TIROL ÖkoMedN 3 - Österreichische Gesundheitskasse

 
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                                                                                                     September 2021
                                      IN KOOPERATION MIT DER ÄRZTEKAMMER FÜR TIROL

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    Osteoporotische                      Antibiotikaverordnungen:     Antikoagulanzien:   Adhärenz für ein optimales
    Fragilitätsfrakturen                 Treffsicherheit verbessern   neue Erkenntnisse   Behandlungsergebnis

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TIROL ÖkoMedN 3 - Österreichische Gesundheitskasse
2   03 _2021

Frühe Hilfen
gegen toxischen Stress
Ein Fortbildungsangebot – online oder als Literaturstudium

Frühe Hilfen helfen, die Entwicklungsmöglichkeiten und Gesundheitschancen
von Kindern und deren Eltern frühzeitig und nachhaltig zu verbessern. Als frühe
präventive Maßnahme wirken sie positiv auf den körperlichen und seelischen
Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen und legen den Grundstein
für die Gesundheit im Erwachsenenalter.

Um Familien mit Unterstützungsbedarf zu erreichen, braucht     Im Zeitraum von Schwangerschaft, Geburt und früher Kind-
es einen aktiven und systematischen Zugang über die Fach-      heit kommt vor allem dem Gesundheitsbereich eine beson-
kräfte und Institutionen, die mit schwangeren Frauen und       dere Rolle zu, da nahezu alle Familien in dieser Zeit Gesund-
Müttern bzw. Familien mit Kleinkindern in Kontakt sind. Nur    heitsdienstleistungen in Anspruch nehmen. Die regionalen
so kann gewährleistet werden, dass Belastungen entdeckt,       Frühe-Hilfen-Netzwerke streben daher eine enge Koopera-
Hilfebedarf erkannt und somit negative Kindheitserfahrun-      tion mit dem medizinischen Bereich an und richten sich ins-
gen vermieden werden können. Die Ergebnisse neuester Stu-      besondere an Krankenhäuser (vor allem Geburtenstationen)
dien haben gezeigt, dass gerade Belastungen in der frühen      sowie Angehörige niedergelassener Gesundheitsberufe mit
Kindheit, die durch länger andauernden toxischen Stress her-   Fokus auf Gynäkologie, Pädiatrie, Allgemeinmedizin oder
vorgerufen werden, die Entwicklung des Gehirns eines Kin-      Hebammen.
des maßgeblich negativ beeinflussen. Darüber hinaus legen
die Ergebnisse den Schluss nahe, dass sich diese negativen     Um Fachkräften die Möglichkeit zu geben, sich näher mit der
Erfahrungen langfristig auch auf das Copingverhalten und       Thematik der negativen Kindheitserfahrungen und den Aus-
die Anfälligkeit für andere, körperliche Erkrankungen (vor     wirkungen des toxischen Stresses auseinanderzusetzen, hat
allem des Herz-Kreislauf-Systems) auswirken. Deshalb ist es    das Nationale Zentrum für Frühe Hilfen (NZFH.at) gemein-
besonders wichtig, dass belastete Schwangere bzw. Familien     sam mit Fachärztinnen und Fachärzten aus der Kinder- und
auf ein gut funktionierendes Netzwerk aus Fachkräften tref-    Jugendheilkunde, der Frauenheilkunde und Geburtshilfe so-
fen, die entsprechende Beratungs- und Unterstützungsan-        wie der Allgemeinmedizin ein Literaturstudium und ein inter-
gebote für sie bereithalten.                                   aktives Fortbildungsangebot entwickelt.

                                                               Das Fortbildungsangebot bietet fundiertes und evidenzba-
                                                               siertes Wissen zu den Folgen negativer Kindheitserfahrun-
                                                               gen und den (neurobiologischen) Auswirkungen der Erfah-
                                                               rung von toxischem Stress auf die Entwicklung des Gehirns
                                                               und die langfristige Gesundheit. Darüber hinaus werden die
                                                               zentralen Aspekte des österreichischen Angebots der Frühen
                                                               Hilfen als transgenerationales Programm zur Unterstützung
                                                               in der frühen Kindheit dargestellt. Unterstützt wird das Fort-
                                                               bildungsangebot durch Informationsmaterialien und Ge-
                                                               sprächsleitfäden.

                                                               Das Literaturstudium wird mit sechs und das interaktive
                                                               Fortbildungsprogramm mit einem DFP-Punkt für Ärztinnen
                                                               und Ärzte anerkannt.

                                                               Nähere Informationen zum interaktiven Fortbildungsange-
                                                               bot sowie zum Literaturstudium finden Sie unter:
                                                               www.fruehehilfen.at/fortbildung.htm
TIROL ÖkoMedN 3 - Österreichische Gesundheitskasse
03 _2021   3

Inhalt                                                         Editorial
     Frühe Hilfen gegen toxischen Stress                  2    Sehr geehrte Frau Doktorin,
                                                               sehr geehrter Herr Doktor,
     Editorial                                            3

     Fragilitätsfrakturen:
                                                               Fragilitätsfrakturen, also Frakturen nach Stürzen auf glei-
     häufig, kostspielig und vermeidbar                   4
                                                               cher Höhe, verursachen aktuellen Schätzungen zufolge
                                                               rund 2,5 Prozent der österreichischen Gesundheitsausga-
     Antibiotikaverordnungen:
                                                               ben. Unsere Titelgeschichte bringt eine epidemiologische
     Treffsicherheit verbessern                           8
                                                               Betrachtung der osteoporotischen Fragilitätsfrakturen. Wie
                                                               zu erwarten war, nimmt die Inzidenz mit zunehmendem
                                                               Alter deutlich zu, bei Männern mit einer zeitlichen Verzö-
                                                               gerung. Allein die Anzahl der Fragilitätsfrakturen legt nahe,
                                                               welchen Stellenwert Sturzprävention hat.

                                                               Um der weiter steigenden Resistenzentwicklung von
                                                               Bakterien entgegenzuwirken, ist eine bessere Treffsicherheit
                                                               beim Einsatz von Antibiotika gegen Erkältungskrankheiten
                                                               geboten. In den allermeisten Fällen sind diese viral bedingt,
                                                               und eine rasche Selbstheilung ist recht wahrscheinlich. Eine
                                                               Behandlungsoption, die das berücksichtigt, ist das
                                                               sogenannte Delayed Prescribing. Unser Artikel berichtet
                                                               über diese Behandlungsstrategie.

                                                               Ein weiterer Artikel widmet sich den neuesten Erkennt-
                                                               nissen zu direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) im
                                                               Vergleich zu Vitamin-K-Antagonisten und stellt das Thema
     Antikoagulanzien – neue Erkenntnisse                 11
                                                               auch in einen ökonomischen Zusammenhang. Über die we-
                                                               sentliche Rolle der Adhärenz für den Erfolg einer Behand-
     Adhärenz als ein wesentlicher Faktor                 14
                                                               lung berichtet ein entsprechender Artikel. Die Möglichkeit
                                                               zum Erwerb von Punkten für das Diplom-Fortbildungs-Pro-
     Diabetes und Psyche                                  17
                                                               gramm (DFP) bietet der Artikel über Diabetes und Psyche.
                                                               DFP-Punkte gibt es übrigens auch für das Fortbildungs-
                                                               angebot zu den Frühen Hilfen, über das Sie sich auf der
                                                               gegenüberliegenden Seite informieren können.

Impressum                                                      Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre.
Medieninhaber, Herausgeber und Redaktion:
Österreichische Gesundheitskasse                                                                       Das Redaktionsteam
Haidingergasse 1, 1030 Wien
www.gesundheitskasse.at/impressum

Hersteller: ÖKO-Druckerei Pircher, Ötztal-Bahnhof
Fotos: Shutterstock. Satz- und Druckfehler vorbehalten.
TIROL ÖkoMedN 3 - Österreichische Gesundheitskasse
4   03_2021

Häufig, kostspielig
und vermeidbar
Ein epidemiologischer Blick auf osteoporotische Fragilitätsfrakturen
Schätzungen gehen davon aus, dass bereits 2,5 %
der österreichischen Gesundheitsausgaben durch
Fragilitätsfrakturen verursacht werden. Das sind Frakturen,
die auf Stürze auf gleicher Höhe zurückzuführen sind. Eine
Analyse von Daten aus dem Jahr 2018 verdeutlicht das
Ausmaß dieser Frakturen und zeigt deren Anstieg mit
zunehmendem Alter. Davon kann der enorme Stellenwert
der Sturzprävention abgeleitet werden.

