PARAPLEGIE Der "Spirit von Nottwil" - SPG: Eine besondere Arbeitgeberin Frank Clasemann lebt sehr selbstbestimmt - Schweizer Paraplegiker-Gruppe
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MÄRZ 2021 | NR. 177 | GÖNNER-MAGA ZIN PARAPLEGIE SCHWERPUNK T Der «Spirit von Nottwil» 6 SPG: Eine besondere Arbeitgeberin 20 Frank Clasemann lebt sehr selbstbestimmt 26 Heidi Hanselmann: Die SPS- Präsidentin im Gespräch
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M AG A ZIN D ER G Ö NNER-V EREINIG U NG D ER SCH W EIZER PA R A PL EG IK ER-S T IF T U NG 20 26 Liebe Mitglieder Schwerpunkt: Der «Spirit von Nottwil» Im November durfte ich mein zwanzigjähriges Jubiläum in der 6 ARBEITEN AN EINEM BESONDEREN ORT Schweizer Paraplegiker-Stiftung feiern, und im Blick zurück Die Mitarbeitenden der SPG verbindet ein Ziel und eine wurde mir bewusst, wie enorm viel sich in diesen Jahren verän- Wertehaltung. Wir haben auf dem Campus nachgefragt. dert hat. Die Gruppe ist stark gewachsen und beschäftigt heute gegen 2000 Mitarbeitende. Unsere Aktivitäten wurden in Nott- 12 SPANNENDES BERUFSBILD, ANSPRUCHSVOLLE wil konzentriert, wohin auch die Stiftung aus Basel umgesiedelt AUFG ABEN Physio- und Ergotherapie rücken zusammen: ist. Es entstanden ein Forschungszentrum sowie die Erweite- Im SPZ arbeiten die Fachleute in «Schnittstellen». rungsbauten der Klinik samt Besucherzentrum. Und parallel 14 «WIR SIND EINZIGARTIG, WEIL WIR SO VIELES BIETEN» zur rasanten technologischen Entwicklung hat das Wissen in Die SPG investiert viel in gute Arbeitsbedingungen. Doch der den verschiedenen Fachrichtungen, die bei uns gemeinsam zur Fachkräftemangel bleibt eine Herausforderung. Behandlung von Menschen mit Querschnittlähmung beitragen, wichtige Fortschritte gemacht. Eine spannende Dynamik. 16 LEISTUNGSSTARK IM ROLL STUHL Paraplegiker werden Doch bei allen Veränderungen der letzten zwanzig Jahre als Mitarbeitende gleich gefordert wie Fussgängerinnen und wurde nicht einfach alles neu. Wichtiges und Besonderes hat die Fussgänger. Zeit überdauert. Allen voran unsere von Guido A. Zäch formu- lierte Vision, Menschen mit Querschnittlähmung ein selbstbe- 18 GESPR ÄCH AUF AUGENHÖHE Eine kleine, aber wichtige stimmtes Leben bei bestmöglicher Gesundheit zu ermöglichen. Gruppe von Mitarbeitenden sind die Peer Counsellors. Zu den essenziellen Werten, die geblieben sind, zählt für mich und viele Mitarbeitende auch der «Spirit von Nottwil», dem wir 19 WIR SUCHEN DICH Mit einer speziellen Initiative will das diese Ausgabe von «Paraplegie» gewidmet haben. Es gibt ihn SPZ neue Fachkräfte gewinnen. tatsächlich. Es ist der Boden, der unsere Arbeit trägt. Das ver- bindende Ziel, das gegenseitige Wohlwollen, das Sinnhafte und nicht zuletzt der Stolz, ein Teil dieser einzigartigen Geschichte 20 BEGEGNUNG Frank Clasemann lebt sehr selbstbestimmt. zu sein, welche die Schweizer Paraplegiker-Gruppe seit vielen Und er lässt sich vom Schmerz nicht mehr ärgern. Jahren fortschreibt. 25 EINL ADUNG ZUR MITGLIEDERVER SAMMLUNG Ich kam seinerzeit nach Nottwil, weil mich diese Institu- tion fasziniert hat: Eine Organisation, deren Fokus ganz auf den 26 «ICH K ANN NICHT AUS DEM ELFENBEINTURM HER AUS Patientinnen und Patienten liegt und in der trotz internationa- AGIEREN» Seit Juni ist Heidi Hanselmann Präsidentin der ler Ausstrahlung ein familiäres Zusammengehörigkeitsgefühl Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Ein Gespräch. besteht. Diese Faszination ist bis heute geblieben. Manche der Veränderungen seither sind der Grösse und der Notwendigkeit 29 DER UNFAIRE ENT SCHEID Wenn Ärzte in der Corona- zu modernen Unternehmensstrukturen geschuldet. Aber im Pandemie zur Triage gezwungen werden. Rückblick fällt auf: Nottwil hat seinen «Spirit» behalten – auch dank Ihrer Unterstützung und Ihrer Treue. 30 SPIT ZENMEDIZIN FÜR ALLE ( Teil 3) Ein wesentlicher Aspekt in der ambulanten Medizin ist die Neuro-Urologie. Herzlichen Dank, 32 DAFÜR HAT ES MICH HEUTE GEBR AUCHT … Dank Dagobert Kaufmann drückt kein Schuh mehr. 4 C AMPUS NOT T WIL Dr. iur. Joseph Hofstetter 33 IHRE SEITE Direktor Schweizer Paraplegiker-Stiftung 34 AUSBLICK PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1 3
CAMPUS NOT T WIL Zwei neue Stiftungsräte gewählt Markus Béchir und Adrian Ritz wurden neu in den Stiftungsrat der Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS) gewählt. Sie ersetzen die langjährigen Mitglieder Jacqueline Blanc, Kuno Schedler und Heinz Frei. «Mit dieser Wahl konnten 2,6 Mio. wir einerseits die Kompetenzfelder Medizin und Forschung abdecken», sagt SPS-Präsidentin Heidi Hanselmann, «und andererseits zwei Menschen gewinnen, die sich mit grosser Leidenschaft für die Anliegen von Querschnitt- Franken gelähmten einsetzen.» aus Mitgliedschaften und Prof. Dr. med. Markus Béchir (oben) ist Chefarzt am Zentrum Innere Spenden haben wir im Jahr Medizin der Hirslanden Klinik Aarau, er lehrt an der Universität Zürich und ist 2020 über unsere Online- Verwaltungsratspräsident des Schweizer Paraplegiker-Zentrums. Kanäle erhalten, 12,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Prof. Dr. rer. oec. Adrian Ritz ist an der Universität Bern Professor für Ganz herzlichen Dank. Public Management und leitet das Kompetenzzentrum für Public Management, zudem ist er Verwaltungsratspräsident der Schweizer Paraplegiker-Forschung. «Es wurde mir © Daniel Streit bewusst, dass Neues aus der Schmerzforschung ich ein Teil von Zwei Drittel der Menschen etwas ganz mit Querschnittlähmung Grossem bin.» leiden an chronischen Schmerzen. Eine Studie der Daniel Rickenbacher hatte Schweizer Paraplegiker- kürzlich seinen Einführungstag Forschung zeigt nun, dass für neue Mitarbeitende in Nott- «psychosoziale Ressourcen» wil. «Für mich war es speziell, eine wichtige Rolle im nicht als Kunde, sondern als Umgang mit Schmerzen Angestellter im SPZ zu sein», spielen. schreibt er in seinem Blog. «Bester Para-Sportler aus 70 Jahren» Rickenbacher lebt und arbeitet Faktoren wie unterstüt mit einer körperlichen Behin- Heinz Frei zählt zu den erfolgreichsten Spitzensportlern der zende Beziehungen, derung, bei der er auf diverse Schweiz. Der Pionier des Rollstuhlsports erkämpfte sich 15 Gold- Optimismus, ein stabiles Hilfsmittel angewiesen ist. medaillen an Paralympics, 14 Weltmeistertitel und 112 Marathon- Selbstbild oder soziale siege. Für seine aussergewöhnlichen Leistungen wurde der Kompetenzen beeinflussen paraplegie.ch / 62-jährige Solothurner bei den Sports Awards 2020 mit dem Titel die Schmerzbewältigung. daniels-blog «Bester Para-Sportler aus 70 Jahren» ausgezeichnet. Je stärker diese Ressourcen im Alltag genutzt werden, desto besser können Berührende Post aus aller Welt Betroffene mit ihren Schmer- zen umgehen – bei gleicher Ob aus Mexico, Hongkong oder Hitzkirch: Im Schmerzintensität. Die Dezember erhielten die Patientinnen und Patienten Autorinnen und Autoren des Schweizer Paraplegiker-Zentrums über drei der Studie sehen in der tausend wunderschöne und berührende Karten, Stärkung der psychosozia- Briefe, Zeichnungen und Videobotschaften aus aller len Ressourcen ein viel Welt. Dies als Zeichen der Solidarität, da sie auf- versprechendes Ziel für grund der Corona-Pandemie kaum Besuche in der künftige Interventionen in Klinik empfangen konnten. Im Namen der Betrof- der Schmerztherapie. fenen danken wir allen, die sich an dieser Herzens aktion beteiligt haben: Sie schickten viel Kraft und Freude nach Nottwil. paraplegie.ch /xmas2020 swisci.ch 4 PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1
