TIROL ÖkoMedN 3 - Österreichische Gesundheitskasse
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DIE FO ARZTIN GK ÖkoMed D E R Ö E SSTELL LANDE L TIRO N°3 September 2021 IN KOOPERATION MIT DER ÄRZTEKAMMER FÜR TIROL äts- Fragilit en: fraktur ig fig , k o stspiel häu ar n d v e rmeidb u Osteoporotische Antibiotikaverordnungen: Antikoagulanzien: Adhärenz für ein optimales Fragilitätsfrakturen Treffsicherheit verbessern neue Erkenntnisse Behandlungsergebnis SEITE 4 SEITE 8 SEITE 11 SEITE 14
2 03 _2021 Frühe Hilfen gegen toxischen Stress Ein Fortbildungsangebot – online oder als Literaturstudium Frühe Hilfen helfen, die Entwicklungsmöglichkeiten und Gesundheitschancen von Kindern und deren Eltern frühzeitig und nachhaltig zu verbessern. Als frühe präventive Maßnahme wirken sie positiv auf den körperlichen und seelischen Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen und legen den Grundstein für die Gesundheit im Erwachsenenalter. Um Familien mit Unterstützungsbedarf zu erreichen, braucht Im Zeitraum von Schwangerschaft, Geburt und früher Kind- es einen aktiven und systematischen Zugang über die Fach- heit kommt vor allem dem Gesundheitsbereich eine beson- kräfte und Institutionen, die mit schwangeren Frauen und dere Rolle zu, da nahezu alle Familien in dieser Zeit Gesund- Müttern bzw. Familien mit Kleinkindern in Kontakt sind. Nur heitsdienstleistungen in Anspruch nehmen. Die regionalen so kann gewährleistet werden, dass Belastungen entdeckt, Frühe-Hilfen-Netzwerke streben daher eine enge Koopera- Hilfebedarf erkannt und somit negative Kindheitserfahrun- tion mit dem medizinischen Bereich an und richten sich ins- gen vermieden werden können. Die Ergebnisse neuester Stu- besondere an Krankenhäuser (vor allem Geburtenstationen) dien haben gezeigt, dass gerade Belastungen in der frühen sowie Angehörige niedergelassener Gesundheitsberufe mit Kindheit, die durch länger andauernden toxischen Stress her- Fokus auf Gynäkologie, Pädiatrie, Allgemeinmedizin oder vorgerufen werden, die Entwicklung des Gehirns eines Kin- Hebammen. des maßgeblich negativ beeinflussen. Darüber hinaus legen die Ergebnisse den Schluss nahe, dass sich diese negativen Um Fachkräften die Möglichkeit zu geben, sich näher mit der Erfahrungen langfristig auch auf das Copingverhalten und Thematik der negativen Kindheitserfahrungen und den Aus- die Anfälligkeit für andere, körperliche Erkrankungen (vor wirkungen des toxischen Stresses auseinanderzusetzen, hat allem des Herz-Kreislauf-Systems) auswirken. Deshalb ist es das Nationale Zentrum für Frühe Hilfen (NZFH.at) gemein- besonders wichtig, dass belastete Schwangere bzw. Familien sam mit Fachärztinnen und Fachärzten aus der Kinder- und auf ein gut funktionierendes Netzwerk aus Fachkräften tref- Jugendheilkunde, der Frauenheilkunde und Geburtshilfe so- fen, die entsprechende Beratungs- und Unterstützungsan- wie der Allgemeinmedizin ein Literaturstudium und ein inter- gebote für sie bereithalten. aktives Fortbildungsangebot entwickelt. Das Fortbildungsangebot bietet fundiertes und evidenzba- siertes Wissen zu den Folgen negativer Kindheitserfahrun- gen und den (neurobiologischen) Auswirkungen der Erfah- rung von toxischem Stress auf die Entwicklung des Gehirns und die langfristige Gesundheit. Darüber hinaus werden die zentralen Aspekte des österreichischen Angebots der Frühen Hilfen als transgenerationales Programm zur Unterstützung in der frühen Kindheit dargestellt. Unterstützt wird das Fort- bildungsangebot durch Informationsmaterialien und Ge- sprächsleitfäden. Das Literaturstudium wird mit sechs und das interaktive Fortbildungsprogramm mit einem DFP-Punkt für Ärztinnen und Ärzte anerkannt. Nähere Informationen zum interaktiven Fortbildungsange- bot sowie zum Literaturstudium finden Sie unter: www.fruehehilfen.at/fortbildung.htm
