Mehr Wildnis wagen Entwicklung von Wildnisgebieten in Schleswig-Holstein - Schleswig-Holstein. Der echte Norden - schleswig-holstein.de

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Mehr Wildnis wagen
Entwicklung von Wildnisgebieten
in Schleswig-Holstein

Schleswig-Holstein. Der echte Norden.
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Wildnisgebiete sind — im
  Idealfall — ausgedehnte,
  ursprüngliche und vom
   Menschen weitgehend
 unbeeinflusste Naturland­
schaften, in denen natür­liche
     Prozesse ungestört
      ablaufen können.
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                                           Inhalt
     Vorwort                                          5

1.   Was meinen wir heute mit Wildnis?                7

2.   Warum brauchen wir Wildnis?                      8

3.   Auf welcher Grundlage schützen wir Wildnis       13
     und welche Ziele verfolgen wir dabei?

4.   Welche Eignungskriterien müssen                  15
     Wildnisgebiete erfüllen?

5.   Menschliche Nutzungen in Wildnisgebieten:        19
     Was ist vereinbar, was unvereinbar?

6.   Welche Gebiete bzw. Biotopkomplexe               22
     wurden in Schleswig-Holstein auf Ihre Eignung
     als Wildnisgebiet geprüft?

7.   Aktueller Stand: Welche Wildnisgebiete           23
     gibt es bereits in Schleswig-Holstein?

8.   Weitere Umsetzung: In welchen Modell-            31
     ge­bieten soll die Wildnisentwicklung prioritär
     vorange­­trieben werden?

9.   Wildnis als langfristige Gemeinschaftsaufgabe: 40
     Wo liegen die zukünftigen Handlungsschwer­-
     punkte und wer kann wie aktiv werden?

10. Resümee: Mehr Wildnis wagen in                    42
    unserer Kulturlandschaft!

     Literatur                                        44

     Impressum                                        47

                                                            3
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Totholz gehört zur
natürlichen Dynamik
in einem intakten
Wald. Es bietet vie-
len Arten Nahrung
und Lebensraum.
Foto: Dr. Henning
Thiessen
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V              Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

Zwei Prozent Wildnis in Schleswig-Holstein, so
lautet das gesetzliche Ziel, das doch eigentlich
problemlos zu erreichen sein sollte. Fast täglich
begegnet einem das Thema in den Medien.
Doch wenn es konkret werden soll, stellt sich die
Erreichung dieses Ziels schwieriger als erwartet
dar. Der Nationalpark Schleswig-Holsteinisches
Wattenmeer ist in großen Teilen Wildnis. Hier-
von können Bereiche, die zum terrestrischen Teil
Schleswig-Holsteins gehören, in die Berechnung
des Zwei-Prozent-Ziels eingehen. Auch an der
Frage, wie groß Wildnisflächen sein müssen, da-     in denen teilweise noch Maßnahmen zur Wie­der­      Das Wilde Moor bei
mit Natur dort Natur sein kann, also möglichst      vernässung durchgeführt werden, die auch dem        Schwabstedt trägt
                                                                                                        das Wildnisziel be­reits
ungestörte natürliche Prozesse ablaufen können,     Klimaschutz zugutekommen. All die­se Gebiete
                                                                                                        im Namen. Foto:
scheiden sich die Geister. Aus ökologischer Sicht   sollen entsprechend ihrer unterschiedlichen
                                                                                                        Jürgen Gemperlein
gilt: Je größer die Flächen, umso besser. Im        Ausdehnung vom kleinen Prozess­schutz­gebiet
Rahmen der Nationalen Biodiversitätsstrategie       bis zum großen Wildnisgebiet die verschiede-
wurden daher 500 bis 1.000 Hektar als Mindest-      nen Ziele ungestörter Naturentwicklung erfüllen.
größe festgelegt. Die lang anhaltenden land-
schaftlichen und standörtlichen Veränderungen       Dies zeigt diese Broschüre auf, ebenso wie die
haben jedoch dazu geführt, dass natürliche, un-     Erkenntnis, dass für eine ökologisch sinnvolle
gestörte Natur nur noch sehr eingeschränkt und      und ethisch verantwortliche „Übergabe“ von
meist sehr kleinflächig vorhanden ist. Außerdem     Gebieten in eine natürliche, möglichst unge­stör­
soll Natur, sollen auch Wildnisgebiete mit den      te Entwicklung zur Natur noch weitere Schritte
in ihnen stattfindenden natürlichen Prozessen       erforderlich sind.
grundsätzlich für alle erlebbar und umweltpäda­
gogisch nutzbar sein.

Vor diesem Hintergrund sind in Schleswig-Hol­
stein, dem Bundesland mit dem größten Anteil
an landwirtschaftlicher Fläche und dem gering-
sten Waldanteil, durch das Landesamt für Land­      Kornelius Kremkau
wirtschaft, Umwelt und ländliche Räume bislang
etwa 220 Wildnis- und Wildnisentwick­lungs­         Leiter der Abteilung Naturschutz und Forst des
gebiete ermittelt worden. Sie reichen von nur       Landesamtes für Landwirtschaft, Umwelt und
20 Hektar großen Naturwäldern bis hin zu meh-       ländliche Räume des Landes Schleswig-Holstein
reren hundert Hektar großen Moorkom­plexen,         (LLUR)

                                                                                                                            5
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Südteil des
Naturschutzgebietes
Krummsteert-Suls­dorfer
Wiek/Fehmarn –
Foto: Heiko Grell
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1               Was meinen wir heute mit Wildnis?

                                                    ßen ei­ne sich auf ehemals genutzten Flächen
                                                    neu entwickelnde Wildnis, die sogenannte

W
                                                    sekundäre Wildnis, mit ein – mag sie vielerorts
     ildnisgebiete sind – im Idealfall – ausge­     aufgrund der inzwischen veränderten Standort­
dehnte, ursprüngliche und vom Menschen              bedingungen, z. B. im Hinblick auf den Wasser­
weitgehend unbeeinflusste Naturlandschaften,        haushalt oder die Nährstoffversorgung, auch
in denen natürliche Prozesse ungestört ablaufen     mit der hier ursprünglich vorhandenen Wildnis
können.                                             nicht mehr identisch sein. Dem Wildnisschutz
                                                    kommt damit eine Doppelaufgabe zu: Zum ei­nen
Wildnis ist damit das Pendant zu der in Mittel–     die Bewahrung der noch vorhandenen Wild­nis­
europa vorherrschenden, über Jahrhunderte           relikte, zum anderen die Förderung von „neuer
gewachsenen Kulturlandschaft, in der der Mensch     Wildnis“ im Sinne eines dynamischen und                    Bittersüßer Nachtschatten –
durch gezieltes Eingreifen maßgeblich steuert,      ergebnisoffenen Prozesses (sog. rewildering).              Foto: Jürgen Gemperlein
welche natürlichen Prozesse und Entwick­lungen
in welchem Maße möglich sind. Durch diese
überprägende Einflussnahme in einem so gro-
ßen Teil unserer Landschaft sind es die wenigen
verbliebenen Wildnisgebiete, denen eine be­son­
dere Bedeutung als wichtiges Refugium sowohl
für gefährdete Arten und Lebensge­mein­schaf­ten
als auch für natürliche Prozesse und Wirkungs­
gefüge zukommt.

Global betrachtet denken wir bei Wildnis zu­meist
an sehr große Gebiete, wie die Tundra in Sibirien
oder den Regenwald im Amazonas-Gebiet, bei
denen bisher nie eine nennenswerte Beeinflus­
sung durch den Menschen stattgefunden hat.
Da es solche Gebiete aber in Mittel­europa nicht
mehr gibt, müssen wir den Wild­nis­begriff hier
folglich etwas abgewandelt auffassen, um ihn im
Bereich des Naturschutzes sinnvoll und zu­kunfts­
gerichtet anwenden zu können: Wildnis­gebiete
schließen hier sowohl die wenigen verbliebenen
nie nennenswert genutzten Land­schafts­aus­
schnitte, wie z. B. unzugängliche Auwälder, als
auch die aus der menschlichen Nutzung heraus­
genommenen Bereiche von ausreichender
Grö­ße, die nun einer weitestgehend natürli­chen
Ent­wicklung überlassen werden, mit ein.
Damit beschränken wir Wildnis in unserer an­­       Nasse, dichte Au­wälder zählen aufgrund ihrer Unzu­gäng­
thro­­pogen geprägten Landschaft bewusst nicht      lichkeit zu den letzten ursprünglichen Wildnis­ge­bieten
                                                    Europas. Foto: Jürgen Gemperlein
auf die ursprüngliche Wildnis, sondern schlie-

                                                                                                                                 7
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2                  Warum brauchen wir Wildnis?