Nach den Empfehlungen der Kon-         nische Verschlechterung des Knochen-          sogenannten T-Score für die Knochen-
sensus-Entwicklungskonferenz aus dem   gewebes mit einer daraus resultieren-         mineraldichte (BMD). Eine Osteoporose
Jahr 1991 wird Osteoporose als eine    den, erhöhten Knochenbrüchigkeit und          kann demnach bei postmenopausalen
systemische Skeletterkrankung de-      Frakturanfälligkeit gekennzeichnet ist [1].   Frauen und bei Männern ab 50 Jahren
finiert, die durch eine geringe Kno-   Eine weitere Definition, welche einfacher     diagnostiziert werden, wenn der T-Sco-
chenmasse und eine mikroarchitekto-    zu operationalisieren ist, basiert auf dem    re der Lendenwirbelsäule, der gesamten
                                                                                     Hüfte oder des Oberschenkelhalses -2,5
                                                                                     oder weniger beträgt [2]. Es sollte jedoch
                                                                                     beachtet werden, dass, obwohl die BMD
                                                                                     zum Frakturrisiko einer Person beiträgt,
                                                                                     die Mehrheit der osteoporotischen Frak-
                                                                                     turen bei Personen auftritt, die nach
                                                                                     BMD keine Osteoporose haben [3].

                                                                                     Wirbelfrakturen, Hüftfrakturen, Frak-
                                                                                     turen des proximalen Humerus sowie
                                                                                     des distalen Unterarms gelten als die
                                                                                     häufigsten Arten von osteoporotischen
                                                                                     Frakturen. Dementsprechend werden
                                                                                     sie auch als osteoporotische Haupt-
                                                                                     frakturen (major osteoporotic fractures
                                                                                     - MOFs) bezeichnet. Das durchschnitt-
                                                                                     liche Lebenszeitrisiko einer 50-jährigen
                                                                                     Frau, eine MOF zu erleiden, wurde auf
                                                                                     fast 50 % geschätzt, das entsprechende
                                                                                     Risiko bei Männern auf 22 % [4]. Osteo-
                                                                                     porotische Frakturen können jedoch
                                                                                     auch an vielen anderen anatomischen
                                                                                     Stellen auftreten, z. B. am Becken, am
                                                                                     Schienbein oder an den Rippen. Ge-
                                                                                     nerell gilt, dass die Wahrscheinlichkeit,
                                                                                     eine osteoporotische Fraktur zu erlei-
                                                                                     den, mit dem Alter zunimmt.
                                                                                     Inzidenzraten und Trendanalysen für
                                                                                     die gesamte österreichische Bevölke-
                                                                                     rung ab 50 Jahren wurden für Hüft-
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03_2021     5

                                  Frakturgeschehen und osteoporotische Fragilitätsfrakturen (2018)

        Diagnose                       Altersgruppe           Stationäre Fälle je Fraktur-Diagnosegruppe1 Sturz auf gleicher Höhe2
		Relevante Andere                                                                      Summe Anteil in %     Fälle      %-Anteil an
		                                                          Diagnosen Diagnosen				                                      allen Diag.
(S02) Fraktur des Schädels            unter 50 Jahren               0        4.606        4.606       0          0             –
und der Gesichtsschädelknochen        50 Jahre u. älter             0          5.913        5.913     0          0             –
                                      Summe                         0        10.519      10.519       0          0             –
(S12) Fraktur im Bereich              unter 50 Jahren               0            334          334     0          0             –
des Halses                            50 Jahre u. älter             0          1.432        1.432     0          0             –
                                      Summe                         0          1.766        1.766     0          0             –
(S22) Fraktur der Rippe(n), des Ster- unter 50 Jahren           1.792            216      2.008     89        442            22
nums und der Brustwirbelsäule         50 Jahre u. älter       9.549               718    10.267     93      6.636            65
                                      Summe                    11.341            934     12.275     92      7.078            58
(S32) Fraktur der Lendenwirbel-       unter 50 Jahren          1.389                0       1.389  100        232             17
säule und des Beckens                 50 Jahre u. älter      10.624                 0    10.624    100      7.933            75
                                      Summe                  12.013                 0     12.013   100      8.166            68
(S42) Fraktur im Bereich der          unter 50 Jahren             591         3.025         3.616    16        183             5
Schulter und des Oberarmes            50 Jahre u. älter        3.929         3.068         6.997    56      3.245            46
                                      Summe                   4.520          6.093        10.613    43      3.427            32
(S52) Fraktur des Unterarmes          unter 50 Jahren           2.156          2.531       4.687    46         741           16
                                      50 Jahre u. älter          4.511        2.100          6.611  68      3.426            52
                                      Summe                    6.667           4.631      11.298    59       4.167           37
(S62) Fraktur im Bereich des          unter 50 Jahren               0         2.878        2.878      0          0             –
Handgelenkes und der Hand             50 Jahre u. älter             0          1.610        1.610     0          0             –
                                      Summe                         0         4.488        4.488      0          0             –
(S72) Fraktur des Femurs              unter 50 Jahren             376             671       1.047   36         134           13
                                      50 Jahre u. älter      16.862           2.973      19.835     85    14.909             75
                                      Summe                   17.238          3.644     20.882      83    15.043             72
(S82) Fraktur des Unter-              unter 50 Jahren           1.807          3.619       5.426    33        288              5
schenkels, einschl. des               50 Jahre u. älter        2.109          5.574        7.683     27       977            13
oberen Sprunggelenkes                 Summe                    3.916           9.193      13.109    30      1.265            10
(S92) Fraktur des Fußes               unter 50 Jahren               0          1.337        1.337     0          0             –
(ausgenommen oberes                   50 Jahre u. älter             0         1.040        1.040      0          0             –
Sprunggelenk)                         Summe                         0         2.377        2.377      0          0             –
                                      unter 50 Jahren            8.111       19.217      27.328     30     2.020               7
Gesamtergebnis                        50 Jahre u. älter     47.584          24.428       72.012     66     37.128            52
                                      Summe                 55.695         43.645       99.340      56     39.147            39

Abb. 1: Bedeutung der osteoporotischen Fragilitätsfrakturen am Frakturgeschehen (2018). Es sind ausschließlich stationäre Fälle dargestellt.
1) Stellt sämtliche Fraktur-Diagnosen der jeweiligen Diagnosegruppe dar. Diese werden unterteilt in relevante Diagnosen für die Berechnung
osteoporotischer Fragilitätsfrakturen und andere Diagnosen.
2) Stellt die Fälle mit relevanter Diagnose und Sturz auf gleicher Höhe dar. Quelle: MEDOK, DLD und GÖG-eigene Berechnungen.

frakturen, proximale Humerusfrakturen            verbunden, wobei die Folgen oft zu ei-         von Stürzen auf gleicher Höhe (< 1,5 m)
und distale Unterarmfrakturen veröf-             nem vorzeitigen Tod führen. Ziel dieser        bei Patientinnen und Patienten im Al-
fentlicht, und es wurde gezeigt, dass            Studie [10] war es, die Anzahl der Fragili-    ter von 50 Jahren wurden als Proxy für
die Inzidenzraten für diese Frakturty-           tätsfrakturen in Österreich im Jahr 2018       Fragilitätsfrakturen verwendet und die
pen zu den höchsten weltweit gehören             empirisch zu schätzen.                         Anzahl der stationären und ambulanten
[5–8]. Die Frage nach dem Anteil der                                                            Fälle wurde geschätzt. Zu diesem Zweck
Fragilitätsfrakturen in Österreich und           Methodik                                       wurden die DLD-Daten mit Daten aus
der damit verbundenen wirtschaftli-                                                             dem MEDOK-System der AUVA kom-
chen Belastung – geschätzt auf 2,5 %             Die Anzahl der stationären Patien-             biniert, welches Informationen zur Ver-
der gesamten Gesundheitsausgaben                 tinnen und Patienten mit relevanten            letzungsart, wie Sturz auf gleicher Höhe
in Österreich im Jahr 2010 [9] – wurde           ICD-10-Diagnosen in allen öffentlichen         (< 1,5 m), enthält.
jedoch bisher in keiner dieser Studien           Krankenhäusern Österreichs wurde
umfassend behandelt.                             aus der Diagnosen- und Leistungsdo-            Ergebnisse
Fragilitätsfrakturen sind häufig mit lan-        kumentation (DLD-Daten) des Bun-
gen Krankenhausaufenthalten, Verlust             desministeriums für Soziales, Gesund-          Abbildung 1 zeigt, dass im Jahr 2018
der Selbstständigkeit und erhöhtem               heit, Pflege und Konsumentenschutz             insgesamt 99.340 relevante Frakturen
Pflegebedarf bei älteren Menschen                (BMSGPK) abgeleitet. Frakturen infolge         identifiziert wurden. Die Schätzungen
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6         03_2021

                      Anteil der Fragilitätsfrakturen an den Gesamtfrakturen
                                                                                                      zeigen, dass es sich bei 39.147 Fraktu-
                            nach Altersgruppen und Geschlecht (2018)
                                                                                                      ren um solche durch Sturz auf gleicher
               männlich         weiblich                                                              Höhe (Fragilitätsfrakturen) handelt.
                                                                                                      37.128 davon traten bei Personen im
            80 %                                                                                      Alter von 50 Jahren oder älter auf. Ab-
                                                                                          70 %        bildung 2 stellt den prozentualen Anteil
             70 %
                                                                                                      der Fragilitätsfrakturen an allen Frak-
            60 %                                                                                      turen im stationären Setting nach Alter
                                                                              57 %            64 %    dar, wobei ein schneller Anstieg des
            50 %
                                                                      45 %
                                                                                                      Anteils der Fragilitätsfrakturen sowohl
                                                                                                      bei männlichen als auch bei weiblichen
Anteil

