PARAPLEGIE Der "Spirit von Nottwil" - SPG: Eine besondere Arbeitgeberin Frank Clasemann lebt sehr selbstbestimmt - Schweizer Paraplegiker-Gruppe

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PARAPLEGIE Der "Spirit von Nottwil" - SPG: Eine besondere Arbeitgeberin Frank Clasemann lebt sehr selbstbestimmt - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
MÄRZ 2021 | NR. 177 | GÖNNER-MAGA ZIN

PARAPLEGIE
SCHWERPUNK T

Der «Spirit von Nottwil»

6   SPG: Eine besondere
    Arbeitgeberin         20   Frank Clasemann lebt
                               sehr selbstbestimmt    26   Heidi Hanselmann: Die SPS-
                                                           Präsidentin im Gespräch
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M AG A ZIN D ER G Ö NNER-V EREINIG U NG D ER SCH W EIZER PA R A PL EG IK ER-S T IF T U NG

                                                                                          20                                  26
Liebe Mitglieder                                                    Schwerpunkt: Der «Spirit von Nottwil»
Im November durfte ich mein zwanzigjähriges Jubiläum in der          6   ARBEITEN AN EINEM BESONDEREN ORT
Schweizer Paraplegiker-Stiftung feiern, und im Blick zurück              Die Mitarbeitenden der SPG verbindet ein Ziel und eine
wurde mir bewusst, wie enorm viel sich in diesen Jahren verän-           Wertehaltung. Wir haben auf dem Campus nachgefragt.
dert hat. Die Gruppe ist stark gewachsen und beschäftigt heute
gegen 2000 Mitarbeitende. Unsere Aktivitäten wurden in Nott-        12   SPANNENDES BERUFSBILD, ANSPRUCHSVOLLE
wil konzentriert, wohin auch die Stiftung aus Basel umgesiedelt          AUFG ABEN Physio- und Ergotherapie rücken zusammen:
ist. Es entstanden ein Forschungszentrum sowie die Erweite-              Im SPZ arbeiten die Fachleute in «Schnittstellen».
rungsbauten der Klinik samt Besucherzentrum. Und parallel
                                                                    14 «WIR SIND EINZIGARTIG, WEIL WIR SO VIELES BIETEN»
zur rasanten technologischen Entwicklung hat das Wissen in
                                                                       Die SPG investiert viel in gute Arbeitsbedingungen. Doch der
den verschiedenen Fachrichtungen, die bei uns gemeinsam zur
                                                                       Fachkräftemangel bleibt eine Herausforderung.
Behandlung von Menschen mit Querschnittlähmung beitragen,
wichtige Fortschritte gemacht. Eine spannende Dynamik.              16   LEISTUNGSSTARK IM ROLL STUHL Paraplegiker werden
      Doch bei allen Veränderungen der letzten zwanzig Jahre             als Mitarbeitende gleich gefordert wie Fussgängerinnen und
wurde nicht einfach alles neu. Wichtiges und Besonderes hat die          Fussgänger.
Zeit überdauert. Allen voran unsere von Guido A. Zäch formu-
lierte Vision, Menschen mit Querschnittlähmung ein selbstbe-        18   GESPR ÄCH AUF AUGENHÖHE Eine kleine, aber wichtige
stimmtes Leben bei bestmöglicher Gesundheit zu ermöglichen.              Gruppe von Mitarbeitenden sind die Peer Counsellors.
Zu den essenziellen Werten, die geblieben sind, zählt für mich
und viele Mitarbeitende auch der «Spirit von Nottwil», dem wir      19   WIR SUCHEN DICH Mit einer speziellen Initiative will das
diese Ausgabe von «Paraplegie» gewidmet haben. Es gibt ihn               SPZ neue Fachkräfte gewinnen.
tatsächlich. Es ist der Boden, der unsere Arbeit trägt. Das ver-
bindende Ziel, das gegenseitige Wohlwollen, das Sinnhafte und
nicht zuletzt der Stolz, ein Teil dieser einzigartigen Geschichte   20   BEGEGNUNG Frank Clasemann lebt sehr selbstbestimmt.
zu sein, welche die Schweizer Paraplegiker-Gruppe seit vielen            Und er lässt sich vom Schmerz nicht mehr ärgern.
Jahren fortschreibt.
                                                                    25   EINL ADUNG ZUR MITGLIEDERVER SAMMLUNG
      Ich kam seinerzeit nach Nottwil, weil mich diese Institu-
tion fasziniert hat: Eine Organisation, deren Fokus ganz auf den    26 «ICH K ANN NICHT AUS DEM ELFENBEINTURM HER AUS
Patientinnen und Patienten liegt und in der trotz internationa-        AGIEREN» Seit Juni ist Heidi Hanselmann Präsidentin der
ler Ausstrahlung ein familiäres Zusammengehörigkeitsgefühl             Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Ein Gespräch.
besteht. Diese Faszination ist bis heute geblieben. Manche der
Veränderungen seither sind der Grösse und der Notwendigkeit         29   DER UNFAIRE ENT SCHEID Wenn Ärzte in der Corona-
zu modernen Unternehmensstrukturen geschuldet. Aber im                   Pandemie zur Triage gezwungen werden.
Rückblick fällt auf: Nottwil hat seinen «Spirit» behalten – auch
dank Ihrer Unterstützung und Ihrer Treue.                           30 SPIT ZENMEDIZIN FÜR ALLE ( Teil 3) Ein wesentlicher
                                                                       Aspekt in der ambulanten Medizin ist die Neuro-Urologie.
Herzlichen Dank,
                                                                    32   DAFÜR HAT ES MICH HEUTE GEBR AUCHT …
                                                                         Dank Dagobert Kaufmann drückt kein Schuh mehr.

                                                                     4   C AMPUS NOT T WIL
Dr. iur. Joseph Hofstetter                                          33   IHRE SEITE
Direktor Schweizer Paraplegiker-Stiftung                            34   AUSBLICK

                                                                                                       PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1   3
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                                  Zwei neue Stiftungsräte gewählt

                                                     Markus Béchir und Adrian Ritz wurden neu in den Stiftungsrat der Schweizer
                                                     Paraplegiker-Stiftung (SPS) gewählt. Sie ersetzen die langjährigen Mitglieder
                                                     Jacqueline Blanc, Kuno Schedler und Heinz Frei. «Mit dieser Wahl konnten

2,6 Mio.
                                                     wir einerseits die Kompetenzfelder Medizin und Forschung abdecken», sagt
                                                     SPS-Präsidentin Heidi Hanselmann, «und andererseits zwei Menschen
                                                     gewinnen, die sich mit grosser Leidenschaft für die Anliegen von Querschnitt-

Franken                                              gelähmten einsetzen.»

aus Mitgliedschaften und                             Prof. Dr. med. Markus Béchir (oben) ist Chefarzt am Zentrum Innere
Spenden haben wir im Jahr                            Medizin der Hirslanden Klinik Aarau, er lehrt an der Universität Zürich und ist
2020 über unsere Online-                             Verwaltungsrats­präsident des Schweizer Paraplegiker-Zentrums.
Kanäle erhalten, 12,5 Prozent
mehr als im Vorjahr.                                 Prof. Dr. rer. oec. Adrian Ritz ist an der Universität Bern Professor für
Ganz herzlichen Dank.                                Public Management und leitet das Kompetenzzentrum für Public Management,
                                                     zudem ist er Verwaltungsratspräsident der Schweizer Paraplegiker-Forschung.

«Es wurde mir
                                  © Daniel Streit

bewusst, dass                                                                                           Neues aus der
                                                                                                        Schmerzforschung
ich ein Teil von
                                                                                                        Zwei Drittel der Menschen
etwas ganz                                                                                              mit Querschnittlähmung