                    „Die Wildnis ist es, die die Welt bewahrt.“
                    Henry David Thoreau

                    D    as aktuelle Bewusstsein für den hohen
                    Stellen­wert von Wildnis entspringt keiner aus
                    vergangenen Zeiten wiedererweckten romanti-
                    schen Verklärung der Natur. Vielmehr resultiert
                    es aus dem gesamtgesellschaftlich zunehmen-
                    den Verantwortungsbewusstsein für unsere
                    natürlichen Lebensgrundlagen und dem immer           Wildnis auf den zweiten Blick – un­­­gestörte Wald­flä­chen
                    größer werdenden Wissen um die zahlreichen           bieten vielen Arten, wie hier einem Waldkauz, Brut-
                    und vielschichtigen Vorteile für die Gesellschaft,   und Rast­­plätze. Foto: Joachim Arp

                    in der Fachsprache als „Ökosystemleistungen“
                    bezeichnet, die mit intakter Wildnis einhergehen.    sie z. B. mit dem Klimawandel einhergehen, steigt.
                    Auf sie soll nachfolgend näher eingegangen           Denn sind innerhalb einer Art entscheidende
                    werden.                                              Merkmale und Eigenschaften unter­schied­lich
                                                                         ausgeprägt, steigt die Chance, dass zumindest
    Ökologie                                            Ökonomie         Teile ihrer Populationen mit den geänderten
                                                                         Bedingungen umgehen können und die Art
                                                                         somit insgesamt weiter bestehen kann. Wildnis­
                                                                         gebiete haben also eine enorme Bedeutung als
                      Wildnisschutz:                                     Rückzugsräume, in denen Anpassungsprozesse
Ethik              bedeutend aus vielen                      Erholung    und auf lange Sicht schließlich auch Evolution
                      Perspektiven                                       weitestgehend ungestört von menschlichen
                                                                         Eingriffen ablaufen können.

                                                                         Gerade zum Erhalt der genetischen Vielfalt und
    Forschung                                      Umweltbildung         damit letztlich der Überlebensfähigkeit einer
                                                                         Art ist es wichtig, dass ein Austausch zwischen
                                                                         verschiedenen (Teil-)Populationen stattfinden
Die Perspektiven    Ökologie:                                            kann. Ihre Lebensräume müssen also miteinan­
des Wildnis­        Wildnis zu schützen bzw. wieder zuzulassen,          der vernetzt sein. Wildnisgebiete sind somit
schutzes – Foto:
                    dient unmittelbar der Erhaltung der biologischen     dann be­sonders wertvoll für den Naturhaushalt,
Dr. Thomas
                    Vielfalt auf allen hierfür bedeutsamen Ebenen:       wenn sie keine „isolierten Wildnisinseln“ in
Holzhüter
                    Neben der Vielfalt an Lebensräumen wird auch         der Landschaft darstellen, sondern Teil eines
                    die Artenvielfalt und die genetische Vielfalt        Lebens­raumnetzwerks ohne unüberwindbare
                    innerhalb der Arten gefördert. Eine hohe gene-       Ausbrei­tungsbarrieren für Arten, wie vielbefah-
                    tische Vielfalt ist hierbei deshalb von Bedeutung,   rene mehrspurige Straßen, sind und damit zur
                    da durch sie die Anpassungsfähigkeit einer Art       Stär­kung des Biotopverbunds beitragen (siehe
                    an sich verändernde Umweltbedingungen, wie           hierzu Kapitel 3 und 4).

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Insbesondere intakte und ungestörte Feucht­ge­
biete, wie z. B. Moore oder Flussauen, können
außerdem durch ihre natürliche Filter- bzw. Reini­
gungsleistung die lokale Wasserqualität erheb-
lich verbessern. Darüber hinaus haben sie eine
positive Wirkung auf das lokale Klima: Ihre küh-
lende Wirkung auf die Umgebung ist gerade in
Hitzesommern nicht nur ein Segen für Flora und
Fauna, sondern durchaus auch für uns Menschen.

Ökonomie:
Wildnisgebiete wirken sich nicht nur auf das
lokale Klima in ihrer Umgebung positiv aus, auch
im globalen Maßstab können sie einen wichti-
gen Beitrag zum Klimaschutz leisten – und das
im Vergleich zu anderen Klimaschutz­maß­nah­men
sogar unter ökonomischen Aspekten äußerst
effizient. So können durch die Wiederherstel­lung
intakter Wälder und Moore der Atmosphäre             drainierten Moorstandort können beispielweise      Totholz gehört zur
große Mengen CO2 entzogen und in den Böden           jährlich ca. 24 Tonnen CO2-Emissionen pro          natürlichen Dynamik
und in der Vegetation eingelagert werden. Das        Hek­­­tar zusammenkommen (LLUR 2015). Das          in einem intakten
                                                                                                        Wald. Es bietet vie-
größte und zugleich kostengünstigste Klima­          entspricht in etwa dem CO2-Ausstoß, den ein
                                                                                                        len Arten Nahrung
schutzpotenzial haben dabei die Moore. Zum           neuer Pkw im bundesweiten Gesamtdurch­schnitt      und Lebensraum.
Vergleich: Moore bedecken nur etwa 3 Prozent         auf ca. 150.000 km Fahrtstrecke verursacht (vgl.   Foto: Hans-Joachim
der weltweiten Landfläche, sie speichern jedoch      Abteilung Statistik des Kraftfahrt-Bundesamtes     Augst
doppelt so viel Kohlenstoff (ca. 550 Milliarden      2020). Die Wiedervernässung von Mooren ist
Tonnen) wie alle Waldflächen der Erde, die           demnach die wirksamste und ökonomisch effi-
zu­sammen ca. 30 Prozent der weltweiten Land­        zienteste Maßnahme im Bereich des biologischen
fläche bedecken (Drösler et al. 2011, Joosten        Klimaschutzes. Abhängig von Art und Umfang         Wiedervernässte
et al. 2013, Statista 2021). Diese CO2-Speicher­­    der hierfür erforderlichen Einzelmaß­nahmen        Moore, wie hier das
funktion haben Moore jedoch nur in ihrem             lässt sich diese bereits für Kosten von deutlich   Dosenmoor, ver-
                                                                                                        binden den Wildnis­
ursprünglichen, nassen Zustand. Entwässerte          weniger als Hundert Euro je Tonne eingelager-
                                                                                                        gedanken mit den
Moore hingegen geben enorme Mengen des in            tes CO2 realisieren. Und dafür gibt es nicht nur   Klimaschutzzielen.
ihnen gespeicherten Kohlenstoffs in die Atmos­       einen wirksamen Kohlenstoffspeicher, sondern       Foto: Dr. Henning
phäre ab – auf einem als Ackerfläche genutzten       auch wieder ein wildes Moor.                       Thiessen

                                                                                                                           9
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unse­rer heimischen Wildnis? Gerade in ländli­
                                                                             chen Regionen kann ein auf die Belange des
                                                                             Wildnisschutzes abgestimmter „sanfter“ Touris­
                                                                             mus so zu einem bedeutenden Wirtschafts­fak­tor
                                                                             werden, wie sich schon heute im Bereich der
                                                                             Nationalparke beobachten lässt. Wildnis ist
                                                                             also ein stärkendes Element für den weiteren
                                                                             Ausbau des Natur- bzw. Ökotourismus.

