STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung - Was Stadtnatur für Gesundheit und Wohlbefnden leistet 3. und 4. Mai 2022, Berlin - BFN

 
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STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung - Was Stadtnatur für Gesundheit und Wohlbefnden leistet 3. und 4. Mai 2022, Berlin - BFN
Dokumentation der Fachtagung

STADTNATUR
WIRKT!

                      Was Stadtnatur für Gesundheit
                      und Wohlbefnden leistet

                      3. und 4. Mai 2022, Berlin

                               Dokumentation der Fachtagung STADTNATUR WIRKT!   1
STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung - Was Stadtnatur für Gesundheit und Wohlbefnden leistet 3. und 4. Mai 2022, Berlin - BFN
Inhaltsverzeichnis

    Die Tagung
    im Überblick

                          Tag 1

                                 S. 4    Grußwort. Staatssekretät Stefan Tidow

                                 S. 6    Intro

                                 S. 8    Keynote: StadtGesundheit durch Stadtnatur. Prof. Dr. Claudia Hornberg

                                 S. 9    Keynote: Artenreiche Natur für gutes Leben in der Stadt. Prof. Dr. Aletta Bonn

                               S. 10     Resonanz: Reaktionen auf die Keynote

                               S. 11     Podiumsdiskussion: Vom Stadtgrün zur Stadtnatur? Chancen und
                                         Herausforderungen von mehr naturnahem Grün in der Stadt

                               S. 14     Kurzpräsentationen: So wirkt mehr Stadtnatur!
                                         Pionier-Projekte im Bundesprogramm Biologische Vielfalt (Intro)

                               S. 15     Urbane Waldgärten. Dr. Jennifer Schulz, Universität Potsdam

                               S. 16     Tausende Gärten – Tausende Arten. Bettina de la Chevallerie, DGG v. 1822

                               S. 17     VielFalterGarten – Bildung und Kommunikation für Tagfalter in Leipzig. Birte Peters, iDiv/UFZ

                               S. 18     Naturstadt – Kommunen schaffen Vielfalt. Robert Spreter, KommBio e.V.

                               S. 19     Urbane Insektenbiotope. Stefanie Propp, Die Summer e.V.

                               S. 20     Bildervortrag: Bäume auf die Dächer, Wälder in die Stadt. Conrad Amber

                               S. 21     Exkursionen

2   STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung
STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung - Was Stadtnatur für Gesundheit und Wohlbefnden leistet 3. und 4. Mai 2022, Berlin - BFN
Tag 2

   S. 22   Impuls: „Nach draußen! Warum wir nach Corona mehr Stadtnatur brauchen“

   S. 23   Themen-Workshops (Intro, halbseitig)

   S. 23   Themen-Workshop „Naturerfahrungsräume & Umweltbildung“

   S. 26   Themen-Workshop „Projekte & Planungen“

   S. 32   Themen-Workshop „Integration & Inklusion“

   S. 35   Themen-Workshop „Bewegung & Teilhabe“

   S. 38   Fazit & Ausblick

   S. 40   Impressum & Bildnachweise

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STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung - Was Stadtnatur für Gesundheit und Wohlbefnden leistet 3. und 4. Mai 2022, Berlin - BFN
Einleitende Worte

    Grußwort
    Stefan Tidow
    Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV)

                                                                            Und wo wird all das sichtbarer als hier in Marzahn-Hellersdorf, in
                                                                            den Gärten der Welt, in ihrer Vielschichtigkeit. Ihr Tagungsort ist
                                                                            gut gewählt. Ein Ort, der im Zuge der IGA neu qualifziert worden
                                                                            ist, in dem gerade im benachbarten Kienberg ein neuer attraktiver
                                                                            Freiraum geschaffen worden ist.

                                                                            Hier die attraktiven Gärten, die die kulturelle Vielschichtigkeit des
                                                                            Grüns verknüpfen mit der Weitläufgkeit einer Parklandschaft, dort
                                                                            ein ehemaliger Trümmerberg, der auch unter naturschutzfach-
                                                                            lichen Gesichtspunkten ein kleines Juwel ist. Beides wichtige
                                                                            Orte der Erholung und Kontemplation, die auch sozial umso
                                                                            wichtiger sind, wenn kein privates Grün als Rückzugsort zur
                                                             Stefan Tidow   Verfügung steht. Mit einem Naturerfahrungsraum hier auf dem
                                                                            Kienberg – auch er ist ein illustratives Beispiel für die Bedeutung
    Sehr geehrte Damen und Herren,                                          der Stadtnatur. Gerade für junge Menschen ist es wichtig, in ihrem
    sehr geehrte Frau Vorsitzende des                                       direkten Umfeld Natur zu erleben, auch um ganz früh ein besseres
    Sachverständigenrats für Umweltfragen,                                  Verständnis für Natur- und Umweltzusammenhänge zu erhalten.
    sehr geehrte Präsidentin der Bundesarchitektenkammer,
                                                                            Hier war während der IGA übrigens der sogenannte Weltacker, der
    ich freue mich, heute dieses Grußwort an Sie richten zu dürfen.         in sehr eindrücklicher Weise die Bedeutung der Natur für mensch-
    Die Bundesumweltministerin, Frau Steff Lemke, lässt Ihnen eben-         liches (Über)leben und die Welternährung in den Fokus gerückt
    falls herzliche Grüße ausrichten.                                       hat, ein Thema von beklemmender Aktualität.

    Die Stadtnatur liegt dem Bundesumweltministerium am Herzen.             Stadtnatur ist unverzichtbar für den Erhalt der biologischen
    Aber auch mir persönlich. Und ich gestehe, dass es auch die             Vielfalt. Städte sind im Vergleich zur umgebenden Landschaft
    Verbundenheit mit dem Thema und der Ort hier in den Gärten der          oft artenreicher, da sich auf kleinstem Raum eine Vielzahl an
    Welt war, das dazu beitrug, diesen Termin unbedingt freizuhalten.       Standortbedingungen wiederfndet. Daher ist es so wichtig, in den
                                                                            Städten wieder mehr naturnahe Grün- und Freifächen zu erhalten
    Die Bedeutung von Natur, auch im besiedelten Bereich, wurde uns         und zu schaffen, die eine hohe Vielfalt an Arten und Strukturen
    zuletzt mit der Pandemie, aber auch den großen Hitzeperioden der        bieten und zum Beispiel für Insekten Lebensraum und Nahrungs-
    letzten Jahre, besonders vor Augen geführt. Als grüne Infrastruktur     grundlage bieten.
    erbringt sie wichtige Ökosystemleistungen und schafft im direkten
    Wohnumfeld Lebensräume für Tiere und Pfanzen.                           Mit dem Masterplan Stadtnatur hat das Thema Natur in der Stadt
                                                                            in der letzten Legislaturperiode Rückenwind erhalten und es
    Für die Menschen ist Stadtnatur von hohem Wert und bietet               konnten erste wichtige Maßnahmen umgesetzt und angestoßen
    gleichzeitig vielfältige Nutzungsmöglichkeiten. Sie bietet Raum für     werden. Aber auch in dieser Legislaturperiode hat das Thema für
    Erholung, Bewegung und Freizeitgestaltung, sie schafft Orte der         das BMUV weiterhin eine große Bedeutung.
    Begegnung, für Integration und Teilhabe.
                                                                            Wir sehen uns hier einig mit den Zielen und Diskussionen auf
    Gerade im urbanen Raum bildet sie im wahrsten Sinne des Wortes          EU- und globaler Ebene. Die EU-Biodiversitätsstrategie für 2030
    Freiräume, in denen die Gesellschaft in ihrer Vielschichtigkeit und     spricht die Arten- und Biotopvielfalt in städtischen und stadtnahen
    Differenz zusammenkommt und auch ihr Zusammenleben immer                Gebieten ausdrücklich an und betont deren Bedeutung für das
    wieder neu aushandeln muss – im Kampf um immer knapper wer-             physische und psychische Wohlbefnden. Die geplante Wieder-
    denden Raum, aber auch in der Nutzung dieser grünen Oasen –             herstellungsverordnung der EU wird diesen Aspekt mit Sicherheit
    gerade, weil konkurrierende Nutzungsansprüche auf Ihnen liegen.         ebenfalls aufgreifen. Und die Verhandlungen des Globalen Biodi-
                                                                            versitätsrahmens im Rahmen der Konvention über die biologische
    Sie sind elementare Lernort für die soziale, kognitive und motori-      Vielfalt umfassen auch Städte.
    sche Entwicklung.

