Ausstellungen in Aachen geben: Die Haupt- niederländische See. In seinem Kunst und das Centre Charlemagne nehmen das historische ausstellung über Dürers Reise findet im Reisetagebuch berichtete der Treffen zwischen Karl V. und Albrecht Dürer in Aachen zum Suermondt-Ludwig-Museum statt, im Centre Maler nur von einem gestrande- Anlass, sich unter verschiedenen Aspekten mit Künstlern auf Charlemagne wird die Krönung Karls V. the- matisiert und im Ludwig Forum für Interna- ten Wal, den bei seiner Ankunft Reisen zu beschäftigen. Die Hauptausstellung wird im Suer- tionale Kunst wird mit dem Phänomen der das Meer bereits wieder fortge- mondt-Ludwig zu sehen sein. Die regio iT ist ein Hauptsponsor Künstlerreise eine Brücke zur heutigen Zeit spült hatte. dieser Ausstellung. geschlagen. Albrecht Dürer, Kopf eines Walrosses, 1521, © The Trustees of the British Museum Wie hängt das alles zusammen? Im Oktober 2020 ist es exakt 500 Jahre her, dass sich zwei der herausragenden Persön- lichkeiten der damaligen Zeit, Albrecht → berichtet er: „Als ich zu Tisch Insgesamt sechs Mal wird sich Dürer des Aachener Aufenthalts; gemeint landen auf. Er besucht die Kunst- gen. Einige Maler in Antwerpen Dürer und Karl V., in Aachen getroffen haben. geführt wurde, da stand das Volk zu während dieses Jahres für jeweils ist jener Mitarbeiter der kaiser- und Handelsmetropolen Brügge scheint er durch seine Anwesenheit Karl, weil er hier zum Kaiser gekrönt wurde, beiden Seiten, als führte man einen mehrere Wochen in Antwerpen auf- lichen Kanzlei, dessen Aufgabe es und Gent und fährt im Dezember an inspiriert zu haben, er selbst nahm und Dürer, weil er ihn treffen wollte und großen Herrn. Es waren unter ihnen halten. Dazwischen unternimmt er sein würde, das ersehnte Papier die Küste nach Zeeland, wo ein wohl weniger Impulse auf. Seine weil seine Reise ein Beispiel für einen frühen Männer von gar trefflicher Persön- Abstecher nach Brügge, Gent oder zu beglaubigen. Beziehungspflege riesiger Wal gestrandet ist, den bei Leibrente hat er sich gesichert, bis Kulturtourismus ist. Jede der drei Ausstel- lichkeit, die sich alle mit tiefer Ver- Brüssel – und nach Aachen. Das ist auf höchstem Niveau. Dürers Ankunft das Meer leider zu seinem Tod durfte er die jährlich lungen vertieft den jeweiligen Aspekt. neigung auf das Allerdemütigste ja der eigentliche Anlass seiner Rei- wieder fortgespült hat. Im Mai 1521 hundert Gulden kassieren. Ansons- gegen mich benahmen und sagten, se: der Krönung des Kaisers bei- Schließlich die Krönung. „Am 23. Tag erfährt er tief erschüttert von ten war er unzufrieden; die Reise Was wird in der Hauptausstellung zu sie wollten alles das tun, was sie zuwohnen und zu erreichen, dass des Oktober hat man König Karl zu Luthers Gefangennahme nach dem war teuer gewesen, und er scheint sehen sein? wüssten, das mir lieb wäre.“ dieser Dürers Privileg verlängere. Aachen gekrönt“, berichtet Dürer. Reichstag von Worms, ohne zu ah- weniger Geschäfte gemacht zu Es werden vor allem Arbeiten gezeigt, die „Da sah ich alle köstliche Herrlich- nen, dass diese vom Sachsenherzog haben als erhofft – 221 Gulden Ein- Dürer im Verlauf seiner Reise produzierte – Dürer verkehrt aber nicht nur in Am 4. Oktober 1520 bricht Dürer in keit, dergleichen keiner, der mit uns inszeniert war, und schreibt ein nahmen stehen 405 Gulden an Aus- das lässt sich anhand des Reisetagebuchs Künstlerkreisen, sondern auch mit Begleitung hochrangiger Nürnber- lebt, etwas Prächtigeres gesehen seitenlanges verzweifeltes Lamento gaben gegenüber, auch für Luxus- sowie anhand seiner Gemälde und Zeichnun- Patriziern und Händlern; vor allem ger Vertreter von Antwerpen nach hat.