                                                                             Erholung:
                                                                             Auch außerhalb des Urlaubs suchen immer mehr
                                                                             Menschen in ihrer Freizeit das Kontrast­pro­gramm
                                                                             zu ihrem zunehmend von Digitalisie­rung und
                                                                             einer schneller getakteten Arbeitswelt geprägtem
                                                                             Alltag: offline, draußen, entschleunigt. In Wild­
                                                                             nisgebieten kann man Ruhe und Ent­span­nung
                                                                             finden und gleichzeitig Pflanzen und Tiere in
                                                                             ihren natürlichen Lebensräumen erleben. Die
                                                                             Gegenwart von Natur steigert nachweislich das
                                                                             eigene Wohlbefinden. Das sieht auch die große
                                                                             Mehrheit der Deutschen so: In der bundeswei-
Intakte, wilde Fluss-   Neben dem Klimaschutz leisten intakte Wildnis­       ten Naturbewusstseinsstudie des Bundesum­
auen tragen auch        gebiete auch in anderen volkswirtschaftlich          welt­ministeriums aus dem Jahr 2015 gaben
zur Abmilderung
                        relevanten Bereichen einen enormen Beitrag:          94 Pro­zent der Befragten an, dass die Natur zu
von Hochwasser­
                        So tragen intakte Naturlandschaften an Bächen        einem guten Leben dazu gehört (voll und ganz:
ereignissen bei.
Foto: Dr. Henning       und Flüssen entscheidend zum Hochwasser­­            69 Pro­zent, eher: 25 Prozent).
Thiessen                rückhalt bei und vermeiden damit enorme
                        finan­­zielle Schäden. Ihre zuvor bereits erwähnte   Die wilde Natur war seit jeher auch eine bedeu-
                        Filter- und Reinigungsleistung ist natürlich auch    tende Inspirationsquelle für künstlerisches
                        im wirtschaftlichen Sinne bedeutsam: Ohne sie        Schaffen – sei es in der Malerei, der Literatur
                        müsste vielerorts eine teure Aufbereitung unse-      oder der Musik. Vivaldis Meisterwerk „Die vier
                        res Trinkwassers erfolgen und es wären noch          Jahreszeiten“ oder der weltbekannte Aben­teu­er­­
                        mehr aufwendige technische Methoden erforder­        roman „Der Ruf der Wildnis“ von Jack London
                        lich, um Schadstoffe und Stäube aus der Luft zu      sind nur zwei von unzähligen Beispielen hierfür.
                        filtern. Auch die Landwirtschaft kann unmittelbar
                        von Wildnisgebieten profitieren: Sie ist auf die     Umweltbildung:
                        Bestäubungsleistung von Insekten angewiesen,         Die Zusammenhänge in der Natur sind komplex
                        die jedoch sowohl hinsichtlich ihrer Artenvielfalt   – genau wie die Auswirkungen unseres Handelns
                        als auch ihrer Häufigkeit in den letzten Jahr­       auf die Natur. Für beides ein höheres Verständ­
                        zehn­ten drastisch zurückgegangen sind. Wild­        nis zu schaffen ist wichtig, um unsere Natur bes-
                        nis­gebiete leisten ihren Beitrag dazu, diesem       ser schützen zu können. Das fängt bestenfalls
                        äußerst bedenklichen Trend entgegenzuwirken,         schon im Kindesalter an. Wildnisgebiete eignen
                        indem sie ungestörte geeignete Lebens- und           sich besonders, um bei Kindern den Abenteuer-
                        Fortpflanzungsstätten für Insekten bieten. Folg­     und Forscherdrang zu wecken und ihnen spie-
                        lich ist auch in ihrem Umfeld mit einem höheren      lerisch die Natur näherzubringen, sodass eine
                        Insektenvorkommen und somit einer höheren            emotionale Bindung zur sie umgebenden Natur
                        Bestäubungsleistung zu rechnen.                      entsteht. Durch eine kindgerechte Umwelt­bil­
Junger Eisvogel –                                                            dung kann vermittelt werden, dass Wildnis nichts
Foto: Joachim Arp       Ein weiterer Wirtschaftszweig, der einen unmit­      Unheimliches ist, vor dem man sich fürchten
                        telbaren monetären Nutzen aus einer Förde­rung       muss, sondern etwas Faszinierendes, das sich
                        von Wildnis ziehen kann, ist der Tourismus:          zu entdecken und erleben lohnt. Wenn dieses
                        „Outdoor” boomt und natur- und klimaverträg­         Grundgefühl mit ins Erwachsenenalter getragen
                        liche Tourismusangebote werden immer mehr            werden kann, ist ein bedeutender Schritt getan,
                        nachgefragt. Was wäre da geeigneter als vielfäl­     um der heute vielbeklagten Entfremdung von
                        tige Möglichkeiten zum Erkunden und Erleben          der Natur entgegenzuwirken.

10
Auch bei Erwach­senen kann ein informatives und
zugleich erlebnisorientiertes Umweltbildungs­
angebot viel bewirken: Je mehr wir verstehen
von den natürlichen Prozessen und verwobenen
Wechselwir­kungen in der Natur und je mehr wir
kennen lernen von ihrer faszinierenden Vielfalt,
desto größer wird unser Bewusstsein dafür,
welch weit­reichende Auswirkungen – auch ver-
meintlich kleine – Eingriffe in die Natur haben
können und auf welch vielschichtige Weise
wir Menschen eigentlich von intakter Wildnis
profitieren. Dieses erweiterte Wissen und die
engere Bindung zur Natur bilden die Grundlage
dafür, dass sich jede/r Einzelne bewusst dafür
entscheiden kann, seine/ihre Einstellung, Verhal­
tens­weisen und Gewohnheiten zu verändern.
                                                          Wildnis: Idealer Ort für Naturerleben — Foto oben: Grünes Binnenland/photocompany,
Somit hat Umweltbildung insgesamt eine wich-              ... und Umweltbildung — Foto unten: Integrierte Station Holsteinische Schweiz
tige Anstoß- und Aufklärungswirkung mit dem
übergreifenden Ziel zu lernen, bewusster und
behutsamer mit unseren natürlichen Lebens­
grundlagen umzugehen – getreu dem Motto:
Nur was wir kennen, können wir schätzen lernen.
Und nur was wir schätzen, schützen wir auch.

Forschung:
Wildnisgebiete sind für die Forschung in vieler-
lei Hinsicht von großem Interesse. In ihnen lässt
sich beispielsweise untersuchen, wie sich die
Artenzusammensetzung oder die Prozessab­
läufe unter den Bedingungen des Klimawan­dels
in vom Menschen nicht genutzten Gebieten
verändern. Welche Formen der Anpassung wird
es geben und in welchen Ausgestal­tun­gen, in
welchen Zeiträumen und mit welchem Erfolg                 hinsichtlich der Widerstandsfähigkeit des Öko­
                                                          systems finden sie statt? Wie werden sich be­deut­­
                                                          same Ökosystemleistungen von Wildnis­ge­bie­ten
                                                          wie z. B. die Kohlenstoffspeicherung unter ge­än­
                                                          derten klimatischen Bedingungen verändern?
                                                          Die Erkenntnisse, die Wissenschaft­le­rinnen und
                                                          Wissenschaftler zu diesen und vielen weiteren
                                                          Fragestellungen liefern können, sind nicht nur für
                                                          das tiefere Verständnis von Wildnis­ökosystemen
                                                          von großem Interesse, sie lassen sich zum Teil
                                                          auch auf vom Menschen genutzte Ökosysteme
                                                          übertragen: So können Erkennt­nisse zur Wider­
                                                          standsfähigkeit von Naturwäl­dern beispiels­
                                                          weise gegen massiven Borkenkäferbe­fall und zu
                                                          den hier unter ungestörten Bedin­gun­gen statt­
                                                          fin­den­den Abwehr- und Anpas­sungspro­zessen
                                                          da­zu genutzt werden, um unsere heimische
                                                          Wald­wirtschaft naturnäher und zugleich wider-
                                                          standsfähiger gegen im Zuge des Klima­wan­dels
                                                          zu­nehmende Störungen wie andauernde Trocken­
Entnahme von Moor-Proben — Foto: Angelika Bretschneider   heit und Kalamitäten zu gestalten.