            40 %                                                                 44 %                 Personen ab dem Alter von 50 Jahren
                                                             31 %
            30 %                                                                                      zu erkennen ist. In der Altersgruppe
                                                                         31 %                         von 50–59 Jahren lag der Anteil der
            20 %                                  16 %                                                Fragilitätsfrakturen bei Frauen bei 31 %
                                           11 %                18 %                                   und stieg in jeder Dekade um etwa
                       8%    7%      5%
             10 %
                                                      11 %                                            15-%-Schritte an. Männer zeigten einen
                       5%     5%            6%                                                        ebenso steilen Anstieg, welcher aber
             0%
                                     3%                                                               etwa zehn Jahre später als bei Frauen
                       0-9   10-19   20-29 30-39 40-49 50-59 60-69               70-79        80+     eintritt. Der hohe Anteil der Fragilitäts-
                                              Jahre
                                                                                                      frakturen an allen Frakturen verdeut-
                                                                                                      licht deren Bedeutung und die damit
Abb. 2                                                                                                einhergehenden Auswirkungen auf die
                                                                                                      medizinische Inanspruchnahme.

                                      Fragilitätsfrakturen                                            Ausgehend von den stationären Fällen
                                nach Alter und Geschlecht (2018)                                      wurde die Anzahl der ambulanten Fälle
                                                                                                      mit Hilfe von geschlechts- und alters-
               männlich         weiblich
                                                                                                      spezifischen ambulanten Korrekturfak-
                                                                                                      toren je ICD-Code berechnet. Diese
           10.000                                                                                     Berechnung ergab insgesamt 115.309
                                                                                      9.531
                                                                                                      Patientinnen und Patienten mit relevan-
           8.000                                                                                      ten Frakturen durch Stürze auf gleicher
                                                                                                      Höhe in allen Altersgruppen und 92.835
Inzidenz

                                                                                                      relevante Frakturen bei Personen im Al-
           6.000
                                                                                                      ter von 50 Jahren oder älter, die als Fra-
                                                                              4.450           5.426   gilitätsfrakturen osteoporotischen Ur-
           4.000                                                                                      sprungs betrachtet werden (Abbildung
                                                                      2.398                           1). Diese 92.835 Frakturen entsprechen
           2.000                                             1.457                                    einer Inzidenz von 2.600/100.000 Ein-
                      789    921                                                 2.041
                                     146   244     399                                                wohnerinnen und Einwohnern im Alter
                                                                        1.158
                       780                                       679                                  von 50 Jahren oder älter, die in Öster-
               0              486                     438
                                     144   225
                                                                                                      reich an Fragilitätsfrakturen leiden. Ge-
                       0-9   10-19   20-29 30-39 40-49 50-59 60-69               70-79        80+     nerell war die Inzidenz bei Frauen höher
                                                                                                      als bei Männern und nahm mit dem Al-
                                              Jahre
                                                                                                      ter stark zu (Abbildung 3).

Abb. 3
TIROL ÖkoMedN 3 - Österreichische Gesundheitskasse
03_2021   7

                     Fazit
      Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Fragilitätsfrakturen häufige, kost-
      spielige und – vor allem – vermeidbare Ereignisse sind. Die demografische
      Entwicklung wird in Zukunft zu einer noch höheren Belastung führen.

      Behandlungsrichtlinien müssen sich auch auf die Prävention konzentrie-
      ren, um die hohen Kosten zu vermeiden, die mit Frakturbehandlung und
      Rehabilitation verbunden sind, insbesondere wenn man bedenkt, dass vie-
      le Patientinnen und Patienten wiederkehrende Frakturen haben werden.

Autorinnen und Autoren:                                          evidence for a change in the secular trend.
                                                                 Osteoporos Int 2011;22:685–92.
Priv.-Doz. Dr. Christian Muschitz,                        [7]    Dimai HP, Svedbom A, Fahrleitner-Pammer
Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien                          A, et al. Epidemiology of proximal humeral
Dr. Michael Hummer, DI Anton Hlava,                              frac-tures in Austria between 1989 and 2008.
                                                                 Osteoporos Int 2013;24:2413–21.
Mag. Andreas H. Birner,
                                                          [8]    Kanis JA, Odén A, McCloskey EV, Johansson
Gesundheit Österreich GmbH                                       H, Wahl DA, Cooper C. A systematic review of
Assoc. Prof. Dr. Johannes Grillari,                              hip fracture incidence and probability of frac-
Ludwig Boltzmann Institut für Traumatolo-                        ture worldwide. Osteoporos Int 2012;23:2239–
                                                                 56.
gie, das Forschungszentrum in Kooperation                 [9]    Kanis JA, Borgström F, Compston J, et al.
mit der AUVA                                                     SCOPE: a scorecard for osteoporosis in Euro-
Dr.in Margit Hemetsberger,                                       pe. Arch Osteoporos 2013;8:144.
                                                          [10]   Hummer M., Hlava A., Birner A. H. Epidemio-
hemetsberger medical services                                    logie osteoporotischer Fragilitätsfrakturen.
Ao. Univ.-Prof. Dr. Hans Peter Dimai,                            Wien: Gesundheit Österreich, 2020.
Medizinische Universität Graz

Quellen:
[1]   Consensus Development Conference: pro-
      phylaxis and treatment of osteoporosis. Am J
      Med 1991;90:107–10.
[2]   Baim S, Binkley N, Bilezikian JP, et al. Official
      positions of the International Society for
      Clinical Densitometry and executive summary
      of the 2007 ISCD Position Development
      Conference. J Clin Densitom 2008;11:75–91.
[3]   Siris ES, Chen Y-T, Abbott TA, et al. Bone mine-
      ral density thresholds for pharmacological
      in-tervention to prevent fractures. Arch Intern
      Med 2004;164:1108–12.
[4]   Johnell O, Kanis J. Epidemiology of osteopo-
      rotic fractures. Osteoporos Int 2005;16 Suppl
      2:S3-7.
[5]   Dimai HP, Svedbom A, Fahrleitner-Pammer A,
      et al. Epidemiology of distal forearm fractures
      in Austria between 1989 and 2010. Osteopo-
      ros Int 2014;25:2297–306.
[6]   Dimai HP, Svedbom A, Fahrleitner-Pammer A,
      et al. Epidemiology of hip fractures in Austria:
TIROL ÖkoMedN 3 - Österreichische Gesundheitskasse
8   03_2021

Antibiotikaverordnungen:
Treffsicherheit verbessern
Delayed Prescribing als Option bei Erkältungskrankheiten
Die steigende Resistenzentwicklung von Bakterien ist unter anderem
auf einen übermäßigen Einsatz von Antibiotika bei Erkältungskrank-
heiten zurückzuführen. Diese sind in den allermeisten Fällen viral
bedingt und selbstlimitierend, die Komplikationsrate ist auch ohne
Antibiotikaeinsatz niedrig. Ziel ist, Antibiotika dann einzusetzen,
wenn eine bakterielle Ursache vorliegt und eine rasche Selbstheilung
unwahrscheinlich erscheint.

Anhand klinischer Merkmale kann zwi-        das Rezept zwar ausgestellt, es verbleibt      den oben beschriebenen Bedingungen
schen viraler und bakterieller Genese       aber in der Ordination und kann bei            einzulösen. Andernfalls solle das Rezept
bei Erkältungskrankheiten kaum unter-       Bedarf, das heißt, wenn nach einer be-         vernichtet werden. Auch eine telefoni-
schieden werden. Der Einsatz klinischer     stimmten Zeit die Symptome nicht abge-         sche Rückmeldung der Patientin bzw.
Scores, wie z. B. des McIsaac-Scores bei    klungen sind oder sich diese verschlech-       des Patienten zur Ärztin bzw. zum Arzt
Halsschmerzen (siehe Abbildung 1), kann     tern, ohne erneuten direkten Kontakt mit       über den Start der Antibiotikaeinnahme
die Wahrscheinlichkeit, eine vorliegende    der Ärztin oder dem Arzt bei der Ordina-       ist möglich. Diese Vorgehensweise setzt
bakterielle Ursache zu finden, erhöhen.     tionshilfe abgeholt und in der Folge ein-      allerdings die Bereitschaft der Patientin
Ein CRP-Schnelltest kann die Chancen        gelöst und angewendet werden.                  bzw. des Patienten voraus mitzuarbei-
nochmals verbessern, auch wenn eine                                                        ten und erfordert auch viel Vertrauen
routinemäßige Bestimmung in der Re-         Die zweite Möglichkeit ist die Ausstel-        in die Patientin/den Patienten. Die Ver-
gel nicht empfohlen wird [2]. Aber auch     lung und Mitgabe des fertigen Rezepts          lockung ist groß, das Rezept trotzdem
wenn ein solcher Test nicht eingesetzt      mit der Information für die Patientin          sofort einzulösen und sich über die ärzt-
wird, gibt es Optionen, um einen unnöti-    bzw. den Patienten, dieses erst unter          liche Empfehlung hinwegzusetzen, in-
gen Antibiotikaeinsatz zu vermeiden.