4   STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung
STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung - Was Stadtnatur für Gesundheit und Wohlbefnden leistet 3. und 4. Mai 2022, Berlin - BFN
Meine Damen und Herren,

wir legen Wert darauf, die Themen und Handlungsbedarfe                Wir wollen das unterstützen. Daher ist es selbstverständlich,
integriert anzugehen. Wir wollen multifunktionale Ansätze für         dass beispielsweise in den kürzlich von Ministerin Steff Lemke
Klimaschutz, Klimaanpassung und Biodiversität verstetigen und         vorgestellten Eckpunkten zum Aktionsprogramm Natürlicher Kli-
intensivieren – zuallererst bei unseren Aktivitäten und in unseren    maschutz die Siedlungs- und Verkehrsfächen eine wichtige Rolle
Programmen und Konzepten, aber auch denen anderer Ressorts.           spielen.
Die drängenden Herausforderungen wie die Anpassung an den
Klimawandel unserer Städte, aber auch den verbreiteten Wohn-          Wir wollen und werden die Kommunen unter anderem bei der
raummangel müssen und wollen wir diesbezüglich gemeinsam              Umstellung auf ein naturnahes Grünfächenmanagement unter-
angehen.                                                              stützen und dieses durch entsprechende Rahmenbedingungen
                                                                      zusätzlich stärken. Dazu gehört auch die Förderung der Pfanzung
Denn gerade in stark verdichteten Siedlungsräumen kommt es            von zusätzlichen Stadtbäumen und die Neubegrünung urbaner
darauf an, auf eine multifunktionale Nutzung der Freiräume zu         Wälder zur Klimaanpassung und Förderung der Biodiversität im
setzen und auf – wie es so schön heißt – multicodierte Flächen.       innerstädtischen Bereich.
Bei der Entwicklung unserer Städte sollten wir dringend eine dop-
pelte Innenentwicklung verfolgen und demnach bei der baulichen        In diesem Jahr wird zu diesem Aktionsprogramm ein umfassender
Entwicklung immer auch eine qualitativ hochwertige Grün- und          Beteiligungsprozess stattfnden, zu dem ich Sie nur ermuntern
Freiraumentwicklung mitdenken. Wenn die Stadt wächst, muss            kann, sich intensiv einzubringen.
auch das Grün mitwachsen.
                                                                      Wir haben in den Haushaltsverhandlungen einen schönen Erfolg
Über eine stärkere Nutzung naturbasierter Lösungen müssen wir         erzielt – vier Milliarden Euro für den natürlichen Klimaschutz: Für
gezielt urbane grüne Infrastruktur schaffen. So kommen wir zu         die Renaturierung von Morgen, den Erhalt von Auenlandschaften,
Win-win-Lösungen, die einen wichtigen Beitrag zur Steigerung der      die Qualifzierung von Flächen. Und das Stadtgrün soll von diesem
Lebensqualität, zur Steigerung der Biodiversität und gleichzeitig     Geld natürlich ebenfalls proftieren.
zum natürlichen Klimaschutz in unseren Städten leisten. Und auch
zur Klimaanpassung.                                                   Der Fluch der guten Tat: Unter Hochdruck sind wir gegenwärtig
                                                                      dabei, entsprechende Förderprogramme zu konzeptionieren und
Ich bin sehr froh, dass hier in den vergangenen Jahren einiges        administrative Strukturen für diese große Herausforderung zu
passiert ist, die Bedeutung der Stadtnatur immer stärker ins          ertüchtigen.
öffentliche Bewusstsein rückt – auch in das Denken anderer
Ressorts. Auch wenn wir alle die Erfahrung gemacht haben, dass        Und auch in der Umweltministerkonferenz erleben wir gerade in
angesichts des enormen Drucks auf den Flächen dann, wenn es           diesen Tagen einen intensiven Diskussionsprozess über Klimaan-
konkret wird, Erhalt und Schaffung von Freiräumen alles andere        passung und Naturschutz in den Ländern. Und auch hier haben
als ein Selbstläufer ist. Oft genug schieben sich andere Rationali-   wir die Debatte, dass gerade die Städte stärker als bisher adres-
täten in den Vordergrund.                                             siert werden müssen. Sie sehen, es ist viel in Bewegung.
                                                                      Heute und morgen erwarten Sie zwei anregende und interessante
Umso wichtiger werden Lösungen der Multicodierung und Lö-             Tage. Ich wünsche Ihnen allen einen produktiven Austausch mit
sungen, die gezielt eine graue Infrastruktur um grüne Infrastruktur   vielen neuen Ansätzen und Ideen, die die Stadtnatur voranbringen
erweitern. Aber auch der Rückbau und die Entsiegelung an den          und damit unsere Städte funktionsfähig und lebenswert erhalten
Orten, wo die stein- oder betongewordene Vergangenheit nun-           und machen.
mehr ohne echte Funktion im wahrsten Sinne des Wortes in der
Landschaft liegt.

Ausdruck dieses neuen Blicks ist nicht nur das Grünbuch des
Bundesumweltministeriums. Es ist vor allem sehr erfreulich, dass
in den Metropolen in den vergangenen Jahren viel passiert ist
und sich auch unter dem Druck des Wohnungsbaus die Städte
                                                                                                             Stefan Tidow
aufgemacht haben, die Grünentwicklung aktiv und strategisch an-
zugehen. Wir sehen es in Hamburg. Aber natürlich auch in Berlin
mit der „Charta Stadtgrün“.

                                                                                 Dokumentation der Fachtagung STADTNATUR WIRKT!             5
STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung - Was Stadtnatur für Gesundheit und Wohlbefnden leistet 3. und 4. Mai 2022, Berlin - BFN
Intro

    Diskurs für erlebbare,
    vielfältige, resiliente
    Stadtnatur
    Stadtnatur wirkt – besonders in der Corona-Pandemie wird das vielen von uns immer
    bewusster. Warum ist Naturerleben in der Stadt gut für unsere Gesundheit? Wie können
    wir Städte gestalten, um die biologische Vielfalt sowie Gesundheit und Lebensqualität zu
    stärken? Welche Rolle spielt dabei eine besonders artenreiche Pfanzen- und Tierwelt?
    Diese Fragen standen bei der Fachtagung „Stadtnatur wirkt! Was Stadtnatur für Gesund-
    heit und Lebensqualität leistet“ am 3. und 4. Mai 2022 zur Diskussion.

    Dass vielfältige, artenreiche Stadtnatur       Tagung auf dem interaktiven Austausch:
    unsere Städte zukunftsfähig und lebens-        Bei Exkursionen durch die Gärten der Welt,
    wert macht, ist längst kein Geheimnis          in den benachbarten Naturerfahrungsraum
    mehr. Welche positiven Auswirkungen            „Wilde Welt am Kienberg“ oder durch den
    Stadtnatur konkret auf die Gesundheit          Stadtteil Marzahn gingen die Teilnehmen-
    der Menschen in den Städten hat, was           den in direkten Kontakt und Austausch mit
    sie für die Lebensqualität leistet – und wie   der Stadtnatur.
    Stadtnatur dafür gestärkt werden kann,
    erörterten Expertinnen und Experten bei        Am zweiten Tagungstag diskutierten die
    der Fachtagung „Stadtnatur wirkt!“ Anfang      Teilnehmenden in vier Workshops über
    Mai 2022 in Berlin.                            unterschiedlichste Wirkungsbereiche von
                                                   Stadtnatur – und über Ansätze und Wege,
    Rund 80 Vertreter*innen aus kommunaler,        Stadtnatur nachhaltig zu entwickeln und
    Landes- und Bundes-Verwaltung, Wis-            möglichst allen Menschen gleichermaßen
    senschaft und Forschung, Vereinen und          zugänglich zu machen. Die Zusammen-
    Initiativen, Wohnungswirtschaft, Politik       fassungen der Inputs und die Ergebnisse
    und Projekten waren der Einladung des          der Dialogformate fnden Sie in dieser
    Bundesamtes für Naturschutz (BfN) in das       Broschüre.
    Tagungszentrum der Gärten der Welt in
    Berlin-Marzahn gefolgt. Neben inspirieren-
    den fachlichen Inputs lag der Fokus der

6   STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung
STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung - Was Stadtnatur für Gesundheit und Wohlbefnden leistet 3. und 4. Mai 2022, Berlin - BFN
Die Moderatorinnen Prof. Antje Stokman und Dr. Tanja Busse

Dokumentation der Fachtagung STADTNATUR WIRKT!                     7
STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung - Was Stadtnatur für Gesundheit und Wohlbefnden leistet 3. und 4. Mai 2022, Berlin - BFN
Keynote 1