                                                                                                                                        11
Ethik:                                                 Gesetz über Naturschutz und Landschafts­
                         Es klang bereits an, dass der Schutz bzw. das          pflege (Bundesnaturschutzgesetz – BNatSchG)
                         Wiederzulassen von Wildnis heute nicht nur eine        § 1 Ziele des Naturschutzes und der
                         pragmatische, sondern auch eine gewichtige             Landschafts­pflege
                         ethische Dimension hat. Je mehr wir die enorme
                         Überprägung und Zerstörung der Natur welt-             (1) Natur und Landschaft sind auf Grund ihres
                         weit und in unserer unmittelbaren Umgebung             eigenen Wertes und als Grundlage für Leben
                         wahrnehmen, desto stärker besinnt sich unsere          und Gesundheit des Menschen auch in Ver­
                         Gesellschaft glücklicherweise wieder auf unsere        ant­wortung für die künftigen Generationen im
                         gemeinsame Verantwortung, die wir für den              besiedelten und unbesiedelten Bereich nach
                         Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen haben.         Maß­gabe der nachfolgenden Absätze so zu
Sumpfdotter­-            Diese Verantwortung manifestiert sich zum Bei­         schützen, dass
blume — Foto:            spiel darin, dass mit der Einführung des Artikels
Jürgen Gem­per­lein
                         20a im Jahr 1994 Umweltschutz als Staatsziel           1. die biologische Vielfalt,
                         im Grundgesetz verankert worden ist.
                                                                                2. die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des
                                     Artikel 20a Grundgesetz:                   Naturhaushalts einschließlich der Regene­­ra­
                           Der Staat schützt auch in Verantwortung für          tionsfähigkeit und nachhaltigen Nutzungs­
                           die künftigen Generationen die natürlichen           fähigkeit der Naturgüter sowie
                          Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen
                            der verfassungsmäßigen Ordnung durch                3. die Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie
                                                                                der Erholungswert von Natur und Landschaft
                           die Gesetzgebung und nach Maßgabe von
                            Gesetz und Recht durch die vollziehende
                                                                                auf Dauer gesichert sind; der Schutz umfasst
                                 Gewalt und die Rechtsprechung.
                                                                                auch die Pflege, die Entwicklung und, soweit
                                                                                erforderlich, die Wiederherstellung von Natur
                                                                                und Landschaft (allgemeiner Grundsatz).

                                                                               In unserer globalisierten Welt wird auch die
                                                                               Verantwortung für den Schutz unserer Natur zu
                                                                               einer Frage der globalen Gerechtigkeit bzw.
                                                                               Fairness. Wenn wir beispielsweise von den Län­
                                                                               dern Amazoniens, die einen deutlich geringeren
                                                                               Wohlstand haben als wir, fordern, dass weite
                                                                               Teile ihrer Landflächen weiterhin ursprünglicher
                                                                               Regenwald bleiben sollen, müssen gerade wir
                                                                               als wohlhabende Wirtschaftsnation auch unseren
                                                                               Beitrag leisten – und das nicht nur durch die
                                                                               Finanzierung von Naturschutzprojekten in ande-
                                                                               ren Erdteilen. Zum Schutz der globalen Vielfalt
                                                                               müssen auch wir unserer heimischen Natur ihren
                                                                               Raum lassen bzw. wieder zurückgeben. Gemes­
                                                                               sen an dem, was wir von anderen erwarten, sollte
Betreten unmöglich       Hier wird beim Schutz der natürlichen Lebens­         ein Flächenanteil von zwei Prozent unserer
— Wildnis garantiert:    grundlagen auf die Verantwortung für die künf­        Landesfläche, auf dem wir wieder Wild­nis zulas-
Bruchwald am Se­len­­­
                         ti­gen Generationen abgestellt. Nachfolgende          sen (vgl. nächstes Kapitel), doch ein allemal
ter See — Foto: Dr.
                         Ge­ne­rationen sollen also keine schlechteren         leistbarer Beitrag sein.
Henning Thiessen
                         Be­din­gungen hinsichtlich der Nutzung der natür­­
                         lichen Ressourcen vorfinden als wir. Der Schutz der
                         Natur um ihres Eigenwertes willen wird hier nicht
                         genannt, durch die Einfügung „auch“ aber zu­­
                         mindest angedeutet. Dieser Eigenwert der Natur
                         als Schutzgrund wird hingegen explizit in § 1
                         Abs. 1 des Bundesnaturschutzgesetzes benannt.

12
3                Auf welcher Grundlage schützen wir Wildnis
                 und welche Ziele verfolgen wir dabei?

B    ereits im Jahr 1992 wurde in Rio de Janeiro
im Rahmen einer Konferenz der Vereinten Nati­
onen das Übereinkommen über die biologische
Vielfalt als völkerrechtlicher Vertrag geschlossen.
Bis heute haben ihn 196 Staaten unterzeichnet,
darunter Deutschland. Aus dieser Verpflichtung
heraus wurde in Deutschland im Jahr 2007 vom
Kabinett die Nationale Strategie zur biologischen
Vielfalt verabschiedet. In dieser Strategie wurde
das Ziel formuliert, dass sich bis zum Jahr 2020
die Natur auf zwei Prozent der Fläche Deutsch­
lands wieder nach ihren eige­nen Gesetzmäßig­
kei­ten ungestört entwickeln und Wildnis ent­ste­
hen kann. Dieses Ziel wurde im Jahr 2016 in das
Landesnaturschutzgesetz (LNatSchG) des Landes
Schleswig-Holstein über­nommen. Hier heißt es
in § 12 Satz 2: „Innerhalb des Biotop­verbundes
sollen mindestens zwei Prozent der Landes­
fläche zu Wildnisgebieten entwickelt werden.“
Der Suchraum zur Umsetzung des Zwei-Prozent-
Wildnis-Ziels ist also die Flächenkulisse des
Biotopverbundsystems, die wiederum laut § 12
Satz 1 LNatSchG mindestens 15 Prozent der
Fläche des Landes umfassen soll.
                                                      Der öffentliche Auftrag zum Wildnisschutz geht       Der Naturwald im
Speziell für den Lebensraum Wälder wurde in der       darüber hinaus auch aus dem Bundesnatur­             Aukrug: Einer von
                                                                                                           58 ausgewiesenen
Nationalen Strategie zur biologischen Viel­falt ein   schutzgesetz (BNatSchG) hervor. Hier heißt es
                                                                                                           Natur­wäl­dern in
Ziel formuliert, das über das allgemeine Zwei-        in § 1 Absatz 3 Nr. 6: „Zur dauerhaften Siche­rung
                                                                                                           Schleswig-Holstein
Prozent-Wildnis-Ziel hinausgeht: Bis zum Jahr         der Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Natur­     — Foto: Dr. Henning
2020 soll der Flächenanteil der Wälder mit natür­     haushalts sind insbesondere […] der Entwick­lung     Thiessen
licher Waldentwicklung (Waldwildnis bzw. Natur­       sich selbst regulierender Ökosysteme auf hierfür
wald) fünf Prozent der gesamten Wald­flä­che          geeigneten Flächen Raum und Zeit zu geben.“
betragen. In Schleswig-Holstein wur­de die­ses Ziel
dahingehend konkretisiert, dass zehn Pro­zent der     Basierend auf all den vorgenannten Zielset­zun­
Gesamtfläche aller öffentlichen Wäl­der (Staats-      gen und Vorgaben wurde für Schleswig-Hol­stein
und Körperschaftswald), die zusam­men etwa            vom Landesamt für Landwirtschaft, Umwelt und
die Hälfte aller Waldflächen Schles­wig-Hol­steins    ländliche Räume bis Ende des Jahres 2018 das
ausmachen, aus der Bewirt­schaftung ge­nommen         Fachkonzept „Wildnisgebiete in Schleswig-
und zu Naturwäldern werden sollen (§ 6 Satz 3         Holstein“ erarbeitet, auf dessen Inhalte in den
Landeswaldgesetz Schleswig-Holstein - LWaldG).        folgenden Kapiteln noch näher eingegangen wird.

