WIDERSTAND MAGAZIN NR. 03 - SPIELZEIT 2020 21 - Schauspiel Köln
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MAGAZIN NR. 03 SPIELZEIT 2020 21 WIDERSTAND MIT BEITRÄGEN VON: REINHART KÖ LER • RENÉE AKITELEK MBOYA • MARLENE PARDELLER • HERIBERT PRANTL • OLGA SHPARAGA • FABIAN VIRCHOW
Ngugi Michuki, Kiambu County 2018 Ngugi Michuki war »Mau-Mau«-Kämpfer. Er lebt heute fernab des Landes, für das er damals gekämpft hat, in einem kleinen, einfachen Dorf. MEHR ZUR FOTOSERIE »ARE YOU CALLING ME A DOG?« VON NURA QURESHI FINDEN SIE AB S. 08. DIESE UND ANDERE FOTOS ZUM THEMA »WIDERSTAND« SIND AKTUELL TEIL DER AUSSTELLUNG »RESIST!« IM RAUTENSTRAUCH-JOEST-MUSEUM. WWW.SCHAUSPIEL.KOELN
EDITORIAL RESISTENZ Seit der Antike wird über Legitimität und Notwendigkeit zum politischen Widerstand gestritten. »Widerstand bildet gleichsam den Motor oder Schritt- macher der Geschichte«, sagt der Politikwissenschaftler Klaus Roth. Die gesamte Weltgeschichte lasse sich begreifen als permanenter Widerstands- kampf, als Kampf gegen ungerechte Herrschaft bzw. als Kampf um Macht, der stets auf Widerstand stoße und Widerstand provoziere. Widerstand heißt auch, sich aus der Ohnmacht zu befreien, sich gegen Unter- drückung und Ausbeutung zu erheben: In den 1950er-Jahren stand ein Teil der ostafrikanischen Bevölkerung auf gegen die koloniale Herrschaft Groß- britanniens. Dieser Befreiungs- bzw. Unabhängigkeitskampf von der Herrschaft der weißen Siedler*innen – überliefert als »Mau-Mau«-Aufstand – hat bis heute seine Spuren in der kenianischen Gesellschaft hinterlassen. Die Künst- lerin Nura Qureshi (S. 08) spürt in ihrer Fotoserie diesen Auswirkungen nach. Zu sehen sind die Bilder im Kontext der Ausstellung RESIST! im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum, die sich mit 500 Jahre antikolonialem Wider- stand im Globalen Süden und kolonialer Unterdrückung beschäftigt. Im Sommer 2020 gehen im Osten Europas hunderttausend Menschen auf die Straße und begehren gegen den Machthaber Alexander Lukaschenko auf. Das Regime reagiert darauf mit brutalen Repressalien. Die Philosophin und Aktivistin Olga Shparaga hofft trotz dieses Drucks und der Angst, die die Sanktionen bei den Menschen ausgelöst haben, neue Wege im Kampf für die Demokratie zu finden. (S.22) Auch in Demokratien wird das Recht auf Widerstand kontrovers debattiert. Der Journalist Heribert Prantl beschreibt, wie der Artikel 20 Absatz 4 1969 Eingang ins Grundgesetz gefunden hat und welchen Wert er diesem Recht in der Erhaltung und Entwicklung demokratischer Prozesse beimisst. (S.29) Vor rund 10 Jahren rief der damals 93 Jahre alte Stéphane Hessel, ehemaliger französischer Widerstandskämpfer und UN-Diplomat, mit seinem Manifest EMPÖRT EUCH! zum politischen Widerstand auf. Er sah Menschenrechte, Solidarität und Sozialstaat gefährdet. Sein Essay ging millionenfach um die Welt und rief in einigen Ländern soziale Protestbewegungen hervor. Hessel rief zum aktiven Handeln auf, denn Widerstand wird nur wirksam, wenn Veränderung gewollt ist. BEATE HEINE
NR 3. 2020 21 – WIDERSTAND DER KAMPF IST NICHT VORÜBER 04 EINE BESTANDSAUFNAHME VON RENÉE AKITELEK MBOYA »MAU-MAU«. WIDERSTAND UND REPRESSION 06 EINE HISTORISCHE EINORDNUNG VON REINHART KÖ LER RESIST! DIE KUNST DES WIDERSTANDS 08 DIE FOTOSERIE »ARE YOU CALLING ME A DOG?« IM RAUTENSTRAUCH-JOEST-MUSEUM ES KANN JEDERZEIT EXPLODIEREN 22 EIN GESPRÄCH MIT OLGA SHPARAGA 26 DER WIND DER WUT EIN INTERVIEW MIT MARLENE PARDELLER (#KEINEMEHR) WIDERSTAND 29 EIN PLÄDOYER VON HERIBERT PRANTL 32 WIDERSTAND - EINE INSZENIERUNG VON RECHTS AU EN EIN BEITRAG VON FABIAN VIRCHOW 34 THEATERBRIEFE AUS HONGKONG & DÄNEMARK PREMIEREN APR–JUN 40 EXTRAS 44 INFOS & IMPRESSUM 48
Patrick, 2016 Mit der Kolonialisierung kam auch die Uniform nach Kenia, die bis heute weit verbreitet ist und unterschiedliche Arbeitsbereiche nach außen sichtbar macht. Patrick ist Manager in einem kenianischen Haushalt. 03
DER KAMPF IST NICHT VORÜBER EINE BESTANDSAUFNAHME VON RENÉE AKITELEK MBOYA JAHRELANG WURDE DER DISKURS UM DEN »MAU-MAU«-KRIEG IN DER WESTLICHEN WELT STARK DURCH KOLONIALE RESSENTIMENTS GEPRÄGT. DIE WIDERSTANDSKÄMPFER*INNEN AUF DEM GEBIET DES HEUTIGEN KENIA, DIE SICH ZU BEGINN DER 50ER JAHRE GEGEN DIE KOLONIALE UNTERDRÜCKUNG DURCH GRO BRITANNIEN WEHRTEN, WURDEN ALS PRIMITIV, GRAUSAM UND KRIMINELL ABGETAN. SOGAR DIE REGIERUNG IM UNABHÄNGIGEN KENIA REPRODUZIERTE DIE VORSTEL- LUNG VON DEN »MAU-MAU« ALS TERRORIST*INNEN UND REBELL*INNEN, UM DEN EHEMALIGEN AUFSTÄNDISCHEN DAS ANRECHT AUF EIGENES LAND ZU VERWEIGERN. RENÉE AKITELEK MBOYA SETZT SICH GEGEN DIE KOLONIALISTISCHE PERSPEKTIVE AUF DIE »MAU-MAU«-BEWEGUNG EIN. FÜR DIE NAIROBISCHE KÜNSTLERIN SIND DIE »MAU-MAU« ALLDIEJENIGE, DIE IM KOLONIALKRIEG AUF DER STRECKE GEBLIEBEN SIND. DIE VERLUSTE AUS EBENDIESER ZEIT SPÜRT MAN IN KENIA BIS HEUTE. Die kolonialistische Fantasie braucht höchstrangige Offizier der »Mau-Mau« leicht sogar die Freiheit, diesen Vor- ein feststehendes Bild von einer schwar- und seitdem symbolischer Anführer schlag auszuweiten, und erklären: Die zen Person oder den Anderen – eine vieler Bewegungen, erklärte 1953, dass »Mau-Mau« sind all jene, die im komplexe Fixierung, die auf Angst und alle Armen die »Mau-Mau« seien: Befreiungskrieg auf der Strecke geblie- Trugschlüssen beruht. Die schauerliche ben sind – deutlich sichtbar für die Fantasie, die das Bild der »Mau-Mau« »Die Armen sind die »Mau-Mau«. Man Kolonialverwaltung – es sind diejenigen, prägt, ist stets die Vorstellung von einem kann die Armut beenden, aber nicht mit die eine stille, subversive Revolution stattlichen, finster dreinblickenden den Bomben und Waffen der Imperia- gestartet haben, Hand in Hand mit dem Mann mit Dreadlocks und wilden listen. Nur das revolutionäre Recht der Militäraufstand, der gegen die britische Augen. Respekteinflößend, die Schul- Kämpfe, die die Armen ausfechten, Kolonialarmee verübt worden ist. tern in blutige Ziegenhaut und Sack- könnte die Armut für die Kenianer leinen gehüllt, erd- und rußbefleckt und beenden.« Eine gegenwärtige Interpretation und durchwirkt von Moos – nach jahrelan- Betrachtung der »Mau-Mau« verlangt gem Herumkriechen in den Höhlen der Kimathi regte an, das Bild der »Mau- die Anerkennung all jener, die den Hochlandwälder. Mau« durch eines zu ersetzen, das uns »Mau-Mau«-Eid abgelegt haben – un- näher ist – unterdrückt, landlos, unge- gefähr 1,5 Millionen Menschen in Zen- Feldmarschall Dedan Kimathi, der bildet, hungrig. Wir nehmen uns viel- tralkenia, darunter die Agĩkũyũ und 04