Grossem bin.»                                                                                           leiden an chronischen
                                                                                                        Schmerzen. Eine Studie der
Daniel Rickenbacher hatte                                                                               Schweizer Paraplegiker-
kürzlich seinen Einführungstag                                                                          Forschung zeigt nun, dass
für neue Mitarbeitende in Nott-                                                                         «psychosoziale Ressourcen»
wil. «Für mich war es speziell,                                                                         eine wichtige Rolle im
nicht als Kunde, sondern als                                                                            Umgang mit Schmerzen
Angestellter im SPZ zu sein»,                                                                           spielen.
schreibt er in seinem Blog.       «Bester Para-Sportler aus 70 Jahren»
Rickenbacher lebt und arbeitet                                                                          Faktoren wie unter­stüt­
mit einer körperlichen Behin-     Heinz Frei zählt zu den erfolgreichsten Spitzensportlern der          zende Beziehungen,
derung, bei der er auf diverse    Schweiz. Der Pionier des Rollstuhlsports erkämpfte sich 15 Gold-      Optimismus, ein stabiles
Hilfsmittel angewiesen ist.       medaillen an Paralympics, 14 Weltmeistertitel und 112 Marathon-       Selbstbild oder soziale
                                  siege. Für seine aussergewöhnlichen Leistungen wurde der              Kompetenzen beeinflussen
      paraplegie.ch /             62-jährige Solothurner bei den Sports Awards 2020 mit dem Titel       die Schmerzbewältigung.
      daniels-blog                «Bester Para-Sportler aus 70 Jahren» ausgezeichnet.                   Je stärker diese Ressourcen
                                                                                                        im Alltag genutzt werden,
                                                                                                        desto besser können
 Berührende Post aus aller Welt                                                                         Betroffene mit ihren Schmer­-
                                                                                                        zen umgehen – bei gleicher
 Ob aus Mexico, Hongkong oder Hitzkirch: Im                                                             Schmerzinten­sität. Die
 Dezember erhielten die Patientinnen und Patienten                                                      Autorinnen und Autoren
 des Schweizer Paraplegiker-Zentrums über drei­                                                         der Studie sehen in der
 tausend wunderschöne und berührende Karten,                                                            Stärkung der psychosozia-
 Briefe, Zeich­nungen und Videobotschaften aus aller                                                    len Ressourcen ein viel­
 Welt. Dies als Zeichen der Solidarität, da sie auf­-                                                   versprechendes Ziel für
 grund der Corona-Pandemie kaum Besuche in der                                                          künftige Interventionen in
 Klinik empfangen konnten. Im Namen der Betrof-                                                         der Schmerztherapie.
 fenen danken wir allen, die sich an dieser Herzens­
 aktion beteiligt haben: Sie schickten viel Kraft und
 Freude nach Nottwil.

        paraplegie.ch /xmas2020                                                                               swisci.ch

4 PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1
PARAPLEGIE Der "Spirit von Nottwil" - SPG: Eine besondere Arbeitgeberin Frank Clasemann lebt sehr selbstbestimmt - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
CAMPUS NOT T WIL

  100 000 Dauermitglieder
                                                                                                    PRAXIS

                                                                                                    Die Kraft der Gedanken

    zählt die Schweizer Paraplegiker-Stiftung seit Kurzem. Wer die 100 000ste                       2014 mehren sich bei Manuel
    lebenslange Dauermitgliedschaft abgeschlossen hat, verraten wir in der                          Arn die Anzeichen, dass mit
    nächsten Ausgabe.                                                                               ihm etwas nicht stimmt. Nach
                                                                                                    einer Untersuchung im Berner
                                                                                                    Inselspital erhält er die Dia-
                                                                                                    gnose: Amyotrophe Lateral-
                                                                                                    sklerose (ALS), eine degenera-
                                                                                                    tive, unheilbare Erkrankung
                                                                                                    des zentralen Nervensystems.
                                                                                                    Ein paar Monate später sitzt
                                                                                                    Arn im Rollstuhl. Heute kann
                                                                                                    der 49-Jährige aus Biel nur
                                                                                                    noch minim den rechten Dau-
                                                                                                    men bewegen und steuert
                                                                                                    damit seinen Elektro-Rollstuhl.
Patrick Moulin, Co-Autor
                                                                                                    Er befasst sich mit dem Ster-
                                                                                                    ben, lässt sich aber seinen
Wie Schrauben in den                                                                                Optimismus nicht nehmen und
Rücken kamen                                                                                        freut sich auf den 26. Juni –
                                                                                                    er möchte seinen fünfzigsten
Die Schweizer Paraplegiker-                                                                         Geburtstag mit einem schönen
Stiftung ist Herausgeberin                                                                          Fest feiern.
eines medizinhistorischen
Buchs über Verletzungen der                                                                         Manuel Arn ist Vorstandsmit-
                                                                                                    glied des Vereins ALS Schweiz.
Wirbelsäule und ihre chirur-
                                                                                                    Sein wichtigstes Kommunika-
gische Versorgung. Autoren
                                                                                                    tionsgerät ist ein «Tobii», mit
sind der bekannte Wirbelsäu-
                                                                                                    dem er per Augenbewegun-
lenchirurg Patrick Moulin, der
                                                                                                    gen seinen PC bedient. Mit
bis zu seiner Pensionierung                                                                         einem Umweltkontrollsystem
am SPZ Nottwil tätig war,                                                                           steuert er per Joystick und
und Henry Nigst, ehemaliger      Überraschungskonzert beim Therapiegarten                           Smartphone seine Wohnung.
Chefarzt am SPZ Basel.                                                                              Support rund um diese techni-
Ihr Fokus liegt auf Traumata     Keiner hatte es verraten, die Überraschung ist geglückt:           schen Hilfsmittel bekommt er
durch Unfälle und Gewalt­        Im Dezember beschenkte Coca-Cola Schweiz die Patientinnen          von Active Communication,
einwirkung – von der Speer-      und Patienten des Schweizer Paraplegiker-Zentrums mit einem        einer Tochter der Schweizer
verletzung in der Bronzezeit     spontanen, herzerwärmen­den «Social-Distance-Konzert» von          Paraplegiker-Stiftung: «Sie ist
bis zur Rückenoperation nach     Nickless und Reyn Turner. Die Künstler traten beim Therapie-       für mich und viele Betroffene,
einem Skiunfall.                 garten auf, Coca-Cola spendete zudem 5000 Franken an die           denen Kommunikation und
                                 Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Wir danken für                    Selbstbestimmung wichtig
                                 die besondere Spende in                                            sind, unentbehrlich», sagt Arn.
                                 einer aussergewöhnlichen             Direktlink
                                 Weihnachtszeit.                      zum Video                     Der ALS-Patient möchte uns
                                                                                                    zeigen, dass trotz stark einge-
                                                                                                    schränkter Mobilität ein Leben
                                 Für alle laufen, die es nicht können                               mit vielen Glücksmomenten
                                                                                                    möglich ist: «Der Mensch
                                 Am 9. Mai findet der diesjährige Wings for Life World Run          besteht nicht nur aus einem
                                                                                                    Körper, er hat auch einen Geist
                                 statt. Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung ist nationale Partne-
                                                                                                    und eine Seele. Damit kann ich
P. Moulin, H. Nigst, Schweizer   rin des internationalen Laufanlasses, der 2021 im Distanz-
                                                                                                    meine Perspektiven zu meinem
Paraplegiker-Stiftung (Hrsg.):   modus durchgeführt wird: Dank einem «App Run» können die
                                                                                                    Wohlempfinden beeinflussen.»
Verletzungen der Wirbel­-        Teilnehmenden individuell und ortsunabhängig mitmachen.
säule – Geschichte der Wirbel­   100 Prozent des Startgeldes fliessen in die Rückenmark-            Manuel Arns Geschichte:
chirurgie, 2020, 382 Seiten.     forschung der Stiftung «Wings for Life».
                                                                                                          paraplegie.ch/arn
      paraplegie.ch /moulin            wingsforlifeworldrun.com

                                                                                                        PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1   5
PARAPLEGIE Der "Spirit von Nottwil" - SPG: Eine besondere Arbeitgeberin Frank Clasemann lebt sehr selbstbestimmt - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SCHWERPUNKT

Arbeiten an einem ganz
besonderen Ort
Die Mitarbeitenden der Schweizer Paraplegiker-Gruppe verbindet ein
Gefühl der Zusammengehörigkeit und eine Wertehaltung, die ihre
Arbeit prägt. Wir haben auf dem Campus nachgefragt, worin dieser
«Spirit von Nottwil» besteht.