    StadtGesundheit
    durch Stadtnatur
    Prof. Dr. med. Claudia Hornberg
    Dekanin Medizinische Fakultät, Universität Bielefeld; Sachverständigenrat für Umweltfragen

                                                        sind mitunter auch auf Lärm, Hitze oder       nicht-intendierte Effekte mit Blick auf den
                                                        Luftschadstoffe als typische urbane           Pollenfug oder die Bildung bodennahen
                                                        Gesundheitsrisiken zurückzuführen oder        Ozons zu beachten. Auch sollten poten-
                                                        werden durch diese Umweltfaktoren (mit)       zielle soziale Verdrängungseffekte durch
                                                        beeinfusst. StadtGesundheit bezeichnet        Grünraumaufwertung mitgedacht und
                                                        die Anwendung von Public Health-Theorie       durch sozialpolitische Maßnahmen fanki-
                                                        und -Praxis für die Gesundheit städtischer    ert werden. Ein solcher ganzheitlicher Blick
                                                        Bevölkerungen. Stadtnatur – also die          auf StadtGesundheit und Stadtnatur ist ein
                                                        Gesamtheit der in urbanen Gebieten            zentraler Schritt hin zu einer nachhaltigen
                                                        vorkommenden Naturelemente – ist ein          Entwicklung. Die urbane Mobilitäts-,
                                                        wichtiger Hebel, um Gesundheitsrisiken zu     Wärme- und Energiewende sind zentrale
                                                        reduzieren und Gesundheitsressourcen zu       Transformationsfelder der nachhaltigen
                                                        stärken: Denn innerstädtische Grün- und       Stadt und können eine kluge Allianz mit
                                                        Blauräume regulieren das Stadtklima, reini-   der StadtGesundheit bilden.
                      Prof. Dr. med. Claudia Hornberg   gen die Luft, den Boden und das Wasser;
                                                        sie sind aber auch Orte der Begegnung,
    Neunzig Prozent der Krankheitslast in               der Freizeitgestaltung oder der Erholung.
    Deutschland betreffen bösartige Tumor-
    erkrankungen, Herz-Kreislauferkran-                 Die positiven Gesundheitswirkungen der
    kungen, Atemwegserkrankungen oder                   Stadtnatur wurden bereits in einer Reihe
    andere nicht-übertragbare Krankheiten.              von Meta-Analysen beobachtet. Bei der
    Diese oftmals chronischen Krankheiten               Grünraumplanung sind jedoch auch

8   STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung
STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung - Was Stadtnatur für Gesundheit und Wohlbefnden leistet 3. und 4. Mai 2022, Berlin - BFN
Keynote 2

Artenreiche Natur für
gutes Leben in der Stadt
Prof. Dr. Aletta Bonn
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Friedrich-Schiller-Universität Jena
Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig

Die Biodiversitätskrise ist zusammen mit      Das Konzept der Ökosystemleistungen als         Deshalb muss die biologische Vielfalt als
der Klima- und der Gesundheitskrise           Beitrag der Natur für den Menschen er-          wesentlicher Bestandteil für öffentliche
eine Tripelkrise, für die nur gemeinsam       läutert, wie die biologische Vielfalt eng mit   Stadt- und Gesundheitsplanung mitein-
Lösungswege gefunden werden können.           physischer und psychischer Gesundheit           bezogen werden, so dass naturbasierte
Dabei bildet die biologische Vielfalt die     sowie Wohlbefnden verbunden ist. Hier           Lösungen in Städten sowohl Zielen der öf-
Grundlage für die Gesundheit und das          konnte gezeigt werden, dass vogelarten-         fentlichen Gesundheit als auch des Natur-
Wohlergehen des Menschen.                     reiche Gebiete eng mit einer höheren Le-        schutzes dienen können. Hierzu benötigen
                                              benszufriedenheit zusammenhängen und            wir eine gute Zusammenarbeit von Politik,
Städte können einerseits interessante,        dass Straßenbäume direkt vor der Haustür        Stadtplanung und Management, damit Na-
artenreiche Biotope bieten, während die       das Risiko mindern, an Depressionen zu          turschutz als proaktive Gesundheitsmaß-
zunehmende Urbanisierung andererseits         erkranken. Auch artenreicher Vogelgesang        nahme verstanden und gefördert wird.
Biodiversitätsverlust und Gesundheits-        erhöht die empfundene Erholung, wie in ei-
risiken, vor allem für nicht-übertragbare     ner Laborstudie mit Aufnahmen aus Parks
Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankun-     gezeigt werden konnte – wobei jedoch
gen oder psychische Erkrankungen, wie         Verkehrslärm die Erholungsempfndung
Depression, begünstigt. Die Corona-Pan-       abschwächt.
demie und der immer stärkere Zustrom
in urbane Parks haben gezeigt, dass die       Die alltägliche Naturerfahrung in urbanen
erreichbaren städtischen Grünfächen           Räumen ist also wichtig und Natur sollte
einen wichtigen Beitrag für die öffentliche   auf den täglichen Wegen zur Arbeit, zur
Gesundheit leisten.                           Schule oder zum Einkaufen erlebbar sein.

                                                                                                                        Prof. Dr. Aletta Bonn

                                                                                  Dokumentation der Fachtagung STADTNATUR WIRKT!                9
STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung - Was Stadtnatur für Gesundheit und Wohlbefnden leistet 3. und 4. Mai 2022, Berlin - BFN
Resonanz

     Reaktionen auf
     die Keynotes
     Im Anschluss an die beiden Keynotes wird aus dem Plenum                  Weiterhin wird diskutiert, wie man Kindern heutzutage am besten
     gefragt, ob die Biodiversität auf dem Land oder in der Stadt höher       die Bedeutung von Natur Biodiversität näherbringen könne: Ein
     sei. Prof. Dr. Bonn antwortet, viele Städte seien aufgrund der Viel-     Teilnehmer plädierte für Kita- und Schulgelände, auf denen die
     falt an Lebensräumen auf engem Raum sehr artenreich. Allerdings          Kinder in Kontakt mit wilder Natur kommen können – „gegen
     sei die Biomasse insgesamt geringer als im ländlichen Bereich.           Banalität und Einseitigkeit“. Prof. Dr. Hornberg schlägt vor, schon
     Prof. Dr. Hornberg ergänzt, dass bei landwirtschaftlich genutzten        Kindern ab drei Jahren den Zugang zu Naturerfahrungsräumen
     Flächen die Art der Bewirtschaftung die Artenvielfalt sehr stark         zu ermöglichen. Kinder sollten bereits an der Planung der Natur-
     beeinfusse – das Stichwort Agrarwende müsse an anderer Stelle            erfahrungsräume teilhaben, da Naturkontakte unter anderem die
     dringend auf den Plan.                                                   Entwicklung der kindlichen Motorik und das Verständnis für Natur
                                                                              förderten. Zudem seien Naturkontakte für die physische und psy-
     In einer von Prof. Dr. Bonn vorgestellten Studie sei die Artenvielfalt   chische Gesundheit sowie Erfahrung der Selbstwirksamkeit bei
     von Wäldern weniger entscheidend für den positiven Erholungs-            Kindern bedeutend.
     effekt erschienen. Inwieweit die empfundene Artenvielfalt
     bestimmter Landschaften – also die Wahrnehmung unterschied-
     licher Pfanzenstrukturen, Wuchshöhen etc. – deren Wert für das
     Naturerlebnis beeinfusse, werde erst seit Kurzem eingehender
     erforscht, so Prof. Dr. Bonn. Ein Teilnehmer fügt hinzu, Biodiversi-
     tät sei nicht allein entscheidend, da auch artenarme Lebensräume
     wie Hochmoore ökologisch hochwertvoll sein könnten.

     Eine Teilnehmerin möchte wissen, inwieweit Gesundheitsdaten
     von Krankenkassen aus städtischer Umgebung hinzugezogen
     worden seien, um den Zusammenhang von Gesundheit und Biodi-
     versität zu ermitteln. Prof. Dr. Hornberg erläutert, es gebe codierte
     Daten der Krankenkassen, die aus verschiedenen Gründen – zum
     Beispiel bei Begleitdiagnosen – nur sehr eingeschränkt verwend-
     bar seien. Aus ihrer Sicht sei ein neues Monitoring von Gesund-
     heitsdaten erforderlich. Das Augenmerk müsse darauf gerichtet
     werden, wie die Daten in Planungs- und Entscheidungsprozesse
     einfießen können.