Eine Möglichkeit ist das sogenannte
Delayed Prescribing, das mit verzöger-                                           McIsaac-Score
ter Verordnung übersetzt werden kann.
Andere Bezeichnungen sind Stand-by-         Symptom                                                                          Punkte
Rezept oder Back-Pocket-Verordnung.
                                            Körpertemperatur (in der Anamnese) > 38 °C                                           +1
Kernelement dieses Konzepts ist, dass
                                            kein Husten                                                                          +1
eine Antibiotikaeinnahme – falls sie        zervikale Lymphknotenschwellung                                                      +1
überhaupt erwogen wird – nicht sofort,      Tonsillenschwellung oder -exsudat                                                    +1
sondern erst nach einer gewissen Zeit       Alter            3–14 Lebensjahre                                                    +1
stattfindet. Und das unter der Bedin-                        15–44 Lebensjahre                                                   0
gung, dass sich Symptome in dieser Zeit                      ≥ 45 Lebensjahre                                                    –1
(üblicherweise zwei bis vier Tage) nicht
bessern oder sogar verschlechtern.          Punktesumme                    Wahrscheinlichkeit einer Streptokokken-Infektion
                                            ≤ 0                                        1 – 2,5 %
Praktische Umsetzung                          1                                        5 – 10 %
                                              2                                       11 – 17 %
                                              3                                      28 – 35 %
In der Praxis gibt es zwei Herangehens-
                                            ≥ 4                                      51 – 53 %
weisen: Die erste Möglichkeit wird z. B.
in Großbritannien bereits seit mehreren     Abb. 1: McIsaac-Score zur Einschätzung der Wahrscheinlichkeit einer Streptokokken-Beteili-
Jahren erfolgreich eingesetzt. Dabei wird   gung bei Halsschmerzen nach [1].
TIROL ÖkoMedN 3 - Österreichische Gesundheitskasse
03_2021     9

dem direkt mit der Antibiotikaeinnahme      biotikaeinsatz erst, wenn sich die Symp-    kaverordnung. Die eingeschlossenen
begonnen wird. Es ist auch vorstellbar,     tome nicht bessern. [3, 4]                  Studien waren sowohl randomisierte,
dass das Rezept zwar eingelöst wird,        Bei diesen Szenarien könnte unter Um-       kontrollierte Studien (n = 9) als auch Be-
die Antibiotika aber aufbewahrt wer-        ständen auch ein Delayed Prescribing        obachtungsstudien (n = 4) und wurden
den und zu einem späteren Zeitpunkt         zum Einsatz kommen.                         größtenteils im Hausarzt-Setting (11/13)
ohne ärztliche Konsultation zum Einsatz                                                 in Europa und Nordamerika durchge-
kommen. Dieses Szenario ist unter dem       In der DEGAM-Leitlinie „Halsschmer-         führt. Zusätzlich wurden fünf Studien
Gesichtspunkt der Resistenzentwick-         zen“ wird für Personen mit Halsschmer-      eingeschlossen, die keine individuellen
lung natürlich suboptimal.                  zen, die älter als drei Jahre sind, keine   Patientendaten zur Verfügung stellten.
                                            Red Flags (z. B. Verdacht auf Mono-         Es wurden Daten von über 55.000 Pa-
Idealerweise erfolgt die verzögerte Anti-   nukleose oder Scharlach, Immunsup-          tientinnen und Patienten ausgewertet.
biotikaverordnung in einem Shared-De-       pression oder ein erhöhtes Risiko für
cision-Making-Prozess zwischen Ärztin/      akutes rheumatisches Fieber) aufweisen      Insgesamt ergab sich kein signifikanter
Arzt und Patientin/Patient, das heißt,      und für die ein mittleres Risiko für eine   Unterschied in der Symptomschwere
unter partizipativer Entscheidungsfin-      Infektion mit Gruppe-A-Streptokok-          nach zwei bis vier Tagen zwischen ver-
dung. So können die beiderseitigen Er-      ken ermittelt wurde (drei Punkte beim       zögerter und keiner Antibiotikaverord-
wartungen bestmöglich erfüllt werden.       McIsaac-, Centor- oder FeverPain-Sco-       nung (durchschnittlicher Unterschied
                                            re), sogar explizit eine verzögerte anti-   auf der verwendeten 7-Punkte-Skala:
Implementierung in Leitlinien               biotische Verordnung empfohlen [2].         -0,003; 95-%-Konfidenzintervall -0,12–
                                                                                        0,11) bzw. zwischen verzögerter und so-
Die Initiative „Gemeinsam gut ent-          Studienlage                                 fortiger Antibiotikaverordnung (0,02;
scheiden – Choosing Wisely Austria“                                                     -0,11–0,15). In einer Subgruppenanalyse
empfiehlt eine generelle Zurückhaltung      Eine rezent veröffentlichte Meta-Ana-       war bei Kindern unter fünf Jahren für die
beim Einsatz von Antibiotika bei Infekti-   lyse hat untersucht, welche Auswirkun-      verzögerte Antibiotikaverordnung eine
onen der oberen Atemwege. Bei der Be-       gen Delayed Prescribing auf die Sym-        leicht erhöhte Symptomschwere nach
handlung einer einseitigen akuten Mit-      ptomschwere und andere Parameter            zwei bis vier Tagen im Vergleich zu einer
telohrentzündung von Kindern im Alter       bei Erkältungskrankheiten (unter an-        sofortigen Antibiotikagabe (0,10; 0,03–
von zwei bis zwölf Jahren wird unter der    derem Halsschmerzen, akute Mittel-          0,18) erkennbar. Der Unterschied ist
Bedingung einer jederzeit möglichen         ohrentzündung, Husten) hat [5]. Als         zwar statistisch signifikant, allerdings re-
ärztlichen Konsultation ein Watch-and-      Vergleichsszenarien dienten eine sofor-     lativ gering, wenn man die verwendete
Wait-Ansatz empfohlen, also ein Anti-       tige bzw. eine unterbliebene Antibioti-     7-Punkte-Skala bedenkt. Das Ausmaß
TIROL ÖkoMedN 3 - Österreichische Gesundheitskasse
10    03_2021

der klinischen Relevanz ist unklar. In an-   ßer war als ohne Antibiotikaverordnung
deren Altersgruppen konnten derartige        (3,04 zu 2,96 Punkte einer vierstufi-
Korrelationen nicht festgestellt werden.     gen Skala; durchschnittlicher Unter-
                                             schied 0,09; 95-%-Konfidenzintervall
Die Studie liefert auch noch andere in-      0,06–0,11). Zwischen verzögerter und
teressante Ergebnisse: Es konnte zwar        sofortiger Antibiotikaverordnung gab
mit einer sofortigen Antibiotikagabe         es diesbezüglich keinen signifikanten
schnellere Symptomfreiheit erreicht          Unterschied (2,87 zu 2,99; -0,12; -0,26–
werden als mit einer verzögerten Ver-        0,03).
ordnung, allerdings war der Unterschied
mit 11,4 zu 10,9 Tagen überschaubar
(Hazard Ratio 1,04; 95-%-Konfidenzin-        Quellen:
                                             [1] McIsaac WJ, Kellner JD, Aufricht P. Empirical
tervall 1,01–1,08). Die Rekonsultations-
                                                 validation of guidelines for the management
rate war in der Gruppe mit verzögerter           of pharyngitis in children and adults. JAMA
Antibiotikaverordnung statistisch sig-           2004;291(13):1587-95.
                                             [2] Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin
nifikant geringer als ohne Antibiotika-          und Familienmedizin. S3-Leitlinie Halsschmer-
verordnung (13 % zu 17 %; Odds Ratio             zen (DEGAM-Leitlinie Nr. 14), Stand 10/2020.
                                             [3] Gemeinsam gut entscheiden – Choosing
0,72; 95-%-Konfidenzintervall 0,60–              Wisely Österreich. Top Empfehlungen Allge-
0,87). Die Rekonsultationsrate war im            meinmedizin. Abrufbar unter:
                                                 https://gemeinsam-gut-entscheiden.at/be-
Vergleich zu einer sofortigen Antibiotika-
                                                 reich/empfehlungen/allgemeinmedizin/.
verordnung ebenfalls geringer, aller-        [4] Glechner A, Rabady S, Bachler H, et al. A
dings nicht statistisch signifikant (16 %        Choosing Wisely top-5 list to support general
                                                 practitioners in Austria. Wien Med Wochenschr
zu 22 %; Odds Ratio 0,95; 95-%-Kon-              2021 (preprint).
fidenzintervall 0,74–1,22). Ein weiterer     [5] Stuart B, Hounkpatin H, Becque T, et al. Delay-
                                                 ed antibiotic prescribing for respiratory tract
untersuchter Punkt betraf die Patien-            infections: individual patient data meta-analy-
tenzufriedenheit, die mit verzögerter            sis. BMJ 2021;373:n808.
Antibiotikaverordnung geringfügig grö-