“ Mehr ins Detail geht seine über den Verlust des Hoffnungs- artikel wie Pelze, Schuhe, Kunst gen bis ins Detail nachvollziehen. Bekannt pflegt er den Kontakt mit den Abge- Aachen auf. Dort besichtigt er unter Beschreibung leider nicht. Was auch trägers in sein Tagebuch. oder Kämme aus Elfenbein. „Ich sind über 120 Zeichnungen und mehrere sandten der einflussreichen Nürn- anderem die Pfalzkapelle, den Krö- daran liegt, dass Dürer offenbar ein habe bei allem meinem Machen, Gemälde höchster Qualität, die wir zusam- berger Familien, die in Antwerpen nungssaal des Rathauses sowie die gedrucktes Programm der Veran- Es ist also, salopp gesagt, noch gut Verzehren, Verkaufen und anderer mentragen. Zudem ist geplant, solche Wer- ihren Geschäften nachgehen. Er Reliquien im Mariendom. Aber er staltung besitzt, in dem der Ablauf was los auf den restlichen zwei Handlung Schaden gehabt in den ke einzubeziehen, die er dabei hatte, um zeichnet und malt regelmäßig, vor vergisst nicht sein großes Ziel. Die der Krönung in allen Einzelheiten Dritteln der Reise. Auch wird Dürers Niederlanden, in allen meinen Be- sie zu verkaufen oder zu verschenken. Dazu allem Porträts. Häufig bezahlt er Verlängerung seines Privilegs hat beschrieben ist und das ihm als Frau in Antwerpen ausgeraubt; ein ziehungen zu hohen und niederen gibt es eine Auswahl von Gemälden, Skulp- mit seinen Bildern. Seinem Gastge- er seit Monaten vorbereitet, er hat Gedächtnisstütze reicht. „Beutelschneider“ schneidet ihr Ständen“, klagt er im Tagebuch. turen, Zeichnungen und Druckgraphiken, ber in Antwerpen etwa gibt er mal sein Netzwerk aktiviert, Fürsprecher den Beutel mit Geld und Schlüsseln die Dürer auf seiner Reise gesehen haben Geld, mal Kunst. „Den Jobst, mei- in Stellung gebracht, Empfehlungs- Von Aachen reist Dürer nach Köln. vom Gürtel ab, damals eine übliche Ende Juli 1521 trifft Dürer wieder dürfte, sei es, weil sie öffentlich zugänglich nen Wirt, gar sauber und fleißig mit schreiben besorgt. Zum Netzwer- Dort erreicht ihn die Nachricht, Art des Diebstahls. in Nürnberg ein; am dritten August waren oder weil sie von Künstlern stammen, Ölfarben porträtiert“, notiert er im ken gehörten auch Geschenke – die dass Kaiser Karl V. die jährliche nimmt er vom Stadtkämmerer die die er kennengelernt hat. Der Besucher Tagebuch; „der hat mir für seins Dürer stets treulich im Tagebuch Zahlung weiterhin bewilligt. Damit Das Fazit der Reise ist für Dürer für 1519 und 1520 zurückbehaltene wird einen einzigartigen kulturhistorischen nun seins gegeben. Und sein Weib verzeichnete. „Dem Mathes habe ist der wichtigste Zweck der Reise zwiespältig: Er hat viel erlebt, dar- Zahlung von insgesamt 200 Gulden Bilderbogen erleben. habe ich aufs Neue in Ölfarben ich für 2 Gulden Kunstware ge- erfüllt. Trotzdem hält sich Dürer unter eine Menge interessanter in Empfang. Wenigstens das. porträtiert.“ schenkt“, heißt es etwa während weitere acht Monate in den Nieder- Begegnungen und Ehrbezeugun- 18 login // 02_2018 login // 02_2018 19