                                                                                                                           13
wir dafür Sorge tragen, dass die von uns aus-
                                                                          erkorenen Wildnisgebiete dauerhaft in ihrem
                                                                          Bestand gesichert werden. Dafür muss keine
                                                                          neue eigene naturschutzrechtliche Schutzge­
                                                                          biets­kategorie für Wildnisgebiete erschaffen
                                                                          werden. Dies würde für die meisten betreffen-
                                                                          den Flächen nur zu einer unnötig verkomplizie-
                                                                          renden „Doppelsicherung“ führen, da die bereits
                                                                          bestehenden Sicherungsinstrumente ein ausrei­
                                                                          chendes Handwerkszeug bieten, um die Lebens­
                                                                          räume bzw. Biotope, aus denen sich die Wild­
                                                                          nis­gebiete zusammensetzen, dauerhaft gegen
                                                                          erhebliche Beeinträchtigungen oder Zerstörung
                                                                          zu schützen. Zu diesen bereits bestehenden
                                                                          Sicherungsinstrumenten zählen vor allem:
                                                                          • der gesetzliche Biotopschutz, welcher im
                                                                             Bundes- und Landesnaturschutzgesetz sowie
                                                                             in der Landesverordnung über gesetzlich
                                                                             geschützte Biotope geregelt ist;
                                                                          • der Gebietsschutz, welcher im Zusammen­
                                                                             hang mit Wildnisgebieten Naturschutzge­biete,
                                                                             NATURA 2000-Gebiete und den National­park
                                                                             Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer umfasst.
Besonders an         Grundsätzlich wird beim Wildnisschutz das über­­
Steilküsten kann     greifende Ziel verfolgt, natürliche Prozesse und
man die natürliche
                     natürliche Dynamik zu schützen bzw. wieder
Dynamik hautnah
erleben. Foto:
                     zuzulassen. Wildnisschutz ist also in erster Linie
Hans-Joachim         Prozessschutz. Dies geht automatisch damit ein-
Augst                her, dass es hierbei keinen vorherbestimmten
                     Zielzustand geben kann. Wildnis zu schützen
                     heißt also einen dynamischen und ergebnis­
                     offe­nen Ansatz zu verfolgen – quasi der Natur
                     ihren Lauf zu lassen – und in der Folge die sich
                     einstellenden Prozesse und Zustände zu akzep-
                     tieren wie die Natur sie geschaffen hat. Dies mag
                     an der einen oder anderen Stelle eine Her­aus­
                     for­derung sein, da wir uns hinsichtlich unseres
                     „landschaftspflegerischen“ Gestaltungswillens
                     und unserer individuellen ästhetischen Vorstel­
                     lungen in Zurücknahme üben müssen. Mit dieser
                     bewussten Zurücknahme drücken wir aber               Wildnisgebiete werden nicht als eigene Schutz­ge­biets­
                     auch unseren Respekt vor der Natur aus, leisten      kategorie gesichert, sondern z. B. durch ihren Status
                                                                          als Naturschutzgebiet. Foto: Hans-Joachim Augst
                     einen wichtigen Beitrag zum Erhalt ihrer natür­
                     lichen Vielfalt und werden obendrein belohnt
                     mit dem Erlebnis faszinierender Naturland­schaf­     Dort, wo diese Sicherungsinstrumente (noch)
                     ten – die gerade auch deshalb so faszinieren,        nicht greifen, wie z. B. bei der Erweiterung eines
                     weil sie sinnbildlich für das Ungeplante und         außerhalb der oben genannten Gebietskulissen
                     Ungezähmte stehen.                                   gelegenen Wildnisgebietes durch Bereitstel­lung
Meersenf – Foto:                                                          zusätzlicher vormals anders genutzter Flächen
Jürgen Gemperlein    Allein schon aus Respekt vor der sich hier ent-      (die dementsprechend noch nicht unter den
                     faltenden Natur aber natürlich auch im Hinblick      gesetzlichen Biotopschutz fallen), können zur
                     auf die im vorangehenden Abschnitt zusammen­         Flächensicherung gesonderte Vereinbarungen
                     getragenen zahlreichen Vorteile bzw. Öko­sy­         mit den jeweiligen Eigentümern/Trägern abge-
                     stem­leistungen, die häufig erst auf lange Sicht     schlossen werden oder entsprechende verbind-
                     ihre Wirkung richtig entfalten können, müssen        liche Selbstverpflichtungen abgegeben werden.

14
4               Welche Eignungskriterien müssen
                Wildnisgebiete erfüllen?

                                                     Flächenbundesländer (Schutzgemeinschaft Deut­
                                                     scher Wald 2020) aufweist. Zudem ist zu berück­

O
                                                     sichtigen, dass auf den für den Natur­schutz zur
     b ein Gebiet als Wildnisgebiet eingestuft       Verfügung stehenden Flächen nicht überall die
werden kann oder zumindest die Eignung dafür         Zielvorgabe Wildnis realisiert werden kann bzw.
aufweist, hängt von einer Reihe verschiedener        soll, sondern dass hier zum Schutz der Vielfalt
Faktoren ab.                                         an Lebensräumen und Arten das gesamte Spek­­
                                                     trum bestehender Naturschutzan­sätze, also z. B.
Mindestgröße                                         auch extensive Beweidung oder gezielte Arten­
Wildnis wird oft mit unberührter Weite assoziiert    schutzmaßnahmen und -programme, um­gesetzt
und so verwundert es nicht, dass die Mindest­        wird. Dementsprechend wären zusammenhän-
grö­ße für Wildnisgebiete ein viel diskutiertes      gende Wildnisgebiete mit Min­dest­grö­ßen von         Birkenporling – Foto:
Kriterium ist. Hierbei geht es aber nicht vorder-    500 bzw. 1.000 Hektar kurz- und mittelfristig nur     Jürgen Gemperlein
gründig um das weite ungestörte Landschafts­         in einer so geringen Anzahl realisierbar, dass das
bild, sondern um die Widerstands- bzw. Rege­         bereits genannte angestrebte Flächenziel von
ne­rationsfähigkeit des Ökosystemkomplexes           zwei Prozent der Landesfläche damit bei Weitem
bezüglich Störungen (ökologische Resilienz).         nicht erreicht werden könnte. Den besonderen
Diese steigt grundsätzlich mit zunehmender           Gegebenheiten in Schleswig-Holstein geschuldet,
                                                                                                           Sehr alte Bäume, die
Ge­bietsgröße, da Einwirkungen von außen, die        wurde daher hier eine Mindestgröße für Wild­nis­      in forstwirtschaft­lich
sich prägend auf die Gebietsentwicklung aus­         gebiete von 20 Hektar festgelegt – analog zum         genutzten Wäldern
wir­ken könnten, besser ‚abgepuffert‘ werden         Richtwert für die Min­dest­größe von Natur­­wäldern   nur selten zu finden
können. Je nach räumlicher Betrachtungsebene         in Schleswig-Hol­stein. Dies mag im ersten Au­gen­    sind, bieten zahlrei-
                                                                                                           chen Arten einen
gibt es unterschiedliche Vorstellungen bzw.          blick in Anbe­tracht der großen Abweichung von
                                                                                                           Lebensraum, z. B.
An­sätze in Bezug darauf, wie groß Wildnis­ge­       den Ansätzen auf Europa- oder Bundes­ebe­ne           dem stark gefährde-
biete mindestens sein sollen: Auf europäischer       erhebliche Zweifel an der Wirk­sam­keit solch         ten Eremiten.
Ebene wird z. B. von der Wild Europe Initiative      verhältnismäßig kleiner Wildnisgebiete auslösen.      Foto: Götz Heeschen
eine Mindestgröße für die Kernzonen von Wild­
nis­gebieten von 3.000 Hektar vorgeschlagen
(Wild Europe Initiative 2013). Für Deutschland
wurde seitens des Bundesumweltministeriums
und des Bundesamtes für Naturschutz festgelegt,
dass großflächige Wildnisgebiete im Sinne der
„Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt“
vorzugsweise eine Größe von mindestens 1.000
Hektar, in flussbegleitenden Auwäldern, Moo­ren
und an Küsten von mindestens 500 Hektar, auf­
weisen sollen (Bundesamt für Naturschutz 2015).
Diese anvisierten Mindestgrößen 1:1 auf Schles­­­­
wig-Holstein zu übertragen, ist nicht zielführend,
da Schleswig-Holstein eine nahezu flä­chen­
decken­de kulturlandschaftliche Nutzung und
darüber hinaus mit 11 Prozent der Landes­fläche
den mit Abstand geringsten Waldanteil aller

                                                                                                                              15
auch kleinere Wildnisgebiete einen erheblichen
                                                                                   Beitrag zum Erhalt der biologischen Vielfalt und
                                                             Schutzgebiets- und    der Stärkung natürlicher Prozesse und Dynami­
                                                             Biotopverbundsystem
                                                                                   ken leisten. Gleichwohl bietet Schleswig-Holstein
                                                             (reg. Ebene)
                                                                                   natürlich auch Raum für eine Reihe von Wildnis­
                                                                                   gebieten, die mehrere 100 Hektar groß sind,
                                                                                   wie in den nachfolgen­den Kapiteln noch im
                                                                                   Einzelnen be­schrieben wird. Nähere Informa­
                                                                                   tionen zum Schutzgebiets- und Biotopverbund­
                                                                                   system in Schleswig-Holstein finden sich unter
                                                                                   www.schleswig-holstein.de/biotopverbund.