03 _2021 3 Inhalt Editorial Frühe Hilfen gegen toxischen Stress 2 Sehr geehrte Frau Doktorin, sehr geehrter Herr Doktor, Editorial 3 Fragilitätsfrakturen: Fragilitätsfrakturen, also Frakturen nach Stürzen auf glei- häufig, kostspielig und vermeidbar 4 cher Höhe, verursachen aktuellen Schätzungen zufolge rund 2,5 Prozent der österreichischen Gesundheitsausga- Antibiotikaverordnungen: ben. Unsere Titelgeschichte bringt eine epidemiologische Treffsicherheit verbessern 8 Betrachtung der osteoporotischen Fragilitätsfrakturen. Wie zu erwarten war, nimmt die Inzidenz mit zunehmendem Alter deutlich zu, bei Männern mit einer zeitlichen Verzö- gerung. Allein die Anzahl der Fragilitätsfrakturen legt nahe, welchen Stellenwert Sturzprävention hat. Um der weiter steigenden Resistenzentwicklung von Bakterien entgegenzuwirken, ist eine bessere Treffsicherheit beim Einsatz von Antibiotika gegen Erkältungskrankheiten geboten. In den allermeisten Fällen sind diese viral bedingt, und eine rasche Selbstheilung ist recht wahrscheinlich. Eine Behandlungsoption, die das berücksichtigt, ist das sogenannte Delayed Prescribing. Unser Artikel berichtet über diese Behandlungsstrategie. Ein weiterer Artikel widmet sich den neuesten Erkennt- nissen zu direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) im Vergleich zu Vitamin-K-Antagonisten und stellt das Thema Antikoagulanzien – neue Erkenntnisse 11 auch in einen ökonomischen Zusammenhang. Über die we- sentliche Rolle der Adhärenz für den Erfolg einer Behand- Adhärenz als ein wesentlicher Faktor 14 lung berichtet ein entsprechender Artikel. Die Möglichkeit zum Erwerb von Punkten für das Diplom-Fortbildungs-Pro- Diabetes und Psyche 17 gramm (DFP) bietet der Artikel über Diabetes und Psyche. DFP-Punkte gibt es übrigens auch für das Fortbildungs- angebot zu den Frühen Hilfen, über das Sie sich auf der gegenüberliegenden Seite informieren können. Impressum Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre. Medieninhaber, Herausgeber und Redaktion: Österreichische Gesundheitskasse Das Redaktionsteam Haidingergasse 1, 1030 Wien www.gesundheitskasse.at/impressum Hersteller: ÖKO-Druckerei Pircher, Ötztal-Bahnhof Fotos: Shutterstock. Satz- und Druckfehler vorbehalten.
4 03_2021 Häufig, kostspielig und vermeidbar Ein epidemiologischer Blick auf osteoporotische Fragilitätsfrakturen Schätzungen gehen davon aus, dass bereits 2,5 % der österreichischen Gesundheitsausgaben durch Fragilitätsfrakturen verursacht werden. Das sind Frakturen, die auf Stürze auf gleicher Höhe zurückzuführen sind. Eine Analyse von Daten aus dem Jahr 2018 verdeutlicht das Ausmaß dieser Frakturen und zeigt deren Anstieg mit zunehmendem Alter. Davon kann der enorme Stellenwert der Sturzprävention abgeleitet werden. Nach den Empfehlungen der Kon- nische Verschlechterung des Knochen- sogenannten T-Score für die Knochen- sensus-Entwicklungskonferenz aus dem gewebes mit einer daraus resultieren- mineraldichte (BMD). Eine Osteoporose Jahr 1991 wird Osteoporose als eine den, erhöhten Knochenbrüchigkeit und kann demnach bei postmenopausalen systemische Skeletterkrankung de- Frakturanfälligkeit gekennzeichnet ist [1]. Frauen und bei Männern ab 50 Jahren finiert, die durch eine geringe Kno- Eine weitere Definition, welche einfacher diagnostiziert werden, wenn der T-Sco- chenmasse und eine mikroarchitekto- zu operationalisieren ist, basiert auf dem re der Lendenwirbelsäule, der gesamten Hüfte oder des Oberschenkelhalses -2,5 oder weniger beträgt [2]. Es sollte jedoch beachtet