10    STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung
Podiumsdiskussion

Vom Stadtgrün zur
Stadtnatur? Chancen
und Herausforderungen
von mehr naturnahem
Grün in der Stadt
Auf dem Podium schildern Vertreter*innen des Bundesamtes für Naturschutz, des Bundesum-
weltministeriums, aus Wissenschaft, Naturschutz, Berufsverbänden, kommunaler Verwaltung
und Politik ihre Perspektive auf Stadtnatur und diskutieren darüber mit dem Publikum.

                                             Dr. Alfred Herberg, Fachbereichsleiter         breiten Nachahmung schaffen. Mit vier
                                             Entwicklung und nachhaltige Nutzung von        Milliarden Euro sei das Aktionsprogramm
                                             Natur und Landschaft beim Bundesamt            Natürlicher Klimaschutz das größte für
                                             für Naturschutz (BfN), benennt biologische     Natur- und Klimaschutz je fnanzierte
                                             Vielfalt als zentrales Thema für Städte.       Förderprogramm, aus dem Projekte im
                                             Stadtnatur sei ein wichtiger Teil der grünen   Bereich Stadtnatur und natürlicher Klima-
                                             Infrastruktur, die für Gesundheit und          schutz fnanziert würden. Dr. Herberg
                                             Wohlbefnden unverzichtbar sei – auch aus       ruft die Kommunen dazu auf, vermehrt
                                             seiner persönlichen Erfahrung heraus.          Beispielprojekte anzustoßen und dafür die
                                                                                            gebotenen Fördermöglichkeiten auszu-
                                             Die aktuellen Förderprogramme des BfN          schöpfen. Auch das Programm chance.na-
                                             sowie des BMUV sollten Initialprojekte in      tur fördere solche Projekte, etwa „Natürlich
                                             die Umsetzung bringen und so Muster zur        Hamburg!“.

                        Dr. Alfred Herberg

                                                                                                                        Podiumsdiskussion

                                                                               Dokumentation der Fachtagung STADTNATUR WIRKT!               11
Podiumsdiskussion

                                                    Auch in Berlin geht die Entwicklung hin         2018 sei in allen Berliner Stadtbezirken
                                                    zu natürlicheren Parks und Grünanlagen.         je ein Pilotprojekt gestartet, in dem die
                                                    Karola Lakenberg von der Abteilung              Grünpfege auf biologische Vielfalt und
                                                    Naturschutz und Stadtgrün der Berliner          Erholungsaspekte ausgerichtet wurde. Die
                                                    Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität,         Ergebnisse würden in einem Monitoring
                                                    Verbraucher- und Klimaschutz berichtet          ausgewertet.
                                                    von einer Studie mit der Hochschule für
                                                    nachhaltige Entwicklung Eberswalde,
                                                    die den Wunsch der Bevölkerung nach
                                                    naturnäheren Parks und mehr Teilhabe
                                                    an der Grüngestaltung widerspiegele.
                                                    Berlin sei in Sachen Umweltbildung auf
                                                    dem richtigen Weg: Gefördert durch das
                                                    BfN seien drei Naturerfahrungsräume
                                                    entstanden. Weitere sollen folgen, was
                                                    aufgrund starker Flächenkonkurrenzen in
                                                    der Stadt großes Engagement erfordere.
                                                    Frau Lakenberg fordert eine rechtliche Ver-
                                   Karin Gaedicke   ankerung von Naturerfahrungsräumen, um
                                                    Kindern das Erlebnis vielfältiger Natur zu
     Von dem ersten Naturschutzgroßprojekt in       garantieren. Allgemein müsse viel stärker
     einer Großstadt berichtet Karin Gaedicke       ressortübergreifend dafür zusammenge-
     aus der Präsidialabteilung der Hamburger       arbeitet werden, jedem Bürger und jeder
     Behörde für Umwelt, Klima, Energie und         Bürgerin ausreichend Stadtnatur zu bieten.
     Agrarwirtschaft. „Natürlich Hamburg!“
     ziele darauf ab, Naturschutzgebiete zu
     öffnen und besser erlebbar zu machen                                                                                         Andrea Gebhard
     sowie mehr Naturräume in Grünanlagen zu
     schaffen. Besonders herausfordernd sei                                                         Aus Sicht von Andrea Gebhard, Präsi-
     gewesen, die Verwaltung und Politik der                                                        dentin der Bundesarchitektenkammer
     sieben Hamburger Bezirke sowie Instituti-                                                      und Vertreterin des Bundes deutscher
     onen, Verbände und die Landwirtschafts-                                                        Landschaftsarchitekt*innen, wird die De-
     kammer in der mittlerweile abgeschlosse-                                                       batte um die Implementierung Stadtnatur
     nen Planungsphase mit an Bord zu holen.                                                        vor dem Hintergrund des Klimawandels
     Das sei gut gelungen: Es sei ein Paket mit                                                     immer drängender. Frau Gebhard fordert,
     300 Einzelmaßnahmen geschnürt worden,                                                          Freifächenplanung verbindlich in der
     die in einer zehnjährigen zweiten Projekt-                                                     Bauleitplanung zu verankern: mit einem
     phase umgesetzt werden sollen.                                                                 Freifächengestaltungsplan zu jedem Bau-
                                                                                                    antrag, einem Grünordnungsplan zu jedem
     Insbesondere die Naturschutzverbände                                                           Bebauungsplan, einem Landschaftsplan
     hätten sich Veränderungen für die Parks                                                        zu jedem Flächennutzungsplan.
     und Grünanlagen gewünscht. Dafür
     müssten Organisation und Pfege der                                                             Daneben müsse für alle Menschen in
     Flächen angepasst und zudem Personal                                                           Deutschland ein öffentlicher Stadtnatur-
     aufgestockt und geschult werden. Für                                        Karola Lakenberg   bereich innerhalb von fünf Minuten be-
     den Umbau von Straßenverkehrsfächen                                                            ziehungsweise in einem Umkreis von 250
     zugunsten von Stadtnaturfächen wünscht         Hinsichtlich der Anlage und Unterhaltung        Metern erreichbar sein. Die Möglichkeiten
     sich Frau Gaedicke mehr Bundesförder-          städtischer Grünanlagen setze das „Hand-        dafür seien gegeben, entsprechende Ver-
     mittel.                                        buch gute Pfege – Pfegestandards für            bindlichkeiten sollten schnell geschaffen
                                                    die Berliner Grün- und Freifächenpfege“         werden. Sie erwarte von Bund und Län-
                                                    mit elf „goldenen Regeln“ neue Maßstäbe.        dern einen Bewusstseinswandel: Neuer

12    STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung
Podiumsdiskussion

Wohnraum müsse, wo immer möglich,                 Natur lerne man am besten durch aktives
durch Umbau, Aufstocken und Umnutzen              Erleben kennen. Die Menschen müssten
bestehender Gebäude geschaffen werden,            ehrlich und umfassend beteiligt und dafür
anstatt in den Peripherien zu bauen.              die formale Beteiligung im Baugesetzbuch
                                                  reformiert werden. Zum anderen sollten
                                                  die Menschen politisch Einfuss nehmen.
                                                  An Bund und Länder richtet Herr Dr. Faen-
                                                  sen-Thiebes die Erwartung, die Verkehrs-
                                                  wende einzuleiten und Voraussetzungen
                                                  dafür zu schaffen, urbane Verkehrsfächen,
                                                  wie Parkplätze oder mehrspurige Straßen,
                                                  zumindest teilweise in Stadtnaturfächen
                                                  umzunutzen.