Meru sowie deren direkte Handelskon- senen Arbeiter-Bauern-Front gegen hatte, um sich davon zu überzeugen, takte und Weidenachbar*innen, die einen mächtigen Feind ein solides Fun- dass die Brutalität des Regimes in Bri- Kamba und die Massai – die den An- dament verliehen.« tisch-Ostafrika gerechtfertigt war – wie spruch auf ithaka na wiyathi (Land und dieser scheinbar aufrichtige Beitrag zur Freiheit) ins Zentrum gerückt haben. Man wird die wahre Identität der »Mau- Debatte im Unterhaus in den frühen Diejenigen, die dem britischen Imperia- Mau« womöglich niemals aufdecken. 30ern beweist. lismus die Stirn geboten haben, waren Doch indem man ihre Geschichten wie- unzweifelhaft die Krieger der »Mau- dererzählt, trägt man einem vorsätzlich Denkt man heute über die »Mau-Mau« Mau« im Untergrund, aber auch verein- vertuschten kolonialen Archiv Rech- nach, dann bedeutet das, anzuerkennen, zelt weibliche Figuren, die das Land nung. Zum Vorschein kommt die dass Millionen Familien auseinander- unter der heißen Sonne beackert und Geschichte eines Volkes, das nach uhu- gerissen und komplette Gemeinden ver- gehegt haben, die im Schutz der Dunkel- ru (Freiheit) strebte, das Land und schleppt worden sind. Menschen wurden heit über Stacheldrahtgräben hinweg Arbeitskraft geopfert hat und schwer inhaftiert – ohne Recht auf ein faires den Boten Getreide und Lumpen für dafür bestraft worden ist und dessen Gerichtsverfahren. Man hat sie in die Verbände zugeschoben haben. Es waren Wunsch nach Freiheit von ökonomi- entlegensten Ecken von Kenia geschickt, auch Hausangestellte, die ihren weißen scher Ausbeutung und dem Recht auf in der Absicht, sie noch stärker zu iso- Herren Vorräte entwendet haben, Sex- soziale Gleichheit heute für alle, die in lieren. Es bedeutet, einen Sprachverlust arbeiter*innen, die ihre Ausweise dafür Kenia leben, eine nationale Leitphilo- anzuerkennen, einen Verlust im Glau- genutzt haben, um Nachrichten durch sophie ausdrückt. Heute, nach 40 Jah- ben, die Zerstörung heiliger Stätten und die streng bewachten Grenzzonen der ren, in denen man der Rolle der »Mau- die Kriminalisierung spiritueller Bräu- Reservate zu schleusen, und diejenigen, Mau« die Ehre verweigert hat, die sie che, einen Verlust von Kultur und die die sich fernab in den Wäldern um die verdient hätte, greifen wir nach flüch- Zerstörung von Werten, die der Mehr- Familien derer gekümmert haben, die tigen Fakten. Während der 70er, 80er heit der Kenianer*innen noch heute im Wehreinsatz waren. Das offensicht- und einem Großteil der 1990er Jahre schwer zu schaffen macht und die in lichste und quantifizierbarste Beispiel war das koloniale Narrativ der »Mau- vielerlei Hinsicht unsere Vorstellung und dafür fand zwischen 1952 und 1960 Mau« – das von Terrorist*innen und unser Ideal vom Staat mitgestaltet oder statt, als die britische Kolonialregierung Rebell*innen – in den nachfolgenden eben verunstaltet hat. ungefähr 8000 Frauen festnahm und unabhängigen Regierungen allgegen- dafür eine Notstandsermächtigung und wärtig und wurde stark gefördert als Die »Mau-Mau« und die Tatsache, dass den Ausnahmezustand verhängte, um eine Strategie, um die historischen sie bis vor kurzem immer noch versteckt den »Mau-Mau«-Aufstand in Kenia Ansprüche der »Mau-Mau« abzustrei- leben mussten und die meisten nahezu niederzuschlagen – und das, obwohl die ten: Land und Freiheit. Dass den »Mau- ihr ganzes Leben in bitterer Armut ver- Kolonialverwaltung darauf bestand, Mau« weiterhin ihr Land verwehrt blei- bracht haben, weit weg von den Privile- dass die »Mau-Mau« niemals eine Mas- ben sollte – und in vielfacher Weise ihre gien, für die sie gekämpft hatten, und senbewegung gewesen seien. Freiheit – steht anschaulich für den marginalisiert von der Mehrheit, Grad, wie flüchtig die Vorstellung und veranschaulichen, dass der Kampf um Shiraz Durrani schlägt 2018 vor: »Was die Durchführung waren, die den Unabhängigkeit in Kenia keinesfalls in vielen Geschichtsbüchern nicht vor- Moment der Unabhängigkeit in Kenia vorüber ist und dass wir, wie die »Mau- kommt, ist die umwälzende Rolle, die begleitet haben, und dafür, dass sich die Mau«, uns weiterhin verwandeln, ver- die kenianischen Kleinbauern und Vieh- Unabhängigkeit in vielerlei Hinsicht stecken und im Flüsterton über den hüter gespielt haben: als Mitstreitende eher als Werkzeug herausstellte, als das Traum von Freiheit sprechen werden. beim Kampf der Arbeiter*innen um Ende an sich bedeutete. Unabhängigkeit und später, in der Zeit nach der Unabhängigkeit, als Kräfte, In einem Auszug aus dem Parlaments- die dem neokolonialen Landraub ent- protokoll des britischen Unterhauses, RENÉE AKITELEK MBOYA IST gegengewirkt haben und sich gegen die datiert auf den 08. Februar 1933, heißt Ausbeutung ihrer Arbeitskraft und der es: »Im Fall von Ostafrika herrscht kein AUTORIN, KURATORIN UND Erträge wehrten. Die Phase der ersten Zweifel darüber, dass die Einführung FILMSCHAFFENDE. IN IHRER ARBEIT BESCHÄFTIGT SIE Invasion Kenias durch die kolonialen europäischer Regelungen separat zur SICH VORRANGIG MIT DER Ausbeuter erlebte einen massiven europäischen Besiedlung den Urein- ERINNERUNG UND DER VER- Widerstand durch die Kleinbauern. wohnern von großem Nutzen war. Es ist WENDUNG VON AUTOBIOGRAFI- Dieser Kampfgeist blieb bis zur Unab- fast unmöglich, ein weiteres Beispiel SCHEM IN ZEITGENÖSSISCHEN hängigkeit präsent – und darüber hin- dafür zu finden, in dem weiße Siedler ERZÄHLUNGEN, UM EINSEI- aus. Der Kolonialismus hielt es für sich in einem Ursprungsland nieder- TIGEN DARSTELLUNGEN DER nötig, die Militanz der Kleinbauern als lassen und kaum Störungen durch die GESCHICHTE ENTGEGENZU- einen Teil von Stammeskultur und Pri- Ureinwohner erleben.« TRETEN. SIE LEBT ZWISCHEN mitivität zu kaschieren. Trotzdem bleibt DAKAR UND NAIROBI. es eine Tatsache, dass die Arbeiter allein In mehrfacher Hinsicht stehen die den Kolonialismus nicht aus Kenia ver- »Mau-Mau« heute und damals für die drängen hätten können. Die Unterstüt- unverfrorenen Lügen, mit denen die zung der Kleinbauern hat einer geschlos- britische Kolonialverwaltung gehandelt
»MAU- MAU.« WIDERSTAND UND REPRESSION DER »MAU-MAU«-KONFLIKT IN KENIA IST EINER DER ERBITTERTSTEN KOLONIALEN KRIEGE IN DER JÜNGSTEN GESCHICHTE. BIS IN DIE 1960ER-JAHRE SETZTEN SICH ENTEIGNETE BÄUER*INNEN GEGEN DIE BRITISCHE KOLONIALMACHT ZUR WEHR. LAUT KENIANISCHER REGIERUNG UND MENSCHENRECHTS- ORGANISATIONEN VERLOREN MEHR ALS 90.000 MENSCHEN IHR LEBEN. DIE AKTUELLE FOTOSERIE VON NURA QURESHI IN DIESEM HEFT ZUM ANLASS NEHMEND, BATEN WIR DEN SOZIOLOGEN REINHART KÖ LER UM EINE GESCHICHTLICHE DARSTELLUNG DIESES LANGJÄHRIGEN KONFLIKTES. 06