werden, dass, obwohl die BMD zum Frakturrisiko einer Person beiträgt, die Mehrheit der osteoporotischen Frak- turen bei Personen auftritt, die nach BMD keine Osteoporose haben [3]. Wirbelfrakturen, Hüftfrakturen, Frak- turen des proximalen Humerus sowie des distalen Unterarms gelten als die häufigsten Arten von osteoporotischen Frakturen. Dementsprechend werden sie auch als osteoporotische Haupt- frakturen (major osteoporotic fractures - MOFs) bezeichnet. Das durchschnitt- liche Lebenszeitrisiko einer 50-jährigen Frau, eine MOF zu erleiden, wurde auf fast 50 % geschätzt, das entsprechende Risiko bei Männern auf 22 % [4]. Osteo- porotische Frakturen können jedoch auch an vielen anderen anatomischen Stellen auftreten, z. B. am Becken, am Schienbein oder an den Rippen. Ge- nerell gilt, dass die Wahrscheinlichkeit, eine osteoporotische Fraktur zu erlei- den, mit dem Alter zunimmt. Inzidenzraten und Trendanalysen für die gesamte österreichische Bevölke- rung ab 50 Jahren wurden für Hüft-
03_2021 5 Frakturgeschehen und osteoporotische Fragilitätsfrakturen (2018) Diagnose Altersgruppe Stationäre Fälle je Fraktur-Diagnosegruppe1 Sturz auf gleicher Höhe2 Relevante Andere Summe Anteil in % Fälle %-Anteil an Diagnosen Diagnosen allen Diag. (S02) Fraktur des Schädels unter 50 Jahren 0 4.606 4.606 0 0 – und der Gesichtsschädelknochen 50 Jahre u. älter 0 5.913 5.913 0 0 – Summe 0 10.519 10.519 0 0 – (S12) Fraktur im Bereich unter 50 Jahren 0 334 334 0 0 – des Halses 50 Jahre u. älter 0 1.432 1.432 0 0 – Summe 0 1.766 1.766 0 0 – (S22) Fraktur der Rippe(n), des Ster- unter 50 Jahren 1.792 216 2.008 89 442 22 nums und der Brustwirbelsäule 50 Jahre u. älter 9.549 718 10.267 93 6.636 65 Summe 11.341 934 12.275 92 7.078 58 (S32) Fraktur der Lendenwirbel- unter 50 Jahren 1.389 0 1.389 100 232 17 säule und des Beckens 50 Jahre u. älter 10.624 0 10.624 100 7.933 75 Summe 12.013 0 12.013 100 8.166 68 (S42) Fraktur im Bereich der unter 50 Jahren 591 3.025 3.616 16 183 5 Schulter und des Oberarmes 50 Jahre u. älter 3.929 3.068 6.997 56 3.245 46 Summe 4.520 6.093 10.613 43 3.427 32 (S52) Fraktur des Unterarmes unter 50 Jahren 2.156 2.531 4.687 46 741 16 50 Jahre u. älter 4.511 2.100 6.611 68 3.426 52 Summe 6.667 4.631 11.298 59 4.167 37 (S62) Fraktur im Bereich des unter 50 Jahren 0 2.878 2.878 0 0 – Handgelenkes und der Hand 50 Jahre u. älter 0 1.610 1.610 0 0 – Summe 0 4.488 4.488 0 0 – (S72) Fraktur des Femurs unter 50 Jahren 376 671 1.047 36 134 13 50 Jahre u. älter 16.862 2.973 19.835 85 14.909 75 Summe 17.238 3.644 20.882 83 15.043 72 (S82) Fraktur des Unter- unter 50 Jahren 1.807 3.619 5.426 33 288 5 schenkels, einschl. des 50 Jahre u. älter 2.109 5.574 7.683 27 977 13 oberen Sprunggelenkes Summe 3.916 9.193 13.109 30 1.265 10 (S92) Fraktur des Fußes unter 50 Jahren 0 1.337 1.337 0 0 – (ausgenommen oberes 50 Jahre u. älter 0 1.040 1.040 0 0 – Sprunggelenk) Summe 0 2.377 2.377 0 0 – unter 50 Jahren 8.111 19.217 27.328 30 2.020 7 Gesamtergebnis 50 Jahre u. älter 47.584 24.428 72.012 66 37.128 52 Summe 55.695 43.645 99.340 56 39.147 39 Abb. 1: Bedeutung der osteoporotischen Fragilitätsfrakturen am Frakturgeschehen (2018). Es sind ausschließlich stationäre Fälle dargestellt. 1) Stellt sämtliche Fraktur-Diagnosen der jeweiligen Diagnosegruppe dar. Diese werden unterteilt in relevante Diagnosen für die Berechnung osteoporotischer Fragilitätsfrakturen und andere Diagnosen. 