CAMPUS NOT T WIL 100 000 Dauermitglieder PRAXIS Die Kraft der Gedanken zählt die Schweizer Paraplegiker-Stiftung seit Kurzem. Wer die 100 000ste 2014 mehren sich bei Manuel lebenslange Dauermitgliedschaft abgeschlossen hat, verraten wir in der Arn die Anzeichen, dass mit nächsten Ausgabe. ihm etwas nicht stimmt. Nach einer Untersuchung im Berner Inselspital erhält er die Dia- gnose: Amyotrophe Lateral- sklerose (ALS), eine degenera- tive, unheilbare Erkrankung des zentralen Nervensystems. Ein paar Monate später sitzt Arn im Rollstuhl. Heute kann der 49-Jährige aus Biel nur noch minim den rechten Dau- men bewegen und steuert damit seinen Elektro-Rollstuhl. Patrick Moulin, Co-Autor Er befasst sich mit dem Ster- ben, lässt sich aber seinen Wie Schrauben in den Optimismus nicht nehmen und Rücken kamen freut sich auf den 26. Juni – er möchte seinen fünfzigsten Die Schweizer Paraplegiker- Geburtstag mit einem schönen Stiftung ist Herausgeberin Fest feiern. eines medizinhistorischen Buchs über Verletzungen der Manuel Arn ist Vorstandsmit- glied des Vereins ALS Schweiz. Wirbelsäule und ihre chirur- Sein wichtigstes Kommunika- gische Versorgung. Autoren tionsgerät ist ein «Tobii», mit sind der bekannte Wirbelsäu- dem er per Augenbewegun- lenchirurg Patrick Moulin, der gen seinen PC bedient. Mit bis zu seiner Pensionierung einem Umweltkontrollsystem am SPZ Nottwil tätig war, steuert er per Joystick und und Henry Nigst, ehemaliger Überraschungskonzert beim Therapiegarten Smartphone seine Wohnung. Chefarzt am SPZ Basel. Support rund um diese techni- Ihr Fokus liegt auf Traumata Keiner hatte es verraten, die Überraschung ist geglückt: schen Hilfsmittel bekommt er durch Unfälle und Gewalt Im Dezember beschenkte Coca-Cola Schweiz die Patientinnen von Active Communication, einwirkung – von der Speer- und Patienten des Schweizer Paraplegiker-Zentrums mit einem einer Tochter der Schweizer verletzung in der Bronzezeit spontanen, herzerwärmenden «Social-Distance-Konzert» von Paraplegiker-Stiftung: «Sie ist bis zur Rückenoperation nach Nickless und Reyn Turner. Die Künstler traten beim Therapie- für mich und viele Betroffene, einem Skiunfall. garten auf, Coca-Cola spendete zudem 5000 Franken an die denen Kommunikation und Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Wir danken für Selbstbestimmung wichtig die besondere Spende in sind, unentbehrlich», sagt Arn. einer aussergewöhnlichen Direktlink Weihnachtszeit. zum Video Der ALS-Patient möchte uns zeigen, dass trotz stark einge- schränkter Mobilität ein Leben Für alle laufen, die es nicht können mit vielen Glücksmomenten möglich ist: «Der Mensch Am 9. Mai findet der diesjährige Wings for Life World Run besteht nicht nur aus einem Körper, er hat auch einen Geist statt. Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung ist nationale Partne- und eine Seele. Damit kann ich P. Moulin, H. Nigst, Schweizer rin des internationalen Laufanlasses, der 2021 im Distanz- meine Perspektiven zu meinem Paraplegiker-Stiftung (Hrsg.): modus durchgeführt wird: Dank einem «App Run» können die Wohlempfinden beeinflussen.» Verletzungen der Wirbel- Teilnehmenden individuell und ortsunabhängig mitmachen. säule – Geschichte der Wirbel 100 Prozent des Startgeldes fliessen in die Rückenmark- Manuel Arns Geschichte: chirurgie, 2020, 382 Seiten. forschung der Stiftung «Wings for Life». paraplegie.ch/arn paraplegie.ch /moulin wingsforlifeworldrun.com PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1 5
SCHWERPUNKT Arbeiten an einem ganz besonderen Ort Die Mitarbeitenden der Schweizer Paraplegiker-Gruppe verbindet ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und eine Wertehaltung, die ihre Arbeit prägt. Wir haben auf dem Campus nachgefragt, worin dieser «Spirit von Nottwil» besteht. Es war eine spontane Idee. Die «Jerusalema-Chal- Vision; sie wissen, wofür sie sich einsetzen, und lenge» eroberte gerade die sozialen Medien, da sehen darin Sinn und Erfüllung. Denn das Ziel liessen sich einige Mitarbeitende der Schweizer der bestmöglichen Integration von Menschen mit Paraplegiker-Gruppe von der weltweiten Tanz- Querschnittlähmung lässt sich nur durch die enge begeisterung anstecken: Als erstes Unternehmen Zusammenarbeit von verschiedenen Berufen er- der Schweiz wollten sie ein Video zum Song des reichen. Das ist die Basis für den wertschätzenden südafrikanischen DJ Master KG aufnehmen, um Umgang miteinander. Freude und Gemeinschaftssinn zu vermitteln – eine kurze Auszeit in der Corona-Pandemie, deren Gemeinsame Vision erste Welle gerade vorüber war. So trifft man in Nottwil vor allem Menschen, die Ihr Tanzvideo sollte der Bevölkerung «Danke» sich am Ergebnis für die Betroffenen orientieren sagen, weil aufgrund der Pandemie das Fest zum und den Mut haben, dafür auch neue Wege zu dreissigjährigen Bestehen des SPZ abgesagt wer- gehen. Zum Beispiel Andrea Violka von ParaHelp. den musste. «Wenn die Menschen nicht zu uns Sie sagt: «Für mich besteht der Spirit von Nott- kommen können, gehen wir zu ihnen und tan- wil darin, dass ich als Pflegefachfrau die Chance zen uns in ihre Herzen», erklärte die Kommuni- erhielt, die Idee der ParaWG umzusetzen.» In kations- und OK-Verantwortliche Manuela Marra. zwei Jahren hat Violka eine Wohngemeinschaft Das Kernteam begeisterte immer mehr Mitarbei- für junge Menschen mit Querschnittlähmung auf- tende von seiner Idee. So stand innert Tagen alles gebaut, die sich in der schwierigen Lebensphase bereit für die Eigenproduktion des Videos, das des Einstiegs in die Berufswelt und der Loslö- im September 2020 online ging und bisher rund sung von zu Hause befinden. «Der Spirit hat mein zwei Millionen Menschen erreicht hat. Projekt getragen. In der ganzen Gruppe gingen für mich Türen auf, alle haben geholfen.» Gegenseitige Unterstützung Während ihrer Arbeit mit jungen Erwach- «Es hat einfach alles gepasst», sagt Katrin Oberlin. senen hatte die diplomierte Pflegefachfrau HF Die Leiterin Administration bei der Sirmed