                                 Es war eine spontane Idee. Die «Jerusalema-Chal-       Vision; sie wissen, wofür sie sich einsetzen, und
                                 lenge» eroberte gerade die sozialen Medien, da         sehen darin Sinn und Erfüllung. Denn das Ziel
                                 liessen sich einige Mitarbeitende der Schweizer        der bestmöglichen Integration von Menschen mit
                                 Paraplegiker-Gruppe von der weltweiten Tanz-           Querschnittlähmung lässt sich nur durch die enge
                                 begeisterung anstecken: Als erstes Unternehmen         Zusammenarbeit von verschiedenen Berufen er-
                                 der Schweiz wollten sie ein Video zum Song des         reichen. Das ist die Basis für den wertschätzenden
                                 südafrikanischen DJ Master KG aufnehmen, um            Umgang miteinander.
                                 Freude und Gemeinschaftssinn zu vermitteln –
                                 eine kurze Auszeit in der Corona-Pandemie, deren       Gemeinsame Vision
                                 erste Welle gerade vorüber war.                        So trifft man in Nottwil vor allem Menschen, die
                                      Ihr Tanzvideo sollte der Bevölkerung «Danke»      sich am Ergebnis für die Betroffenen orientieren
                                 sagen, weil aufgrund der Pandemie das Fest zum         und den Mut haben, dafür auch neue Wege zu
                                 dreissigjährigen Bestehen des SPZ abgesagt wer-        gehen. Zum Beispiel Andrea Violka von ParaHelp.
                                 den musste. «Wenn die Menschen nicht zu uns            Sie sagt: «Für mich besteht der Spirit von Nott-
                                 kommen können, gehen wir zu ihnen und tan-             wil darin, dass ich als Pflegefachfrau die Chance
                                 zen uns in ihre Herzen», erklärte die Kommuni-         erhielt, die Idee der ParaWG umzusetzen.» In
                                 kations- und OK-Verantwortliche Manuela Marra.         zwei Jahren hat Violka eine Wohngemeinschaft
                                 Das Kernteam begeisterte immer mehr Mitarbei-          für junge Menschen mit Querschnittlähmung auf-
                                 tende von seiner Idee. So stand innert Tagen alles     gebaut, die sich in der schwierigen Lebensphase
                                 bereit für die Eigenproduktion des Videos, das         des Einstiegs in die Berufswelt und der Loslö-
                                 im September 2020 online ging und bisher rund          sung von zu Hause befinden. «Der Spirit hat mein
                                 zwei Millionen Menschen erreicht hat.                  Projekt getragen. In der ganzen Gruppe gingen
                                                                                        für mich Türen auf, alle haben geholfen.»
                                 Gegenseitige Unterstützung                                   Während ihrer Arbeit mit jungen Erwach-
                                 «Es hat einfach alles gepasst», sagt Katrin Oberlin.   senen hatte die diplomierte Pflegefachfrau HF
                                 Die Leiterin Administration bei der Sirmed über-       immer stärker den Bedarf für eine Wohnform
                                 nahm die Choreografie der grossen Gruppe. Ihr          erkannt, die den Übergang in die Selbstständig-
                                 Fazit: «Wenn alle denselben Fokus haben, errei-        keit erleichtern würde. Sie erhielt von ihren Vor-
Jerusalema-Challenge             chen wir in kurzer Zeit sehr viel.» Das Gleiche        gesetzten das Vertrauen als Projektleiterin und
                                 erlebt Oberlin jeden Tag in ihrem Job: Die gegen-      engagierte sich so intensiv in der Umsetzung,
      paraplegie.ch/             seitige Unterstützung über Abteilungsgrenzen           dass 2020 in Schenkon LU nicht nur eine ParaWG
      jerusalema                 und Tochterfirmen hinweg sei ein typisches Merk-       in Betrieb genommen werden konnte, sondern
                                 mal des «Spirit von Nottwil».                          gleich deren zwei.
                                      Wen immer man auch fragt, die Antwort ist               Niemand sagte «Nein» oder verwies auf den
      Direktlink                 stets dieselbe: Die Mitarbeitenden der Schweizer       Dienstweg, wenn Violka einmal spontan etwas für
      zum Video                  Paraplegiker-Gruppe verbindet eine gemeinsame          ihr Projekt benötigte. Für die 40-Jährige ist auch

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PARAPLEGIE Der "Spirit von Nottwil" - SPG: Eine besondere Arbeitgeberin Frank Clasemann lebt sehr selbstbestimmt - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SCHWERPUNKT

                        Christine Reuse Peter

Philipp Gerrits

 Andrea Violka

                                                  Verena Brügger

                                                PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1   7
PARAPLEGIE Der "Spirit von Nottwil" - SPG: Eine besondere Arbeitgeberin Frank Clasemann lebt sehr selbstbestimmt - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SCHWERPUNKT

              «Nur wenige Unternehmen bieten
               solche Chancen.»                                                                             paraplegie.ch /
                                                                                                            wg-zimmer
                 Andrea Violka, Leiterin ParaWG bei ParaHelp

dies ein Merkmal des Arbeitens in Nottwil: Im         begleitet ParaWork ihre «Klientinnen und Kli-
Zentrum steht nicht das eigene Ego, sondern das       enten» zu einer behinderungs- und bedarfsge-
sichtbare Resultat. Heute können bereits elf Be-      rechten Wiedereingliederung. Das reicht vom
troffene in drei Wohnungen betreut werden.            Belastbarkeitsaufbau über Abklärungen und Aus-
                                                      bildungen bis zum Coaching vor Ort. Die Zusam-
Grosse Entwicklungsmöglichkeiten                      menarbeit in Nottwil ist dabei entscheidend – bei-
Ein bedeutender Faktor für das gute Unterneh-         spielsweise für medizinische Aspekte, Physio- und
mensklima ist die interprofessionelle Zusammen-       Ergotherapie, Psychologie oder die Schmerzbe-
arbeit: Schwerpunkte der Behandlung, aber auch        handlung. Ein weiteres Erfolgskriterium ist, dass
längerfristige Integrationsziele werden regelmäs-     die Betroffenen genügend Zeit erhalten. «So
sig zwischen den Fachdisziplinen und mit den          etwas wie ParaWork gibt es kein zweites Mal»,
Betroffenen und ihren Angehörigen definiert.          schwärmt die 50-Jährige. «Und wir haben noch
Dabei stehen flache Hierarchien und die Kompe-        viele Ideen …»
tenz der Teams im Vordergrund. «Die Mitarbei-
tenden denken vernetzter und übernehmen mehr          Kostenlose Aus- und Weiterbildung
Verantwortung als in anderen Kliniken», sagt          Christine Reuse Peter fing 2008 als Sprachleh-
Diana Sigrist-Nix, die Leiterin Rehabilitation im     rerin in der ParaSchool Patientenschule an. Sie
SPZ. Dadurch steige die Motivation, mitzugestal-      übernahm zunehmend Leitungsaufgaben und
ten und sich persönlich weiterzuentwickeln; das       begleitete die Weiterentwicklung der Abteilung
Kader schaffe dafür bewusst Freiräume. Sigrist-       ParaWork, die sie seit vier Jahren leitet. Für ihre
Nix kennt diese Entwicklungsmöglichkeiten: Sie        neuen Aufgaben profitierte sie – ebenso wie
kam als junge Ergotherapeutin nach Nottwil,           Andrea Violka im Projekt ParaWG – von internen
heute führt sie Hunderte Mitarbeitende und ist
Mitglied der Geschäftsleitung.
     Der ganzheitliche Blick umfasst alle Bereiche.
                                                      Weiterbildungen. Auch dies ist ein Aspekt, der
                                                      die Arbeit in Nottwil speziell macht: das kosten-
                                                      lose Bildungsangebot für Mitarbeitende, das viele
                                                                                                            1949
                                                                                                            Mitarbeitende
«Unsere Stärke ist die interprofessionelle Ver-       interne und externe Weiterbildungen umfasst
netzung im ganzen Haus», sagt Christine Reuse         sowie gezielte Talentförderprogramme.                 zählt die Schweizer Para-
Peter, die bei ParaWork die Wiedereingliederung            «Wir investieren auf allen Stufen ins beruf-     plegiker-Gruppe (SPG)
ins Berufsleben mit rund zwanzig Mitarbeiten-         liche Weiterkommen», sagt Myriam Landtwing,
den verantwortet. Sie machen das so erfolgreich,      Verantwortliche für die Personalentwicklung in
dass die Nachfrage von Menschen mit Mobilitäts-       der Schweizer Paraplegiker-Gruppe. Zwei über-
einschränkungen aus der ganzen Schweiz rasant
wächst. Dabei ist die Invalidenversicherung (IV)
eine wichtige Partnerin.
     Für Reuse Peter und ihre Teams geht es nicht
                                                      geordnete Ziele sind ihr besonders wichtig: Ers-
                                                      tens die Aus- und Weiterbildung von Nachwuchs-
                                                      kräften, um für alle Funktionen das geeignete
                                                      Personal zu haben. Und zweitens möchte sie
                                                                                                            80
                                                                                                            Berufsgruppen
ums schnelle Platzieren von Betroffenen an einem      die Mitarbeitenden auf zukünftige Entwicklun-         sind in der SPG
Arbeitsort – das ist selten nachhaltig –, vielmehr    gen vorbereiten. Sie sollen sich auf kommende         beschäftigt

8 PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1
PARAPLEGIE Der "Spirit von Nottwil" - SPG: Eine besondere Arbeitgeberin Frank Clasemann lebt sehr selbstbestimmt - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SCHWERPUNKT

              « In Nottwil setzt man sich mit
                Herz und Seele für Menschen
                mit Querschnittlähmung ein.»
               Beat Bösch, Rollstuhlathlet und Mitarbeiter
               in der Lebensberatung der SPV

                                         spv.ch/de/was_wir_tun/
                                         lebensberatung/

                                       PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1   9
PARAPLEGIE Der "Spirit von Nottwil" - SPG: Eine besondere Arbeitgeberin Frank Clasemann lebt sehr selbstbestimmt - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
SCHWERPUNKT

                                  «Unsere Stärke ist die interprofes­
                                   sionelle Vernetzung im Haus.»                                              paraplegie.ch/
                                                                                                              parawork
                                    Christine Reuse Peter, Verantwortliche ParaWork

                                  «Es ist ein konstruktives Mitei-
                                   nander, um den Betroffenen das                                             orthotec.ch

                                   Optimum zu ermöglichen.»
                                    Philipp Gerrits, Leiter Fertigung bei der Orthotec