                Fazit
     Die verzögerte Verordnung von Antibiotika bei Erkältungskrankheiten wie
     Halsschmerzen, akuter Mittelohrentzündung und Husten ist eine effektive
     und sichere Behandlungsstrategie.
     Im Vergleich zu einer ausbleibenden Antibiotikaverordnung ist die Rekon-
     sultationsrate niedriger und die Patientenzufriedenheit leicht gesteigert.
     Im Vergleich zu einer sofortigen Antibiotikaverordnung gibt es keine erhöh-
     ten Komplikationsraten und auch die Patientenzufriedenheit leidet nicht.
     Durch niedrigere Verordnungszahlen sind bremsende Effekte auf die Re-
     sistenzentwicklung möglich und auch die positiven heilmittelökonomi-
     schen Effekte sollen nicht unerwähnt bleiben. In einige Leitlinien hat diese
     Strategie bereits Einzug gehalten und es ist zu erwarten, dass weitere fol-
     gen werden.
03_2021   11

Antikoagulanzien –
neue Erkenntnisse
DOAK im Vergleich zu Vitamin-K-Antagonisten

Die direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) sind
gerinnungshemmende, antithrombotische Wirkstoffe,
welche für die Vorbeugung und Behandlung
thromboembolischer Erkrankungen verabreicht werden.

Zu dieser Gruppe gehören einerseits       die entweder ein DOAK oder Phenpro-      jede DOAK-Patientin bzw. für jeden
die Faktor-Xa-Inhibitoren Apixaban,       coumon bzw. Warfarin erhielten. 99,4 %   DOAK-Patienten mit Hilfe von sta-
Edoxaban, Rivaroxaban und der Throm-      in der VKA-Gruppe bekamen Phenpro-       tistischen Methoden eine Phenpro-
bin (Faktor IIa)-Inhibitor Dabigatran,    coumon, 0,6 % Warfarin.                  coumon-Anwenderin bzw. ein Phen-
deren Effekte auf einer direkten Hem-                                              procoumon-Anwender ermittelt, der
mung von Blutgerinnungsfaktoren be-       Um die Ergebnisse möglichst ver-         hinsichtlich Alter, Begleiterkrankun-
ruhen. DOAK wurden als Nachfolger         gleichbar zu machen, wurde für           gen und CHA 2DS2-VASc-Score ein
für die Heparine und Vitamin-K-Anta-
gonisten entwickelt. Unterschiede zu
diesen älteren Wirkstoffgruppen sind
die einfachere Handhabung und die
nicht routinemäßig notwendigen Ge-
rinnungskontrollen.

Real-World-Daten
aus Datenbanken

Es gibt bereits Studien, in denen DOAK
mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA)
verglichen wurden. Allerdings sind
diese Ergebnisse, meist aus den USA,
nicht ohne weiteres auf Österreich
übertragbar, da oftmals nur Warfarin
als Vitamin-K-Antagonist betrachtet
wurde, welches hierzulande nicht er-
hältlich ist. Das in Österreich häufig
verordnete Phenprocoumon hat ge-
genüber Warfarin eine längere Halb-
wertszeit, daher ist ein direkter Ver-
gleich von Phenprocoumon mit den
DOAK wichtig. In Österreich ist in der
Indikation nicht-valvuläres Vorhofflim-
mern auch der Wirkstoff Acenocouma-
rol zugelassen.

In einer retrospektiven Analyse aus
Deutschland [1] wurden zwischen 2010
und 2017 insgesamt 837.430 Patien-
tinnen und Patienten mit nicht-valvu-
lärem Vorhofflimmern eingeschlossen,
12   03_2021

                              Direkte orale Antikoagulanzien (DOAK): Indikationen und Ökonomie

                                                            Nicht empfohlen/
                                                                                                                             Therapie-
                                                            Kontraindikation                Indikation (EKO)
                                                                                                                             kosten**
                                                            bei CrCL [ml/min]

                                                                                   Prävention                                 günstig
 Medikament/ Applikation      Dosierung    Zugelassenes                                           Behand-
                                                                                  Schlaganfall/
  Wirkstoff     p.o.             mg          Antidot                                                lung   Prävention
                                                                                 SE bei Vorhof-
                                                                                                   TVT/LE   TE nach
                                                             < 30       < 15      flimmern mit
                                                                                                 Prophylaxe Hüft-/
                                                                                   einem oder
                                                                                                     rez.   Knie-TEP
                                                                                    mehreren
                                                                                                   TVT/LE
                                                                                 Risikofaktoren*

Lixiana® PM/      1 x tgl.		                   nein		                    ✔              ✔              ✔
Edoxaban

                           Je nach Indi-
Eliquis® PM/      2 x tgl.		                   ja		                      ✔              ✔              ✔          ✔
                             kation und
Apixaban
                            Komorbidi-
                             täten siehe
Xarelto® PM/      1 x tgl.		                   ja		                      ✔              ✔              ✔          ✔
                                Fach-
Rivaroxaban
                            information
Pradaxa®/         2 x tgl.		                   ja             ✔          ✔              ✔              ✔          ✔            teuer
Dabigatran

Abb. 1: Die Tabelle bezieht sich auf die im EKO angeführten Präparate, Preisstand 07/2021 inkl. Preismodellpreise. Die Kosten werden wegen
Preismodellen (PM) farblich abgestuft, wobei weiß am günstigsten ist. SE = systemische Embolie, TE = Thromboembolie, TVT/LE = tiefe Venen-
thrombose/Lungenembolie. No-Box-Präparate (Großpackungen von Xarelto und Lixiana) haben kein Preismodell und sind teurer.
* Risikofaktoren wie z. B. vorausgegangener Schlaganfall oder transitorische ischämische Attacke (TIA), Alter ≥ 75 Jahre, Herzinsuffizienz
(NYHA Klasse ≥ II), Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie. ** Annahme Therapiedauer 6 Monate und Standarddosierung in der Indikation
Vorhofflimmern.

vergleichbares Risikoprofil sowie eine         Analyse der EMA                                der Dosierungsempfehlungen für be-
vergleichbare Co-Medikation auf-                                                              stimmte Patientengruppen von Nutzen
wies.                                          Auch die EMA gab Studien in Auftrag [2],       sein könnten.
                                               bei denen reale Daten aus der Anwen-
Unter DOAK ergab sich insgesamt eine           dung aus sechs europäischen Ländern            Interpretation
um 32 % höhere relative Schlaganfall-          herangezogen wurden. Zwar war das
rate pro 1.000 Patientenjahre als unter        Schlaganfallrisiko in der DOAK-Grup-           Es ist festzuhalten, dass sich aus retro-
Phenprocoumon (HR 1,32; 95 % KI 1,29-          pe gegenüber VKA in drei von vier Da-          spektiven Analysen nur eingeschränkte
1,35) und eine um 11 % geringere Rate an       tenbanken erhöht, 2020 hat der Aus-            Aussagen zum Nutzen-Risiko-Verhält-
Blutungen, unabhängig vom Schwere-             schuss für Humanarzneimittel der EMA           nis eines Arzneimittels ableiten lassen.
grad (HR 0,89; 95 % KI 0,88-0,90). Eine        (CHMP) jedoch bekanntgegeben, dass             Inwieweit die Patientinnen und Pati-
eventuelle Unter- oder Überdosierung           keine Änderungen an den Produktinfor-          enten in den oben erwähnten Studien
in der DOAK-Gruppe wurde nicht un-             mationen gerechtfertigt seien. Es solle        der DOAK-Gruppen eventuell unter-
tersucht.                                      aber geprüft werden, ob Änderungen             dosiert waren, wurde nicht untersucht.
03_2021   13

In einem systematischen Review von           Quellen:
                                             [1] Paschke LM, Klimke K, Altiner A, Stillfried D v.,
75 Studien [3] zeigte sich, dass in diesen
                                                 Schulz M. Comparing stroke prevention thera-
Studien etwa 25–50 % der DOAK-Pa-                py of direct oral anticoagulants and vitamin K
tientinnen und -Patienten mit Vorhof-            antagonists in patients with atrial fibrillation: a
                                                 nationwide retrospective observational study.
flimmern eine Dosis erhielten, die nicht         BMC Med 2020;18:254.
den Leitlinien entspricht.                   [2] European Medicines Agency. Assessment
                                                 report: Procedure under Article 5(3) of Regula-
Dem Review zufolge ist eine Über-                tion (EC) No 726/2004 - INN/active substance:
dosierung mit erhöhter Sterblichkeit             direct oral anticoagulants (DOACs), 26. März
                                                 2020. Abrufbar unter: https://www.ema.europa.
sowie Blutungsereignissen assoziiert,
                                                 eu/en/documents/referral/assessment-re-
während für eine Unterdosierung eine             port-article-53-procedure-direct-oral-anticoa-
höhere Rate an kardiovaskulär beding-            gulants-doacs_en.pdf
                                             [3] Santos J, António N, Rocha M, Fortuna A.
ten Krankenhausaufenthalten sowie                Impact of direct oral anticoagulant off-label
teilweise ein höheres Schlaganfallrisiko         doses on clinical outcomes of atrial fibrillation
                                                 patients: A systematic review. Br J Clin Pharma-
besteht.                                         col 2020;86:533–47.
                                             [4] Steffel J, Collins R, Antz M, et al. 2021 European
Praxisleitfaden 2021                             Heart Rhythm Association Practical Guide on
                                                 the Use of Non-Vitamin K Antagonist Oral An-
                                                 ticoagulants in Patients with Atrial Fibrillation.
2021 hat die „European Heart Rhythm              Europace 2021:euab065.