EINE HISTORISCHE EINORDNUNG VON REINHART KÖ LER Zu den schärfsten Eingriffen in das mal nach dem Verlust Indiens – noch der Befreiungskrieg in Algerien, in dem Leben der vom modernen Kolonialis- stärker in Wert zu setzen. sukzessive französische Regierungen mus seit Beginn der transatlantischen die mit dem Mutterland in besonderem Ausbreitung Westeuropas vor etwa 500 Während die Älteren und Arrivierteren Maß verbundene Siedlungskolonie mit Jahren Betroffenen zählte das Freiräu- unter den Kikuyu zumeist an den ganz ähnlichen Methoden gegen die men ihres Landes, um es der europäi- Bestrebungen festhielten, die eigene Befreiungsbewegung zu verteidigen schen Besiedelung zur Verfügung zu Position unter der Kolonialherrschaft suchten. In allen diesen Fällen spra- stellen. Neben Nord- und teils auch möglichst zu verbessern, also allenfalls chen die systematische Verletzung von Südamerika, Australien und Neusee- einen begrenzten Konflikt zu suchen, Menschenrechten, die gezielte Anwen- land betraf dies auf dem afrikanischen sahen viele der Jüngeren solche Mög- dung von Folter und das Lagersystem Kontinent vor allem große Teile des lichkeiten nicht mehr. Sie entschlossen den zivilisatorischen Ansprüchen der Südens, Algeriens sowie Kenias. Hier sich, auch mit Gewalt gegen Siedler*in- Kolonialmächte Hohn. zog das zentrale Hochland aufgrund nen vorzugehen. Nicht umsonst hieß seines Klimas und seiner agrarischen ihre Organisation »The Kenya Land Großbritannien erkannte dieses Un- Ressourcen Siedler*innen an. Auch die and Freedom Army« – als zentraler recht 2012/13 endlich an und gewährte Afrika-Romantik, wie sie sich etwa mit Konfliktpunkt erschien das von den einigen überlebenden ehemals Inhaf- Tania Blixens berühmtem Roman Siedler*innen okkupierte Land. In der tierten bescheidene Entschädigungs- JENSEITS VON AFRIKA verbindet, britischen Propaganda wurden die zahlungen. Aber auch im unabhängigen knüpft hier an. Aktionen dieser Widerstandsbewegung Kenia blieb das Andenken an »Mau- als barbarische Gräueltaten dargestellt, Mau« umstritten. Die Romane von Das zentrale Hochland Kenias war die Bewegung selbst mit der Bezeich- Ngũgĩ wa Thiong’o beschreiben ein- keineswegs ein leeres Land, sondern nung »Mau-Mau« belegt. dringlich diese Erinnerung, die gerade Siedlungsgebiet u. a. der Kikuyu. Vor angesichts von Korruption, Klientelis- allem für diese ethnische Gruppe be- Die Repression des Kolonialregimes mus und der Raffgier politischer Eliten deutete die europäische Siedlung den war brutal. Prominente Anführer wur- im unabhängigen Kenia, nicht zuletzt Verlust von Land und Freizügigkeit. den exekutiert. In dem Gebiet, wo sich unter der Präsidentschaft Kenyattas, Zunehmend wurden sie in die Lohn- die Widerstandsbewegung artikuliert umso schmerzhafter geworden ist und abhängigkeit gedrängt. Zugleich waren hatte, wurden die Bewohner*innen von häufig verdrängt wurde. Kikuyu lange Zeit bestrebt, unter den Dörfern zwangsweise in Ansiedlungen Bedingungen der Kolonialherrschaft gebracht, wo sie strenger behördlicher ihr Leben neu zu organisieren. Sie grün- Aufsicht unterworfen waren und nur deten kulturelle Vereinigungen, eine drastisch eingeschränkte Möglichkeiten REINHART KÖ LER IST SOZIOLOGE Führungspersönlichkeit wie Jomo Ke- hatten, etwa durch Landwirtschaft MIT DEM REGIONALSCHWER- nyatta – 1963 erster Präsident des un- ihren Unterhalt zu sichern. Tausende PUNKT SÜDLICHES AFRIKA. abhängigen Kenia – feierte ihre Ethni- von Verdächtigen wurden für viele ER HAT INSBESONDERE ÜBER zität in FACING MOUNT KENYA, Jahre in Lagern inhaftiert. Auch Jomo GESELLSCHAFTSTHEORIE, zugleich seiner Doktorarbeit, bei dem Kenyatta – aller Wahrscheinlichkeit ETHNIZITÄT SOWIE ZULETZT berühmten, durchaus kolonial orien- nach nicht am militärischen Wider- ÜBER DEN VERSÖHNUNGS- tierten Ethnologen Bronisław Malin- stand beteiligt – verbrachte über zehn PROZESS ZWISCHEN NAMIBIA owski. Insgesamt aber wurden die Jahre in Haft. UND DEUTSCHLAND NACH DEM Lebensmöglichkeiten, die sich Kikuyu VÖLKERMORD (1904 - 1908) GE- boten, immer weiter eingeschränkt. Das Vorgehen der britischen Kolonial- ARBEITET: PUBLIKATIONEN U.A. Insbesondere wurden ihnen Möglich- behörden folgte etablierten Mustern. NAMIBIA AND GERMANY. NEGOTIATING keiten beschnitten, ihre Produkte zu Die bald als Counterinsurgency THE PAST (2015) SOWIE VÖLKER- vermarkten. Die Situation verschärfte bekannte Strategie war kurz vorher MORD – UND WAS DANN? DIE POLITIK sich während des Zweiten Weltkrieges, ebenfalls unter britischer Herrschaft DEUTSCH-NAMIBISCHER VERGANGEN- als auch in Kenia Soldaten rekrutiert gegen die kommunistische Aufstands- HEITSBEARBEITUNG (2017). wurden, die sich bei ihrer Rückkehr bewegung in British Malaya verfeinert mit einer Lage konfrontiert sahen, die worden. Sie kam vielfach zur Anwen- kaum mehr Perspektiven bot. Weitere dung – neben Kenia auch während des Ressentiments wurden durch die An- Vietnamkriegs oder durch das Sied- strengungen der Kolonialmacht provo- ler*innen-Regime im heutigen Simbab- ziert, die afrikanischen Kolonien – zu- we. Ebenfalls in die 1950er-Jahre fiel
RESIST! DIE KUNST DES WIDERSTANDS – DIE FOTOSERIE »ARE YOU CALLING ME A DOG?« IM RAUTENSTRAUCH-JOEST-MUSEUM Das Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum beleuchtet in von historischen Dokumenten und zahlreichen Objekten aus seiner aktuellen Ausstellung RESIST! 500 Jahre antikolo- der Sammlung des Kölner Museums, stumme Zeugen von nialen Widerstand im Globalen Süden und erzählt von Momenten des Widerstands. In einem Kaleidoskop von kolonialer Unterdrückung und ihrer Auswirkung bis heute. Bildern, Stimmen, Dingen und Geschichten, erzählt die Die Ausstellung ist eine Hommage an die Menschen, die auf Ausstellung in fünf Kapiteln von Aufstand und Protest, Ver- unterschiedlichste Art und Weise Widerstand geleistet haben weigerung und Subversion, Selbstbestimmung und eigener und deren Geschichten bis heute kaum erzählt oder gehört Geschichtsschreibung, Traumata und Transformation bis hin werden. Auch die Künstlerin Nura Qureshi, deren Fotografien zu Resilienz. Sie in diesem Heft und auch in der Ausstellung RESIST! sehen können, hat sich einer antikolonialen Unabhängig- Innerhalb des Labyrinths eröffnen vier autonom kuratierte keitsbewegung gewidmet, die in Deutschland noch weitest- Räume weitere Perspektiven: Die nigerianische Künstlerin gehend unbesprochen blieb. Peju Layiwola beschäftigt sich mit den geraubten Kulturgütern aus dem Königreich Benin (Nigeria) und hat dazu mehrere Bei einem mehrjährigen Aufenthalt in Kenia hat sich die nigerianische Künstler*innen eingeladen, die sich teils jahr- Berliner Fotografin für die Film- und digitale Landschafts- zehntelang in Nigeria und der Diaspora mit dem Raub von und Porträtfotografie entschieden, um die Geschichte der Benin-Bronzen in 1897 auseinandersetzen. Die namibischen »Mau-Mau«-Rebellion gegen den britischen Kolonialismus Aktivistinnen Esther Utjiua Muinjangue und Ida Hoffmann in Kenia neu vorzustellen. »ARE YOU CALLING ME A erzählen vom Genozid an den Herero und Nama in Namibia. DOG?