Herausforderungen einstellen können – von               Fachleute den Bedarf als notwendig einstufen.
Zukunftstechnologien, die ganze Berufsbilder            «Es schmerzt, wenn ideale Lösungen am Finan-
verändern, bis zu persönlichen Anforderungen            ziellen scheitern», sagt Gerrits, «denn in diesem
wie sie im Rahmen der Digitalisierung in der            Bereich gibt es keinen Luxus.» Der Kostendruck
«Arbeitswelt 4.0» entstehen.                            treibt die Mitarbeitenden aber auch zu Weiter-
    Dem Fachkräftemangel in der Pflege begegne          entwicklungen an, um beispielsweise ein gutes
das SPZ mit neuen Arbeitsmodellen, sagt Landt-          Resultat in kürzerer Zeit erzielen zu können. Und
wing: «Wir müssen individuelle Lösungen finden,         in Notfällen gehen sie auf die Suche nach finan-
um weiterhin attraktiv zu sein.» Dazu zählen auch       zieller Unterstützung.
neue Technologien, die den körperlich anstren-
genden Pflegeberuf erleichtern.                         Kämpfen für die Betroffenen
                                                        Der enge Kontakt mit IV-Stellen zählt zu den
Optimale Versorgung                                     Hauptaufgaben von Verena Brügger. Die Fall-
Philipp Gerrits hat in Nottwil bereits viele Verände-   managerin bei Active Communication bezeich-
rungen erlebt. Der Leiter Fertigung bei Orthotec        net sich als «Schnittstelle, wenn unser normaler
machte 1999 eine Schnupperlehre und begann              Hilfsmittelprozess ins Stocken gerät». So küm-
dann seine Ausbildung zum Orthopädisten. Das            mert sie sich um Kosten- oder Zeitgutsprachen,
Feld der Hilfsmittel für körperlich beeinträchtigte     ist Ansprechpartnerin bei Schwierigkeiten im
Personen hat seither immer neue Spezialisierun-         Aussendienst und berät Kundinnen und Kunden
gen erfahren, um jeder Kundin, jedem Kunden             nach einem Ablehnungsentscheid der Kosten-
eine individuell zugeschnittene Versorgung zu           träger: Welche Möglichkeiten gibt es noch? Wie
ermöglichen. Dank der interprofessionellen Ver-
netzung in der Gruppe finden die Fachleute
zusammen das optimale Hilfsmittel.
     Er arbeite gerne an diesem speziellen Ort, wo
                                                        gehen wir vor?
                                                             Brügger leidet mit, wenn die Versicherung
                                                        einem Patienten mitteilt, dass er kein Anrecht
                                                        auf ein Hilfsmittel hat, um seine Wohnungstüre
                                                                                                              13
                                                                                                              verschiedene
die ursprüngliche Vision von SPZ-Gründer Guido          ohne fremde Hilfe öffnen zu können: «Für uns          Grundausbildungen
A. Zäch weitergetragen wird, sagt der 42-Jährige.       ist das eine absolute Selbstverständlichkeit.» Also   bietet die SPG an.
«Jeden Tag treffen hier Hunderte von Menschen           kämpft sie für die Betroffenen. Diese Arbeit sei so
mit dem gleichen Ziel ein. Auch wenn sie dieses         spannend wie herausfordernd – und umso mehr
Ziel auf unterschiedliche Art zu erreichen versu-       freut sich die 42-Jährige, wenn sie damit ein posi-
chen, arbeiten sie alle darauf hin und unterstüt-
zen sich. Das ist das Wichtigste: Es ist ein Mitei-
nander, kein Gegeneinander.»
     Für innere Konflikte sorge manchmal das
                                                        tives Resultat bewirken kann.
                                                             Bevor die Mutter von 4-jährigen Zwillingen
                                                        in den Mutterschaftsurlaub ging, hatte sie bei AC
                                                        eine Leitungsposition inne, heute arbeitet sie mit
                                                                                                              70
                                                                                                              Seminare jährlich
Thema der Kosten, die nicht von den Versi­              einem Pensum von sechzig Prozent. «Mit zwei           führt die SPG durch,
cherungen übernommen werden – obwohl die                Kindern ist eine Stabsstellenfunktion besser als      dazu 2 CAS-Lehrgänge.

10 PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1
SCHWERPUNKT

               « Alle wissen, was sie hier machen
                 und wofür sie es machen. Und alle                                                            activecommunication.ch

                 wollen das Gleiche.»
                 Verena Brügger, Fallmanagerin bei Active Communication

eine leitende Aufgabe», sagt sie. «Es ist schön,        ich sehr», sagt der mehrfache Medaillengewinner
wenn eine Arbeitgeberin angepasste Teilzeitmo-          an internationalen Wettkämpfen.
delle ermöglicht.» Der Spirit von Nottwil präge              Nach dem Rundgang auf dem Campus und
auch die Tochterfirma Active Communication:             der Begegnung mit den unterschiedlichsten Men-
«Man spürt die Freude am Arbeiten. Die Mitar-           schen, die auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten,
beitenden kommen jeden Tag, weil sie wissen,            wird nicht nur der «Spirit von Nottwil» deutlicher.
was sie hier machen und wofür sie es machen,            Verständlich ist auch, was die Verantwortliche für
und alle wollen das Gleiche.»                           Personalentwicklung meinte, als sie sagte: «Wir
                                                        haben zwar für jede Stelle Anforderungsprofile.
Hilfe zur Selbsthilfe                                   Aber wir rekrutieren keine Profile, sondern Per-
Beat Bösch ist seit zehn Jahren bei der Schwei-         sönlichkeiten.»              (kste / ch. schürpf)
zer Paraplegiker-Vereinigung (SPV). Der bekannte
Rollstuhlsportler arbeitet im Aussendienst der
Lebensberatung. «Für mich ist es keine Arbeits-
stelle, bei der das Thema abends im Büro bleibt,
wenn ich gehe. Der Rollstuhl begleitet mich rund                  «Beste Arbeitgeberin
um die Uhr», sagt der 49-Jährige. Bei einem Turn-
unfall am Minitrampolin wurde Bösch 1996 zum
                                                                  im Bereich Gesundheit
Tetraplegiker.
     Seine Arbeit ist für ihn sinnhaft: «Es ist toll,
                                                                  und Soziales 2021»
wenn man Menschen helfen kann, die ein Pro-                       Die Schweizer Paraplegiker-Gruppe steht ganz oben auf der Liste
blem haben. Ich bin jeden Tag motiviert.» Die                     «Top Arbeitgeber 2021», die von «Handelszeitung», «LeTemps» und
SPV-Lebensberatung gibt Hilfe zur Selbsthilfe,                    dem Marktforschungsunternehmen Statista herausgegeben wird. Im
querbeet bei allen Fragen. Wird eine weiterge-                    Bereich Gesundheit und Soziales wurde die SPG als beste Arbeitge-
hende Betreuung notwendig, vermittelt Bösch                       berin bewertet, in der Gesamtwertung ist sie auf dem Podest als dritt-
die entsprechenden Fachleute. Auch er betont                      beste Arbeitgeberin.
das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gruppe
und dass sich in Nottwil viele Mitarbeitende mit                  Unter die Lupe kamen 1500 Schweizer Unternehmen mit mindes-
Herz und Seele für Menschen mit Querschnitt­                      tens 200 Angestellten. Die Liste basiert auf einer Umfrage von über
lähmung einsetzen würden.                                         7000 Angestellten sowie Urteilen, die über die Websites der beteilig-
     Persönlich profitiert der 49-jährige Athlet                  ten Medienhäuser generiert wurden. Über alle Kanäle flossen mehr
davon, dass seine Arbeitgeberin ein grosses Ver-                  als 200 000 Bewertungen ins Ranking ein. Die Erhebungsphase der
ständnis dafür hat, dass er für Wettkämpfe wie                    Umfrage war von Mai bis Juni 2020.
zum Beispiel die Paralympics in Tokyo im Spätsom-
mer 2021 eine intensive Vorbereitung mit Abwe-                          paraplegie.ch/arbeitgeberin2021
senheiten und Auszeiten benötigt. «Das schätze

                                                                                                               PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1   11
SCHWERPUNKT

Spannendes Berufsbild,
anspruchsvolle Aufgaben
Physio- und Ergotherapie sind eng zusammengerückt: Im Schweizer Paraplegiker-
Zentrum arbeiten die Expertinnen und Experten aus beiden Berufen nicht mehr aus-
schliesslich auf ihrem Fachgebiet, sondern auch in «Schnittstellen».