Association“ eine neue Version des
Praxisleitfadens zum Einsatz von
DOAK veröffentlicht [4]. Bei den
praktischen Empfehlungen sind vor
allem die Informationen zu Medika-
mentenwechselwirkungen hervorzu-
heben. Des Weiteren wird auf speziel-
le Patientenpopulationen eingegan-
gen, bei denen die Behandlung mit
einem DOAK eine besondere Heraus-
forderung darstellt, z. B. Patientinnen
und Patienten > 75 Jahre.

             Fazit
  Die EMA hat auf Basis ihrer Studien 2020 keine Änderung der Produkt-
  information für DOAK durchgeführt.
  Patientinnen und Patienten mit einer DOAK-Über- bzw. -Unterdosierung
  zeigten jedoch ein deutlich schlechteres Nutzen-Risiko-Profil in Daten-
  auswertungen.
  Regelmäßige Updates zu Medikamenteninteraktionen und Dosierungs-
  empfehlungen bei bestimmten Patientenpopulationen tragen dazu bei,
  ein optimales Nutzen-Risiko-Verhältnis zu erzielen. Außerdem können so
  unangebrachte Dosisreduktionen vermieden werden.
14   03_2021

Adhärenz als
wesentlicher Faktor
Voraussetzung für ein optimales Behandlungsergebnis

Wenn Patientinnen und Patienten von Behandlungsempfehlungen
abweichen, so wird dies als fehlende Adhärenz bezeichnet [1]. Dies
betrifft sowohl Empfehlungen von Ärztinnen und Ärzten als auch
von anderen nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen, wie zum Beispiel
Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten, Gesundheits- und Kranken-
pflegepersonal oder Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten.

In einer patientenzentrierten Gesund-   lungsziele fest. Um die aktive Rolle der   Begriff der Compliance vorgezogen.
heitsversorgung legen Patientinnen      Patientinnen und Patienten zu unter-       Compliance meint meist eine vorwie-
und Patienten gemeinsam mit den Ge-     mauern, wird in diesem Zusammen-           gend passive „Therapietreue“, in der die
sundheitsdienstanbietern die Behand-    hang auch der Begriff Adhärenz dem         Gesundheitsberufe den Patientinnen
                                                                                   und Patienten bestimmte Behandlun-
                                                                                   gen „vorschreiben“, ohne auf deren
                                                                                   Präferenzen und Bedürfnisse einzuge-
                                                                                   hen. Adhärenz betont im Gegensatz
                                                                                   dazu, dass die Patientin bzw. der Pati-
                                                                                   ent und die Gesundheitsdienstanbieter
                                                                                   gemeinsam Entscheidungen treffen.
                                                                                   Voraussetzung dafür ist, dass die Pati-
                                                                                   entin bzw. der Patient eine informierte
                                                                                   Entscheidung treffen kann [1].

                                                                                   Adhärenz unterstützen

                                                                                   Man geht davon aus, dass solche ge-
                                                                                   meinsamen Entscheidungen die Ad-
                                                                                   härenz erhöhen. Trotzdem hielten
                                                                                   sich bis zu 80 % der Patientinnen und
                                                                                   Patienten mit rheumatischen und
                                                                                   muskuloskelettalen Erkrankungen im
                                                                                   Laufe ihrer Behandlung zumindest
                                                                                   einmal nicht an die Empfehlungen der
                                                                                   Gesundheitsdienstanbieter [2].
                                                                                   Dies kann zu ungünstigen Behand-
                                                                                   lungsergebnissen führen, wie zum Bei-
                                                                                   spiel vermehrter Krankheitsaktivität,
                                                                                   Schmerzen, Müdigkeit und Verlust von
                                                                                   Funktionsfähigkeit [3], aber auch zu
                                                                                   steigenden Behandlungs- und The-
                                                                                   rapiekosten [1]. Fehlende Adhärenz
                                                                                   betrifft medikamentöse Therapien
                                                                                   gleichermaßen wie nicht-pharmako-
                                                                                   logische Interventionen, wie zum Bei-
                                                                                   spiel das Durchführen von funktionellen
                                                                                   Übungen oder das Einhalten von Er-
03_2021   15

nährungsempfehlungen [1]. Die Unter-
stützung der Adhärenz ist daher wich-
tig, um die Behandlungsergebnisse zu
verbessern und die Behandlungskosten
langfristig zu reduzieren [1].

Eine internationale Arbeitsgruppe der
European Alliance of Associations for
Rheumatology (EULAR), bestehend
aus 16 Expertinnen und Experten aus
verschiedenen     Gesundheitsberufen
sowie zwei Patientenvertretern erar-
beiteten daher auf Grundlage aktueller
wissenschaftlicher Literatur Empfeh-
lungen [4] wie fehlende Adhärenz in
der Praxis erkannt und Personen mit
rheumatischen und muskuloskeletta-
len Erkrankungen bestmöglich in ihrer
Adhärenz unterstützt werden können.

Shared Decision Making
Ein Beispiel dafür ist Shared Decision
Making, also die gemeinsame Entschei-
dungsfindung von Patientin bzw. Pa-        renz einen dynamischen Verlauf haben       heit nicht gut kontrolliert ist oder die
tient und Gesundheitsdienstanbieter        und sich über die Zeit immer wieder        Patientinnen und Patienten von Prob-
hinsichtlich der Behandlung. Im Deut-      verändern. Damit ist Adhärenz in allen     lemen im persönlichen Umgang mit der
schen wird dafür der Ausdruck partizipa-   Krankheitsphasen von Bedeutung. Ef-        Krankheit berichten. Wichtig ist hierbei,
tive Entscheidungsfindung verwendet.       fektive Kommunikation (empathische         dass diese Gespräche ohne Vorwürfe
Diese Art der Entscheidungsfindung ist     Gesprächsführung, offene und nicht         und Schuldzuweisungen geführt wer-
wichtig, damit Patientinnen und Pati-      wertende Fragen, Zulassen von beidsei-     den. Wenn spezifisches Fachwissen
enten Behandlungsempfehlungen gut          tigem Feedback u. a.), das Abstimmen       oder der Zugang zu Spezialistinnen und
umsetzen können. Fehlende Adhärenz         der Behandlung/Maßnahmen auf die           Spezialisten oder besonderen Interven-
ist darüber hinaus auch von anderen        individuellen Ziele und Bedürfnisse der    tionen zur Unterstützung von Adhärenz
Faktoren abhängig. Neben dem Ver-          Patientinnen und Patienten sowie klare     hilfreich sein können, sollten diese zur
trauen und einer guten Beziehung zum       Information sind in allen Phasen wichtig   Verfügung gestellt bzw. ermöglicht wer-
Gesundheitsdienstanbieter beeinflus-       [5].                                       den.
sen die persönliche Einstellung zu den
Behandlungsempfehlungen, mögliche          Individuell abgestimmte Maßnahmen          Stimmen Patientinnen und Patienten
Nebenwirkungen und die Lebens-             wie beispielsweise die Vereinfachung       bestimmten Behandlungsplänen von
umstände der Patientin bzw. des Patien-    von Behandlungsplänen und Verwen-          ärztlicher oder therapeutischer Seite
ten, ob Menschen das tun, was sie vor-     dung von Erinnerungshilfen helfen          explizit nicht zu, so sollte nach anderen
her gemeinsam mit dem Gesundheits-         ebenfalls dabei, die Behandlungsemp-       Lösungen gesucht werden, die für die
dienstanbieter vereinbart haben oder       fehlungen im Alltag umzusetzen [6].        Patientinnen und Patienten akzeptabel
nicht [5].                                 Außerdem sollte Adhärenz mit den Pa-       sind. Die Bedürfnisse der Patientinnen
                                           tientinnen und Patienten regelmäßig        und Patienten müssen erhoben und die
Bei Patientinnen und Patienten mit         anhand offener Fragen thematisiert         Behandlung individuell an deren Le-
chronischen Erkrankungen kann Adhä-        werden, insbesondere wenn die Krank-       bensumstände angepasst werden [5].
16    03_2021