über- immer stärker den Bedarf für eine Wohnform nahm die Choreografie der grossen Gruppe. Ihr erkannt, die den Übergang in die Selbstständig- Fazit: «Wenn alle denselben Fokus haben, errei- keit erleichtern würde. Sie erhielt von ihren Vor- Jerusalema-Challenge chen wir in kurzer Zeit sehr viel.» Das Gleiche gesetzten das Vertrauen als Projektleiterin und erlebt Oberlin jeden Tag in ihrem Job: Die gegen- engagierte sich so intensiv in der Umsetzung, paraplegie.ch/ seitige Unterstützung über Abteilungsgrenzen dass 2020 in Schenkon LU nicht nur eine ParaWG jerusalema und Tochterfirmen hinweg sei ein typisches Merk- in Betrieb genommen werden konnte, sondern mal des «Spirit von Nottwil». gleich deren zwei. Wen immer man auch fragt, die Antwort ist Niemand sagte «Nein» oder verwies auf den Direktlink stets dieselbe: Die Mitarbeitenden der Schweizer Dienstweg, wenn Violka einmal spontan etwas für zum Video Paraplegiker-Gruppe verbindet eine gemeinsame ihr Projekt benötigte. Für die 40-Jährige ist auch 6 PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1
SCHWERPUNKT Christine Reuse Peter Philipp Gerrits Andrea Violka Verena Brügger PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1 7
SCHWERPUNKT «Nur wenige Unternehmen bieten solche Chancen.» paraplegie.ch / wg-zimmer Andrea Violka, Leiterin ParaWG bei ParaHelp dies ein Merkmal des Arbeitens in Nottwil: Im begleitet ParaWork ihre «Klientinnen und Kli- Zentrum steht nicht das eigene Ego, sondern das enten» zu einer behinderungs- und bedarfsge- sichtbare Resultat. Heute können bereits elf Be- rechten Wiedereingliederung. Das reicht vom troffene in drei Wohnungen betreut werden. Belastbarkeitsaufbau über Abklärungen und Aus- bildungen bis zum Coaching vor Ort. Die Zusam- Grosse Entwicklungsmöglichkeiten menarbeit in Nottwil ist dabei entscheidend – bei- Ein bedeutender Faktor für das gute Unterneh- spielsweise für medizinische Aspekte, Physio- und mensklima ist die interprofessionelle Zusammen- Ergotherapie, Psychologie oder die Schmerzbe- arbeit: Schwerpunkte der Behandlung, aber auch handlung. Ein weiteres Erfolgskriterium ist, dass längerfristige Integrationsziele werden regelmäs- die Betroffenen genügend Zeit erhalten. «So sig zwischen den Fachdisziplinen und mit den etwas wie ParaWork gibt es kein zweites Mal», Betroffenen und ihren Angehörigen definiert. schwärmt die 50-Jährige. «Und wir haben noch Dabei stehen flache Hierarchien und die Kompe- viele Ideen …» tenz der Teams im Vordergrund. «Die Mitarbei- tenden denken vernetzter und übernehmen mehr Kostenlose Aus- und Weiterbildung Verantwortung als in anderen Kliniken», sagt Christine Reuse Peter fing 2008 als Sprachleh- Diana Sigrist-Nix, die Leiterin Rehabilitation im rerin in der ParaSchool Patientenschule an. Sie SPZ. Dadurch steige die Motivation, mitzugestal- übernahm zunehmend Leitungsaufgaben und ten und sich persönlich weiterzuentwickeln; das begleitete die Weiterentwicklung der Abteilung Kader schaffe dafür bewusst Freiräume. Sigrist- ParaWork, die sie seit vier Jahren leitet. Für ihre Nix kennt diese Entwicklungsmöglichkeiten: Sie neuen Aufgaben profitierte sie – ebenso wie kam als junge Ergotherapeutin nach Nottwil, Andrea Violka im Projekt ParaWG – von internen heute führt sie Hunderte Mitarbeitende und ist Mitglied der Geschäftsleitung. Der ganzheitliche Blick umfasst alle Bereiche. Weiterbildungen. Auch dies ist ein Aspekt, der die Arbeit in Nottwil speziell macht: das kosten- lose Bildungsangebot für Mitarbeitende, das viele 1949 Mitarbeitende «Unsere Stärke ist die interprofessionelle Ver- interne und externe Weiterbildungen umfasst netzung im ganzen Haus», sagt Christine Reuse sowie gezielte Talentförderprogramme. zählt die Schweizer Para- Peter, die bei ParaWork die Wiedereingliederung «Wir investieren auf allen Stufen ins beruf- plegiker-Gruppe (SPG) ins Berufsleben mit rund zwanzig Mitarbeiten- liche Weiterkommen», sagt Myriam Landtwing, den verantwortet. Sie machen das so erfolgreich, Verantwortliche für die Personalentwicklung in dass die Nachfrage von Menschen mit Mobilitäts- der Schweizer Paraplegiker-Gruppe. Zwei über- einschränkungen aus der ganzen Schweiz rasant wächst. Dabei ist die Invalidenversicherung (IV) eine wichtige Partnerin. Für Reuse Peter und ihre Teams geht es nicht geordnete Ziele sind ihr besonders wichtig: Ers- tens die Aus- und Weiterbildung von Nachwuchs- kräften, um für alle Funktionen das geeignete Personal zu haben. Und zweitens möchte sie 80 Berufsgruppen ums schnelle Platzieren von Betroffenen an einem die Mitarbeitenden auf zukünftige Entwicklun- sind in der SPG Arbeitsort – das ist selten nachhaltig –, vielmehr gen vorbereiten. Sie sollen sich auf kommende beschäftigt 8 PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1
SCHWERPUNKT « In Nottwil setzt man sich mit Herz und Seele für Menschen mit Querschnittlähmung ein.» Beat Bösch, Rollstuhlathlet und Mitarbeiter in der Lebensberatung der SPV spv.ch/de/was_wir_tun/ lebensberatung/ PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1 9
SCHWERPUNKT «Unsere Stärke ist die interprofes sionelle Vernetzung im Haus.» paraplegie.ch/ parawork Christine Reuse Peter, Verantwortliche ParaWork «Es ist ein konstruktives Mitei- nander, um den Betroffenen das orthotec.ch Optimum zu ermöglichen.» Philipp Gerrits, Leiter Fertigung bei der Orthotec Herausforderungen einstellen können – von Fachleute den Bedarf als notwendig einstufen. Zukunftstechnologien, die ganze Berufsbilder «Es schmerzt, wenn ideale Lösungen am Finan- verändern, bis zu persönlichen Anforderungen ziellen scheitern», sagt Gerrits, «denn in diesem wie sie im Rahmen der Digitalisierung in der Bereich gibt es keinen Luxus.» Der Kostendruck «Arbeitswelt 4.0» entstehen. treibt die Mitarbeitenden aber auch zu Weiter- Dem Fachkräftemangel in der Pflege begegne entwicklungen an, um beispielsweise ein gutes das SPZ mit neuen Arbeitsmodellen, sagt Landt- Resultat in kürzerer Zeit erzielen zu können. Und wing: «Wir müssen individuelle Lösungen finden, in Notfällen gehen sie auf die Suche nach finan- um weiterhin attraktiv zu sein.» Dazu zählen auch zieller Unterstützung. neue Technologien, die den körperlich anstren- genden Pflegeberuf erleichtern. Kämpfen für die Betroffenen Der enge Kontakt mit IV-Stellen zählt zu den Optimale Versorgung Hauptaufgaben von Verena Brügger. Die Fall- Philipp Gerrits hat in Nottwil bereits viele Verände- managerin bei Active Communication bezeich- rungen erlebt. Der Leiter Fertigung bei Orthotec net sich als «Schnittstelle, wenn unser normaler machte 1999 eine Schnupperlehre und begann Hilfsmittelprozess ins Stocken gerät». So küm- dann seine Ausbildung zum Orthopädisten. Das mert sie sich um Kosten- oder Zeitgutsprachen, Feld der Hilfsmittel