TITEL INSIDE OUT service // Die Provinz bin ich Drei Rückkehrer erzählen, was passiert, wenn man an den Ort zurückkehrt, an dem man aufgewachsen ist. Mut zum Kaff Jan Böttchers Romanheld Michael Schürtz kommt als arroganter Snob in Designerjeans wegen eines Bauprojekts voller Widerwillen in „Das Kaff“ zurück, in dem er aufgewachsen ist. Der Architekt rückt mit sämtlichen Vor- urteilen zum Leben in der Provinz an – und dann bröckeln sie ihm Stück für Stück weg. Als Schürtz schließlich dank der Rückkehr zu seinem alten Fuß- ballclub eine Art Katharsis erlebt, entwickelt er mit reichlicher Verspätung nachgefragt // Hin und Her doch noch so etwas wie Heimatgefühle. Mit Ironie beschreibt Böttcher die innere Feindseligkeit seines Antihelden und seine alltäglichen Probleme Karriere und Laufbahn bedeuten dasselbe – beides steht für und Auseinandersetzungen. Ein nicht ganz durchsichtiges Familiendrama, Bewegung im Beruf. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der regio iT das sich in der zweiten Hälfte herausschält, gibt dem Roman Tiefe. - FAB - Jan Böttcher: Das Kaff. Aufbau Verlag 2018 über ihre örtliche und berufliche Beweglichkeit. Ein Teil von mir Der französische Philosoph und Soziologe Didier Eribon ist in den Fünfzi- Wie viele berufliche Ausbildungen haben Wie häufig haben Sie in Ihrer Laufbahn ger- und Sechzigerjahren als Arbeiterkind in Reims aufgewachsen und hat Sie in Ihrer Laufbahn absolviert? bereits Ihren Arbeitgeber gewechselt? sich mit Fleiß und außerordentlicher Begabung zum Pariser Intellektuellen (dazu zählen auch angefangene, aber nicht 24 % Keinmal entwickelt. Nachdem sein tyrannischer Vater gestorben ist, kehrt er zum abgeschlossene Ausbildungen) 13 % Einmal ersten Mal seit Jahrzehnten an den Ort seiner Kindheit zurück. Und stellt 41 % eine 16 % Zweimal fest, dass alles, wovon er sich einmal hasserfüllt losgesagt hat, in ihm wei- 30 % zwei 16 % Dreimal terlebt. Eribon hatte wichtige Gründe, aus Reims wegzugehen, er wurde 13 % Viermal Quelle: An der Umfrage beteiligten sich 38 von insgesamt 405 Beschäftigten der regio iT. 21 % drei als junger Mensch diskriminiert wegen seiner Homosexualität. Trotzdem 5% mehr als drei 8% Fünfmal muss er erkennen, dass die Provinz ein Teil von ihm selbst ist – obwohl dort 11 % Mehr als fünfmal inzwischen fast alle Front National wählen. Die Wiederbegegnung mit der Heimat und der Mutter ermöglichen ihm schließlich eine Versöhnung mit Wenn Sie studiert haben: Wie oft haben sich selbst. Ein Buch, das sich zwischen Autobiografie, Klassenanalyse und Sie Ihre Studienrichtung/Ihr Studienfach Wie oft haben Sie dabei Ihren Wohnort Kulturdiagnose bewegt, und ein bewegendes Porträt eines sich selbst be- gewechselt? (Stadt/Gemeinde) gewechselt? wussten Europäers. - FAB - (dazu zählen auch abgebrochene 68 % Keinmal Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Suhrkamp Verlag 2016 Studiengänge) 22 % Einmal 72 % Keinmal 11 % Mehrfach Von Berlin nach Hohenlimburg 22 % Einmal 6% Zweimal Autor Jörn Klare beschreibt in „Nach Hause gehen“, wie er von Berlin nach Wie weit leben Sie aktuell von Hohenlimburg wandert, einer Kleinstadt am Rande des Ruhrgebiets, wo er Ihrem Geburtsort entfernt? herstammt. Auf dem Weg spricht er mit Menschen, die ihre Heimat lieben, Haben Sie sich nach Ihrem Berufseinstieg 40 % bis 10 km an ihr leiden und auch für sie kämpfen. Auf seine Frage: „Was ist Heimat? beruflich verändert? 16 % bis 20 km Braucht man sie?“ bekommt er oft nur kurze, aber auch tief- und abgründige 26 % Nein 18 % bis 100 km Antworten über Zugehörigkeit und Verwurzelung. Am Ende kommt er zur 32 % Ja 5% bis 200 km überraschenden Erkenntnis, dass es ein breites Kreuz braucht, um auf dem 26 % Mehrfach 11 % bis 400 km Dorf zu leben. Denn um sich in so einer überschaubaren Gemeinschaft 16 % Ich arbeite heute in einem gänzlich 3% bis 600 km zu entwickeln und seinen Weg zu gehen, dazu brauche man ein dickes Fell. anderen Bereich 8% mehr als 600 km Ein Buch, das zu eigenen Gedanken- und Fußreisen anregt. - FAB - Jörn Klare: Nach Hause gehen. Eine Heimatsuche. Ullstein Verlag 2016 20 login // 02_2018 login // 02_2018 21