                                                                                   Keine Zerschneidung
                                                                                   Ein weiteres wichtiges Eignungskriterium für
                                                                                   Wildnisgebiete ist, dass eine Zerschneidung,
                                                                                   etwa durch breite Straßen mit hohem Verkehrs­
              Schwerpunktbereich                                                   aufkommen, gar nicht oder lediglich in einem
                                                                                   sehr geringen Umfang stattfindet.
              Verbundachse

              Wildnisgebiet                                                        Dementsprechend sind Gebiete, die von Auto­
  Quelle: Esri, HERE, Garmin, Intermap, increment P Corp.,                         bahnen, Bundesstraßen, Landesstraßen oder
  GEBCO, USGS, FAO, NPS, NRCAN, GeoBase, IGN
                                                                                   stärker frequentierten Kreisstraßen durchkreuzt
Wildnisgebiete als Bestandteil des lan­desweiten Schutz­ge­biets- und Bio­top­­    werden, als Wildnisgebiete per se ungeeignet.
verbund­sys­tems, hier am Beispiel Barkauer See. Darstellung: Lan­des­amt für      Die durch die Zerschneidung geschaffene
Land­wirtschaft, Umwelt und ländliche Räume Schleswig-Holstein
                                                                                   Frag­mentierung der Lebensräume, die mit teils
                                                                                   unüberwindbaren Wanderungs- bzw. Ausbrei­
                             Lage innerhalb des Schutzgebiets- und                 tungsbarrieren für zahlreiche Tierarten einher-
                             Biotop­verbundsystems                                 geht, steht den Wildniszielen klar entgegen.
                             In diesem Zusammenhang ist jedoch zu berück­          Die Erheblichkeit der Auswirkungen von kleine-
                             sichtigen, dass die schleswig-holsteinischen Wild­­   ren, weniger stark befahrenen Straßen muss im
                             nisgebiete nicht als isolierte, mehr oder weniger     Einzelfall geprüft werden. Zudem können gerade
                             kleine „Wildnisinseln“ verstreut in der Lands­chaft   bei ‚schmaleren‘ Gebieten, etwa entlang von
                             liegen bzw. liegen werden, da als weiteres Eig­       Fließgewässern, auch im Randbereich des je­wei­
                             nungskriterium die Lage innerhalb des Schutz­         ligen Gebietes verlaufende Straßen so starke
                             gebiets- und Biotopverbundsystems festgelegt          negative Einflüsse unter anderem durch Lärm-,
                             worden ist. Dadurch sind bzw. werden alle Wild­nis­   Licht- oder Schadstoffemissionen auf das Gebiet
                             gebiete wichtiger Bestandteil eines landesweiten      ausüben, dass die natürliche Entwicklung zu
                             Lebensraumnetzwerks. Durch diese Einbettung in        großen Störungen unterliegt und eine Eignung
                             einen großräumigen funktionalen Verbund können        als Wildnisgebiet demzufolge nicht gegeben ist.

Die ökologische
Zerschneidungs­
wirkung von vielbe-
fahrenen, mehrspu-
rigen Straßen kann
durch den Bau von
Grünbrücken, wie
hier bei Kiebitzholm
an der A 21, redu-
ziert werden.
Foto: Volker Seifert

16
Keine Ressourcenentnahme
Ein weiteres Eignungskriterium ist, dass in dem
Gebiet keine Nutzung mehr stattfindet, bei
der dem Ökosystem in signifikantem Umfang
Ressourcen entnommen werden. Gemeint sind
Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft und grund­
sätzlich jegliche Form von Nutztierhaltung.

Veränderungen der Standortbedingungen
und der Artenzusammensetzung
Bei der Bewertung der Eignung als Wildnis­ge­
biet in Betracht zu ziehen sind darüber hinaus
die bereits erfolgten Veränderungen der natür-
lichen Standortbedingungen wie veränderte
hydrologische Verhältnisse, Nährstoffeinträge
und weitere anthropogene Stoffeinträge. Auch
die Veränderung der Artenzusammensetzung
ist zu beachten. Dies kann beispielsweise die
durch die Forstwirtschaft bedingte Dominanz
gebietsfremder Gehölzarten, wie etwa der Fichte
oder Douglasie sein.

Wie eingangs bereits erwähnt, sind die Stand­ort­
bedingungen vielerorts so sehr verändert bzw.
überprägt, dass eine ‚Rückentwicklung‘ zum
ursprünglich hier vorhandenen Wildnisöko­sys­tem
nicht mehr ohne Weiteres möglich ist. Teilweise     Orchideen-Wiesen sind nicht wildnisgeeignet, da sie eine Pflege (Mahd/
kann durch initiale Entwicklungsmaßnahmen,          Be­­wei­dung) benötigen, um auf Dauer fortzubestehen. Bei überregionaler
wie z. B. Wiedervernässungsmaßnahmen in             Bedeu­tung und nicht zu großflächiger räumlicher Aus­­dehnung können z. B.
                                                    solche Orchideen-Bestände aber als sogenannte Pflege­zonen in Wildnis­ge­
Mooren, erreicht werden, dass ehemals prä­gen­
                                                    bieten inbegriffen sein. Foto: Lisa Heise
de Stand­ortbedingungen – zumindest annähernd
– wiederhergestellt werden. Dort, wo dies nicht
möglich ist, käme ggf. die Entwicklung einer        Flächen in Kernbereichen von potenziellen
andersartigen sekundären Wildnis infrage, sofern    Wildnisgebieten (weitgehender Wildnis­bestand)
sich trotz veränderter Standortbedingungen          oder um besonders geeignete Wildnisent­wick­
eine weitgehend natürliche Entwicklung einstel-     lungsbereiche handelt. Für diese Flächen können
len kann (also z. B. keine dauerhafte Entwässe­     somit Bemühungen unternommen werden,
rung vorhanden ist). Dies ist im jeweiligen         diese entweder durch Erwerb bzw. Tausch zu
Einzelfall zu prüfen.                               sichern oder einen freiwilligen Nutzungsverzicht
                                                    der Eigentümer zu erreichen – ggf. auch gegen
Von großer Bedeutung für die praktische Um­         eine entsprechende Aus­gleichs­leistung (vgl.
setzbarkeit der Wildnisentwicklung sind außer­      Ausführungen in Kapitel 8).
dem die Eigentumsverhältnisse der betreffen­
den Flächen. Um eine möglichst zeitnahe             Bei der Flächenauswahl zur Entwicklung von              Moschusbock – Foto:
Umsetzung der Wildnisziele zu erreichen und         Wildnisgebieten ist darüber hinaus zu berück­           Jürgen Gemperlein
die Wildnisgebiete bestmöglich zu sichern, wur­     sichtigen, dass vorhandene Kulturbiotope – wie
den in Schleswig-Holstein vorrangig Gebiete         der Name bereits verrät – grundsätzlich keine
auf Umsetzbarkeit der Wildnisziele geprüft, die     Wildniseignung aufweisen. Hierbei handelt es
sich zu einem überwiegenden Teil im Eigen­tum       sich um Biotope oder Biotopkomplexe, die für
der öffentlichen Hand (Bund, Land, Kreise) oder     den dauerhaften Erhalt ihrer typischen Charak­
im Besitz von Naturschutz-Stiftungen befinden.      teristika auf aktive Naturschutzmanagement­
Flächen anderer Eigentümer wurden jedoch            maßnahmen angewiesen sind. Beispiele hierfür
auch in die ‚Suchkulisse‘ einbezogen, wenn diese    sind Streuobstwiesen, extensiv genutzte – und
in besonders geeigneten Bereichen liegen, wenn      dadurch oft arten- und strukturreiche – Wiesen
es sich also z. B. um die letzten noch benötigten   und Weiden oder Heidestandorte.