« ist der Name der Fotoserie, in der sie Szenen aus dem Die ungarische Kuratorin Tímea Junghaus hat Sinti- und längsten antikolonialen Kampf in Britisch-Ostafrika nach- Roma-Künstler*innen eingeladen, die ihren Kampf um Selbst- bildet. Sie verzichtet auf grafische Darstellungen physischer bestimmung thematisieren. Schließlich klagt der Kölner post- Gewalt und konzentriert sich stattdessen auf »Mau-Mau«- migrantische Verein In-Haus e.V. koloniale Kontinuitäten an. Rituale der Initiation und Kapitulation, sowie auf britische Rokia Bamba, Soundkünstlerin und DJ entwickelt ein Sound- Symbole und Infrastrukturen der Unterdrückung, um die und Stimmenarchiv des Widerstands, und die urbanen Brutalität und Entmenschlichung des Kolonialismus aufzu- Tanzkünstlerinnen Bahar Gökten und Daniela Rodriguez decken. Die Reihe orientiert sich an verfügbaren historischen Romero geben Einblicke in verkörperten Widerstand. Quellen wie der Militärgeschichte und der Oral History. Für ihre visuelle Sprache stützt sie sich auch auf Orte und Menschen des heutigen Kenia: Besuche von Orten des »Mau- RESIST! IST EINE PLATTFORM FÜR KRITISCHE AUSEINANDER- Mau«-Widerstands, Interviews mit ehemaligen Widerstands- SETZUNG MIT DER KOLONIALEN VERGANGENHEIT UND IHREN kämpfer*innen, Gespräche mit kenianischen Hausangestell- KONTINUITÄTEN UND SCHAFFT AUCH DURCH PARTIZIPATIVE ten. Historische Stätten der »Mau-Mau«-Rebellion und FORMATE WIE REPAIR- UND SCHREIBWERKSTÄTTEN, ERZÄHL- überlebende Widerstandskämpfer*innen werden ebenso wie CAFÉS SOWIE EINE WACHSENDE »LIBRARY OF RESISTANCE« Nairobis häusliche Räume und Arbeiter*innen zu Protago- RÄUME FÜR SPRECHEN LASSEN, FÜR ZUHÖREN, VERNETZUNG, nist*innen in der Frage von Macht und Freiheit für vergan- ZUSAMMENSEIN UND SOLIDARITÄT. DIE AUSSTELLUNG IST VOM gene und zukünftige Generationen von Kenianer*innen. 01. APRIL BIS ZUM 05. SEPTEMBER 2021 IM RAUTENSTRAUCH- JOEST-MUSEUM ZU SEHEN. Nura Qureshi ist eine von über 40 zeitgenössischen Künst- ler*innen aus dem Globalen Süden und der Diaspora, die im Rautenstrauch-Joest-Museum in einer labyrinthisch-futuris- tischen Architektur von Rohren, Balken und Stahlelementen Arbeiten präsentieren. Ihre Überlieferungen werden ergänzt 08
Landburn 2019 Beim sogenannten Lari Massaker 1953 brannten die Widerstandskämpfer*innen Hütten und Felder der Home Guards (Spione) nieder, wobei mehr als 120 Menschen starben. Die Kolonialregierung ließ eine blutige Vergeltungsaktion mit mehr als 400 getöteten »Mau-Mau« folgen. 09
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7 Oranges, Nairobi 2018 Als importierte Frucht ist die Orange nur den reicheren Familien bzw. Landbesitzer*innen vorbehalten. Viele Arbeiter*innen, die bei diesen Familien angestellt waren, waren nicht unbedingt für die »Mau-Mau«, weil sie sich nicht gegen ihre Arbeitgeber*innen auflehnen und verhindern wollten, dass ihnen etwas zustößt. Oft mussten sie sich aber entscheiden – entweder für die Teilnahme am Aufstand oder ihren möglichen Tod durch »Mau-Mau«. 11
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Janet & Penina, 2016, Samson, 2016 In Kenia ist es üblich Hausangestellte zu haben: Baby Sitter*innen, Fahrer*innen, Putzkräfte oder Gärtner*innen. Die Kolonialisierung prägt auch das heutige Kenia tief. 13
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Prisoner Markings, Nairobi 2018 Das britische Militär markierte Gefangene entsprechend ihrer Beteiligung an den Aktivitäten der »Mau-Mau«: Weiß bedeutete »Nicht involviert«, grau »Begrenzt involviert« (z. B. Lieferung von Essen oder Waffen) oder schwarz »Stark involviert« (Kämpfer*in). Der Grad der Beteiligung bestimmte die Bestrafung. 15
Surrender, 2017 Widerstandskämpfer*innen, die sich ergeben wollten, identifizierten sich, indem sie grüne Zweige vor ihren Gesichtern trugen. 16
In Memory of the Members, Nyeri 2016 Diese Inschrift erinnert an die Mitglieder des Kikuyu-Stammes, die für die Freiheit zwischen 1951 – 1957 gekämpft haben. Sie ist im ehemaligen Gerichtshof und heutigen Nyeri Museum zu sehen. 17
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The Cave, Nairobi 2018 Die historischen »Mau-Mau«-Höhlen sind in verschiedenen Wäldern Kenias zu finden und dienten als Lager- und Versteckzone. 19
Between Banana Leaves, 2018 Die »Mau-Mau« hielten ihre Treffen geheim ab, da sie nie sicher vor Spion*innen (Home Guards) waren. Eine Taschenlampe im Bananenbaum war nur eines von vielen versteckten Zeichen, die sie nutzten, um deutlich zu machen, dass die »Mau-Mau« anzutreffen waren. 20
Muddy Pit, 2018 Nach Aussagen von Überlebenden hat das britische Militär Gefangene und Verdächtige von »Mau-Mau« gefoltert, indem sie sie zwangen, ihr eigenes Grab zu schaufeln, es mit Wasser zu füllen und lange Zeit darin zu liegen. 21
ES KANN JEDERZEIT EXPLO- DIEREN IM SOMMER 2020 RICHTETEN SICH ALLE AUGEN EUROPAS AUF EIN LAND AN DER ÖSTLICHEN PERIPHERIE. IN BELARUS BRACHTEN WAHL- FÄLSCHUNGEN HUNDERTTAUSEND MENSCHEN IM GANZEN LAND AUF DIE STRA E UND DAS REGIME DER »LETZTEN DIKTATUR EUROPAS« BEGANN ZU WANKEN. AN DER SPITZE DER BEWEGUNG: EIN TRIO JUNGER FRAUEN, DAS DEN PLATZ DER VERHAFTE- TEN OPPOSITIONELLEN ÜBERNAHM. DESSEN TEIL 22
IST AUCH DIE MIT DEM DIESJÄHRIGEN MENSCHEN- RECHTSPREIS DER GERHART UND RENATE BAUM- STIFTUNG AUSGEZEICHNETE MARIA KOLESNIKOWA. DIE DEMONSTRATIONEN FÜLLTEN SICH MIT FRAUEN IN WEI EN KLEIDERN UND BLUMEN IN DEN HÄNDEN. DIE REVOLUTION IN BELARUS HATTE EIN WEIBLI- CHES GESICHT. DOCH DAS REGIME VON ALEXANDER LUKASCHENKO ANTWORTETE AUF DIE PROTESTE MIT BEISPIELLOSER GEWALT, 30.000 MENSCHEN WURDEN FESTGENOMMEN. WIE IST DER AUFSTIEG DER FRAUEN IN BELARUS ZU ERKLÄREN? UND GIBT ES EINE ZUKUNFT FÜR DIESE BEWEGUNG? EIN GESPRÄCH MIT OLGA SHPARAGA Dominika Široká: Frau Shparaga, Sie dieser Schritt für Sie bedeutet? schaft sprechen. Die #MeToo-Bewegung sind Philosophin, bezeichnen sich aber hat die Frauen in Belarus inspiriert und auch als Aktivistin. Erinnern Sie sich Frauen haben sich bei den Aufständen es sind neue feministische und queere daran, wie Sie sich politisiert haben? stark eingebracht. Doch im Koordinie- Initiativen entstanden – zu denen sich rungsrat saßen wieder nur die Männer. übrigens auch Maria Kolesnikowa aus Olga Shparaga: In Belarus ist es sehr So wollte ich es nicht lassen! In Belarus dem Trio bekennt – die sich an Werten schwer, keine Aktivist*in zu sein, wenn hat sich in den letzten zehn Jahren vie- wie