für körperlich beeinträchtigte ist Ansprechpartnerin bei Schwierigkeiten im Personen hat seither immer neue Spezialisierun- Aussendienst und berät Kundinnen und Kunden gen erfahren, um jeder Kundin, jedem Kunden nach einem Ablehnungsentscheid der Kosten- eine individuell zugeschnittene Versorgung zu träger: Welche Möglichkeiten gibt es noch? Wie ermöglichen. Dank der interprofessionellen Ver- netzung in der Gruppe finden die Fachleute zusammen das optimale Hilfsmittel. Er arbeite gerne an diesem speziellen Ort, wo gehen wir vor? Brügger leidet mit, wenn die Versicherung einem Patienten mitteilt, dass er kein Anrecht auf ein Hilfsmittel hat, um seine Wohnungstüre 13 verschiedene die ursprüngliche Vision von SPZ-Gründer Guido ohne fremde Hilfe öffnen zu können: «Für uns Grundausbildungen A. Zäch weitergetragen wird, sagt der 42-Jährige. ist das eine absolute Selbstverständlichkeit.» Also bietet die SPG an. «Jeden Tag treffen hier Hunderte von Menschen kämpft sie für die Betroffenen. Diese Arbeit sei so mit dem gleichen Ziel ein. Auch wenn sie dieses spannend wie herausfordernd – und umso mehr Ziel auf unterschiedliche Art zu erreichen versu- freut sich die 42-Jährige, wenn sie damit ein posi- chen, arbeiten sie alle darauf hin und unterstüt- zen sich. Das ist das Wichtigste: Es ist ein Mitei- nander, kein Gegeneinander.» Für innere Konflikte sorge manchmal das tives Resultat bewirken kann. Bevor die Mutter von 4-jährigen Zwillingen in den Mutterschaftsurlaub ging, hatte sie bei AC eine Leitungsposition inne, heute arbeitet sie mit 70 Seminare jährlich Thema der Kosten, die nicht von den Versi einem Pensum von sechzig Prozent. «Mit zwei führt die SPG durch, cherungen übernommen werden – obwohl die Kindern ist eine Stabsstellenfunktion besser als dazu 2 CAS-Lehrgänge. 10 PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1
SCHWERPUNKT « Alle wissen, was sie hier machen und wofür sie es machen. Und alle activecommunication.ch wollen das Gleiche.» Verena Brügger, Fallmanagerin bei Active Communication eine leitende Aufgabe», sagt sie. «Es ist schön, ich sehr», sagt der mehrfache Medaillengewinner wenn eine Arbeitgeberin angepasste Teilzeitmo- an internationalen Wettkämpfen. delle ermöglicht.» Der Spirit von Nottwil präge Nach dem Rundgang auf dem Campus und auch die Tochterfirma Active Communication: der Begegnung mit den unterschiedlichsten Men- «Man spürt die Freude am Arbeiten. Die Mitar- schen, die auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten, beitenden kommen jeden Tag, weil sie wissen, wird nicht nur der «Spirit von Nottwil» deutlicher. was sie hier machen und wofür sie es machen, Verständlich ist auch, was die Verantwortliche für und alle wollen das Gleiche.» Personalentwicklung meinte, als sie sagte: «Wir haben zwar für jede Stelle Anforderungsprofile. Hilfe zur Selbsthilfe Aber wir rekrutieren keine Profile, sondern Per- Beat Bösch ist seit zehn Jahren bei der Schwei- sönlichkeiten.» (kste / ch. schürpf) zer Paraplegiker-Vereinigung (SPV). Der bekannte Rollstuhlsportler arbeitet im Aussendienst der Lebensberatung. «Für mich ist es keine Arbeits- stelle, bei der das Thema abends im Büro bleibt, wenn ich gehe. Der Rollstuhl begleitet mich rund «Beste Arbeitgeberin um die Uhr», sagt der 49-Jährige. Bei einem Turn- unfall am Minitrampolin wurde Bösch 1996 zum im Bereich Gesundheit Tetraplegiker. Seine Arbeit ist für ihn sinnhaft: «Es ist toll, und Soziales 2021» wenn man Menschen helfen kann, die ein Pro- Die Schweizer Paraplegiker-Gruppe steht ganz oben auf der Liste blem haben. Ich bin jeden Tag motiviert.» Die «Top Arbeitgeber 2021», die von «Handelszeitung», «LeTemps» und SPV-Lebensberatung gibt Hilfe zur Selbsthilfe, dem Marktforschungsunternehmen Statista herausgegeben wird. Im querbeet bei allen Fragen. Wird eine weiterge- Bereich Gesundheit und Soziales wurde die SPG als beste Arbeitge- hende Betreuung notwendig, vermittelt Bösch berin bewertet, in der Gesamtwertung ist sie auf dem Podest als dritt- die entsprechenden Fachleute. Auch er betont beste Arbeitgeberin. das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gruppe und dass sich in Nottwil viele Mitarbeitende mit Unter die Lupe kamen 1500 Schweizer Unternehmen mit mindes- Herz und Seele für Menschen mit Querschnitt tens 200 Angestellten. Die Liste basiert auf einer Umfrage von über lähmung einsetzen würden. 7000 Angestellten sowie Urteilen, die über die Websites der beteilig- Persönlich profitiert der 49-jährige Athlet ten Medienhäuser generiert wurden. Über alle Kanäle flossen mehr davon, dass seine Arbeitgeberin ein grosses Ver- als 200 000 Bewertungen ins Ranking ein. Die Erhebungsphase der ständnis dafür hat, dass er für Wettkämpfe wie Umfrage war von Mai bis Juni 2020. zum Beispiel die Paralympics in Tokyo im Spätsom- mer 2021 eine intensive Vorbereitung mit Abwe- paraplegie.ch/arbeitgeberin2021 senheiten und Auszeiten benötigt. «Das schätze PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1 11
SCHWERPUNKT Spannendes Berufsbild, anspruchsvolle Aufgaben Physio- und Ergotherapie sind eng zusammengerückt: Im Schweizer Paraplegiker- Zentrum arbeiten die Expertinnen und Experten aus beiden Berufen nicht mehr aus- schliesslich auf ihrem Fachgebiet, sondern auch in «Schnittstellen». 120 Die Rollen waren bis 2015 klar verteilt: Auf der gruppen beherrscht werden, zum Beispiel die einen Seite die Physiotherapie, die auf der Funk- postoperative Bewegung der Schulter. «Früher tionsebene arbeitet – Kraft, Beweglichkeit oder beschäftigte sich allein die Physiotherapie damit», Schmerzlinderung sind drei ihrer Kernkompe- sagt Oberson, «heute kann es gut sein, dass eine «Physios» und «Ergos» tenzen. Auf der anderen Seite die Ergotherapie, Ergotherapeutin, ein Ergotherapeut diese Arbeit arbeiten im SPZ. die sich um Aktivitäten im Alltag kümmert – um übernimmt.» Ein Ziel ist die gegenseitige Entlas- Techniken beim Essen, das Anziehen oder die tung und Unterstützung, ein anderes die Erhö- Hilfsmittelversorgung. hung der Schnittmenge zwischen den Fachberei- Diese Trennung war im Schweizer Paraple- chen. Das funktioniert auch deshalb gut, weil zur giker-Zentrum (SPZ) auch räumlich definiert. Die Grundausbildung beider Berufe zunehmend auch Berufsgruppen arbeiteten auf verschiedenen Eta- gleiche Studieninhalte gehören. gen, Absprachen mussten klar geplant sein. Bis Diana Sigrist-Nix, damals Leiterin Therapiema- Erfolgreiche Zusammenlegung nagement und heute Mitglied der SPZ-Geschäfts- Die Verschmelzung von Physio- und Ergothera- leitung, zusammen mit dem Therapiekader einen pie veränderte die Organisation. Die 120 Thera- Veränderungsprozess anschob. Physio- und Ergo- peutinnen und Therapeuten bilden Teams von therapie sollten zusammenrücken, die zwei