                                                                                                                                Prof. Antje Stokman

                                                                                                     Moderatorin Prof. Antje Stokman fasst
                                                                                                     zusammen, es brauche mutige Pilotpro-
                                                                                                     jekte, in denen Neues ausprobiert werde,
                                                                                                     und die rechtlichen und organisatorischen
                    Dr. Andreas Faensen-Thiebes                                                      Voraussetzungen für mehr Stadtnatur in
                                                                                                     Deutschland. Die Kommunen müssten
Für Dr. Andreas Faensen-Thiebes,                                                                     nicht nur fnanziell, sondern auch personell
Bundesvorstand Bund für Umwelt und                                                                   ausreichend ausgestattet sein, um Stadt-
Naturschutz e.V., ist das Thema Stadtnatur                                                           natur entwickeln und unterhalten zu kön-
mittlerweile im öffentlichen Bewusstsein                                                             nen. Nicht zuletzt müsse die Zusammen-
angekommen, jedoch bislang nicht gut in                                                              arbeit über Fachgrenzen hinweg etabliert
die Realität übersetzt worden. Um das zu                                                             werden, um Stadtnatur und ihre positiven
ändern, müsse unter anderem die natur-                                                               Gesundheitseffekte für die Menschen
schutzrechtliche Kompensationsregelung                                       Prof. Dr. Aletta Bonn   zu stärken. Darauf Bezug nehmend lädt
voll umgesetzt werden. Zudem sollte auf                                                              Andrea Gebhard alle Anwesenden zum
Bundesebene das Flächenvorkaufsrecht              Auch Prof. Dr. Aletta Bonn spricht sich            Deutschen Architektentag im September
für Kommunen geregelt werden, um mehr             dafür aus, die Teilhabe – etwa in Citizen          2023 ein, bei dem diese Themen aufgegrif-
Stadtnaturfächen anlegen zu können.               Scientist-Projekten – zu stärken. Sie warnt        fen und weiter debattiert werden sollen.
Die Kommunen müssten beim Einsatz                 jedoch davor, Verantwortung auf die
von Stadtnatur-Sachmitteln umdenken:              Bürger*innen abzuwälzen. Systemische
von der Finanzierung einzelner Projekte           Veränderungen, die zum Beispiel in Krisen
hin zur Umsetzung in der Fläche. Frau             wie der Corona-Pandemie angestoßen
Lakenberg ergänzt, es mangele nicht an            würden, müssten weiterverfolgt werden.
Projektmitteln, sondern an Personal, um           Dafür seien klare Kommunikation und das
Stadtnatur-Projekte zu initiieren.                Festlegen von Zielen, Verantwortlichkeiten,
                                                  Anreizen und Finanzierung, Fristen für die
Den Bürger*innen schreibt Herr Dr.                Umsetzung und Regularien bei Nichterrei-
Faensen-Thiebes eine sehr große Rolle             chen der Ziele nötig. So könne kollektive
zu. Es sei noch viel Umweltbildung und            Selbstwirksamkeit greifen. Ein systemati-
Verständnisarbeit zu leisten, etwa durch          scher Wandel könne mit Mut und geballter
Mitmachprojekte – denn artenreiche                Fachexpertise erreicht werden.

                                                                                     Dokumentation der Fachtagung STADTNATUR WIRKT!                   13
Bundesprogramm Biologische Vielfalt

     Mehr Artenvielfalt im
     Siedlungsbereich fördern
     Das Bundesprogramm Biologische Vielfalt ist das größte deutsche Förderprogramm für
     den Erhalt der Biodiversität. Seit 2011 unterstützt das Bundesumweltministerium damit die
     Umsetzung der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt. Es ist auf Dauer angelegt
     und fnanziert bis zu 90 Prozent der Projektkosten mit Fördermitteln.
     2022 wurde der Förderschwerpunkt Stadtnatur neu in das Programm aufgenommen, um die Erstellung
     kommunaler Biodiversitätsstrategien und beispielhafte Maßnahmen zu unterstützen. Fünf beispielgebende
     Projekte, die im Bundesprogramm Biologische Vielfalt gefördert werden, werden im Folgenden kurz vorgestellt.

                                                                   Quartiere blühen auf: Vielfältige Pfanzungen erhöhen Artenvielfalt und Lebensqualität , © WILA

14    STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung
Kurzpräsentationen: Projekte im Bundesprogramm Biologische Vielfalt

Urbane Waldgärten:
mehrjährig, mehr-
schichtig, multifunktional
Dr. Jennifer Schulz
Universität Potsdam

                                                   Waldgärten können in vieler Hinsicht für           2022 mit ersten Baumpfanzungen. Zwei
                                                   Städte eine Bereicherung sein: Sie                 weitere Waldgärten entstehen in Kassel.
                                                                                                      „Urbane Waldgärten“ ist ein Verbundvor-
                                                   - erhöhen die Artenvielfalt,                       haben der Universität Potsdam gemein-
                                                   - tragen als Wasserspeicher und mit Verdun-        sam mit dem Bezirksverband Berlin-Süden
                                                     stungskühle zu besserem Stadtklima bei,          der Kleingärtner e.V., dem Freilandlabor
                                                   - leisten zum Beispiel mit bodenverbes-            Britz e.V. und dem Umwelt- und Gartenamt
                                                     sernder Wirkung einen wichtigen ökologi-         der Stadt Kassel.
                                                     schen Beitrag und
                                                   - sind Orte der Umweltbildung, der Begeg-
                                                     nung und des Nahrungsmittelanbaus.
                                                                                                             Projektsteckbrief:
                                                   Als neue, multifunktionale und langfristige
                                                   Form des gemeinschaftlichen Urban Gar-                    www.biologischevielfalt.bfn.
                                                   dening werden sie im Bundesprogramm                       de/bundesprogramm/projekte/
                                                   Biologische Vielfalt als Modellvorhaben                   projektbeschreibungen/urba -
                                                   gefördert und entwickelt.                                 ne-waldgaerten.html

                                                   Im Berliner Stadtteil Britz entsteht derzeit              Weitere Informationen:
                             Dr. Jennifer Schulz   ein Waldgarten-Kleingartenpark. 2019 wur-                 www.urbane-waldgaerten.de
                                                   de dafür ein aktivierendes Beteiligungs-
Das Projekt „Urbane Waldgärten“ verfolgt           verfahren durchgeführt – mit Workshops,
das Konzept des Waldgartens als mehrjäh-           in denen Bürger*innen gemeinsam Gestal-
riges, mehrschichtiges Anbausystem von             tungsvarianten, mögliche Organisations-
überwiegend essbaren Pfanzen. Baum-,               formen und Ausstattungsmerkmale des
Strauch- und Krautschicht überlagern sich          Waldgartens erarbeiteten. Die Anlage des
dabei zum Teil – wie in natürlichen Wäldern.       Britzer Waldgartens startete im Frühjahr

                                                                                    Visualisierung: So entwickelt sich ein urbaner Waldgarten im Laufe der Zeit
                                                                                                          © Projekt Urbane Waldgärten, Zeichnung A. Rassoul

                                                                                      Dokumentation der Fachtagung STADTNATUR WIRKT!                              15
Kurzpräsentationen: Projekte im Bundesprogramm Biologische Vielfalt

     Tausende Gärten –
     Tausende Arte
     Bettina de la Chevallerie
     Deutsche Gartenbau-Gesellschaft v. 1822 e.V.
     Tausende Gärten – Tausende Arten

                                                            Gärten, Balkone, Firmengelände und öf-          veranstaltet Seminare und Schulungen,
                                                            fentliches Grün bergen enorme Potenziale        gibt Informations- und Bildungsmaterialien
                                                            für die biologische Vielfalt im Siedlungs-      heraus und prämiert naturnahe Gärten,
                                                            raum. Diese ist für die einheimische Flora      Balkons und Firmengelände.
                                                            und Fauna von erheblicher Bedeutung.
                                                            Das Interesse an naturnahen Gärten und          Das von 2019 bis 2025 laufende Vorhaben
                                                            Grünfächen wächst zwar, aber noch               wird gefördert im Bundesprogramm Bio-
                                                            immer sind die wenigsten Gärten und             logische Vielfalt durch das Bundesamt für
                                                            Balkone, Firmengelände oder öffentliches        Naturschutz mit Mitteln des Bundesminis-
                                                            Grün so gestaltet, dass sich hier biologi-      teriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare
                                                            sche Vielfalt entwickeln kann. Die Gründe:      Sicherheit und Verbraucherschutz sowie
                                                            zu wenig Know-how und mangelnde                 durch die Berliner Sparkasse, die Berlin
                                                            Verfügbarkeit einheimischer Wildpfanzen         Immo Invest Gruppe und den Eigenhei-
                                                            auf dem Markt.                                  merverband e.V.