                                                                                                             120
Die Rollen waren bis 2015 klar verteilt: Auf der       gruppen beherrscht werden, zum Beispiel die
einen Seite die Physiotherapie, die auf der Funk-      postoperative Bewegung der Schulter. «Früher
tionsebene arbeitet – Kraft, Beweglichkeit oder        beschäftigte sich allein die Physiotherapie damit»,
Schmerzlinderung sind drei ihrer Kernkompe-            sagt Oberson, «heute kann es gut sein, dass eine      «Physios» und «Ergos»
tenzen. Auf der anderen Seite die Ergotherapie,        Ergotherapeutin, ein Ergotherapeut diese Arbeit       arbeiten im SPZ.
die sich um Aktivitäten im Alltag kümmert – um         übernimmt.» Ein Ziel ist die gegenseitige Entlas-
Techniken beim Essen, das Anziehen oder die            tung und Unterstützung, ein anderes die Erhö-
Hilfsmittelversorgung.                                 hung der Schnittmenge zwischen den Fachberei-
     Diese Trennung war im Schweizer Paraple-          chen. Das funktioniert auch deshalb gut, weil zur
giker-Zentrum (SPZ) auch räumlich definiert. Die       Grundausbildung beider Berufe zunehmend auch
Berufsgruppen arbeiteten auf verschiedenen Eta-        gleiche Studieninhalte gehören.
gen, Absprachen mussten klar geplant sein. Bis
Diana Sigrist-Nix, damals Leiterin Therapiema-         Erfolgreiche Zusammenlegung
nagement und heute Mitglied der SPZ-Geschäfts-         Die Verschmelzung von Physio- und Ergothera-
leitung, zusammen mit dem Therapiekader einen          pie veränderte die Organisation. Die 120 Thera-
Veränderungsprozess anschob. Physio- und Ergo-         peutinnen und Therapeuten bilden Teams von
therapie sollten zusammenrücken, die zwei Be­-         durchschnittlich zwölf Personen, die von einem
reiche verschmelzen. Im Rückblick sagt Pirmin          Duo geleitet werden – in der Regel je eine Fach-
Oberson, Co-Leiter Therapiemanagement: «Es             person aus Physio- und Ergotherapie.
war ein riesiges Change-Projekt, das wie aus dem            «Die neue Teamstruktur ist mittlerweile die
Lehrbuch umgesetzt wurde.»                             Normalität», sagt Pirmin Oberson. Die Zusam-
                                                       menlegung wird kaum mehr infrage gestellt und
Intensiver Dialog mit dem Personal                     eine kürzliche Umfrage ergab, dass 99 Prozent
Dem Start im Herbst 2017 ging eine sorgfältige         der Mitarbeitenden nicht mehr zur traditionellen
Vorbereitung voraus, denn den Initianten war           Aufteilung zurück möchten. Zwar tangiert die
bewusst, dass etliche Hürden zu überwinden             Veränderung nicht die Berufsbezeichnungen in
waren. So fand ein intensiver Dialog mit dem Per-      Physio- und Ergotherapie, dennoch wird ein neues
sonal statt, Diskussionen über gegenseitige Vor-       Berufsbild angestrebt: der Rehabilitationsthera-
urteile wurden geführt und die Ängste vor der          peut, die Rehabilitationstherapeutin.
Neuausrichtung angesprochen. Es wurde aber
auch skizziert, weshalb die revolutionär wirkende      Unterwegs mit Ferdy Wijckmans
Idee ein grosser Schritt in die Zukunft ist: Patien-   Ferdy Wijckmans arbeitet seit Januar 2019 im
tinnen und Patienten können noch besser und            SPZ und darf sich sowohl Physio- wie Ergothera-
effizienter behandelt werden, weil die Wege kür-       peut nennen. Der gebürtige Holländer studierte             Ferdy Wijckmans ist sowohl
zer werden. Zudem entsteht mehr Flexibilität bei       zunächst Ergotherapie, bevor er sich auch zum               Ergo- wie Physiotherapeut.
der Personaleinteilung.                                Physiotherapeuten ausbilden liess. Für ihn hat das
     «Schnittstelle» ist für Oberson ein zentraler     SPZ mit der Neuausrichtung einen grossen Fort-          Physiotherapie im Therapiebad.
Begriff der Zusammenarbeit. Einige klassische          schritt erreicht: «Das Modell ist deshalb so wert-      Therapie mit dem Gangroboter
Domänen müssen dabei von beiden Berufs-                voll, weil primär die Patientinnen und Patienten                            Lokomat.

12 PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1
« Ich merke nichts von
                                                         Gärtchendenken.»
                                                        Ferdy Wijckmans, Rehabilitationstherapeut

profitieren», sagt er. «Nicht jeder von uns kann ein
Experte in Physio- und Ergotherapie sein, aber alle
können von den Spezialistinnen und Spezialisten
des jeweils andern Fachgebiets dazulernen und
dieses Wissen anwenden, wenn sich Schnittstel-
len ergeben.»
     Selbst Wijckmans, der beide Berufe erlernt
hat, benötigt die Unterstützung von seinen Kol-
leginnen und Kollegen: «Die Rehabilitation von
Menschen mit Querschnittlähmung ist eine an­
spruchsvolle Aufgabe. Regelmässig werde ich
mit Neuem konfrontiert; da ist es ein Vorteil,
erfahrene Leute um sich zu haben und im Team
mit einem tollen Spirit zu arbeiten. Ich merke
nichts von Gärtchendenken, die Grenzen sind
praktisch verschwunden.» Für ihn sei es normal,
sich auf beiden Gebieten zu bewegen, rasch zu
switchen und in der Co-Therapie den Austausch
mit anderen «Physios und Ergos» zu pflegen:
«Siehst du noch eine andere Möglichkeit? Wie
liesse sich eine optimale Lösung erreichen?»

Der Therapeut als Motivator
Es kommt vor, dass sein Arbeitstag mit einer Ergo-
therapie in der Lernwohnung beginnt. Er zeigt
einem Patienten, mit welcher Technik er sich aus
dem Rollstuhl erheben kann, um ein Glas aus dem
Schrank zu holen. Oder wie er am besten auf
einen Bürostuhl transferiert. Eine Stunde später
steht Wijckmans als Physiotherapeut im Thera-
piebad und betreut einen Mann mit inkomplet-
ter Tetraplegie. Danach übernimmt er eine Gang-
therapie mit dem Roboter Lokomat. Jetzt ist der
Therapeut auch Motivator: «Noch ein bisschen
schneller … sehr gut … Super!»
     Wie alle im Team ist Ferdy Wijckmans oft
auch auf psychologischer Ebene gefordert. Wäh-
rend sechs bis neun Monaten begleitet er Men-
schen in der Rehabilitation. «Es ist wichtig, ihnen
zuhören zu können», sagt er. «Wenn man sich
fast täglich sieht und eine so lange Zeit miteinan-
der arbeitet, entsteht fast automatisch eine Ver-
bindung.» Oft wurde er schon gefragt, was er
als Therapeut bei Menschen mit Querschnittläh-
mung überhaupt noch beeinflussen könne. «Sehr
viel», lautet seine Antwort. «Mein Auftrag ist es,
der Patientin, dem Patienten zu so viel Selbststän-
digkeit wie nur möglich zu verhelfen. Dabei ist
jeder kleine Fortschritt ein Erfolg.»
                            (pmb / ph. schmidli)

                                                                 PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1   13
SCHWERPUNKT

«Wir sind einzigartig, weil
wir so vieles bieten»
Die Schweizer Paraplegiker-Gruppe (SPG) investiert viel, um den Mitarbeitenden
gute Arbeitsbedingungen zu bieten, und wurde gerade als beste Arbeitgeberin 2021
in der Gesundheitsbranche ausgezeichnet. Doch der Fachkräftemangel ist auch in
Nottwil eine grosse Herausforderung, sagt HR-Leiter Marcel Unterasinger.