Be- durchschnittlich zwölf Personen, die von einem reiche verschmelzen. Im Rückblick sagt Pirmin Duo geleitet werden – in der Regel je eine Fach- Oberson, Co-Leiter Therapiemanagement: «Es person aus Physio- und Ergotherapie. war ein riesiges Change-Projekt, das wie aus dem «Die neue Teamstruktur ist mittlerweile die Lehrbuch umgesetzt wurde.» Normalität», sagt Pirmin Oberson. Die Zusam- menlegung wird kaum mehr infrage gestellt und Intensiver Dialog mit dem Personal eine kürzliche Umfrage ergab, dass 99 Prozent Dem Start im Herbst 2017 ging eine sorgfältige der Mitarbeitenden nicht mehr zur traditionellen Vorbereitung voraus, denn den Initianten war Aufteilung zurück möchten. Zwar tangiert die bewusst, dass etliche Hürden zu überwinden Veränderung nicht die Berufsbezeichnungen in waren. So fand ein intensiver Dialog mit dem Per- Physio- und Ergotherapie, dennoch wird ein neues sonal statt, Diskussionen über gegenseitige Vor- Berufsbild angestrebt: der Rehabilitationsthera- urteile wurden geführt und die Ängste vor der peut, die Rehabilitationstherapeutin. Neuausrichtung angesprochen. Es wurde aber auch skizziert, weshalb die revolutionär wirkende Unterwegs mit Ferdy Wijckmans Idee ein grosser Schritt in die Zukunft ist: Patien- Ferdy Wijckmans arbeitet seit Januar 2019 im tinnen und Patienten können noch besser und SPZ und darf sich sowohl Physio- wie Ergothera- effizienter behandelt werden, weil die Wege kür- peut nennen. Der gebürtige Holländer studierte Ferdy Wijckmans ist sowohl zer werden. Zudem entsteht mehr Flexibilität bei zunächst Ergotherapie, bevor er sich auch zum Ergo- wie Physiotherapeut. der Personaleinteilung. Physiotherapeuten ausbilden liess. Für ihn hat das «Schnittstelle» ist für Oberson ein zentraler SPZ mit der Neuausrichtung einen grossen Fort- Physiotherapie im Therapiebad. Begriff der Zusammenarbeit. Einige klassische schritt erreicht: «Das Modell ist deshalb so wert- Therapie mit dem Gangroboter Domänen müssen dabei von beiden Berufs- voll, weil primär die Patientinnen und Patienten Lokomat. 12 PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1
« Ich merke nichts von Gärtchendenken.» Ferdy Wijckmans, Rehabilitationstherapeut profitieren», sagt er. «Nicht jeder von uns kann ein Experte in Physio- und Ergotherapie sein, aber alle können von den Spezialistinnen und Spezialisten des jeweils andern Fachgebiets dazulernen und dieses Wissen anwenden, wenn sich Schnittstel- len ergeben.» Selbst Wijckmans, der beide Berufe erlernt hat, benötigt die Unterstützung von seinen Kol- leginnen und Kollegen: «Die Rehabilitation von Menschen mit Querschnittlähmung ist eine an spruchsvolle Aufgabe. Regelmässig werde ich mit Neuem konfrontiert; da ist es ein Vorteil, erfahrene Leute um sich zu haben und im Team mit einem tollen Spirit zu arbeiten. Ich merke nichts von Gärtchendenken, die Grenzen sind praktisch verschwunden.» Für ihn sei es normal, sich auf beiden Gebieten zu bewegen, rasch zu switchen und in der Co-Therapie den Austausch mit anderen «Physios und Ergos» zu pflegen: «Siehst du noch eine andere Möglichkeit? Wie liesse sich eine optimale Lösung erreichen?» Der Therapeut als Motivator Es kommt vor, dass sein Arbeitstag mit einer Ergo- therapie in der Lernwohnung beginnt. Er zeigt einem Patienten, mit welcher Technik er sich aus dem Rollstuhl erheben kann, um ein Glas aus dem Schrank zu holen. Oder wie er am besten auf einen Bürostuhl transferiert. Eine Stunde später steht Wijckmans als Physiotherapeut im Thera- piebad und betreut einen Mann mit inkomplet- ter Tetraplegie. Danach übernimmt er eine Gang- therapie mit dem Roboter Lokomat. Jetzt ist der Therapeut auch Motivator: «Noch ein bisschen schneller … sehr gut … Super!» Wie alle im Team ist Ferdy Wijckmans oft auch auf psychologischer Ebene gefordert. Wäh- rend sechs bis neun Monaten begleitet er Men- schen in der Rehabilitation. «Es ist wichtig, ihnen zuhören zu können», sagt er. «Wenn man sich fast täglich sieht und eine so lange Zeit miteinan- der arbeitet, entsteht fast automatisch eine Ver- bindung.» Oft wurde er schon gefragt, was er als Therapeut bei Menschen mit Querschnittläh- mung überhaupt noch beeinflussen könne. «Sehr viel», lautet seine Antwort. «Mein Auftrag ist es, der Patientin, dem Patienten zu so viel Selbststän- digkeit wie nur möglich zu verhelfen. Dabei ist jeder kleine Fortschritt ein Erfolg.» (pmb / ph. schmidli) PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1 13
SCHWERPUNKT «Wir sind einzigartig, weil wir so vieles bieten» Die Schweizer Paraplegiker-Gruppe (SPG) investiert viel, um den Mitarbeitenden gute Arbeitsbedingungen zu bieten, und wurde gerade als beste Arbeitgeberin 2021 in der Gesundheitsbranche ausgezeichnet. Doch der Fachkräftemangel ist auch in Nottwil eine grosse Herausforderung, sagt HR-Leiter Marcel Unterasinger. Marcel Unterasinger, letzten Herbst Mitarbeitenden können dadurch regelmäs- Ja, zum allergrössten Teil. Auch wenn es produzierten Mitarbeitende in kurzer sig Neues lernen und anwenden. etwas länger gedauert hat. Dank der hohen Zeit ein Tanzvideo zur weltweiten Reputation und guten Arbeitsbedingungen «Jerusalema-Challenge». Wie fanden Wie überzeugen Sie Aussenstehende konnten wir unseren Personalbestand ver- Sie das? von solchen Vorteilen? grössern. Aber der Fachkräftemangel ist Zunächst war ich von der grossen Teil- Durch das Resultat dieser sowohl spannen- auch in Nottwil immer stärker spürbar. Der nahme überrascht – und dann begeis- den als auch herausfordernden Arbeit: die Markt ist trocken und der Aufwand für die tert. Alle Beteiligten hatten einen unglaub- Qualität unserer Dienstleistungen. Wenn die Rekrutierung wird immer grösser. lichen Drive und zeigten ihre Freude, bei Mitarbeitenden stolz auf das Geleistete sind, dieser Aktion mitzumachen. Dass es aber so tragen sie das auch nach aussen. Unsere Wie gehen Sie damit um? schnell ging und so breite Kreise gezogen Herausforderung besteht mehr darin, in der Wir versuchen stets, neue Wege zu gehen, hat, hätte ich nie gedacht. Solche Dynami- Breite des Angebots den Fokus nicht zu ver- und testen neue Berufsmodelle. In den letz- ken entstehen, weil sich die Mitarbeitenden lieren. Die Botschaft «Wir sind einzigartig, ten Jahren haben wir zum Beispiel in der mit ihrer Arbeit in der Schweizer Paraple- weil wir so vieles bieten» ist bei der Perso- Pflege das Modell der «Advanced Practice giker-Gruppe identifizieren. Sie sind stolz nalsuche nicht einfach zu vermitteln. Aber Nurse» eingeführt oder aus Physio- und darauf, Teil dieses einzigartigen Ganzen zu die SPG ist eben kein Nischenplayer; sie bie- Ergotherapie ein Team gemacht. Ein Trumpf sein, und setzen sich entsprechend ein. tet die ganze Palette aus einer Hand – und ist auch das besondere Umfeld