                                                            Das möchte die Kampagne „Tausende               Durchführende Organisationen sind die
                                                            Gärten – Tausende Arten. Grüne Oasen,           Deutsche Gartenbau-Gesellschaft 1822
                                                            einheimische Tiere und Pfanzen!“ ändern.        e.V., der Wissenschaftsladen Bonn e.V.
                                                            Mit ihrer Hilfe soll die naturnahe Garten-      und die tippingpoints GmbH in enger
               Bettina de la Chevallerie, © DGG 1822 e.V.   bewegung zum Trend werden. Das Projekt          Kooperation mit dem Naturgarten e.V.,
                                                            unterstützt kooperierende Pfanzen- und          dem Verband deutscher Wildsamen-
                                                                                                            und Wildpfanzenproduzenten e.V., und
     Das Motto des Projekts „Tausende Gärten                Saatgutbetriebe bei der Produktion und
                                                                                                            der Heinz-Sielmann-Stiftung.
     – Tausende Arten“ lautet: Gemeinsam                    dem Vertrieb einheimischer Wildpfanzen,
     Vielfalt pfanzen!                                      bietet Unterstützung beim Marketing an,

          Projektsteckbrief:

          www.biologischevielfalt.bfn.
          de/bundesprogramm/projekte/
          projektbeschreibungen/tausen-
          de-gaerten.html

          Weitere Informationen:
          www.tausende-gaerten.de/

                                                                                                         Wildpfanzen in der Gärtnerei Umbach, © Gärtnerei Umbach

16    STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung
Kurzpräsentationen: Projekte im Bundesprogramm Biologische Vielfalt

VielFalterGarten – Bildung
und Kommunikation für
Tagfalterarten in Leipzig
Birte Peters
Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig

                                                 und Klimawandelanpassung anzuregen,                    4) Aufbau von Kapazitäten und Netzwerk-
                                                 Gewohnheitsmuster zu Ansichten von                     bildung: Durch die gezielte Vernetzung
                                                 Wildkräutern („Unkraut“) zu hinterfragen               unterschiedlicher Akteure im urbanen
                                                 und zu ändern sowie zum Handeln im                     Raum werden nachhaltige Kooperationen
                                                 unmittelbaren Umfeld zu motivieren.                    geschaffen, um das Modellprojekt langfris-
                                                                                                        tig in Leipzig und in weiteren Städten zu
                                                 2) Schmetterlingsschutz: Tagfalter werden              etablieren.
                                                 durch das gezielte Ausbringen von Futter-
                                                 pfanzen und Nektarquellen in Privat- und               Die Beteiligung am Projekt VielFalterGarten
                                                 Schrebergärten, Schulgärten sowie auf                  ermöglicht es den Bürger*innen, anhand
                                                 ausgewählten öffentlichen Grünfächen in                von gezielten und einfach zu handhaben-
                                                 der Stadt Leipzig wieder vermehrt ange-                den Interventionen ihre Alltagsumgebung
                                                 siedelt beziehungsweise unterstützt. Die               aktiv zu gestalten und Veränderungen
                                                 Anlage von Blühstreifen und zum Beispiel               bewusst wahrzunehmen. Die angebo-
                                                 verändertes Mahdregime in privaten und                 tenen Bildungsmodule können genutzt
                                                 öffentlichen Grünfächen in Leipzig soll die            werden, um mehr über die Tagfalterarten,
                                                 Tagfaltervielfalter gefördert werden.                  ihr Vorkommen und ihre Lebensbedin-
                                                                                                        gungen zu erfahren. Die Vernetzung mit
                                                                                                        den beteiligten Wissenschaftler*innen,
                                  Birte Peters                                                          Naturschutzverbänden, städtischen
                                                                                                        Einrichtungen und weiteren Projekten zum
„VielFalterGarten“ ist ein Kommunikations-                                                              Erhalt der Artenvielfalt und Schmetterlings-
und Bildungsprojekt mit Modellcharakter                                                                 schutz bieten außerdem die Möglichkeit,
zur biodiversitätsfördernden Entwicklung                                                                Wissen zu erlangen und sich nachhaltig für
urbaner Räume für Tagfalter. Das Projekt                                                                eine lebendige Stadtnatur zu engagieren.
verfolgt vier Ziele:                                                                                    Das Projekt bietet somit die Möglichkeit
                                                                                                        zur aktiven Teilhabe an Gesellschaft und
1) Bildungsziel: Das Wissen über Tagfalter                                                              Wissenschaft.
und naturschutzförderndes Gestalten
und Bewirtschaften von öffentlichen
Grünfächen und privaten Gärten soll                   Schmetterlingsspaziergang im Abtnaundorferpark
gefördert werden. Bürger*innen sollen                                                  © Birte Peters        Projektsteckbrief:
durch „learning by doing“ befähigt wer-          3) Citizen Science: Die Tagfaltermeldungen
den, durch regelmäßige Beobachtungen             werden von Bürger*innen erfasst, anschlie-                  www.biologischevielfalt.bfn.de/
Schmetterlinge kennenzulernen und selber         ßend wissenschaftlich ausgewertet sowie                     bundesprogramm/projekte/pro-
Schutzmaßnahmen durchzuführen. Ziel ist          einer Qualitätskontrolle unterzogen. Durch                  jektbeschreibungen/vielfalter-
es, sie zur Diskussion über die Förderung        das Monitoring soll ein vertieftes Verständ-                garten.html
der biologischen Vielfalt, Schmetterlings-       nis für die Schmetterlingsökologie sowie
schutz                                           eine Selbstwirksamkeit zu eigenständigen                    Weitere Informationen:
                                                 Beiträgen zum Naturschutz entstehen.                        www.vielfaltergarten.de

                                                                                         Dokumentation der Fachtagung STADTNATUR WIRKT!                17
Kurzpräsentationen: Projekte im Bundesprogramm Biologische Vielfalt

     Naturstadt – Kommunen
     schaffen Vielfalt
     Robert Spreter
     Kommunen für biologische Vielfalt e.V.

                                                     Die Projektideen umfassen Artenschutz-
                                                     maßnahmen und innovative Ansätze zur                Projektsteckbrief:
                                                     nachhaltigen Förderung von Stadtnatur. In
                                                     den Kommunen wird auf vielfältige Weise             www.biologischevielfalt.bfn.
                                                     demonstriert, wie durch die Schaffung               de/bundesprogramm/projek -
                                                     neuer Lebensräume biologische Vielfalt              t e / p ro j e k t b e s c h re i b u n g e n /
                                                     gefördert werden kann. So entstehen                 naturstadt-kommunen-schaf -
                                                     durch Mitmachaktionen arten- und struk-             fen-vielfalt.html
                                                     turreiche Staudenbeete, Blühwiesen oder
                                                     Gehölzstreifen. In der Stadt Havelberg              Weitere Informationen:
                                                     beispielsweise wurde ein Sonderbiotop               www.wettbewerb-naturstadt.
                                                     für tag- und nachtschwärmende Insekten              de/zukunftsprojekte.html
                                                     angelegt. Der Landkreis Mainz-Bingen
                                                     zeigt Bürger*innen auf Pilotfächen, wie
                                                     durch dynamischen Agroforst Artenvielfalt
                                                     entsteht. Andere Kommunen fokussieren
                                                     Umweltbildung, etwa die Stadt Bersen-
                                                     brück. Hier werden im Zuge der Entwick-
                                                     lung eines neuen Wohngebiets frühzeitig
                                    Robert Spreter   Kaufnteressent*innen hinsichtlich einer
                                                     naturnahen und artenreichen Gartengestal-
     Ziel des Projektes „Naturstadt – Kommu-         tung beraten.
     nen schaffen Vielfalt“ ist die Förderung
     von Stadtnatur und Insektenvielfalt durch       Mit ihrem Engagement zeigen die ausge-
     Kommunen. 2020 wurden im Rahmen ei-             zeichneten Kommunen vielfältige Ansätze,
     nes bundesweiten Wettbewerbs unter 332          um die Ziele des Masterplans Stadtnatur
     Beiträgen aus 310 Städten, Gemeinden            sowie des Aktionsprogramms Insekten-
     und Landkreisen 40 Projektideen ausge-          schutz nachhaltig umzusetzen.
     wählt und jeweils mit einem Preisgeld in
     Höhe von 25.000 € zur Projektumsetzung
     prämiert.

                                                                                                                                  Gesucht und gefunden:
                                                                                         Aus 332 Projektideen wurden 39 beispielhafte Umsetzungsprojekte
                                                                                                                                         © KommBio e.V.

18    STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung
Kurzpräsentationen: Projekte im Bundesprogramm Biologische Vielfalt

Urbane
Insektenbiotope
Stefanie Propp
Die Summer e.V.