Toleranz, offenen Grenzen und Post- man als Wissenschaftler*in frei forschen les verändert. Es gibt eine neue Genera- nationalismus orientieren. Diese Grup- möchte. Es gibt keinen Raum für un- tion von Aktivist*innen, Künstler*innen pen sind zwar nicht groß, aber sie sind abhängige wissenschaftliche Arbeit. An und Wissenschaftler*innen. Wir haben in vielen Städten jenseits von Minsk – den staatlichen Universitäten ist es bei- ökologische Fragen angesprochen, uns etwa in Brest oder Witebsk – vertreten. spielsweise nicht erlaubt, über Hannah gegen Diskriminierung und für Men- Das war für mich eine Überraschung. Arendt zu sprechen, Totalitarismus zu schenrechte ausgesprochen und für thematisieren oder sich gesellschafts- Gender Equality gekämpft. Ich habe Inwiefern? kritisch zu äußern. Als ich im Laufe der mich entschieden, diese neuen Gruppen Jahre mehrmals Stellen an Universitä- im Koordinierungsrat zu vertreten, Nichtstaatliche soziologische Forschung ten verloren habe, verstand ich es als damit ihre Stimmen weiterhin Gehör war in Belarus nicht erlaubt. Wir wuss- meine Lebensaufgabe, zusammen mit finden. ten schlichtweg nicht, was in der Gesell- anderen Kolleg*innen diese Freiräume schaft vor sich geht. Die Ereignisse rund über unterschiedliche Initiativen zu Wie ist es für Sie, sich als Feministin zu um die Wahlen zeigten plötzlich: Die schaffen. positionieren in einem Land, in dem Gesellschaft hat sich in der Breite ver- Präsident Lukaschenko behauptet, die ändert. Die Leute haben für Frauen, für Nach den Wahlen sind Sie Teil des op- Verfassung wurde nicht für Frauen Tichanowskaja abgestimmt. Die Bela- positionellen Koordinierungsrats von geschrieben? russ*innen wollen anders leben, ohne Swetlana Tichanowskaja geworden, der das autoritäre Regime. Doch Luka- den Präsidenten Lukaschenko zur Über- Auch in diesem Bereich können wir von schenko und sein Umfeld sind in den gabe der Regierung auffordert. Was hat einer großen Veränderung in der Gesell- 1990er-Jahren stecken geblieben. Sie 23
wollen das Leben von früher, haben kein auf die Lukaschenko keinerlei Antwort erklärte sich Lukaschenko zum Gewin- Verständnis für Menschenrechte und hat. ner und antwortete mit beispielloser können sich nicht vorstellen, dass sich Doch es gibt weiterhin einen kleineren Gewalt gegen die ersten Protestierenden. Bürger*innen ohne Gewalt, autonom Kreis aus Militärs und Funktionären, Was war das für eine Zeit für Sie? und horizontal organisieren können. die ihn unterstützen. Aber dieser Kreis wird immer kleiner. Viele wollen für die Zuerst waren alle von der Gewalt scho- Kann man den Konflikt in Belarus also Brutalität, für die der Staat steht, keine ckiert – ich natürlich auch. Nach dem als Generationenkonflikt interpretieren? Verantwortung mehr tragen. Schock kam aber eine Welle der Eupho- rie und die Leute sind auf die Straße Ja, die junge Generation tickt anders. Kommen wir zu den eigentlichen Ereig- gegangen. Tag und Nacht gab es zahl- Doch die Ereignisse in Belarus, die nissen des Wahlsommers 2020. Wie reiche Meetings in verschiedenen Stadt- Revolution – ich nenne sie gerne »die haben Sie diese Zeit erlebt? teilen. Am 12. August ist die erste Frau- Revolution in progress« – hat gezeigt, enkette entstanden, vier Tage später der dass sich die Stimmen gegen Lukaschen- Für mich begann alles schon im Juni, große Wochenend-Marsch, Ende August ko generationenübergreifend und in als die Kunstsammlung der Belgas- fand dann der Frauenmarsch statt. Bis allen gesellschaftlichen Gruppen ver- prombank konfisziert wurde und Men- ich am 04. Oktober selbst bei einem mehrten. Auch ältere Menschen mar- schen auf die Straße gingen (die Samm- Sonntagsmarsch verhaftet wurde, habe schierten mit, um für die Zukunft ihrer lung verwaltete Viktor Babariko, oppo- ich keinen einzigen Marsch verpasst und Kinder zu kämpfen. Die aktivste Grup- sitioneller Politiker und Herausforderer die ganze Zeit zusammen mit anderen pe ist jedoch die mittlere Generation Lukaschenkos, der im gleichen Monat Expert*innen die Ereignisse reflektiert. zwischen dreißig und vierzig. Viele von verhaftet wurde, Anm. der Red.). Das ihnen haben Kinder und arbeiten für Gemälde EVA von Chaim Soutine, Teil Und zu welchen Schlüssen sind Sie ge- NGOs, kleine Unternehmen oder im der konfiszierten Sammlung, wurde zum kommen? IT-Sektor. Diese Gruppe will ihr Leben Symbol der Proteste. Sofort habe ich auf in einem Land verbringen, das sich wei- Facebook geschrieben: Dieses Bild steht Die Frauen haben bei den Protesten eine terentwickelt und demokratisiert. Sie für die Aktivierung der Frauen! Souti- zentrale Rolle gespielt. Am Anfang möchte für sich und ihre Kinder eine nes Eva verkörpert nicht die modernis- stand die Geschichte mit EVA, dann Perspektive. tische Perspektive. Die Frau auf dem kam das Trio, die Ketten der Solidari- Bild ist nicht nackt, sondern bekleidet sierung, der Frauenmarsch ... Die Grup- Wer steht denn heute noch hinter Lu- und hat einen ernsten Gesichtsausdruck. pen haben sich gegenseitig aktiviert und kaschenko? Sie ist kein Objekt, sondern selbst empowert. Betrachterin – ein Subjekt. Sie ist eine Es wurde behauptet, die Politisierung Früher haben vor allem die älteren Leu- moderne Frau. der Frauen kam nur zustande, weil te für ihn gestimmt. Heute ist auch Lukaschenko die männlichen Oppositio- diese Gruppe gespalten. Dafür gibt es Einen Monat später ist das Trio der nellen verhaften ließ. Teilweise stimmt mehrere Gründe: Lukaschenko hat sein oppositionellen Frauen entstanden – das. Swetlana Tichanowskaja hat bei- Regime auf dem Modell eines starken Swetlana Tichanowskaja, Maria Koles- spielsweise ihren verhafteten Mann Sozialstaats aufgebaut. Dennoch zeigte nikowa und Veronika Zepkalo – die mit ersetzt, der selbst gegen Lukaschenko er während der Corona-Pandemie eine Tichanowskaja an der Spitze gegen antreten wollte. Doch sie hätte auch ein- derartige Verachtung gegenüber dem Lukaschenko antraten. What a twist! fach im Schatten bleiben können. menschlichen Leben, dass viele von ihm Frauen brauchen bestimmte Vorausset- enttäuscht waren. Lukaschenko hat die Absolut! Diese drei Frauen sagten: Uns zungen, die es ihnen ermöglichen, sich Verstorbenen beleidigt, indem er sie be- gelang in einer Viertelstunde das, was zu emanzipieren. In Belarus war es ei- schuldigte, selbst die Verantwortung für den Oppositionellen davor all die Jahre nerseits die Tatsache, dass die Männer ihre Erkrankung zu tragen. Wie kann nicht gelang – uns zu solidarisieren. Wir im Gefängnis saßen, andererseits aber es sein, dass ein sozialer Staat sich wei- haben keine politischen Ambitionen. auch der Fakt, dass diese Frauen gut gert, die Verantwortung für die Sterben- Wir sind Bürgerinnen, die im Interesse ausgebildet waren, sich gegenseitig in den in einer Pandemie zu übernehmen? der Gesellschaft sprechen und offen für Teams unterstützten und die gleiche Hinzu kommt die schlechte wirtschaft- alle Initiativen. Ich war begeistert. Sorge teilten. Sie waren bereit, sich ein- liche Situation im Land, die sich mit zubringen. jedem Jahr weiter verschlimmert und Nach den Wahlen am 09. August 2020 ICH FÜHLE NOCH IMMER DIE SOZIALE ENERGIE, DIE SICH DURCH DIE PROTESTE ENTFESSELTE. WIR DÜRFEN DER REGIERUNG NICHT ERLAUBEN, DIESE ENERGIE ZU UNTERBINDEN. 24