                                                                                                                             17
ökologisch wertvollen Kulturbiotope vorhanden
Darstellung des                                                            sind, grundsätzlich nicht für Wildnis­ent­wick­lung
Prinzips der räumli­
                                                                           vorzusehen. Sie können dennoch räumlich in
chen Zonierung von
Wildnisge­bie­ten.
                                                                           Wildnisgebiete einbezogen werden, und zwar
Grafik: Lan­­des­amt                                                       als sogenannte Pflegezonen. Dies sind einzelne
für Landwirt­schaft,                                                       Bereiche innerhalb der Wildnisgebiete, in denen
Umwelt und ländli-                                                         zum Erhalt von regional besonders seltenen
che Räume Schles­                                                          oder wertvollen Kulturbiotopen ausnahmsweise
wig-Holstein
                                                                           direkte menschliche Eingriffe in Form von Pflege­
                                                                           maßnahmen zulässig sind. Ihr Flächenanteil soll
                                                                           insgesamt höchstens fünf Prozent der Gesamt­
                                                                           fläche des jeweiligen Wildnisgebietes betragen
                                                                           und die erforderliche Pflege darf keine signifi-
                                                                           kanten Auswirkungen auf die natürliche Entwick­
                                                                           lung im übrigen Wildnisgebiet haben.

                                                                           Grundsätzlich bestehen Wildnisgebiete konzep­
                                                                           tionell neben den möglicherweise vereinzelt
                                                                           enthaltenen Pflegezonen aus Bereichen mit Wild­
                                                                           nisbestand und/oder Bereichen zur Wild­nis­ent­
                                                                           wicklung. In den Wildnisbestands­berei­chen sind
                       Würde man sie ‚verwildern‘ lassen, sie also einer   die in diesem Kapitel aufgezählten Eignungs­
                       natürlichen Entwicklung ohne jegliches Zutun        kriterien bereits erfüllt, in den Wildnisentwick­
                       des Menschen überlassen, würden sich die be­­       lungs­bereichen hingegen besteht das Poten­zial,
                       treffenden Flächen langfristig zu ganz anderen      dass diese Kriterien – auch durch Umset­zung
Im Südteil des         Biotoptypen (z. B. zu Wäldern) entwickeln.          entsprechender Instrumente bzw. Maßnahmen
Beltringharder         Der Erhalt dieser oft selten gewordenen Kultur­     – in absehbarer Zeit erfüllt sein werden.
Kooges ist der
                       bio­tope ist jedoch sehr wichtig für den Erhalt
Wildnisstatus
bereits erreicht.
                       der Vielfalt an Lebensraumstrukturen und der        Günstig ist zudem, wenn diese Wildnisgebiete
Foto: Jürgen           auf sie angewiesenen Arten. Deshalb sind            eingebettet in extensiv genutzte oder naturnahe
Gemperlein             Flächen, auf denen solche erhaltenswerten,          Landschaftsteile liegen.

18
5                 Menschliche Nutzungen in Wildnisgebieten:
                  Was ist vereinbar, was unvereinbar?

                                                         unvereinbar mit den Wildniszielen. Selbst eine
                                                         naturnahe Waldbewirtschaftung mit selektiver

G
                                                         Holzentnahme oder eine reine Brennholzwer­
     emäß § 12 des Landesnaturschutzgesetzes             bung im größeren Umfang verändert das natür-
Schleswig-Holstein soll sich in Wildnisgebieten          liche Gefüge bereits zu sehr, um als ‚wildnis­
„die Natur weitgehend unbeeinflusst von                  kompatibel‘ eingestuft werden zu können. Für
menschlichen Nutzungen entwickeln“ können.               ‚Wald­wildnis‘ sind daher die für Naturwälder
                                                         festgelegten Kriterien anzuwenden (vgl. § 14 des
       Folgende Nutzungsformen, die zu einer             Waldgesetzes für das Land Schleswig-Holstein).
       signifikanten Beeinflussung bzw. Beein­
       träch­tigung von Wildnisgebieten führen           ò Fischereiwirtschaftliche Nutzung:
       würden, sind daher generell unvereinbar           Die Nutzung von Gewässern durch gewerbliche         Lerchensporn –
       mit den Wildniszielen:                            Fischerei (Berufsfischer) stellt ebenfalls einen    Foto: Martina Kairies
                                                         signifikanten Eingriff in das natürliche Gefüge,
ò Landwirtschaftliche Nutzung:                           insbesondere in Nahrungsketten und die Arten­
Alle Formen der landwirtschaftlichen Nutzung,            zusammensetzung, dar. Daher ist auch sie nicht
wie Ackerbau, Grünlandbewirtschaftung und                mit den Wildniszielen vereinbar.
Nutztierhaltung, überprägen natürlicherweise
vorkommende Biotope und sind auf die Ent­nah­            ò Erholungsnutzungen mit signifikanten
me natürlicher Ressourcen angelegt, wo­durch                 Störwirkungen:
sie den Wildniszielen entgegenstehen.                    Grundsätzlich sollen Wildnisgebiete auch Raum
                                                         für Erholung und Naturerlebnis bieten. Einige
                                                         Formen der Erholungsnutzung gehen jedoch mit
                                                         zu großen Störwirkungen z. B. auf Wildtiere ein-    Mountainbiking
                                                         her und sind daher mit den Wildniszielen nicht in   abseits der Wege ist
                                                                                                             besonders störend
                                                         Einklang zu bringen. Dazu zählen unter anderem
                                                                                                             für die Tier- und
                                                         Mountainbiking abseits der Wege, das Mitfüh­        Pflanzenwelt. Foto:
                                                         ren unangeleinter Hunde sowie das Be­fahren         Andreas Leistner,
                                                         von Gewässern mit motorisierten Booten.             Pixabay

Dort, wo landwirtschaftliche Nutzung stattfindet, wird
die natürliche Entwicklung und Dynamik dauerhaft
überprägt, was den Wildniszielen entgegensteht.
Foto: Dr. Matthias Brunke, LLUR

ò Forstwirtschaftliche Nutzung:
Auch die Forstwirtschaft greift maßgeblich in
natürliche Abläufe ein, z. B. durch Entwässe­rungs­
maßnahmen, Bodenverdichtung, An-/Nach­
pflan­zungen und Holzentnahme, und ist daher

                                                                                                                             19
Folgende Nutzungsformen sind – abhängig      eines Ge­bietes. Die für Wildnisgebiete als Ziel
                             von ihrer individuellen Ausgestaltung, In­   definierte weitgehend unbeeinflusste Entwick­
                             tensität und räumlichen Verteilung inner­    lung wird so­mit abhängig von der jeweiligen
                             halb des jeweiligen Gebietes – unter Um­     Bejagungs­in­ten­sität mehr oder weniger stark
                             ständen vereinbar mit den Wildniszielen:     durch mensch­liche Steuerung überprägt. Daher
                                                                          sollte in entsprechend großen Wildnisgebieten
                                                                          keine Jagd statt­finden. In Schleswig-Holstein
                                                                          wird die Jagd­aus­übung im Hinblick auf die
                                                                          bereits angesprochene Kleinräumigkeit vieler
                                                                          Wildnisgebiete jedoch nicht als Ausschluss­
                                                                          krite­rium für die Zu­ord­nung als Wildnisgebiet
                                                                          angesehen (mit Aus­nahme des Nationalparks
                                                                          Schles­wig-Holsteini­sches Watten­meer). Dies
                                                                          gilt insbesondere für Schalenwild und jagdbare
                                                                          Arten, die auch außer­halb der Wildnis­gebiets­
                                                                          kulisse land-, forst- oder fischereiwirtschaftliche
                                                                          Schäden verursachen können. Soweit in Wild­nis­­
                                                                          gebieten eine Jagd erfolgt, soll diese tunlichst
                                                                          in Form eines die natürlichen Abläufe und
                                                                          Dynamiken möglichst wenig beeinträchtigen­
Ob Wildnisentwick­     ò Angelnutzung:                                    den Wildtiermana­ge­ments erfolgen. Hier ist
lung und Angel­        Grundsätzlich wird eine Angelnutzung (Freizeit-    eine gute und enge Koopera­tion zwischen Natur­
nutzung miteinan-
                       /Sportfischerei) in Wildnisgebieten kritisch       s­chutz­behörden und Jäger*­in­nen gefragt, um
der vereinbar sind,
                       gesehen, jedoch nicht generell als Ausschluss­     ge­mein­sam für alle verträgliche, gebietsange-
hängt von den
jeweiligen Einzel­     kriterium bewertet. Die Vereinbarkeit einer        passte Konzepte zu erarbeiten.
fall­um­stän­den ab.   bestehenden Angelnutzung mit den Wildnis­
Foto: David Cardi­     zielen muss für jedes Gebiet individuell geprüft   Wichtig ist also noch einmal hervorzuheben,
nez, Pixabay           werden. Wildnisverträgliche Regelungen, z. B.      dass allein durch die Einstufung eines Gebietes
                       zu Besatzmaßnahmen, können ggf. über die           als Wildnisgebiet die hier bestehende Jagdaus­
                       Hegepläne einvernehmlich festgelegt werden.        übung nicht ohne das Einvernehmen des/der
                                                                          jeweiligen Jagdausübungsberechtigten ein-
                       ò Jagdausübung:                                    geschränkt wird, sondern dass im Sinne einer
                       Durch die Bejagung von Wildtieren erfolgt ein      gemeinsamen Verantwortung für den Wildnis­
                       regulativer Eingriff in die Artenzusammenset­      schutz einvernehmliche Lösungen gefunden
                       zung und die Populationsgrößen innerhalb           werden sollen.