unserer ist in vielen Bereichen vorne dabei. Rehabilitation: Eine Pflegefachkraft betreut Worin besteht dieses Ganze? ihre Patientinnen und Patienten über viele Zunächst in unserem Stiftungszweck: Men- Was bedeutet für Sie die Bewertung Monate und kann tiefere Beziehungen auf- schen mit Querschnittlähmung ein Leben «Beste Arbeitgeberin» 2021 in der bauen als in einem Akutspital. Sie muss diese lang zu begleiten. Um diese Vision umsetzen Gesundheitsbranche? Intensität aber auch wollen. Deshalb prüfen zu können, ist eine enge Zusammenarbeit Es ist eine sehr schöne Bestätigung für alle wir gut, wer zum «Spirit» passt. Viele Mit- der verschiedenen Berufe notwendig, die Anstrengungen, die wir für unsere Mitar- arbeitende erleben ihre Arbeit als sinnhaft. für die Betroffenen eine individuelle Betreu- beitenden unternehmen: Die Auszeichnung Und wenn ehemalige Patientinnen und ung erarbeiten. Dieser gemeinsame Arbeits- verdeutlicht, dass dies von aussen durchaus Patienten zur Jahresuntersuchung vorbei prozess prägt auch die Fachpersonen. wahrgenommen wird. Zusammen mit dem kommen, besuchen sie oft auch ihre Pflege- Qualitätslabel «Friendly Work Space», das fachpersonen auf den Stationen. Ich denke, In Nottwil sagt man «Magnetspital»: wir 2020 erneut erhielten, ist dies sozusa- das sagt viel über den besonderen Zusam- Die Klinik will Menschen anziehen. gen eine doppelte Bestätigung: Einerseits menhalt in Nottwil aus. Ein Magnet muss sich als Vorreiter immer haben uns Profis intensiv geprüft und mit wieder neu erfinden. Nicht nur das Schwei- besonders lobenden Worten ausgezeich- Auffallend sind die breiten Aus- zer Paraplegiker-Zentrum, sondern auch net, zum anderen stufen uns Mitarbeitende und Weiterbildungsmöglichkeiten. alle Tochterfirmen der Stiftung tragen dazu und die Öffentlichkeit als Top-Arbeitgeberin Setzen Sie bewusst auf eigenen bei. Sie integrieren neue Behandlungen ein. Was will man mehr? Nachwuchs? und Therapien, bewerten neue Technolo- Die Strategie der gut betreuten Ausbil- gien und passen Prozesse an. Dieser hohe Ein ambitioniertes Ziel der Klinik- dungsplätze verfolgen wir schon länger, die Anspruch für die Patientinnen und Patien- erweiterung war es, zusätzliche Fachkräfte sollen ja bei uns bleiben. Aber ten macht uns gleichzeitig zu einer Arbeit- Stationen aufzubauen. Haben Sie wir benötigen Nachwuchs auf allen Stufen. geberin, die offen für Neuerungen ist. Die das nötige Personal gefunden? So gibt es für jede Ebene Aus- und Weiter- 14 PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1
SCHWERPUNKT « Sind die Mitarbei tenden stolz auf das Geleistete, tragen sie es nach aussen.» Marcel Unterasinger, Leiter Human Ressources. bildungen sowie Talentförderprogramme. Dazu zählen auch Mentoren, Werkzeuge zur Standortbestimmung und eine Partner- schaft mit der Hochschule Luzern, in der unsere internen Programme anerkannte Abschlüsse bekommen. Wie sieht es im digitalen Bereich aus? Das Thema Arbeitswelt 4.0 ist in der Praxis stark präsent: Wo möglich und sinnvoll set- zen wir auf Digitalisierung. Die Hürden für Homeoffice wurden in Nottwil nicht erst seit Covid-19 gesenkt; dabei bieten wir Unterstützung in der Technik wie auch im Zwischenmenschlichen – was bedeuten neue Arbeitsmodelle für die Führung, die Zusammenarbeit, das Team? Was sagen Sie zum Vorschlag, den Fachkräftemangel in der Pflege über den Lohn anzugehen? Bei den Löhnen in den Pflegeberufen steht das SPZ in der Zentralschweiz gut da. Der Sportmöglichkeiten und attraktiven Zusatz- Stiftung bedeutet auch die Verpflichtung, Arbeitsmarkt funktioniert jedoch zuneh- angeboten. Das SPZ ist rasch erreichbar, sorgsam mit den anvertrauten Mitteln um- mend überregional, da nicht nur der Fach- aber wir müssen Menschen aus der ganzen zugehen. Das ist der Rahmen, in dem sich kräftemangel zunimmt, sondern auch die Schweiz begeistern, nach Nottwil zu kom- unsere Arbeit bewegt: Verantwortungsbe- Mobilität. Neu ziehen wir deshalb die ganze men. In der Gruppe bewältigen wir jedes wusstsein gepaart mit Freiheit. Schweiz als Vergleichsgrösse heran und Jahr rund fünfhundert Ein- und Austritte in (kste / febe) hoffen, noch einen kleinen Schritt machen achtzig verschiedenen Berufen. zu können. Bei dieser Diskussion wird oft übersehen, dass der Lohn wichtig ist und Wie beeinflusst die Organisations- korrekt sein muss, aber eine Lohnerhöhung form der Stiftung das Arbeiten? 2020 wurde die Schweizer als alleinige Massnahme kaum einen nach- Mitglieder und die Gönnerschaft ermög- Paraplegiker-Gruppe erneut haltigen Effekt hat. lichen uns, auf die Arbeit mit den Betrof- mit dem Qualitätslabel fenen zu fokussieren. Wir dürfen länger- «Friendly Work Space» aus- Haben es die Ballungszentren bei fristig denken und Behandlungen testen, gezeichnet. Die Gutachter lobten zudem der Rekrutierung einfacher? ohne dass der wirtschaftliche Druck stän- die fortschrittlichen Anstellungsbedin- Ja. Obwohl Nottwil viele Vorteile bietet: dig im Vordergrund steht. Das heisst, wir gungen und die vielen Zusatzleistungen neben der topmodernen Infrastruktur etwa haben mehr Sicherheit und damit die Frei- für Mitarbeitende. einen Arbeitsort mit Seeanstoss, guten heit, gewisse Sachen besser zu machen. Die PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1 15
SCHWERPUNKT Leistungsstark – im Rollstuhl Die Paraplegiker Fabian Kieliger und Maurice Amacher « Man kann sind in die Arbeitsprozesse in Nottwil genau gleich von mir gleich eingebunden wie Fussgängerinnen und Fussgänger. viel verlangen Dass sie im Rollstuhl sitzen, ist manchmal sogar ein Vorteil. wie von einem Fussgänger.» Fabian Kieliger, Seminar- und Eventmanager Fabian Kieliger ist in seinem Element. Mit zig-Prozent-Stelle und kann seine Arbeit einer Kundin, die für einen Firmenanlass auf fünf Tage pro Woche verteilen. Denn das Hotel Sempachersee auf dem Campus oft erweist sich ein volles Pensum für Quer- Nottwil ausgewählt hat, geht er einen Fra- schnittgelähmte als zu hoch. genkatalog durch: Welcher Konferenzraum Kieliger bekommt keine anderen Auf- wäre geeignet? Wie hoch ist das Budget? gaben zugeteilt als seine sechs Teamkolle- Ist Verpflegung gewünscht, vielleicht ein ginnen, die nicht im Rollstuhl sitzen. Der an vermeintliche Details, die aber unver- Abendessen? Flink zückt er ein Papier mit einzige Unterschied ist, dass er die Toilette zichtbar sind. Zum Beispiel Trinkhalme für Menüvorschlägen aus der Mappe. besucht, bevor er Kundinnen und Kunden Tetraplegiker. Anfragen bearbeiten, Beratungsge- das Haus zeigt: «Ich kann mich auf dem spräche führen, Räume reservieren – das Rundgang nicht einfach kurz verabschie- Maurice Amacher: «Total integriert» gehört zum Alltag des Seminar- und Event- den, das dauert etwas länger», erklärt der Sich in seine Kundinnen