Sie behaupten gar, der Erfolg der oppo- war für mich auch ein sehr wichtiger Die Leute wollen weiter protestieren, sitionellen Frauen bestehe darin, dass Moment. allein für die vielen Menschen, die in sie sich zu Identifikationsfiguren der den Gefängnissen sitzen. Doch die re- Gesellschaft erhoben hätten. Können Welche Rolle haben Social Media für pressive Staats-Maschinerie hat neue sie das erklären? die Proteste gespielt? Instrumente erfunden, um die Gesell- schaft zu unterdrücken. Natürlich ha- Die Gesellschaft in Belarus war vor den Eine sehr wichtige! Es ist sicherlich kein ben die Menschen Angst und sind ver- Wahlen atomisiert. Die Menschen stan- Zufall, dass Lukaschenko in den letzten unsichert. Aber ich denke, das ist bloß den unter dem Druck des Regimes. Die Reden wiederholt hat, wir sollen zum eine Phase, in der nicht klar ist, wie es Frauen fungierten da plötzlich wie eine Fernsehen zurückkehren und auf Mobil- weitergeht. Die Krise wurde durch die Art Spiegel, in dem sich die Belaruss*in- telefone verzichten. Er sehnt sich nach Repressalien ja nicht gelöst. Unsere Ge- nen mit all ihren Unsicherheiten er- der Zeit, in der er durch das öffentliche sellschaft ist wie ein Topf, in dem Was- kannten. Auch Swetlana Tichanowska- Fernsehen ein Informationsmonopol in ser kocht. Das Regime hat den Topf ja war sich letztlich unsicher, ob sie die den eigenen Händen hatte und behaup- zwar zugedeckt, aber das Wasser kocht notwendige Anerkennung bekommen tet, Handys seien für die Proteste ver- weiter. würde. Hinzu kommt ein weiterer As- antwortlich. Teilweise hat er Recht. Die Eine wichtige Rolle spielen jetzt die öko- pekt: Das Thema Gewalt ist ganz zen- Leute haben sich tatsächlich über Ka- nomischen Sanktionen aus dem Aus- tral für die aktuelle Situation. Hätte näle wie Telegram oder Facebook ver- land und es herrscht Druck von allen Lukaschenko all diese Gewalt nicht netzt. Neue, unabhängige soziologische Seiten – aus dem Westen, aber auch aus entfaltet, wäre es nicht zu diesen mas- Forschungen haben bewiesen, dass ei- Russland –, dass es so nicht weitergeht. siven Protesten gekommen. Es war die nige Menschen ganz allein, ohne jede Es kann jeden Moment explodieren. Ich Gewalt, die die Leute erst recht empört Begleitung zu den Märschen gekommen persönlich fühle noch immer diese so- hat. Plötzlich habe ich bei den Protesten sind. Daraus kann man schließen, dass ziale Energie, die sich durch die Protes- Plakate mit Sprüchen gesehen, die ich diese Menschen vorher keine Verbin- te entfesselte. Wir dürfen der Regierung aus feministischen Kontexten kenne – dungen zu der Bewegung hatten. Durch nicht erlauben, diese Energie zu unter- aus dem Kampf gegen häusliche Ge- die Proteste sind also Netzwerke ent- binden, und müssen neue Wege finden, walt. Ein Mann trug ein Transparent standen. Das ist neu und das eigentliche trotz der schwierigen Bedingungen, mit mit der Überschrift: »Wer schlägt, wird Ergebnis dieser Revolution. Die Gesell- dieser Energie etwas zu bewegen. einsitzen«. Auch in Interviews sprachen schaft ist jetzt miteinander verbunden. die Teilnehmenden in feministischen Lukaschenko hat früher viel dafür ge- Das Interview führte die Dramaturgin Termini. »Lukaschenko hat Belarus ver- tan, dass Menschen vor allem Zeit mit Dominika Široká. gewaltigt« war einer dieser Sätze. Die ihren Familien verbringen. Arbeit und Gesellschaft sah sich als Opfer und Familie, das war's. Jetzt haben die Leu- beschloss, etwas zu verändern und aus te neue Erfahrungen gesammelt: auf die den Missbrauchsverhältnissen auszu- Straße zu gehen und einander zu unter- OLGA SHPARAGA IST 1974 IN BELA- brechen. Der Staat ist gewalttätig und stützen. RUS GEBOREN. SIE STUDIERTE das können wir nicht mehr ertragen. PHILOSOPHIE IN MINSK UND BO- Wie geht es jetzt mit der »Revolution in CHUM UND UNTERRICHTETE AN Ist das auch der Grund, warum die Pro- progress« weiter? DEN UNIVERSITÄTEN IN MINSK teste gewaltfrei blieben, im Vergleich UND VILNIUS. SIE IST EINE DER etwa zu den Maidan-Protesten in der Die Zeit der großen Proteste ist vorbei. FÜHRENDEN ÖFFENTLICHEN Ukraine 2013 und 2014? Wir befinden uns in einer neuen Phase, INTELLEKTUELLEN IN BELA- in der wir mit repressiven Praktiken zu RUS, MITGLIED DER FEMINISTI- Ja, die Belaruss*innen haben auf Ge- kämpfen haben. Im September dachten SCHEN GRUPPE IM OPPOSITIO- walt verzichtet. Wir wollen nicht wie wir noch, eine Gesellschaft, die so aktiv NELLEN KOORDINIERUNGSRAT Lukaschenko handeln. Wir sind fried- ist, in der überall Initiativen in den UND IM BÜRO VON SWETLANA lich und wünschen uns andere Verhält- Nachbarschaften entstehen, kann nie- TICHANOWSKAJA IN VILNIUS nisse im Land. Keine Machtvertikale, mand unter Kontrolle bekommen. Heu- AKTIV. FÜR IHRE TEILNAHME sondern ein horizontales, freundliches te stehen Fahrzeuge der Militärs in den AN DEN »NICHTGENEHMIGTEN und solidarisches Miteinander. Und tat- Innenhöfen und es ist verdammt schwer, DEMONSTRATIONEN« WURDE sächlich haben die Leute während der auf die Straße zu gelangen – die Kont- SIE ZU 15 TAGEN HAFT VERUR- Proteste einander geholfen. Zahlreiche rolle ist permanent. An den Universitä- TEILT. ENDE JUNI ERSCHEINT Volunteers haben sich für andere ein- ten gibt es neue Positionen: Rektoren IHR BUCH DIE REVOLUTION HAT EIN gesetzt. Sie dürfen nicht vergessen, das für Sicherheit. In der Öffentlichkeit WEIBLICHES GESICHT. DER FALL Ganze fand mitten in einer Pandemie unterscheidet man zwischen denjenigen, BELARUS BEIM SUHRKAMP statt. Das Thema Sorge hat eine wich- die an den Protesten teilgenommen VERLAG. SIE LEBT IN BERLIN. tige Rolle gespielt. Menschen haben zum haben, und den sogenannten »Staats- Beispiel über Crowdfunding Geld für leuten«. Wir haben im Moment 288 Masken und medizinische Ausrüstung politische Gefangene, doch der Staat für Ärzt*innen gesammelt. Die Gesell- hat 2.300 neue Strafverfahren eröffnet. schaft hat plötzlich entdeckt, dass sie Daraus werden in Zukunft viele weite- sich um sich selbst sorgen kann. Das re politische Gefangene resultieren.