                                                       Der junge Bayreuther Verein „Die Sum-
                                                       mer“ möchte mit dem Projekt „Urbane                     Projektsteckbrief:
                                                       Insektenbiotope“ einiges schaffen. Ein
                                                       Ziel: Bayreuth soll Vorzeigestadt für Insek-            www.biologischevielfalt.bfn.de/
                                                       tenlebensräume in der Stadt werden. Dafür               bundesprogramm/projekte/pro-
                                                       werden mindestens 20 Flächen umgestal-                  jektbeschreibungen/urbane-in-
                                                       tet – von Firmen- über Schulfächen und                  sektenbiotope.html
                                                       öffentliche Flächen bis zu Gärten. Zusätz-
                                                       lich werden jedes Jahr zahlreiche Umwelt-               Weitere Informationen:
                                                       bildungsveranstaltungen angeboten.                      www.urbane-insektenbiotope.de/

                                                       Bei der Umsetzung von Insektenbiotopen
                                                       fehlt es vor allem am Angebot heimischer
                                                       Pfanzen. Damit insektenfreundliche               Rasenfächen. Damit alle ihr eigenes
                                                       Wildblumen in Zukunft öfter über die             urbanes Insektenbiotop umsetzen können,
                                                       Ladentheke gehen, überzeugt das Projekt          zeigt eine digitale Karte auf der Projekt-
                                                       Gärtnereien, Wildpfanzen in ihr Sortiment        website Unternehmen, die Wildblumen,
                                                       aufzunehmen. Wildblumen als Topfpfan-            Regio-Saatgut, nachhaltige Baumaterialien
                                                       zen ermöglichen eine planbare und trotz-         Balkenmäher und Sensen verkaufen.
                                     Stefanie Propp    dem insektenfreundliche Gestaltung von           Zusätzlich gibt es dort Anleitungen für
                                                       Beeten oder Balkonkästen und eignen sich         verschiedene Zielgruppen.
                                                       ebenfalls zum Aufwerten von artenarmen

   Wildpfanzen in die Gärtnereien, © Matthias Kimpel

                                                                                             Umgestaltete, insektenfreundliche Hinterhoffäche, © Stefanie Propp

                                                                                         Dokumentation der Fachtagung STADTNATUR WIRKT!                           19
Bildervortrag

     Bäume auf die Dächer,
     Wälder in die Stadt
     Conrad Amber
     Autor und Naturfotograf

                                                                                                          Wir erfahren, wie unsere Häuser, Gärten,
                                                                                                          Dörfer und Städte der Zukunft aussehen
                                                                                                          können, und wie das Leben dann ruhiger,
                                                                                                          gesünder und naturnaher sein wird. Es ist
                                                                                                          Zeit, damit zu beginnen!

                                                                                                          Conrad Amber, nach seinem Buch
                                                                                                          "Bäume auf die Dächer, Wälder in die
                                                                                                          Stadt", erschienen 2017 im Kosmos-Verlag

                                                                                Totholz, © Conrad Amber

                                                          Anhand zahlreicher Projekte, die der Autor
                                                          in Europa besucht und dokumentiert hat,
                                                          zeigt er auf, wie das Leben mit Bäumen
                                                          und anderen Pfanzen an und auf unseren
                                         Conrad Amber     Häusern funktioniert, was dies bewirkt und
                                                          wie notwendig wir es brauchen. Grüne
     Wir müssen uns wieder mit der Natur                  Fassaden, Dachgärten mit Blühpfanzen
     versöhnen, sie zulassen und in unsere                und Gehölzen für die Honiggewinnung                        Dachgarten Wien Mitte, © Conrad Amber
     Nähe bringen. Wir müssen erkennen und                und gesunde Freizeitgestaltung, Obst-
     verstehen, dass wir ohne Pfanzen, ohne               baumalleen und blühende Baumreihen
     Bäume gar nicht leben können und dass                an Verkehrswegen, natürliche Waldparks
     sie wesentlich für unser Wohlergehen und             mitten in der Stadt, Baumschatten auf
     Gesundheit zuständig sind.                           Parkfächen und in Gastgärten, Denk-Mal-
                                                          Bäume und Waldfriedhöfe und wie sich
                                                          Autobahnwälder ökologisch und ökono-
                                                          misch rechnen – nur einige Beispiele, die
                                                          der Naturdenker vorstellt. Mit umgesetzten
                                                          Naturprojekten, die zum Nachdenken an-
                                                          regen und zum Nachmachen einladen.

                                                                                                             Wien Boutiquenhotel, Stadthalle, © Conrad Amber

          Natur im Garten, Waldlichtung, © Conrad Amber

20    STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung
Exkursionen

Auf ins Grüne: Stadtnatur
hautnah erleben
Am Nachmittag des ersten Tagungstages hatten die Teilnehmenden Gelegenheit direkt mit der
Natur in Kontakt zu treten. In vier geführten Exkursionen erkundeten sie die Gärten der Welt,
den Naturerfahrungsraum am Kienberg und die nähere Umgebung. Einige Eindrücke des Stadt-
teil-Walks „Wildnis am Wegesrand“ durch Marzahn-Hellersdorf fnden Sie auf dieser Seite.

Stadtnatur-Führer Toni Becker

                                                                      Dokumentation der Fachtagung STADTNATUR WIRKT!   21
Impuls

     „Nach draußen!“ Warum
     wir nach Corona mehr
     Stadtnatur brauchen
     Prof. Dr. Catrin Schmidt
     Direktorin des Institutes für Landschaftsarchitektur, TU Dresden

                                                         Stadtnatur hat während der der COVID-19-     eine mangelhafte Grünausstattung zu den
                                                         Pandemie eine höhere Bedeutung               Hauptgründen für eine erhöhte Anzahl an
                                                         gewonnen als jemals zuvor. In Phasen         Umzugswünschen zählt. Dem durch die
                                                         besonderer Belastungen lernen Menschen       Pandemie angestiegenen Druck auf das
                                                         in Städten die gesundheitsfördernden Wir-    suburbane Umland kann letztlich nur wirk-
                                                         kungen von Grünfächen, zum Beispiel ein      sam begegnet werden, wenn innerhalb der
                                                         vermindertes Infektionsrisiko, deutlichen    Kernstädte das Wohnumfeld durch mehr
                                                         Stressabbau und eine Aktivierung des         und qualitativ hochwertiges Stadtgrün
                                                         Immunsystems, verstärkt zu schätzen.         verbessert wird.

                                                         Im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie hat
                                                         sich die Nutzungshäufgkeit von öffentli-
                                                         chen Grünfächen gravierend erhöht. Die
                                                         Pandemie hat dabei zugleich brennglas-
                                                         artig gezeigt, was zuvor gegebenenfalls
                                                         bei der Entwicklung und Pfege von
                                                         Grünfächen zu sehr vernachlässigt wurde.
                                                         Zudem verdeutlicht eine repräsentative
                                                         Befragung in Dresden von 2021, dass
                              Prof. Dr. Catrin Schmidt

                                                                                                       Hundertwasserhaus Wien, Visualisierung © C. Schmidt

22    STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung
Themen-Workshops

An die Wurzel:
Workshop-Arbeit zu
vertiefenden Themen
In vier Themenworkshops vertieften die Teilnehmenden ihren Austausch. Zu den Schwerpunkten
„Naturerfahrungsräume & Umweltbildung“, „Projekte & Planungen“, „Integration & Inklusion“
sowie „Bewegung & Teilhabe“ hörten sie zunächst anregende Impulsvorträge.
Zu unterschiedlichen Leitfragen wurde anschließend intensiv diskutiert und Anregungen
gesammelt. In einer gemeinsamen Schlussrunde wurden die Workshop-Ergebnisse
mit den Teilnehmenden der anderen Workshops geteilt.

Themen-Workshop „Naturerfahrungsräume & Umweltbildung“

Zugänge zu „wilder“
Natur in der Stadt
schaffen
Moderation:
Irma Stopka, Stiftung Naturschutz Berlin, Beratungsstelle für Naturerfahrungsräume

                                                                               Irma Stopka

                                                                               Dokumentation der Fachtagung STADTNATUR WIRKT!   23
Themen-Workshop „Naturerfahrungsräume & Umweltbildung“

     Impulse

         Dr. Dörte Martens, © HNE Eberswalde, Reischauer                        Leonie Rhode, © Julien Vallé                              Verena Butt, © privat