Marcel Unterasinger, letzten Herbst             Mitarbeitenden können dadurch regelmäs-         Ja, zum allergrössten Teil. Auch wenn es
produzierten Mitarbeitende in kurzer            sig Neues lernen und anwenden.                  etwas länger gedauert hat. Dank der hohen
Zeit ein Tanzvideo zur weltweiten                                                               Reputation und guten Arbeitsbedingungen
«Jerusalema-Challenge». Wie fanden              Wie überzeugen Sie Aussenstehende               konnten wir unseren Personalbestand ver-
Sie das?                                        von solchen Vorteilen?                          grössern. Aber der Fachkräftemangel ist
Zunächst war ich von der grossen Teil-          Durch das Resultat dieser sowohl spannen-       auch in Nottwil immer stärker spürbar. Der
nahme überrascht – und dann begeis-             den als auch herausfordernden Arbeit: die       Markt ist trocken und der Aufwand für die
tert. Alle Beteiligten hatten einen unglaub-    Qualität unserer Dienstleistungen. Wenn die     Rekrutierung wird immer grösser.
lichen Drive und zeigten ihre Freude, bei       Mitarbeitenden stolz auf das Geleistete sind,
dieser Aktion mitzumachen. Dass es aber so      tragen sie das auch nach aussen. Unsere         Wie gehen Sie damit um?
schnell ging und so breite Kreise gezogen       Herausforderung besteht mehr darin, in der      Wir versuchen stets, neue Wege zu gehen,
hat, hätte ich nie gedacht. Solche Dynami-      Breite des Angebots den Fokus nicht zu ver-     und testen neue Berufsmodelle. In den letz-
ken entstehen, weil sich die Mitarbeitenden     lieren. Die Botschaft «Wir sind einzigartig,    ten Jahren haben wir zum Beispiel in der
mit ihrer Arbeit in der Schweizer Paraple-      weil wir so vieles bieten» ist bei der Perso-   Pflege das Modell der «Advanced Practice
giker-Gruppe identifizieren. Sie sind stolz     nalsuche nicht einfach zu vermitteln. Aber      Nurse» eingeführt oder aus Physio- und
darauf, Teil dieses einzigartigen Ganzen zu     die SPG ist eben kein Nischenplayer; sie bie-   Ergotherapie ein Team gemacht. Ein Trumpf
sein, und setzen sich entsprechend ein.         tet die ganze Palette aus einer Hand – und      ist auch das besondere Umfeld unserer
                                                ist in vielen Bereichen vorne dabei.            Rehabilitation: Eine Pflegefachkraft betreut
Worin besteht dieses Ganze?                                                                     ihre Patientinnen und Patienten über viele
Zunächst in unserem Stiftungszweck: Men-        Was bedeutet für Sie die Bewertung              Monate und kann tiefere Beziehungen auf­­-
schen mit Querschnittlähmung ein Leben          «Beste Arbeitgeberin» 2021 in der               bauen als in einem Akutspital. Sie muss diese
lang zu begleiten. Um diese Vision umsetzen     Gesundheitsbranche?                             Intensität aber auch wollen. Deshalb prüfen
zu können, ist eine enge Zusammenarbeit         Es ist eine sehr schöne Bestätigung für alle    wir gut, wer zum «Spirit» passt. Viele Mit-
der verschiedenen Berufe notwendig, die         Anstrengungen, die wir für unsere Mitar-        arbeitende erleben ihre Arbeit als sinnhaft.
für die Betroffenen eine individuelle Betreu-   beitenden unternehmen: Die Auszeichnung         Und wenn ehemalige Patientinnen und
ung erarbeiten. Dieser gemeinsame Arbeits-      verdeutlicht, dass dies von aussen durchaus     Patienten zur Jahresuntersuchung vorbei­
prozess prägt auch die Fachpersonen.            wahrgenommen wird. Zusammen mit dem             kom­men, besuchen sie oft auch ihre Pflege-
                                                Qualitätslabel «Friendly Work Space», das       fachpersonen auf den Stationen. Ich denke,
In Nottwil sagt man «Magnetspital»:             wir 2020 erneut erhielten, ist dies sozusa-     das sagt viel über den besonderen Zusam-
Die Klinik will Menschen anziehen.              gen eine doppelte Bestätigung: Einerseits       menhalt in Nottwil aus.
Ein Magnet muss sich als Vorreiter immer        haben uns Profis intensiv geprüft und mit
wieder neu erfinden. Nicht nur das Schwei-      besonders lobenden Worten ausgezeich-           Auffallend sind die breiten Aus-
zer Paraplegiker-Zentrum, sondern auch          net, zum anderen stufen uns Mitarbeitende       und Weiterbildungsmöglichkeiten.
alle Tochterfirmen der Stiftung tragen dazu     und die Öffentlichkeit als Top-Arbeitgeberin    Setzen Sie bewusst auf eigenen
bei. Sie integrieren neue Behandlungen          ein. Was will man mehr?                         Nachwuchs?
und Therapien, bewerten neue Technolo-                                                          Die Strategie der gut betreuten Ausbil-
gien und passen Prozesse an. Dieser hohe        Ein ambitioniertes Ziel der Klinik-             dungsplätze verfolgen wir schon länger, die
Anspruch für die Patientinnen und Patien-       erweiterung war es, zusätzliche                 Fachkräfte sollen ja bei uns bleiben. Aber
ten macht uns gleichzeitig zu einer Arbeit-     Stationen aufzubauen. Haben Sie                 wir benötigen Nachwuchs auf allen Stufen.
geberin, die offen für Neuerungen ist. Die      das nötige Personal gefunden?                   So gibt es für jede Ebene Aus- und Weiter-

14 PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1
SCHWERPUNKT

                                                                                               « Sind die Mitarbei­
                                                                                                 tenden stolz auf das
                                                                                                 Geleistete, tragen
                                                                                                 sie es nach aussen.»
                                                                                                 Marcel Unterasinger, Leiter Human
                                                                                                 Ressources.

bildungen sowie Talentförderprogramme.
Dazu zählen auch Mentoren, Werkzeuge
zur Standortbestimmung und eine Partner-
schaft mit der Hochschule Luzern, in der
unsere internen Programme anerkannte
Abschlüsse bekommen.

Wie sieht es im digitalen Bereich aus?
Das Thema Arbeitswelt 4.0 ist in der Praxis
stark präsent: Wo möglich und sinnvoll set-
zen wir auf Digitalisierung. Die Hürden für
Homeoffice wurden in Nottwil nicht erst
seit Covid-19 gesenkt; dabei bieten wir
Unterstützung in der Technik wie auch im
Zwischenmenschlichen – was bedeuten
neue Arbeitsmodelle für die Führung, die
Zusammenarbeit, das Team?

Was sagen Sie zum Vorschlag, den
Fachkräftemangel in der Pflege über
den Lohn anzugehen?
Bei den Löhnen in den Pflegeberufen steht
das SPZ in der Zentralschweiz gut da. Der     Sportmöglichkeiten und attraktiven Zusatz-    Stiftung bedeutet auch die Verpflichtung,
Arbeitsmarkt funktioniert jedoch zuneh-       angeboten. Das SPZ ist rasch erreichbar,      sorgsam mit den anvertrauten Mitteln um-
mend überregional, da nicht nur der Fach-     aber wir müssen Menschen aus der ganzen       zugehen. Das ist der Rahmen, in dem sich
kräftemangel zunimmt, sondern auch die        Schweiz begeistern, nach Nottwil zu kom-      unsere Arbeit bewegt: Verantwortungsbe-
Mobilität. Neu ziehen wir deshalb die ganze   men. In der Gruppe bewältigen wir jedes       wusstsein gepaart mit Freiheit.
Schweiz als Vergleichsgrösse heran und        Jahr rund fünfhundert Ein- und Austritte in                               (kste / febe)
hoffen, noch einen kleinen Schritt machen     achtzig verschiedenen Berufen.
zu können. Bei dieser Diskussion wird oft
übersehen, dass der Lohn wichtig ist und      Wie beeinflusst die Organisations-
korrekt sein muss, aber eine Lohnerhöhung     form der Stiftung das Arbeiten?                             2020 wurde die Schweizer
als alleinige Massnahme kaum einen nach-      Mitglieder und die Gönnerschaft ermög-                      Paraplegiker-Gruppe erneut
haltigen Effekt hat.                          lichen uns, auf die Arbeit mit den Betrof-                  mit dem Qualitätslabel
                                              fenen zu fokussieren. Wir dürfen länger-                    «Friendly Work Space» aus-
Haben es die Ballungszentren bei              fristig denken und Behandlungen testen,        gezeichnet. Die Gutachter lobten zudem
der Rekrutierung einfacher?                   ohne dass der wirtschaftliche Druck stän-      die fortschrittlichen Anstellungsbedin-
Ja. Obwohl Nottwil viele Vorteile bietet:     dig im Vordergrund steht. Das heisst, wir      gungen und die vielen Zusatzleistungen
neben der topmodernen Infrastruktur etwa      haben mehr Sicherheit und damit die Frei-      für Mitarbeitende.
einen Arbeitsort mit Seeanstoss, guten        heit, gewisse Sachen besser zu machen. Die

                                                                                                        PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1   15
SCHWERPUNKT

Leistungsstark –
im Rollstuhl
Die Paraplegiker Fabian Kieliger und Maurice Amacher                                                             « Man kann
sind in die Arbeits­prozesse in Nottwil genau gleich                                                               von mir gleich
ein­gebunden wie Fussgängerinnen und Fussgänger.                                                                   viel verlangen
Dass sie im Rollstuhl sitzen, ist manchmal sogar ein Vorteil.                                                      wie von einem
                                                                                                                   Fussgänger.»
                                                                                                                   Fabian Kieliger, Seminar-
                                                                                                                   und Eventmanager