DER WIND DER WUT EIN INTERVIEW MIT MARLENE PARDELLER (#KEINEMEHR) ALLE ZWEI BIS DREI TAGE STIRBT IN DEUTSCHLAND EINE FRAU* UNTER GEWALTSAMEN UMSTÄNDEN. IN ARGENTINIEN ALLE 30 STUNDEN, IN BRASILIEN SORGTE KÜRZLICH DER MORD AN EINER 19-JÄHRIGEN E-SPORTLERIN FÜR AUFSEHEN. DER TÄTER WAR SELBST GAMER UND HANDELTE OFFENBAR AUS HASS AN FRAUEN*. AUCH IN FERNANDA MELCHORS ROMAN SAISON DER WIRBELSTÜRME, DER AM SCHAUSPIEL KÖLN ZUR URAUFFÜHRUNG KOMMT, IST DIE GEWALT AN JUNGEN FRAUEN* IN MEXIKO EIN ZENTRALES THEMA. DORT ERREICHTE 2020 DIE ZAHL DER JÄHRLICHEN FRAUENMORDE EINEN NEUEN HÖCHSTSTAND. DOCH WIE SIEHT DIE SITUATION IN DEUTSCHLAND AUS? DIE INITIATIVE #KEINEMEHR UNTERSUCHT FEMIZIDE – ALSO DEN MORD AN FRAUEN*, WEIL SIE FRAUEN* SIND – IN DEUTSCHLAND. EIN GESPRÄCH ÜBER FEHLENDE STATISTIKEN, UNTERFINANZIERTE FRAUENHÄUSER UND DEN WIDERSTAND DEMONSTRIERENDER FRAUEN*. Lea Goebel: Die Initiative #KeineMehr feministischen Organisationen, von der funden. Außer die polizeiliche Kriminal- fordert ein breiteres Bewusstsein und offenen Thematisierung der Morde und statistik, die nach jahrelangem Druck der Sichtbarkeit von Femiziden. Was war der dem Ausmaß der Gewalt. In Deutschland Frauenhäuser seit den 70er-Jahren etab- Impuls zur Gründung und welche Ziele gibt es eine starke Faszination für das, liert wurde. Die Frauenhäuser wissen aus verfolgen Sie darüber hinaus? was in Lateinamerika gerade passiert, da ihrer Arbeitserfahrung, dass viel passiert, die feministischen Kämpfe dort sehr was sie nicht mit Zahlen belegen können. Marlene Pardeller: Ich habe mich 2016 präsent sind und eine große Öffentlichkeit Die polizeiliche Kriminalstatistik umfasst für eine Filmrecherche in Mexiko vor- erfahren. Die Frauen* haben keinen Bock derzeit Tötungen in Partnerschaften oder bereitet und im Zuge dessen meine Kol- mehr. Und ihre Wut kommt mittlerweile ehemaligen Partnerschaften. Jeden zwei- legin Alex Wischnewski für ein Vorge- bis hierher. Alex Wischnewski und ich ten bis dritten Tag wird hier eine Frau* spräch getroffen, die das Land gut kann- haben uns dann die Frage gestellt: »Wie ermordet. Wir brauchen mehr Untersu- te. Vor Ort war ich beeindruckt von den sieht das eigentlich in Deutschland aus?«, chungen, Statistiken, Hintergründe. Das Demonstrationen, von den Zielen der haben allerdings kaum Zahlen dazu ge- ist unsere Motivation. 26
Vor allem, weil die bisherigen Daten sich und daraus »feminicidio« gemacht, weil von ihrem 16-jährigen Freund ermordet. nur auf die Morde beziehen, die vom »femicide« zu nahe am Begriff »homo- Sie war schwanger und wollte nicht Partner oder vom Ex-Partner verübt cide« liegt. Sie wollte auf ein strukturel- abtreiben, der Täter vergrub die Leiche werden und nicht auf Femizide außer- les Problem aufmerksam machen, weg mithilfe seiner Familie im Garten. Dieser halb von Partnerschaften. Müssten die von der Einzeltäterschaft. Feminizid Fall war für Argentinien ein einschnei- nicht berücksichtigt werden? ordnet den Tod der Frau* also gesell- dender Punkt nach jahrelangen Femizi- schaftspolitisch ein, sprich Tötungsde- den, der eine enorme Wut hervorgerufen Ja, denn das bedeutet nicht, dass in likte an Frauen* als Folge von Geschlech- hat, die bis heute anhält und auch in Deutschland keine Tötungen von Frau- terdiskriminierung. Italien, Spanien, Frankreich und Polen en* außerhalb von Partnerschaften statt- zu spüren ist. In Deutschland ist das finden. Die Zahl aller Ermordeten liegt Worin liegen die Gründe für den Hass anders. Das liegt unter anderem an der zwar vor, ist allerdings nach Geschlecht und die Gewalt an Frauen*, die dann in ganz spezifischen Rolle Deutschlands aufgeteilt. Binär, nach männlich und Femiziden münden? nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Land, weiblich. Was es nicht gibt, ist eine dessen Großteil der Bevölkerung die NS- Zusammenfassung der Ermordeten Ich glaube, diesen einen Grund gibt es Politik aktiv gewollt und befördert hat, unter dem spezifischen Begriff des Femi- nicht. Es ist nicht monokausal, sondern musste 1945 eine reale historische Nie- zids und dabei handelt es sich nicht ein- es gibt vielerlei Gründe und Momente. derlage erleben. Und das bedeutete für fach um eine ermordete Frau*. Wenn Einer, den wir in der Arbeit von #Kei- die meisten, die die NS-Politik mitgetra- eine Frau* auf der Straße läuft, ihr die neMehr herausgefunden haben, ist das gen haben, dass sie nicht trauen durften Handtasche gestohlen und sie im Zuge starke Festhalten an der Zweigeschlecht- oder konnten. Die Zeit, darüber zu spre- dessen ermordet wird, muss das erst mal lichkeit. Einer Gesellschaft der Vielfalt chen, gab es nicht, weil es wichtig war, kein Femizid sein. Es könnte einer sein. zum Trotz. Und dieses Festhalten daran alles von sich wegzuschieben, um weiter- Aber eigentlich geht es darum, dass ihr passiert auf mehreren Ebenen: in den zumachen. Mit diesem Schweigen und das Geld weggenommen wird und das Medien, in der Schule, in der Erziehung, dem fehlenden Zugang zu Emotionen hätte genauso gut einem Mann passieren in politischen Kontexten. Das Bewusst- der Nachkriegsgenerationen haben wir können. Ein Femizid zeichnet sich da- sein dafür, dass das Einfordern von zwei es heute noch zu tun. durch aus, dass eine Person vernichtet Geschlechtern mit Gewalt verbunden wird, weil sie als Frau* gelesen wird oder ist, ist in den letzten Jahren enorm Welche Erfahrungen haben Sie während weil sie als Person gelesen wird, die sich gestiegen. Gesellschaftlich ist eine Be- Ihres Drehs zum Dokumentarfilm nicht dem normierten Geschlechtercode wegung sichtbar. Es gibt viel mehr Stim- UNTER DER HAUT LIEGEN DIE entsprechend verhält. Eine Person, die men, die laut werden und sagen: »Wir KNOCHEN in Mexiko gemacht? im Auge des Betrachters eine Grenze wollen nicht mehr.« überschreitet. Dazu bräuchte es dringend Eigentlich wollte ich 2012 einen Film Zahlen, um zu verstehen, was die Motive Erfahren Transfrauen und Migrantinnen über feministische Gruppen in Italien hinter Femiziden sind, wie stark die eine andere Form von Frauenhass? machen. Mir war zunächst nicht bekannt, Misogynie in der Gesellschaft verwurzelt dass die Zahlen der ermordeten Frauen* ist und wie man dem vorbeugen kann. Die Misogynie in unserer Gesellschaft ist in Italien ähnlich hoch sind wie in Mexi- enorm und wir spüren diese oft komplett ko. Das hat mich nachhaltig beschäftigt #KeineMehr verwendet auch den Begriff unterschiedlich. Je nachdem, ob wir mit und irritiert – dass man diese zwei Rea- »Feminizid«. Worin liegt der Unterschied dem Geschlecht, was uns bei der Geburt litäten miteinander vergleichen konnte. zum »Femizid«? zugewiesen wurde, im Einklang stehen Deshalb bin ich nach Mexiko gefahren oder ob das nicht passt. Zudem werden und habe mit Aktivistinnen aus unter- Diana E. H. Russell und Jill Radford die Abhängigkeiten sichtbar. Zum Bei- schiedlichen gesellschaftlichen Schichten haben in den 70er-Jahren den englischen spiel von Frauen*, die nach Deutschland gesprochen. Ich habe dort ein ganz Begriff »femicide« geprägt. 