     Die Bedeutung von                                     Was leisten Naturerfahrungsräume                    Wie ermöglichen wir unmittelbares
     Natur(-erfahrungen) in der Kindheit                   und wie können sie weiterverbreitet                 Naturerleben und neue Zugänge zu
     Dr. Dörte Martens, Umweltpsychologin,                 werden?                                             artenreicher Natur?
     Hochschule für nachhaltige Entwicklung                Leonie Rhode, Mitarbeiterin beim Cam-               Verena Butt, Landschaftsarchitektin,
     Eberswalde HNE                                        pus Stadt Natur der Grün Berlin GmbH,               Mitarbeiterin in der Stadt Hannover im
                                                           zuständig für den Naturerfahrungsraum               Fachbereich Umwelt und Stadtgrün, Lehr-
     Dr. Martens Forschungsinteresse gilt der              Kienberg                                            beauftragte; Projekt Städte wagen Wildnis
     Wirkung unterschiedlicher Umwelten auf
     Gesundheit und Lebensqualität sowie                   Naturerfahrungsräume sind Freiräume,                Zur Naturerfahrung bedarf es nicht immer
     partizipative Stadtentwicklung. Natur                 in denen Kinder Natur erkunden und auf              Nationalparks – Wildnis gibt es auch vor
     stellt eine wichtige Ressource in der                 ihre Weise begreifen lernen. Sie laden zu           der Haustür. Um in Hannover städtische
     kindlichen Entwicklung dar: Sie befriedigt            freiem Spielen ein und bieten die Mög-              Grünzüge „wilder“ werden zu lassen,
     die Bedürfnisse nach Veränderung und                  lichkeit, Sozial- und Risikokompetenz zu            wurde die Mahd reduziert oder eingestellt.
     Kontinuität, spricht alle Sinne an, eröffnet          erlernen, Kreativität zu entwickeln, sich           Befürchtungen, dass die Flächen als im
     freie Spielmöglichkeiten, lässt die Kinder            und ihren Körper selbst zu erfahren und in          negativen Sinne verwildert oder ungepfegt
     Selbstwirksamkeit erfahren, fördert                   Bewegung zu kommen. Die behutsam ge-                angesehen werden könnten, traten nicht
     Vorsicht, Widerstandsfähigkeit und selbst-            pfegten und kontrollierten Räume bieten             ein – die Rückmeldungen waren meist
     ständiges Handeln. Die Kinder können                  Kindern einen sicheren Ort für die Begeg-           äußerst positiv. Hierzu beigetragen hat
     Strategien entwickeln, um Kontrolle über              nung mit „wilder Natur“. Es ist notwendig,          die „Wildnis-Assel“: Auf allen zehn Wildnis-
     eine Situation zu behalten und bauen                  dass bei Eltern und Pädagog*innen und               fächen Hannovers wurden orangefarbene
     die eigene Verbundenheit zur räumlichen               vermehrt unter Landschaftsarchitekt*in-             Stahlblech-Figuren, mit dem Schriftzug
     Umgebung aus.                                         nen und anderen Mitgestalter*innen                  „Wildnis“ auf dem Rücken, auf Bäumen
                                                           von Stadträumen das Konzept der NER                 und Stelen montiert. Die Assel schlägt
     Naturerfahrungsräume fördern im Vergleich             bekannter und hierzu fortgebildet wird. Es          die Brücke zwischen Kunst, Kultur und
     zum gängigen Spielplatz ein signifkant                braucht zudem engagierte Initiativen und            Wildnis. Das Motiv wurde weiterentwickelt
     komplexeres Spielverhalten: Neben dem                 Menschen, die Beratungs- und „Überzeu-              zum „Assel-Quassel-Wildnis-Walk“, einem
     psychomotorischen Spielen (Interagieren,              gungsarbeit“ leisten, um Naturerfahrungs-           Hörspaziergang, bei dem die Assel Kinder
     Erfahren, Begreifen), Bewegungsspielen                räume weiter zu verbreiten.                         die urbane Wildnis erklärt.
     und Bauspielen werden insbesondere
     Fantasie- und Rollenspiele angeregt. Es                                                                   Elf ausgebildete Wildnis-Lots*innen unter-
     entstehen tiefergehende Lernmöglichkei-                                                                   stützen die Projektkommunikation, indem
     ten.                                                                                                      sie auf Besucher*innen zugehen und Um-
                                                                                                               weltbildungsveranstaltungen anbieten.

                                                                                                               Das Projekt „Städte wagen Wildnis-Vielfalt
                                                                                                               erleben“ wurde gefördert durch das Bun-
                                                                                                               desamt für Naturschutz mit Mitteln des
                                                                                                               Bundesministeriums für Umwelt, Natur-
                                                                                                               schutz und nukleare Sicherheit.

24    STADTNATUR WIRKT! Dokumentation der Fachtagung
Themen-Workshop „Naturerfahrungsräume & Umweltbildung“

Arbeitsphase
Leitfrage 1:                                   Leitfrage 2:                                   Leitfrage 3:

Was macht das Erleben von Natur                Wie kann Umweltbildung auch solche             Wie kann Natur beiläufg-spiele-
beziehungsweise naturräumlichen                Zielgruppen ansprechen, die aus                risch und niederschwellig erfahren
Strukturen besonders in Städten so             ihrem sozialen Umfeld heraus nur               werden? Welche Vorbildprojekte und
wichtig und wertvoll?                          wenig Zugang hierzu bekommen?                  beste Praktiken gibt es hierfür außer
                                                                                              dem Naturerfahrungsraum?
Wie bedeutend die Möglichkeit von Natur-       Umweltbildung sollte möglichst barrierefrei
kontakt in der Stadt ist, hat nicht zuletzt    und an vielen Orten möglich sein. Bezogen      Beiläufg-spielerisches Naturerleben
die Covid-19-Pandemie gezeigt. Dafür           auf naturnahe Freifächen, die zu Natur-        sollte an vielen Orten und schon für ganz
ist es generell wichtig, in den Städten        kontakt einladen sollen, ist eine positive,    junge Kinder ermöglicht werden. Um dies
lebendige, grüne und vielfältige Freiräume     klar verständliche und gegebenenfalls          gewährleisten zu können, sollten Schulen,
zu schaffen, die die Lebensqualität erhö-      mehrsprachige Kennzeichnung bezie-             Kitas und Kindergärten wieder mehr
hen. Naturnah gestaltete innerstädtische       hungsweise Kommunikation entscheidend,         natürliche Freiräume wie zum Beispiel
Freiräume und Naturerfahrungsräume             um Kinder (-gruppen) zu erreichen. Das         Schulgärten bekommen. Darüber hinaus
ermöglichen diesen Zugang zur Natur für        Projekt der „Wildnis-Asseln“ in Hannover       sollte zukünftig im Zuge der Stadt- und
Kinder und Jugendliche.                        ist hierfür ein positives Beispiel.            Grünplanung regelmäßig geprüft werden,
                                                                                              ob zum Beispiel das Straßenbegleitgrün,
Das kindliche Freispiel in der Natur fördert   Umweltbildung muss in den Alltag aller         insbesondere an Schulwegen, und die
Selbstwirksamkeit und Kreativität – weitere    Kindern integrierbar sein. Das bedeutet        Grünfächen im Umfeld von Spielplätzen
wertvolle Effekte von Naturerleben in Städ-    auch, dass ausreichend Flächen für             naturnäher gestaltet und die spielerische
ten. Der Aufenthalt in der Stadtnatur bietet   formelle wie informelle Umweltbildung im       Nutzung durch Kinder zugelassen werden
die Möglichkeit, ein besseres Verständnis      Wohnumfeld zur Verfügung stehen sollten.       kann.
für und eine Bindung zur Natur zu entwi-       Es muss in Zukunft vermehrt darüber
ckeln – im Sinne des Leitspruchs „Nur was      nachgedacht werden, wie man in Städten         Die Arbeit von Stadtnatur-Ranger*in-
man schätzt, ist man bereit zu schützen“.      weiteres Flächenpotenzial generieren kann      nen, wie zum Beispiel in Berlin, von
                                               – zum Beispiel halböffentliche Grünfächen      Junior-Ranger*innen, von zertifzierten
                                               von Wohnungsbaugesellschaften – und            Natur- und Landschaftsführer*innen sowie
                                               wie man die Stadtgesellschaft ermutigen        von Kümmerinnen und Kümmerern in
                                               kann, sich an Projekten zur naturnahen         Naturerfahrungsräumen ist erprobterweise
                                               Gestaltung von Freifächen zu beteiligen.       wertvoll. Sie können von Naturkontakte
                                                                                              beiläufg und spielerisch unterstützen und
                                               Das Prinzip der „Kümmerinnen und               dabei Wissen um die Zusammenhänge
                                               Kümmerer“ (Pädagogen, engagierte               in der Natur vermitteln. Auch hier wären
                                               Laien, Vereine, Eltern, die sich haupt- oder   kontinuierliche Fortbildungsangebote, zum
                                               ehrenamtlich einsetzen) hat sich für Natur-    Beispiel zu Methoden und Werkzeugen für
                                               erfahrungsräume als erfolgreich erwiesen.      das Herstellen von Naturkontakt, wichtig.
                                               Diese können positive Kommunikation            Die Erfahrung zeigt, dass (Umwelt-)Kom-
                                               unterstützen, Werbung für die Nutzung          munikation eine hohe Kontinuität braucht,
                                               der Flächen machen, aber auch bei der          um wirksam werden zu können. Insofern
                                               Gestaltung und Pfege entsprechender Flä-       ist es auch wichtig, dass hierfür ausrei-
                                               chen unterstützen. Die zielgerichtete Aus-     chend Budget zur Verfügung gestellt wird.
                                               und Weiterbildung engagierter Personen
                                               darf nicht vergessen werden, um möglichst
                                               viel zu erreichen.

                                                                                 Dokumentation der Fachtagung STADTNATUR WIRKT!           25
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