und Kunden ein- managers. Der 32-jährige Urner ist gelernter Seminar- und Eventmanager. Er betont fühlen zu können, ist auch für Maurice Koch und Bäcker-Konditor, aber er kann auch: «Was die Arbeit angeht, kann man Amacher wichtig. Der Dreissigjährige, der diese Berufe nicht mehr ausüben. Ein Velo von mir gleich viel verlangen wie von einem als Baby von einem Auto überfahren wurde unfall in Zermatt 2015 hat ihn zum Para- Fussgänger. Mir muss niemand aus Mitleid und seither inkomplett querschnittgelähmt plegiker gemacht, seither sitzt Kieliger im etwas schenken.» Und wenn er doch ein- ist, arbeitet bei der Orthotec als Berater Rollstuhl. Er realisierte rasch: Um auf dem mal Support benötige, sei die gegenseitige für Rehatechnik. «Wenn sich jemand nach Arbeitsmarkt eine Chance zu bekommen, Unterstützung «extrem gross». einem geeigneten Rollstuhl erkundigt, muss ich umdenken. Sehr dankbar ist der Paraplegiker bringe ich meine persönliche Erfahrung mit Die Gastronomie war jahrelang die auch dafür, dass seine Vorgesetzten Ver- ein», sagt er. «Es sind Empfehlungen von Welt des leidenschaftlichen Kochs, und sie ständnis zeigten, als er sich zu Beginn sei- jemandem, der die Probleme und Bedürf- sollte es bleiben. Ein Jahr nach dem Unfall ner Anstellung kurzfristig für eine Stunde nisse von Rollstuhlfahrern kennt.» startete er mit der Hotelfachschule, die er abmelden und nach Hause ins nahe Ober- Nach einer kaufmännischen Lehre war 2021 abschliessen will. Bereits absolvierte kirch fahren musste. Den Grund nennt er Amacher sieben Jahre Basketball-Profi in er einen Sprachaufenthalt im Wallis und ein ohne Scham: Inkontinenz. Heute hat er das Spanien, Italien und Deutschland. Im März Food & Beverage-Praktikum im Schweizer Thema im Griff. «Die Fehlzeiten holte ich 2020 entdeckte er die offene Stelle bei Paraplegiker-Zentrum (SPZ). natürlich nach», sagt Kieliger. «Diese Kulanz Orthotec und beendete seine Sportkarriere. ist für mich keine Selbstverständlichkeit. Der Berater bewältigt ein Vollzeitpensum Stellenprozente flexibel einteilen Sie ist aber eine Voraussetzung für die gute und ist körperlich so robust, dass er kaum Auf der Stellensuche spürte Kieliger oft Zusammenarbeit.» einmal fremde Hilfe benötigt, selbst wenn Skepsis: Wie leistungsfähig ist ein Mensch Wenn er im Hotel Sempachersee – eine er ein schweres Gefährt vorführen soll. «Ich im Rollstuhl? Die vielen Absagen frustrierten Tochtergesellschaft der Schweizer Paraple- bin total integriert», sagt er. «Das Klima bei ihn. Eine zufällige Begegnung mit Andreas giker-Stiftung – mit Menschen zu tun hat, uns ist grossartig. Die Orthotec kommt mir Korner, dem früheren Personalleiter des die ebenfalls im Rollstuhl sitzen, hat er einen wie eine grosse Familie vor.» Er würde wün- SPZ, änderte alles: So landete sein Dossier Vorteil: «Ich kann mich gut in diese Gäste schen, dass sich andere Firmen ein Beispiel bei Torsten Pinter, dem Direktor des Hotels hineinversetzen.» Er kennt ihre Bedürfnisse, nehmen: «Leider schreckt es viele Arbeitge- Sempachersee. Kieliger bekam eine Sech- weiss, welche Räume ideal sind, und denkt ber ab, wenn sich ein Mensch im Rollstuhl 16 PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1
SCHWERPUNKT « Die Orthotec ist wie eine grosse Familie.» Maurice Amacher, Berater Rehatechnik bewirbt. Das Vorurteil, dass dieser nicht gleich viel leisten kann, stört mich.» Tipps für Arbeitgeber Ebenso wie Fabian Kieliger ist Maurice Amacher bewusst, dass seine Anstellung in Reden ist Silber, Schweigen ist Gold – das steht ein gedeckter Parkplatz zur Verfü- Nottwil ein Glücksfall ist. Auch er ist Teil Sprichwort gilt nicht für Mitarbeitende, gung. Und eine barrierefreie Toilette ist eines Teams, das Wert auf Selbstständigkeit die auf einen Rollstuhl angewiesen sind. ein Muss. und Flexibilität legt. Zudem steht Nottwil für Für Stefan Staubli, Leiter Soziale und eine ideale, rollstuhlgängige Infrastruktur. Berufliche Integration im SPZ, steht die 4. Gegenstände und Arbeitsmittel Aber beide Rollstuhlfahrer wissen auch: Sie offene Kommunikation im Zentrum, um gut erreichbar platzieren müssen die gleichen Erwartungen erfüllen den individuellen Bedürfnissen und Fähig- Oft ist ein Werkzeug derart platziert, dass wie ihre Kolleginnen und Kollegen. Umso keiten querschnittgelähmter Mitarbeiten- nur Fussgänger es erreichen können. Es wichtiger ist es, dass sie ständig dazulernen. der gerecht zu werden. Staublis weitere gilt, Gegenstände und Arbeitsmittel so Maurice Amacher plant gerade eine ein- Tipps für Arbeitgeber: zu positionieren, dass auch Menschen im jährige, berufsbegleitende Fortbildung zum Rollstuhl Zugriff haben – und manchmal Rehatechniker. 1. Pensum anpassen reicht ein unkompliziertes «Kann ich dir Sich selbst nennt er scherzhaft einen Wie sehen die Möglichkeiten der Mitar- helfen?» der Kolleginnen und Kollegen. «Luxus-Paraplegiker». Seine inkomplette beitenden aus? Oft bedeutet ein Vollzeit- Querschnittlähmung erlaubt es ihm, aus pensum eine zu hohe Belastung und sollte 5. Liegemöglichkeiten bieten dem Rollstuhl aufzustehen und einige entsprechend angepasst werden. Idealerweise können sich die Mitarbeiten- Schritte zu gehen. Daher dauern Toiletten- den während einer Pause zur Entlastung besuche nicht lange und der Transfer ins 2. Ressourcenorientiert denken von Gesäss und Rücken in einem Raum Auto geht rasch. Auf seine Beratungstätig- Priorität haben die Kompetenzen der Mit- kurz hinlegen. keit oder die Arbeit am Schreibtisch hat die arbeitenden. Der Fokus soll auf die Stär- Behinderung keinen Einfluss. Respekt hat ken ausgelegt sein, nicht auf Schwächen. 6. Ein Coaching hilft Amacher dagegen vor der Frage, ob sein Zum Beispiel spielt bei vielen administrati- Während der Einarbeitungsphase hat sich Körper die Belastung auf Dauer aushält. ven Aufgaben Mobilität keine Rolle. die Begleitung durch eine Fachperson be- Zu viele Gedanken macht er sich darüber währt, und in vielen Fällen übernimmt die heute nicht. Weil es ihm gut geht. Und weil 3. Ressourcen schonen am Invalidenversicherung (IV) die Kosten. Die er sich über seine Tätigkeit bei der Orthotec Arbeitsplatz Abteilung ParaWork des SPZ bietet ein freut: «Ich habe einen Traumjob.» Der Arbeitsplatz muss ohne Hindernisse solches Coaching vor Ort in der ganzen (pmb / ph. schmidli) erreicht werden können. Idealerweise Schweiz an. (gasc) PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1 17