Zusammenfassend erfordert Adhärenz              Quellen:
                                                [1] World Health Organization. Adherence to
ein partnerschaftliches Miteinander von
                                                    Long-Term Therapies, Evidence for action.
Seiten der Patientinnen und Patienten               Genf, 2003.
und der Gesundheitsdienstanbieter.              [2] van den Bemt BJF, Zwikker HE, van den Ende
                                                    CHM. Medication adherence in patients with
Patientinnen und Patienten und ihre                 rheumatoid arthritis: a critical appraisal of the
Bedürfnisse müssen im Mittelpunkt                   existing literature. Expert Rev Clin Immunol
                                                    2012;8:337–51.
des medizinischen Handelns stehen.              [3] Achaval S de, Suarez-Almazor ME. Treatment
Patientinnen und Patienten sollten au-              adherence to disease-modifying antirheumatic
                                                    drugs in patients with rheumatoid arthritis and
ßerdem aktiv in ihrem Gesundheitsma-
                                                    systemic lupus erythematosus. Int J Clin Rheu-
nagement unterstützt werden. Ebenso                 matol 2010;5:313–26.
ist die Stärkung der Selbstwirksamkeit          [4] van der Heijde D, Aletaha D, Carmona L, et
                                                    al. 2014 Update of the EULAR standardised
für Adhärenz von größter Bedeutung.                 operating procedures for EULAR-endorsed re-
                                                    commendations. Ann Rheum Dis 2015;74:8–13.
Funding                                         [5] Ritschl V, Lackner A, Boström C, et al. I do not
                                                    want to suppress the natural process of inflam-
                                                    ma-tion: new insights on factors associated
                                                    with non-adherence in rheumatoid arthritis.
Dieses Projekt wurde durch EULAR fi-
                                                    Arthritis Res Ther 2018;20:234.
nanziert (Projektnummer HPR037).                [6] Ritschl V, Stamm TA, Aletaha D, et al. 2020
                                                    EULAR points to consider for the prevention,
                                                    scree-ning, assessment and management of
                                                    non-adherence to treatment in people with
Autorinnen und Autoren:                             rheumatic and musculoskeletal diseases
Valentin Ritschl, MSc,                              for use in clinical practice. Ann Rheum Dis
                                                    2021;80:707-13.
Erika Mosor, MSc, PhD,
Univ.-Prof.in Dr.in Tanja A. Stamm, PhD
Institut für Outcomes Research, Zentrum für
Medizinische Statistik, Informatik und Intel-
ligente Systeme, Medizinische Universität
Wien
03_2021   17

Diabetes
und Psyche
Wechselseitige Beeinflussung und negative Folgen
Diabetes mellitus ist häufig mit psychischen Erkrankungen wie
Depression, Angststörungen, auffälligem Essverhalten und kognitiven
Defiziten assoziiert. Andererseits wurde beobachtet, dass schizophrene
und wahnhafte Störungen sowie bipolare Störungen zu einer erhöhten
Inzidenz von Diabetes mellitus führen können.

Die Koinzidenz von Stoffwechseler-       ist zwischen einer zumeist vorüber-       „Psychischer Stress“
krankung und psychischer Erkrankung      gehenden Überforderung durch die          durch Diabetes
nimmt zumeist durch ungünstige wech-     chronische Stoffwechselerkrankung
selseitige Beeinflussung einen negati-   mit kognitivem und emotionalem            Die Herausforderungen, die für betrof-
ven Einfluss auf den Stoffwechsel mit    Stresserleben („diabetes distress“) und   fene Menschen mit Diabetes mellitus
vermehrtem Auftreten von diabeti-        einer manifesten psychischen Erkran-      zu bewältigen sind, um ein bestmögli-
schen Folgeschäden.                      kung wie Depression zu unterschei-        ches Stoffwechselmanagement zu er-
                                         den. Da viele Symptome ähnlich sind,      zielen, werden unterschiedlich erlebt
Die Ursachen für das gemeinsame          sollten validierte Instrumente für die    und bewertet. Je nach individueller
Auftreten sind vielfältig und lassen     diagnostische Unterscheidung her-         Belastungstoleranz und Bewältigungs-
sich nur teilweise erklären. Generell    angezogen werden.                         kompetenz kann eine signifikante kog-
18   03_2021

nitive und emotionale Stressbelastung          Patienten mit Entlastungsgesprächen     (PAID) auch in deutscher Sprache zur
entstehen, die wiederum zu negativen           zu unterstützen. Patientenschulungen    Verfügung. PAID umfasst 20 Fragen,
direkten Auswirkungen auf den Stoff-           können durch Aneignung von Wissen       die sowohl emotionalen Stress als auch
wechsel und auf das Stoffwechselma-            und Steigerung der Eigenkompetenz       spezifische Belastungen des Diabetes
nagement führen kann. Kognitive und            „psychischem Stress“ entgegenwirken.    erfassen. Die Diabetes Distress Scale
emotionale Stressbelastung können                                                      (DDS) umfasst 17 Fragen und vier Be-
Symptome der Depression generieren,            Achtung: Nicht selten ist die Ursache   reiche wie emotionale Belastung, inter-
ohne dass die diagnostischen Kriterien         von mangelnder Therapieadhärenz         personelle Belastung, Arzt-bezogenen
für Depression erfüllt werden. „Diabetes       „psychischer Stress“ durch Diabetes.    Stress und Therapie-assoziierten Stress.
distress“ ist relativ häufig (Prävalenz 18 –                                           Eine validierte deutschsprachige Versi-
45 %) und darf nicht mit Depression ver-       Für die Diagnose „diabetes distress“    on liegt aktuell nicht vor.
wechselt werden. In der Praxis gilt, Sym-      und für die Abgrenzung zur Depression
ptome der Überforderung zu erkennen,           stehen einfach anzuwendende Instru-     Oftmals sind bei der Diagnose „psy-
und die betroffenen Patientinnen und           mente wie Problem areas in Diabetes     chischer Stress“ ein oder zwei Entlas-
                                                                                       tungsgespräche für die betroffenen
                                                                                       Patientinnen und Patienten hilfreich
                                                                                       bzw. auch ausreichend, um eigene Be-
                                                                                       wältigungsstrategien zu entwickeln. Ein
                                                                                       Entlastungsgespräch kann von jeder
                                                                                       Ärztin bzw. jedem Arzt geführt werden,
                                                                                       eine besondere Ausbildung ist nicht
                                                                                       erforderlich. Ein Entlastungsgespräch
                                                                                       sollte in jedem Fall Selbstvorwürfe,
                                                                                       Schuld- und Versagensängste und Or-
                                                                                       ganminderwertigkeitsgefühle thema-
                                                                                       tisieren und bei der Bewältigung unter-
                                                                                       stützen. Dabei ist auch die Verbesse-
                                                                                       rung der zumeist reduzierten Problem-
                                                                                       lösungskapazität zu berücksichtigen
                                                                                       bzw. in den Therapieplan einzubauen.

                                                                                       Depression
                                                                                       Depressive Störungen kommen bei Men-
                                                                                       schen mit Diabetes mellitus doppelt so
                                                                                       häufig vor wie in der nicht-diabetischen
                                                                                       Population. Die Koinzidenz von Stoff-
                                                                                       wechselerkrankung und Depression ist
                                                                                       durch nachhaltig ungünstige Auswirkun-
                                                                                       gen auf den Stoffwechsel charakterisiert.
                                                                                       Schlechtere Stoffwechselkontrolle und
                                                                                       erhöhte Prävalenz von mikro- und mak-
                                                                                       roangiopathischen Komplikationen sind
                                                                                       die Konsequenzen. Auch akute Kom-
                                                                                       plikationen des Diabetes mellitus wie
                                                                                       schwere Hypo- und Hyperglykämie bzw.
                                                                                       ketoazidotische Entgleisung werden mit
                                                                                       Depression assoziiert. Prävalenz und Ver-
03_2021   19