1976 gab es migriert sind und sich in einem deutschen persönliches Interesse der Frauen* ge- in Brüssel ein internationales Tribunal, Staat wiederfinden, in dem das Verständ- spürt, weil sie entweder einen Mordfall um über Frauengewalt zu sprechen, an nis vorherrscht: Wenn ihr in Deutschland zu beklagen hatten oder eine Person, die dem Frauengruppen aus der ganzen Welt bleiben wollt, dann ist euer Aufenthalts- verschwunden war. Femizide waren kein teilgenommen haben. Da ist dieser Be- recht in den ersten fünf Jahren an euren abstraktes theoretisches Konstrukt, son- griff erstmals verwendet worden. Dann Ehemann gekoppelt. Wenn solche Frau- dern eine Not, die aus dem Alltag heraus ist er allerdings wieder in Vergessenheit en* in Gewaltbeziehungen stecken, dann entstanden ist. Das waren die beeindru- geraten. Wir haben über Vergewaltigung schaffen sie es oft nicht, sich zu lösen. ckendsten Demos, die ich gesehen habe und sexualisierte Gewalt, aber nicht mehr Der deutsche Staat unterstützt ein pat- und die klügsten Leute, die ich getroffen über Frauenmorde gesprochen. Wieder- riarchales Besitzdenken. habe, weil sie mit enormer Klarheit die aufgenommen wurde der Begriff im patriarchale Gewalt benennen konnten: lateinamerikanischen Kontext der Neun- Sie haben eben von dem Wind der Wut Polizei, Ehemann, Arbeitgeber, der Typ zigerjahre, als in Ciudad Juárez eine gesprochen, der nach Deutschland weht. da auf der Straße und die internationale gewaltvolle Mordreihe an Fabrikarbeite- Wie kommt es, dass wir Bilder protestie- Wirtschaftskooperation zwischen den rinnen stattgefunden hat, die zum Teil render, wütender, starker Frauen*, die USA und Mexiko. Als ich dann zurück gar nicht mehr oder zerstückelt an öffent- zu Tausenden auf die Straße gehen, nach Italien gekommen bin, war das lichen Plätzen aufgefunden wurden. Die vornehmlich aus Lateinamerika kennen Schweigen so massiv spürbar, gerade im mexikanische Soziologin Marcela Lagar- und nicht aus Deutschland? Kontrast. de hat den Begriff »femicide« daraufhin wiederaufgenommen, aber angeglichen 2015 wurde die 14-jährige Chiara Páez Sind Sie dort auch mit den sogenannten 27
FEMIZIDE WAREN KEIN ABSTRAKTES THEORETISCHES KONSTRUKT, SONDERN EINE NOT, DIE AUS DEM ALLTAG HERAUS ENTSTANDEN IST. »nota roja« (dt.: rote Artikel), kleinen auch inhaltlich keinen gesellschaftlichen Mittel, die nicht notwendig sein müsste. Zeitschriften, die Fotos von Leichen und Zusammenhang mit dem strukturellen Tatorten offensiv abdrucken, in Berüh- Problem her. Neben der Verharmlosung Oft geht der Unterbringung in einem rung gekommen? und Privatisierung des Femizids gibt es Frauenhaus ein langer innerer Kampf noch ein größeres Problem: die Rassifi- der Frauen voraus. Die Rechtsanwältin Ich habe das beobachtet und daraufhin zierung des Tatbestandes. Wenn der Christina Clemm sagt, nach einer An- mit dem Kameramann Sergio Silva Azúa Begriff des »Ehrenmords« eingesetzt klage dauert es zwischen zwei und vier aus Mexiko City über den größeren wird zum Beispiel. Zum ersten Mal fällt Jahren, bis es zur Urteilssprechung Zusammenhang dahinter gesprochen. hier überhaupt mal das Wort »Mord«. kommt. Das macht diese Entscheidung Dieser hat es mir so erklärt: Dadurch, Und dieser wird zurückgeführt auf eine nicht leichter, oder? dass Mexiko so lange unter kolonialer vermeintliche Herkunft des Täters. Was Gewaltherrschaft stand, hat dort über oft nicht stimmt, weil die Täter sehr häu- Sich aus Gewaltsituationen zu lösen, ist Jahrhunderte eine massive Gewöhnung fig Deutsche sind. Das ist ein patriarcha- sowieso schon sehr schwierig. Und wenn an Gewalt stattgefunden, die bis heute les Problem, das man nicht rückkoppeln du es dann schaffst, hast du es mit einem nie wirklich aufgearbeitet worden ist. In kann an eine bestimmte Kultur. misogynen Polizeiapparat zu tun, weil einem Ausmaß, wie ich sie mir nicht vor- die Ausbildung fehlt und mit einem Jus- stellen kann. Zum anderen hat sich die Und auch nicht auf ein soziales Milieu. tizapparat, bei dem es ähnlich aussieht Drogenroute in den 1990er-Jahren und mit Frauenhäusern, die all das auf- verändert und wurde über Mexiko um- Absolut. Es handelt sich um eine Gewalt, fangen müssen. Das ist keine dauerhaf- geleitet. Plötzlich waren die Auswirkun- die klassenübergreifend ist und die keine te Lösung, das ist eine Zwischenlösung, gen der Drogenkriege zu spüren. In den nationalen und kulturellen Grenzen eine Unterstützung. Aber es muss eine frühen 2000ern waren Leichen Teil des kennt. andere gesellschaftliche Einbindung ge- Alltags. Wenn du zur Schule gefahren ben, damit die Selbstständigkeit der bist, hingen Menschen an den Brücken. Blicken wir mal auf das Corona-Jahr, in Frauen* unterstützt, leistbare Wohnun- Durch dieses Exponieren der Leichenim dem die häusliche Gewalt gestiegen ist gen zur Verfügung gestellt, Arbeitsplätze öffentlichen Raum, meinte Sergio Silva und die Bedeutung der Frauenhäuser ermöglicht und Gerichtsprozesse be- Azúa, hat eine Abstumpfung stattgefun- auch. Wie schätzen Sie die Situation ein? schleunigt werden. Das ist nicht die Auf- den, die es leichter macht, diese extremen gabe der Frauen*. Das muss als gesamt- Bilder abzudrucken. Meiner Erfahrung nach hat Corona im gesellschaftliche Aufgabe begriffen Hinblick auf häusliche Gewalt wie auch werden und einige Entscheidungsträ- Bleiben wir mal bei der Berichterstat- auf viele andere gesellschaftliche Berei- ger*innen sträuben sich noch, diese Ver- tung. Wenn man über Frauenmorde liest, che Probleme erst mal verstärkt. Die antwortung zu übernehmen. fallen oft Begriffe wie »Eifersuchtsdra- Schieflagen sind deutlicher zum Vor- ma« oder »Familientragödie«. Ist die schein gekommen. Es kann sein, dass die Das Interview führte die Dramaturgin Berichterstattung über Femizide in häusliche Gewalt gestiegen ist, aber die Lea Goebel. Deutschland ausreichend? Zahlen sind seit vielen Jahren schon hoch. Die Frauenhäuser berichten uns, Diese Begriffe sind motiviert und nicht dass es schwieriger für Frauen* gewor- neutral. Die Begriffe wie »Eifersuchts- den ist, sich Hilfe zu holen, weil sie in drama«, »Beziehungstat« und »Familien- ihren privaten Räumen mit den Tätern MARLENE PARDELLER WURDE 1982 tragödie« reißen eine Tat aus einem ge- eingeschlossen sind. Frauenhausplätze IN SÜDTIROL GEBOREN UND samtgesellschaftlichen Zusammenhang sind seit Jahren ausgebucht und absolut LEBT IN BERLIN. SIE IST FILM- und privatisieren sie. Gerade bei »Fami- unterfinanziert. In Berlin wurden zuletzt SCHAFFENDE, LEKTORIN UND lie« oder »Eifersucht« befinden wir uns leerstehende Hotels genutzt, um Frauen* SCHREIBCOACHIN. SEIT FÜNF in einem privaten Raum, in dem nur zwei unterzubringen. Es gibt außerdem zu JAHREN ARBEITET SIE IN UND Leute beteiligt sind und der Rest der wenig Mitarbeiterinnen. Für diese war ZU DEN AKTUELLEN FEMI- Gesellschaft nichts damit zu tun hat. das Jahr eine unglaubliche Herausfor- NISTISCHEN BEWEGUNGEN Mit den Begriffen wie »Tragödie« oder derung. Und dann wird das Digitale IN ITALIEN UND MEXIKO. 2017 »Drama« sind wir eigentlich im Theater. Deutsche Frauenarchiv auch noch aus GRÜNDETE SIE ZUSAMMEN Das produziert eine Distanzierung, aber dem gleichen Geldtopf finanziert wie die MIT ALEX WISCHNEWSKI DIE auch Effekthascherei. Es wird uns das Frauenhäuser. Da werden zwei Dinge INITIATIVE #KEINEMEHR. Schicksalhafte, das Unabänderliche da- gegeneinander ausgespielt, die so wichtig ran vorgeführt. Häufig stellen die Artikel sind. Das ist eine Verknappung der 28
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