SCHWERPUNKT Gespräch auf Augenhöhe Eine kleine, aber wichtige Gruppe von Mitarbeitenden sind die Peer Counsellors. Joël Jung liegt im Bett, Arme und Beine reglos. Ein Autounfall hat den 22-Jähri- gen zum Tetraplegiker gemacht, seit drei Wochen befindet er sich zur Rehabilitation im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ). Als man ihm das Peer Counselling vorstellt und sagt, es komme jemand «mit gleichen Erfahrungen» vorbei, ist er skeptisch. Doch jetzt sitzt Christian Hänel vor ihm, und der Frischverletzte ist – baff. Am meisten über- Sind gute Kollegen geworden: rascht ihn, wie agil und fit sein Gesprächs- Peer Christian Hänel (l.) und Joël Jung. partner im Rollstuhl ist. «Ich habe auf einmal gesehen, wie viel man als Tetra noch machen kann», sagt Jung Lebensperspektiven zu finden. Daher wurde das Gespräch mit Menschen, die das Glei- im Rückblick auf diese erste Begegnung, seit 2005 das Peer Counselling von Therese che erlebt haben, einfacher als ein Termin «und wie locker er mit seiner Behinderung Kämpfer Schritt für Schritt zu einem festen bei Fachleuten. Die Peers arbeiten aber umgeht. Das gab mir Hoffnung, das wollte Bestandteil der Erstrehabilitation in Nottwil auch eng mit den einzelnen Fachrichtun- ich auch erreichen. So wurde Christian für aufgebaut. Ein zehnköpfiges Team betreut gen im SPZ zusammen. mich zum Ansporn für die Rehabilitation.» in einem kleinen Pensum Patientinnen, Pa- Neuneinhalb Monate verbringt Joël Jung tienten sowie Angehörige, wobei die Peers Eine Pionierleistung 2020 schliesslich in Nottwil. Im regelmäs- jeweils darauf achten, dass eine ähnliche Regelmässige Beratungsgespräche sind nur sigen Gespräch mit seinem Peer-Berater Lähmungssituation besteht. ein Teil ihrer Aufgabe. Die Peer Counsellors erhält er einen Rucksack voller Tipps und «Wir zeigen, dass man auch im Roll- unterstützen zudem Pflichtkurse der Patien- Tricks für das Leben ausserhalb der Kli- stuhl ein schönes Leben haben kann», sagt tinnen und Patienten («Para Know-how») nik: «Nur schon zu sehen wie Christian ein Christian Hänel. «Nicht die Einschränkun- und führen Lernanlässe durch – wie die Fläschchen Mineralwasser öffnet, hat mir gen stehen im Fokus, sondern wie man «Learning by Doing»-Exkursionen in ausge- imponiert. Oder wie er die Socken anzieht damit umgeht – gerade an Orten, wo Roll- wählten Alltagssituationen, die «Rolli Talks» oder das Handgelenk zum Anheben der stuhlfahrer vor grossen Herausforderungen und Schulungen in Kleingruppen. Beine nutzt, da konnte ich viel abschauen.» stehen. Ich demonstriere: So funktionierts.» Diesen März hat ein zweiter Senioren- Heute lebt Joël Jung in einer Wohngemein- Seit zehn Jahren vermittelt Hänel seine Peer angefangen. Das SPZ bereitet sich schaft mit anderen jungen Querschnittge- Erfahrungen zu allen Fragen rund um das damit auf den zunehmenden Anteil von lähmten und steht vor dem Wiedereinstieg Leben als Tetraplegiker. Der Austausch mit älteren Menschen in der Klinik vor. «Unsere ins Berufsleben. Menschen in der Erstrehabilitation ist span- Peer-Arbeit ist eine Pionierleistung», sagt nend: «Jeder muss seine eigene Technik Danielle Pfammatter, die den Bereich Peer- Lösungsorientierte Beratung finden, denn jede Querschnittlähmung ist Support und Angehörigenarbeit leitet. «Es Wenn die vertraute Welt verschwindet, anders.» Die praktische und lösungsorien- wäre toll, wenn das Team noch erweitert hilft der Erfahrungsaustausch mit anderen tierte Beratung umfasst auch Scham- und werden könnte, um weitere Ideen zu ver- Betroffenen, Ängste abzubauen und neue Tabuthemen. Gerade bei heiklen Fragen ist wirklichen.» (kste / we) 18 PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1
SCHWERPUNKT Wir suchen dich Welche Bedürfnisse haben Pflegefachpersonen? Wie leben sie? Was ist ihnen wichtig? Mit der Beantwortung solcher Fragen will das Schweizer Paraplegiker-Zentrum neue Fachkräfte gewinnen. Isa Sebastian Heidi Tim Daniela Wiedereinsteigerin Spezialdisziplinen langjährige Auszubildender erfahrene Pflege Mitarbeiterin Mitarbeiterin «Ich kam lange nicht in «Wir müssen es schaffen, «Ich stieg im Nachtdienst «Am SPZ wird man als «Alles ist weniger ano- den Beruf zurück, weil die Dienstpläne mit wieder ein und konnte Lernender sehr gut nym, man kennt sich. Für sich die unregelmässigen Familie und Freizeit zu so im Beruf bleiben. Mir betreut. Nach der Lehre Teilzeitangestellte wären Arbeitszeiten nicht mit vereinbaren. Toll am SPZ gefällt, neben der Familie würde ich gerne auch unterschiedliche Arbeits- den Familienaufgaben finde ich die Weiterbil- zu arbeiten und das SPZ noch in anderen Kliniken zeitmodelle attraktiv.» vereinbaren liessen. Auf dungen und die Kinder- ist attraktiv für Mütter.» Erfahrungen sammeln, «Nach zwanzig Jahren der SPZ-Website fand betreuung.» «Ich wünsche mir Lösun- ich kann mir aber gut bleibt die Arbeit abwechs- ich das Porträt einer Mit- «Das höchste Gut, das gen für ältere Pflege- vorstellen, dann wieder lungsreich. Ich habe arbeiterin, die nach wir geben können, fachpersonen, da die nach Nottwil zurück- engen Kontakt zu ande- zwanzig Jahren wieder ist das in uns gesetzte körperliche Arbeit sie zukommen.» ren Abteilungen und eingestiegen ist. Das hat Vertrauen nicht zu ent- stärker belastet.» die Infrastruktur macht mich motiviert.» täuschen.» es angenehm.» Pflegefachkräfte sind ein knappes Gut. In der Pflegefachkräfte. Dazu wurden fünf typische ? Schweiz werden zu wenige ausgebildet und viele «Personas» identifiziert und ihre Bedürfnisse, Ziele steigen bereits nach fünf bis zehn Jahren wie- und Erwartungen abgefragt. der aus dem Beruf aus – weil Faktoren wie der Jede Persona steht für eine Zielgruppe, da- Lohn nicht befriedigen oder Bedingungen wie runter Lernende, Wiedereinsteigende oder Inten- der Schichtdienst nicht mit der Lebensführung sivpflege-Fachpersonen. Wie leben diese Men- vereinbar sind. Demgegenüber steht der demo- schen? Was ist ihnen wichtig? Was brauchen sie? grafische Wandel: Zunehmend ältere Menschen Statt Mutmassungen darüber anzustellen, was benötigen immer mehr Pflegedienstleistungen. am Arbeitsplatz alles verbessert werden könnte, Interessiert an einer Die Lücke zur Nachfrage nimmt seit Längerem wurden die Inputs von echten Mitarbeitenden Stelle in Nottwil? zu, die Corona-Pandemie hat diesen Sachverhalt berücksichtigt, die den jeweiligen Personas ent- Besuchen Sie unser noch einmal verdeutlicht. sprechen. Sie zeigen die wichtigsten SPZ-Funkti- Jobportal: Auch das Schweizer Paraplegiker-Zentrum onen und Profile und was für potenzielle Mitar- (SPZ) spürt den Fachkräftemangel und setzt sich beitende ausschlaggebend ist, um nach Nottwil mit mehreren Projekten dafür ein, ein attraktiver zu kommen. Daraus entstehen nun interne und Arbeitgeber zu sein – für die bestehenden Mitar- externe Massnahmen, um zukünftige Mitarbeiten- paraplegie.ch/ beitenden und jene, die man gewinnen will. Eines de für eine Stelle am SPZ zu begeistern. karriere davon involviert gezielt die besonders gesuchten (hbr/rel) PARAPLEGIE | M Ä R Z 2 0 2 1 19
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