INSIDE OUT ausbildung // Frauen in der IT Informatikerinnen sind eine Minderheit. Wieso sie sich für Berufe in der IT entschieden haben, erzählen sechs Auszubildende und Mitarbeiterinnen der regio iT. Während die Ungleichheit der Geschlechter in den meisten Wirtschafts- branchen in den vergangenen Jahren nachgelassen hat, nimmt sie in IT- Berufen sogar zu. Nur eine von sechs Beschäftigten in der IT-Welt ist derzeit weiblich. Auf offene Stellen bewerben sich meist nur wenige Frauen, in bestimmten Studiengängen wie Wirtschaftsinformatik bleiben Männer weitgehend unter sich. Auch die regio iT wirbt häufig noch vergeblich um Frauen in der regio iT Informatikerinnen: Unter den 21 Auszubildenden sind gerade einmal vier Frauen, im neuen Ausbildungsjahrgang ist nur eine einzige Frau dabei. Woran liegt es, dass Frauen um IT-Berufe einen großen Bogen machen? Beschäftigte der regio iT gesamt … 405 An der fehlenden Präsenz im Netz liegt es nicht: Natürlich sind Frauen online. Sie stellen die Mehrheit in den sozialen Netzwerken, sie shoppen und spielen Social Games. Doch während es vor allem Männer sind, die die Tools der Frauenanteil der Beschäftigten Zukunft entwickeln, werden Frauen zu passiven Konsumenten degradiert – (einschließlich Tätigkeiten im ad- und womöglich noch als solche ignoriert. ministrativen und kaufmännischen Das müsste nicht so sein: In Pisa-Studien schneiden Mädchen in Mathe- Bereich, in der Unternehmenskom- matik ähnlich ab wie Jungen. Dennoch schlagen sie später seltener einen munikation, dem Marketing sowie Karriereweg ein, der ihren naturwissenschaftlichen Fähigkeiten entspricht. in der Kunden- und Anwender- Ausschließlich durch unterschiedliche Berufswünsche lässt sich diese Un- betreuung) … 23 Prozent gleichheit nicht begründen. Plausibler scheint eine andere Erklärung: Das große Problem für Frauen in der Informatik könnten die ständigen Zweifel ihres Umfelds sein. Wenn ein Informatiker in den Raum kommt, denkt jeder: Anzahl der regio iT Mitarbeiterin- Der kennt sich aus. Bei Informatikerinnen sieht das anders aus, ganz gleich, nen, die in der Technik beschäftigt welche fachliche Eignung sie haben. Sie müssen sich Akzeptanz immer wie- der neu erkämpfen. Deshalb ist es wichtig, dass Mädchen ein schulisches sind (dazu gehören unter anderem und familiäres Umfeld haben, in dem sie sich trauen, etwas auszuprobieren eine Mathematikerin, eine Elektro- und in dem es selbstverständlich ist, Mädchen für Technik zu begeistern. Ingenieurin, eine Vermessungs- Ingenieurin, Wirtschaftsinformati- In Wahrheit nämlich haben Frauen die Entwicklung des Computers von Anfang an maßgeblich mitgestaltet: Die ersten Programmiererinnen waren kerinnen, SAP-Entwicklerinnen weiblich. Grace Hopper, eine der Pionierinnen der Informatik, arbeitete mit und Anwendungsentwicklerinnen) dem Mark I, dem ersten vollelektronischen Rechner der Welt, erfand den … 25 Compiler und die Bezeichnung Bug. In den Achtzigerjahren, als Informatik an den Unis noch ein junges Fach war und der Personal Computer noch nicht die privaten Haushalte erobert hatte, waren in den USA fast die Hälfte der Studierenden weiblich. Doch dann setzten sich Strukturen und Klischees fest, wie jenes, dass richtige Nerds männlich zu sein haben. Machen wir endlich Schluss damit. © Georg Helmes BIRGIT-SARA FABIANEK 22 login // 02_2018 login // 02_2018 23
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