Fabian Kieliger ist in seinem Element. Mit      zig-Prozent-Stelle und kann seine Arbeit
einer Kundin, die für einen Firmenanlass        auf fünf Tage pro Woche verteilen. Denn
das Hotel Sempachersee auf dem Campus           oft erweist sich ein volles Pensum für Quer-
Nottwil ausgewählt hat, geht er einen Fra-      schnittgelähmte als zu hoch.
genkatalog durch: Welcher Konferenzraum               Kieliger bekommt keine anderen Auf-
wäre geeignet? Wie hoch ist das Budget?         gaben zugeteilt als seine sechs Teamkolle-
Ist Verpflegung gewünscht, vielleicht ein       ginnen, die nicht im Rollstuhl sitzen. Der        an vermeintliche Details, die aber unver-
Abendessen? Flink zückt er ein Papier mit       einzige Unterschied ist, dass er die Toilette     zichtbar sind. Zum Beispiel Trinkhalme für
Menüvorschlägen aus der Mappe.                  besucht, bevor er Kundinnen und Kunden            Tetraplegiker.
     Anfragen bearbeiten, Beratungsge-          das Haus zeigt: «Ich kann mich auf dem
spräche führen, Räume reservieren – das         Rundgang nicht einfach kurz verabschie-           Maurice Amacher: «Total integriert»
gehört zum Alltag des Seminar- und Event-       den, das dauert etwas länger», erklärt der        Sich in seine Kundinnen und Kunden ein-
managers. Der 32-jährige Urner ist gelernter    Seminar- und Eventmanager. Er betont              fühlen zu können, ist auch für Maurice
Koch und Bäcker-Konditor, aber er kann          auch: «Was die Arbeit angeht, kann man            Amacher wichtig. Der Dreissigjährige, der
diese Berufe nicht mehr ausüben. Ein Velo­      von mir gleich viel verlangen wie von einem       als Baby von einem Auto überfahren wurde
unfall in Zermatt 2015 hat ihn zum Para-        Fussgänger. Mir muss niemand aus Mitleid          und seither inkomplett querschnittgelähmt
plegiker gemacht, seither sitzt Kieliger im     etwas schenken.» Und wenn er doch ein-            ist, arbeitet bei der Orthotec als Berater
Rollstuhl. Er realisierte rasch: Um auf dem     mal Support benötige, sei die gegenseitige        für Rehatechnik. «Wenn sich jemand nach
Arbeitsmarkt eine Chance zu bekommen,           Unterstützung «extrem gross».                     einem geeigneten Rollstuhl erkundigt,
muss ich umdenken.                                    Sehr dankbar ist der Paraplegiker           brin­ge ich meine persönliche Erfahrung mit
     Die Gastronomie war jahrelang die          auch dafür, dass seine Vorgesetzten Ver-          ein», sagt er. «Es sind Empfehlungen von
Welt des leidenschaftlichen Kochs, und sie      ständnis zeigten, als er sich zu Beginn sei-      jemandem, der die Probleme und Bedürf-
sollte es bleiben. Ein Jahr nach dem Unfall     ner Anstellung kurzfristig für eine Stunde        nisse von Rollstuhlfahrern kennt.»
startete er mit der Hotelfachschule, die er     abmelden und nach Hause ins nahe Ober-                 Nach einer kaufmännischen Lehre war
2021 abschliessen will. Bereits absolvierte     kirch fahren musste. Den Grund nennt er           Amacher sieben Jahre Basketball-Profi in
er einen Sprachaufenthalt im Wallis und ein     ohne Scham: Inkontinenz. Heute hat er das         Spanien, Italien und Deutschland. Im März
Food & Beverage-Praktikum im Schweizer          Thema im Griff. «Die Fehlzeiten holte ich         2020 entdeckte er die offene Stelle bei
Paraplegiker-Zentrum (SPZ).                     natürlich nach», sagt Kieliger. «Diese Kulanz     Orthotec und beendete seine Sportkarriere.
                                                ist für mich keine Selbstverständlichkeit.        Der Berater bewältigt ein Vollzeitpensum
Stellenprozente flexibel einteilen              Sie ist aber eine Voraussetzung für die gute      und ist körperlich so robust, dass er kaum
Auf der Stellensuche spürte Kieliger oft        Zusammenarbeit.»                                  einmal fremde Hilfe benötigt, selbst wenn
Skepsis: Wie leistungsfähig ist ein Mensch            Wenn er im Hotel Sempachersee – eine        er ein schweres Gefährt vorführen soll. «Ich
im Rollstuhl? Die vielen Absagen frustrierten   Tochtergesellschaft der Schweizer Paraple-        bin total integriert», sagt er. «Das Klima bei
ihn. Eine zufällige Begegnung mit Andreas       giker-Stiftung – mit Menschen zu tun hat,         uns ist grossartig. Die Orthotec kommt mir
Korner, dem früheren Personalleiter des         die ebenfalls im Rollstuhl sitzen, hat er einen   wie eine grosse Familie vor.» Er würde wün-
SPZ, änderte alles: So landete sein Dossier     Vorteil: «Ich kann mich gut in diese Gäste        schen, dass sich andere Firmen ein Beispiel
bei Torsten Pinter, dem Direktor des Hotels     hineinversetzen.» Er kennt ihre Bedürfnisse,      nehmen: «Leider schreckt es viele Arbeitge-
Sempachersee. Kieliger bekam eine Sech-         weiss, welche Räume ideal sind, und denkt         ber ab, wenn sich ein Mensch im Rollstuhl

16 PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1
SCHWERPUNKT

                                                            « Die Orthotec
                                                              ist wie eine
                                                              grosse Familie.»
                                                               Maurice Amacher,
                                                               Berater Rehatechnik

bewirbt. Das Vorurteil, dass dieser nicht
gleich viel leisten kann, stört mich.»           Tipps für Arbeitgeber
     Ebenso wie Fabian Kieliger ist Maurice
Amacher bewusst, dass seine Anstellung in        Reden ist Silber, Schweigen ist Gold – das     steht ein gedeckter Parkplatz zur Verfü-
Nottwil ein Glücksfall ist. Auch er ist Teil     Sprichwort gilt nicht für Mitarbeitende,       gung. Und eine barrierefreie Toilette ist
eines Teams, das Wert auf Selbstständigkeit      die auf einen Rollstuhl angewiesen sind.       ein Muss.
und Flexibilität legt. Zudem steht Nottwil für   Für Stefan Staubli, Leiter Soziale und
eine ideale, rollstuhlgängige Infrastruktur.     Berufliche Integration im SPZ, steht die       4. Gegenstände und Arbeitsmittel
Aber beide Rollstuhlfahrer wissen auch: Sie      offene Kommunikation im Zentrum, um                  gut erreichbar platzieren
müssen die gleichen Erwartungen erfüllen         den individuellen Bedürfnissen und Fähig-      Oft ist ein Werkzeug derart platziert, dass
wie ihre Kolleginnen und Kollegen. Umso          keiten querschnittgelähmter Mitarbeiten-       nur Fussgänger es erreichen können. Es
wichtiger ist es, dass sie ständig dazulernen.   der gerecht zu werden. Staublis weitere        gilt, Gegenstände und Arbeitsmittel so
Maurice Amacher plant gerade eine ein-           Tipps für Arbeitgeber:                         zu positionieren, dass auch Menschen im
jährige, berufsbegleitende Fortbildung zum                                                      Rollstuhl Zugriff haben – und manchmal
Rehatechniker.                                   1.  Pensum anpassen                            reicht ein unkompliziertes «Kann ich dir
     Sich selbst nennt er scherzhaft einen       Wie sehen die Möglichkeiten der Mitar-         helfen?» der Kolleginnen und Kollegen.
«Luxus-Paraplegiker». Seine inkomplette          beitenden aus? Oft bedeutet ein Vollzeit-
Querschnittlähmung erlaubt es ihm, aus           pensum eine zu hohe Belastung und sollte       5. Liegemöglichkeiten bieten
dem Rollstuhl aufzustehen und einige             entsprechend angepasst werden.                 Idealerweise können sich die Mitarbeiten-
Schritte zu gehen. Daher dauern Toiletten-                                                      den während einer Pause zur Entlastung
besuche nicht lange und der Transfer ins         2.    Ressourcenorientiert denken              von Gesäss und Rücken in einem Raum
Auto geht rasch. Auf seine Beratungstätig-       Priorität haben die Kompetenzen der Mit-       kurz hinlegen.
keit oder die Arbeit am Schreibtisch hat die     arbeitenden. Der Fokus soll auf die Stär-
Behinderung keinen Einfluss. Respekt hat         ken ausgelegt sein, nicht auf Schwächen.       6.    Ein Coaching hilft
Amacher dagegen vor der Frage, ob sein           Zum Beispiel spielt bei vielen administrati-   Während der Einarbeitungsphase hat sich
Körper die Belastung auf Dauer aushält.          ven Aufgaben Mobilität keine Rolle.            die Begleitung durch eine Fachperson be-
Zu viele Gedanken macht er sich darüber                                                         währt, und in vielen Fällen übernimmt die
heute nicht. Weil es ihm gut geht. Und weil      3. Ressourcen schonen am                       Invalidenversicherung (IV) die Kosten. Die
er sich über seine Tätigkeit bei der Orthotec         Arbeitsplatz                              Abteilung ParaWork des SPZ bietet ein
freut: «Ich habe einen Traumjob.»                Der Arbeitsplatz muss ohne Hindernisse         solches Coaching vor Ort in der ganzen
                       (pmb / ph. schmidli)     erreicht werden können. Idealerweise           Schweiz an.                      (gasc)

                                                                                                             PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1   17
SCHWERPUNKT

Gespräch auf
Augenhöhe
Eine kleine, aber wichtige Gruppe von
Mitarbeitenden sind die Peer Counsellors.