lauf der Depression dürften für Diabetes    mit Symptomen der Depression höhere         die Ausprägung von Spätschäden ist
mellitus Typ 1 und Typ 2 unterschiedlich    HbA1c-Spiegel, mehr Spätkomplikatio-        positiv mit Depression korreliert. Die
sein. Die meisten Studien zu Diabetes       nen, mehr Episoden von Ketoazidosen         Depression wird häufig nicht als sol-
und Depression untersuchen eine aus Di-     und schweren Hypoglykämien innerhalb        che erkannt und verspätet diagnos-
abetes mellitus Typ 1 und Typ 2 gemischte   der letzten drei Monate aufwiesen. Die-     tiziert. Daher ist empfehlenswert bei
Population oder nur reine Typ-2-Popu-       se Patientinnen und Patienten zeigten       Patientinnen und Patienten mit Symp-
lationen. Daher liegen für reine Typ-1-     auch weniger körperliche Aktivität und      tomen wie Freud- und Interesselosig-
Populationen deutlich weniger Studien       ließen häufiger Insulindosen aus. Diesel-   keit, Schlafstörungen, fehlendem An-
vor.                                        be Studiengruppe untersuchte rezent         trieb und mangelnder Therapieadhä-
                                            in einer Typ-1-Population den Verlauf       renz an eine subklinische oder klinische
Depressive Symptome können nach der         der Depression über vier Jahre und die      Depression zu denken und diagnosti-
ICD-10 Klassifikation im Wesentlichen       Auswirkungen der Veränderungen (Bes-        sche Schritte einzuleiten.
zu depressiven Episoden (leicht - mit-      serung oder Verschlechterung) der De-
telgradig - schwer), rezidivierenden de-    pression auf den Stoffwechseloutcome.       Ursachen der Depression
pressiven Störungen und anhaltenden                                                     bei Diabetes mellitus
affektiven Störungen zugeteilt werden.      In diese Beobachtungsstudie wurden          Als ursächlich für die erhöhte Depressi-
                                            2.744 erwachsene Personen mit Dia-          onsprävalenz bei Diabetes mellitus wer-
Schlechte Therapieadhärenz – ein be-        betes mellitus Typ 1 inkludiert. Das Le-    den einerseits neuroendokrine Mecha-
achtenswertes Problem bei der The-          bensalter lag im Mittel bei 42 Jahren,      nismen und andererseits Veränderungen
rapie des Diabetes mellitus – kann          der HbA1c-Wert bei 7,6 % und der Frau-      auf der Verhaltensebene mit ungünsti-
unter anderem ein Signal für eine psy-      enanteil betrug 57 %. Im Verlauf über       gen Folgen diskutiert. Diabetes mellitus
chische Komorbidität sein. Der Anteil       vier Jahre blieben 5 % der Patientinnen     mit den spezifischen Herausforderun-
von Patientinnen und Patienten mit          und Patienten depressiv, bei 4 % besser-    gen bedeutet für Betroffene kognitiven
schlechter Therapieadhärenz macht           ten sich die Symptome der Depression        und emotionalen Stress. Stress, der nicht
in der Typ-2-Population ca. 40 % aus.       und bei 6 % trat neu eine Depression        bewältigbar ist, führt zur Aktivierung des
Die Ergründung der Ursachen ist ein         auf. Bei der Mehrheit der Studienteil-      sympathischen Nervensystems mit er-
wesentlicher Bestandteil der Therapie.      nehmerinnen und Studienteilnehmer,          höhter Katecholaminausschüttung und
Entsprechend dem biopsychosozialen          nämlich 85 %, war weder zu baseline,        zur Aktivierung der Hypothalamus-Hy-
Modell ist eine vertiefende Exploration     noch zum Follow up nach vier Jahren         pophysen-Nebennierenachse mit er-
mit Einlassen auf die Persönlichkeit der    eine Depression feststellbar. Der An-       höhten CRH-, ACTH- und Cortisolspie-
Patientin bzw. des Patienten und Ken-       stieg von HbA1c war am höchsten bei         geln. Die Wirkung all dieser Hormone auf
nenlernen des sozialen Umfeldes ein         den Patientinnen und Patienten mit          den Stoffwechsel ist ungünstig und führt
wesentlicher Faktor für eine wirksame       Depression. Diese Studie bestätigt den      zur Verschlechterung unter anderem des
Begegnung mit der Patientin bzw. dem        Einfluss von Depressionssymptomen           Glukosestoffwechsels.
Patienten. Die Ursachen von mangeln-        auf die Stoffwechselkontrolle bei Diabe-
der Therapieadhärenz sind vielfältig        tes mellitus Typ 1.                         Bei einer nicht unerheblichen Zahl von
und nicht immer einfach zu erfassen.                                                    Menschen mit Diabetes führen die
Fasst man die aktuelle Studienlage zu-      Diabetes mellitus Typ 2                     Anforderungen, die für ein ordentli-
sammen, nehmen psychische Erkran-           und Depression                              hes Blutzuckermanagement notwendig
kungen bei zumindest 50 % der Pati-         Die depressive Episode nach Klassi-         sind, zu einer Überforderung vor allem
entinnen und Patienten Einfluss auf die     fikation ICD-10 ist die häufigste Er-       auf psychischer Ebene. Diese Über-
Therapieadhärenz.                           scheinungsform der Depression bei           forderung ist mit emotionalem Stress
                                            Diabetes mellitus Typ 2. Laut einer re-     assoziiert und resultiert somit in oben
Diabetes mellitus Typ 1                     zenteren Metaanalyse leiden 17,6 % der      erwähnten neuroendokrinen Verän-
und Depression                              Patientinnen und Patienten mit Diabe-       derungen. Klinisch stehen „Rückzugs-
Eine amerikanische Studiengruppe            tes mellitus Typ 2 an einer Depression      symptome“ wie Vernachlässigen des
berichtete, dass Patientinnen und Pa-       unterschiedlicher Ausprägung. Frauen        Diabetesmanagements, ungesunde Er-
tienten mit Diabetes mellitus Typ 1 und     sind häufiger betroffen als Männer und      nährung, wenig körperliche Bewegung
20    03_2021

     2-Fragen-Test
                                                      Diagnose
                                                Diabetes mellitus Typ 2

                                                           
         Screening
         auf Depression                        Screening auf Depression
         1 x jährlich
                                                                               und Gewichtszunahme im Vordergrund.
                                                                                Rückzug in Hinblick auf Diabetesma-
                                                                                nagement resultiert auch häufig in
                                                   Gab es in den                Suchtverhalten. Darüber hinaus ist eine
                                                 letzten 4 Wochen               missglückte Bewältigungsstrategie als
                NEIN                      eine Zeitspanne, während der          neuerliche Noxe für die Psyche zu be-
                                        Sie sich niedergeschlagen, traurig
                                                                                werten.
                                            oder hoffnungslos gefühlt
                                                      haben?
                                                                                Diagnostik der Depression und
                                                                                therapeutische Möglichkeiten
                                                                                Für die diagnostische Differenzierung
                                                           
                                                               JA
                                                                                einer Depression empfiehlt sich die
                                                                                Durchführung des 2-Fragen-Tests von
                                                                                Whooley et al., der 1997 erstmals be-
                                                   Gab es in den
                                                                                schrieben wurde und ein wertvolles
                                              letzten 4 Wochen eine
                NEIN                     Zeitspanne, während der Sie das        Screeninginstrument darstellt (Abbil-
                                     Interesse an Tätigkeiten verloren haben,   dung 1). Werden bei dem Test beide
                                             die Ihnen normalerweise            Fragen mit JA beantwortet und ist die
                                                 Freude machen?                 Symptomatik anhaltend, ist die Wahr-
                                                                                scheinlichkeit für das Vorliegen einer
                                                                                Depression gegeben und eine weiter-
                                                               JA               führende Diagnostik bzw. die Vorstel-
                                                           
                                                                                lung bei einer Fachärztin bzw. einem
                                                                                Facharzt für Psychiatrie zu empfehlen.

                NEIN                                                            Sehr einfach durchzuführen und aussa-
                                            War dies fast jeden Tag der Fall?   gekräftig ist der HADS (Hospital Anxiety
                                                                                and Depression Score). Es handelt sich
                                                                                dabei um ein Fragebogeninstrument zur
                                                                                Selbstbeurteilung von Angst und De-
                                                                                pressivität für Erwachsene, welches sta-
                                                              JA
                                                                                tionär und ambulant anwendbar ist. Die
                                                                                Bearbeitungszeit liegt zwischen zwei und
                                                                                drei Minuten. Der Test verfügt über je sie-
                NEIN                              Hielt dieser Zustand          ben Items für Symptome der Depression
                                                      mindestens                und Angst. Die Validität des Tests wird
                                                     2 Wochen an?               mit „sehr gut“ bewertet. Weiters verfügt
                                                                                der Test über eine sehr gute Anwender-
                                                                                freundlichkeit und Akzeptanz von Seiten
                                                               JA               der Befragten und ist daher sehr gut als
                                                                               klinisches Standardverfahren geeignet.
       Wahrscheinlichkeit
                                      Diagnostik bzw. Vorstellung bei einer
       für das Vorliegen
                                      Fachärztin bzw. einem Facharzt für        Die Durchführung des WHO-5 Well-
       einer Depression
                                          Psychiatrie wird empfohlen            Being-Index empfiehlt sich bei Ver-
       ist gegeben
                                                                                dacht auf Depression und/oder bei si-
                                                                                gnifikant verminderter Lebensqualität
                                                                                (Abbildung 2).
Abb. 1 : 2-Fragen-Test von Whooley et al.
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