Gerade in den
Übergangsbereichen
zwischen Wildnis
und Kultur­land­
schaft ist eine enge
Abstimmung zwi-
schen Natur­schutz­
behörden und
Jagdaus­übungs­
berechtigten
gefragt, um allen
Belangen gerecht
zu werden. Foto:
JuliusH, Pixabay

20
Folgende Nutzungsformen sind bei gege-
      bener Verhältnismäßigkeit, z. B. hinsicht-
      lich Gruppen­größen und Frequentierung,
      generell vereinbar mit den Wildniszielen:

ò Naturverträgliche Erholungsnutzungen:
Zu denjenigen Erholungsnutzungen, die nur
mit einer geringen Störwirkung auf die Natur­
um­­­gebung verbunden sind, zählen vor allem
die ‚stillen‘ Erholungsformen, wie Wandern,
Rad­fahren oder Joggen auf dafür ausgewiese-
nen Wegen. Auch Reiten auf ausgewiesenen
Reit­wegen wird als unproblematisch angesehen.

ò Naturschutzbezogene Pflegemaßnahmen
   innerhalb von Pflegezonen:
Wie bereits im vorherigen Kapitel erläutert, kann
es in Wildnisgebieten vereinzelt Pflegezonen
geben, in denen ökologisch wertvolle Kultur­
biotope durch Pflegemaßnahmen, wie Mahd
oder Beweidung, dauerhaft erhalten werden.
In Anbetracht des geringen Flächenanteils
dieser Pflegezonen und unserer besonderen
Verant­wortung zum Erhalt dieser selten gewor-
denen Biotope und der auf sie angewiesenen
Arten wird dies als vereinbar mit den Wildnis­
zielen erachtet.

Die vorangehende Aufstellung ordnet nur die
wichtigsten in potenziellen Wildnisgebieten vor­
kommenden Nutzungsformen ein und ist daher
nicht abschließend. Die Vereinbarkeit von wei-
teren Nutzungsformen, die hier nicht genannt
wurden, ist im Einzelfall durch Abstimmung mit
den zuständigen Fachbehörden des Landes,
dem Ministerium für Energiewende, Landwirt­
schaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung bzw.
dem Landesamt für Landwirtschaft, Umwelt und
ländliche Räume, zu klären.                         nicht als Wildnisgebiet eingestuft werden kann.      Das Erleben von
                                                    Kommt diesem Gebietsausschnitt jedoch z. B.          Wildnisgebieten
Grundsätzlich gilt bei der Suche nach geeigne-      aufgrund seiner Lage oder der hier vorkommen­        ist in Form von
                                                                                                         naturverträglichen
ten Wildnisgebieten und der Frage nach der          den Biotope eine entscheidende Bedeutung
                                                                                                         Erholungsnutzun­
Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit von Nutzun­      bei der Schaffung eines zusammenhängenden            gen grundsätzlich
gen mit den Wildniszielen, dass bestehende          Wildnisgebietes zu, soll es intensive Bemüh­un­      möglich. Oberes
verbriefte Nutzungsberechtigungen einzelner         gen geben, um hier die Wildnisziele im Einver­       Foto: Mar­tina Kai­­
Nutzer*innen bzw. Nutzer*innengruppen (z. B.        nehmen mit den jeweiligen Eigentümer*innen           ries, unteres Foto:
                                                                                                         Integrierte Station
aus den Bereichen Land- und Forstwirtschaft,        bzw. Nutzungsberechtigten realisieren zu kön-
                                                                                                         Holsteini­sche
Fischerei, Angelvereine und Jagdausübung) in        nen. Dies kann zum Beispiel bei letzten benö­tig­­   Schweiz
einem Gebiet allein durch die Zuordnung als         ten Flächen im Kernbereich eines Moo­res, das
Wildnisgebiet nicht ohne das ausdrückliche          wiedervernässt und dann einer natürlichen Ent­
Einvernehmen des jeweiligen Nutzenden ver-          wick­lung überlassen werden soll, der Fall sein.
ändert bzw. eingeschränkt werden. Bestehende        Welche Ansätze und Umsetzungsinstru­mente es
Nutzungen, auf die ein Anspruch besteht, führen     gibt, um dies unter der Prämisse eines best­mög­
also bei Unvereinbarkeit mit den Wildnis­zielen     lichen Interessenausgleichs zu erreichen, wird in
dazu, dass der betreffende Gebietsausschnitt        den Kapiteln 8 und 9 näher betrachtet.

                                                                                                                           21
6
                    Welche Gebiete bzw. Biotopkomplexe
                    wurden in Schleswig-Holstein auf ihre
                    Eignung als Wildnisgebiet geprüft?

                     V   om LLUR wurden bislang 377 Gebiete hin-
                     sichtlich einer konkreten Eignung als Wildnis­­ge­­
                     biet näher überprüft. Die Gesamtfläche dieser
                     zum Teil umgreifend abgegrenzten Prüfge­biete
                     beträgt 81.881 Hektar (dies entspricht etwa 5,1
                     Prozent der Landesfläche). Für weitere 58 Natur­
                     wälder ist die Eignung per Definition (Natur­wäl­
                     der nach § 14 LWaldG) gegeben. Flächen­kom­
                     plexe aus Biotopen, die zu ihrem Erhalt eine          Die Rohrweihe profitiert von der Ungestörtheit im Wild–
                     dauerhafte Pflege benötigen, sind dabei selbst-       nis-Modellgebiet Unterelbe. Foto: Hans Friedrich Hansen
                     verständlich ausgenommen worden. Lediglich
                     kleinräumig und vereinzelt eingestreute               • den Ergebnissen des Forschungs- und
Quellbach im
Rie­sewohld –        Pflegebereiche stellen hingegen, wie in Kapitel 4       Entwicklungsvorhabens des Bundesamtes für
Foto: Dr. Henning    bereits erläutert, kein Ausschlusskriterium dar.        Naturschutz aus dem Jahre 2015,
Thiessen             Die Prüfgebietskulisse setzt sich zusammen aus:
                                                                           • einer LLUR-Analyse der Flächen der Stiftung
                                                                             Naturschutz Schleswig-Holstein aus dem
                                                                             Jahre 2012,

                                                                           • Gebieten, die in der Veröffentlichung
                                                                             „Wildnis in Schleswig-Holstein“ des LLUR aus
                                                                             dem Jahre 2011 genannt werden,

                                                                           • Gebieten die von Mitarbeiter*innen des LLUR
                                                                             oder Dritten aufgrund ihrer besonderen
                                                                             Gebietskenntnisse vorgeschlagen wurden,

                                                                           • Gebieten ab einer Größe von 20 Hektar, die
                                                                             im Wesentlichen von nicht pflegeabhängigen
                                                                             gesetzlich geschützten Biotopen eingenom-
                                                                             men sind.

                                                                           Die sich daraus ergebenden Gebiete wurden auf
                                                                           ihre Eignung als Wildnisgebiet nach einheitlichen
                                                                           Kriterien mit Hilfe eines Prüfbogens geprüft.

                                                                           Es handelt sich bei der vorliegenden Kulisse
                                                                           der Wildniseignungsgebiete insoweit um keine
                                                                           abschließende Gebietsauswahl. Im Laufe der
                                                                           Zeit können sich durchaus weitere potenziell
                                                                           geeignete Wildnisgebiete ergeben.

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