Joël Jung liegt im Bett, Arme und Beine
reglos. Ein Autounfall hat den 22-Jähri-
gen zum Tetraplegiker gemacht, seit drei
Wochen befindet er sich zur Rehabilitation
im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ).
Als man ihm das Peer Counselling vorstellt
und sagt, es komme jemand «mit gleichen
Erfahrungen» vorbei, ist er skeptisch. Doch
jetzt sitzt Christian Hänel vor ihm, und der
Frischverletzte ist – baff. Am meisten über-                                                                   Sind gute Kollegen geworden:
rascht ihn, wie agil und fit sein Gesprächs-                                                            Peer Christian Hänel (l.) und Joël Jung.
partner im Rollstuhl ist.
     «Ich habe auf einmal gesehen, wie viel
man als Tetra noch machen kann», sagt Jung     Lebensperspektiven zu finden. Daher wurde       das Gespräch mit Menschen, die das Glei-
im Rückblick auf diese erste Begegnung,        seit 2005 das Peer Counselling von Therese      che erlebt haben, einfacher als ein Termin
«und wie locker er mit seiner Behinderung      Kämpfer Schritt für Schritt zu einem festen     bei Fachleuten. Die Peers arbeiten aber
umgeht. Das gab mir Hoffnung, das wollte       Bestandteil der Erstrehabilitation in Nottwil   auch eng mit den einzelnen Fachrichtun-
ich auch erreichen. So wurde Christian für     aufgebaut. Ein zehnköpfiges Team betreut        gen im SPZ zusammen.
mich zum Ansporn für die Rehabilitation.»      in einem kleinen Pensum Patientinnen, Pa-
Neuneinhalb Monate verbringt Joël Jung         tienten sowie Angehörige, wobei die Peers       Eine Pionierleistung
2020 schliesslich in Nottwil. Im regelmäs-     jeweils darauf achten, dass eine ähnliche       Regelmässige Beratungsgespräche sind nur
sigen Gespräch mit seinem Peer-Berater         Lähmungssituation besteht.                      ein Teil ihrer Aufgabe. Die Peer Counsellors
erhält er einen Rucksack voller Tipps und           «Wir zeigen, dass man auch im Roll-        unterstützen zudem Pflichtkurse der Patien-
Tricks für das Leben ausserhalb der Kli-       stuhl ein schönes Leben haben kann», sagt       tinnen und Patienten («Para Know-how»)
nik: «Nur schon zu sehen wie Christian ein     Christian Hänel. «Nicht die Einschränkun-       und führen Lernanlässe durch – wie die
Fläschchen Mineralwasser öffnet, hat mir       gen stehen im Fokus, sondern wie man            «Learning by Doing»-Exkursionen in ausge-
imponiert. Oder wie er die Socken anzieht      damit umgeht – gerade an Orten, wo Roll-        wählten Alltagssituationen, die «Rolli Talks»
oder das Handgelenk zum Anheben der            stuhlfahrer vor grossen Herausforderungen       und Schulungen in Kleingruppen.
Beine nutzt, da konnte ich viel abschauen.»    stehen. Ich demonstriere: So funktionierts.»         Diesen März hat ein zweiter Senioren-
Heute lebt Joël Jung in einer Wohngemein-      Seit zehn Jahren vermittelt Hänel seine         Peer angefangen. Das SPZ bereitet sich
schaft mit anderen jungen Querschnittge-       Erfahrungen zu allen Fragen rund um das         damit auf den zunehmenden Anteil von
lähmten und steht vor dem Wiedereinstieg       Leben als Tetraplegiker. Der Austausch mit      älteren Menschen in der Klinik vor. «Unsere
ins Berufsleben.                               Menschen in der Erstrehabilitation ist span-    Peer-Arbeit ist eine Pionierleistung», sagt
                                               nend: «Jeder muss seine eigene Technik          Danielle Pfammatter, die den Bereich Peer-
Lösungsorientierte Beratung                    finden, denn jede Querschnittlähmung ist        Support und Angehörigenarbeit leitet. «Es
Wenn die vertraute Welt verschwindet,          anders.» Die praktische und lösungsorien-       wäre toll, wenn das Team noch erweitert
hilft der Erfahrungsaustausch mit anderen      tierte Beratung umfasst auch Scham- und         werden könnte, um weitere Ideen zu ver-
Betroffenen, Ängste abzubauen und neue         Tabuthemen. Gerade bei heiklen Fragen ist       wirklichen.»                   (kste / we)

18 PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1
SCHWERPUNKT

   Wir suchen dich
   Welche Bedürfnisse haben Pflegefachpersonen? Wie leben sie?
   Was ist ihnen wichtig? Mit der Beantwortung solcher Fragen will
   das Schweizer Paraplegiker-Zentrum neue Fachkräfte gewinnen.

Isa                          Sebastian                      Heidi                          Tim                            Daniela
Wiedereinsteigerin           Spezialdisziplinen             langjährige                    Auszubildender                 erfahrene
                             Pflege                         Mitarbeiterin                                                 Mitarbeiterin
«Ich kam lange nicht in      «Wir müssen es schaffen,       «Ich stieg im Nachtdienst      «Am SPZ wird man als           «Alles ist weniger ano-
den Beruf zurück, weil       die Dienstpläne mit            wieder ein und konnte          Lernender sehr gut             nym, man kennt sich. Für
sich die unregelmässigen     Familie und Freizeit zu        so im Beruf bleiben. Mir       betreut. Nach der Lehre        Teilzeitangestellte wären
Arbeitszeiten nicht mit      vereinbaren. Toll am SPZ       gefällt, neben der Familie     würde ich gerne auch           unterschiedliche Arbeits-
den Familienaufgaben         finde ich die Weiterbil-       zu arbeiten und das SPZ        noch in anderen Kliniken       zeitmodelle attraktiv.»
vereinbaren liessen. Auf     dungen und die Kinder­-        ist attraktiv für Mütter.»     Erfahrungen sammeln,           «Nach zwanzig Jahren
der SPZ-Website fand         betreuung.»                    «Ich wünsche mir Lösun-        ich kann mir aber gut          bleibt die Arbeit abwechs­-
ich das Porträt einer Mit-   «Das höchste Gut, das          gen für ältere Pflege­-        vorstellen, dann wieder        lungsreich. Ich habe
arbeiterin, die nach         wir geben können,              fach­personen, da die          nach Nottwil zurück-           engen Kontakt zu ande-
zwanzig Jahren wieder        ist das in uns gesetzte        körperliche Arbeit sie         zukommen.»                     ren Abteilungen und
eingestiegen ist. Das hat    Vertrauen nicht zu ent-        stärker belastet.»                                            die Infrastruktur macht
mich motiviert.»             täuschen.»                                                                                   es angenehm.»

   Pflegefachkräfte sind ein knappes Gut. In der        Pflegefachkräfte. Dazu wurden fünf typische

                                                                                                                           ?
   Schweiz werden zu wenige ausgebildet und viele       «Personas» identifiziert und ihre Bedürfnisse, Ziele
   steigen bereits nach fünf bis zehn Jahren wie-       und Erwartungen abgefragt.
   der aus dem Beruf aus – weil Faktoren wie der             Jede Persona steht für eine Zielgruppe, da-
   Lohn nicht befriedigen oder Bedingungen wie          runter Lernende, Wiedereinsteigende oder Inten-
   der Schichtdienst nicht mit der Lebensführung        sivpflege-Fachpersonen. Wie leben diese Men-
   vereinbar sind. Demgegenüber steht der demo-         schen? Was ist ihnen wichtig? Was brauchen sie?
   grafische Wandel: Zunehmend ältere Menschen          Statt Mutmassungen darüber anzustellen, was
   benötigen immer mehr Pflegedienstleistungen.         am Arbeitsplatz alles verbessert werden könnte,        Interessiert an einer
   Die Lücke zur Nachfrage nimmt seit Längerem          wurden die Inputs von echten Mitarbeitenden            Stelle in Nottwil?
   zu, die Corona-Pandemie hat diesen Sachverhalt       berücksichtigt, die den jeweiligen Personas ent-       Besuchen Sie unser
   noch einmal verdeutlicht.                            sprechen. Sie zeigen die wichtigsten SPZ-Funkti-       Jobportal:
        Auch das Schweizer Paraplegiker-Zentrum         onen und Profile und was für potenzielle Mitar-
   (SPZ) spürt den Fachkräftemangel und setzt sich      beitende ausschlaggebend ist, um nach Nottwil
   mit mehreren Projekten dafür ein, ein attraktiver    zu kommen. Daraus entstehen nun interne und
   Arbeitgeber zu sein – für die bestehenden Mitar-     externe Massnahmen, um zukünftige Mitarbeiten-                paraplegie.ch/
   beitenden und jene, die man gewinnen will. Eines     de für eine Stelle am SPZ zu begeistern.                      karriere
   davon involviert gezielt die besonders gesuchten          (hbr/rel)

                                                                                                               PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1   19
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