2) Stellt die Fälle mit relevanter Diagnose und Sturz auf gleicher Höhe dar. Quelle: MEDOK, DLD und GÖG-eigene Berechnungen. frakturen, proximale Humerusfrakturen verbunden, wobei die Folgen oft zu ei- von Stürzen auf gleicher Höhe (< 1,5 m) und distale Unterarmfrakturen veröf- nem vorzeitigen Tod führen. Ziel dieser bei Patientinnen und Patienten im Al- fentlicht, und es wurde gezeigt, dass Studie [10] war es, die Anzahl der Fragili- ter von 50 Jahren wurden als Proxy für die Inzidenzraten für diese Frakturty- tätsfrakturen in Österreich im Jahr 2018 Fragilitätsfrakturen verwendet und die pen zu den höchsten weltweit gehören empirisch zu schätzen. Anzahl der stationären und ambulanten [5–8]. Die Frage nach dem Anteil der Fälle wurde geschätzt. Zu diesem Zweck Fragilitätsfrakturen in Österreich und Methodik wurden die DLD-Daten mit Daten aus der damit verbundenen wirtschaftli- dem MEDOK-System der AUVA kom- chen Belastung – geschätzt auf 2,5 % Die Anzahl der stationären Patien- biniert, welches Informationen zur Ver- der gesamten Gesundheitsausgaben tinnen und Patienten mit relevanten letzungsart, wie Sturz auf gleicher Höhe in Österreich im Jahr 2010 [9] – wurde ICD-10-Diagnosen in allen öffentlichen (< 1,5 m), enthält. jedoch bisher in keiner dieser Studien Krankenhäusern Österreichs wurde umfassend behandelt. aus der Diagnosen- und Leistungsdo- Ergebnisse Fragilitätsfrakturen sind häufig mit lan- kumentation (DLD-Daten) des Bun- gen Krankenhausaufenthalten, Verlust desministeriums für Soziales, Gesund- Abbildung 1 zeigt, dass im Jahr 2018 der Selbstständigkeit und erhöhtem heit, Pflege und Konsumentenschutz insgesamt 99.340 relevante Frakturen Pflegebedarf bei älteren Menschen (BMSGPK) abgeleitet. Frakturen infolge identifiziert wurden. Die Schätzungen
6 03_2021 Anteil der Fragilitätsfrakturen an den Gesamtfrakturen zeigen, dass es sich bei 39.147 Fraktu- nach Altersgruppen und Geschlecht (2018) ren um solche durch Sturz auf gleicher männlich weiblich Höhe (Fragilitätsfrakturen) handelt. 37.128 davon traten bei Personen im 80 % Alter von 50 Jahren oder älter auf. Ab- 70 % bildung 2 stellt den prozentualen Anteil 70 % der Fragilitätsfrakturen an allen Frak- 60 % turen im stationären Setting nach Alter 57 % 64 % dar, wobei ein schneller Anstieg des 50 % 45 % Anteils der Fragilitätsfrakturen sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Anteil 40 % 44 % Personen ab dem Alter von 50 Jahren 31 % 30 % zu erkennen ist. In der Altersgruppe 31 % von 50–59 Jahren lag der Anteil der 20 % 16 % Fragilitätsfrakturen bei Frauen bei 31 % 11 % 18 % und stieg in jeder Dekade um etwa 8% 7% 5% 10 % 11 % 15-%-Schritte an. Männer zeigten einen 5% 5% 6% ebenso steilen Anstieg, welcher aber 0% 3% etwa zehn Jahre später als bei Frauen 0-9 10-19 20-29 30-39 40-49 50-59 60-69 70-79 80+ eintritt. Der hohe Anteil der Fragilitäts- Jahre frakturen an allen Frakturen verdeut- licht deren Bedeutung und die damit Abb. 2 einhergehenden Auswirkungen auf die medizinische Inanspruchnahme. Fragilitätsfrakturen Ausgehend von den stationären Fällen nach Alter und Geschlecht (2018) wurde die Anzahl der ambulanten Fälle mit Hilfe von geschlechts- und alters- männlich weiblich spezifischen ambulanten Korrekturfak- toren je ICD-Code berechnet. Diese 10.000 Berechnung ergab insgesamt 115.309 9.531 Patientinnen und Patienten mit relevan- 8.000 ten Frakturen durch Stürze auf gleicher Höhe in allen Altersgruppen und 92.835 Inzidenz relevante Frakturen bei Personen im Al- 6.000 ter von 50 Jahren oder älter, die als Fra- 4.450 5.426 gilitätsfrakturen osteoporotischen Ur- 4.000 sprungs betrachtet werden (Abbildung 2.398 1). Diese 92.835 Frakturen entsprechen 2.000 1.457 einer Inzidenz von 2.600/100.000 Ein- 789 921 2.041 146 244 399 wohnerinnen und Einwohnern im Alter 1.158 780 679 von 50 Jahren oder älter, die in Öster- 0 486 438 144 225 reich an Fragilitätsfrakturen leiden. Ge- 0-9 10-19 20-29 30-39 40-49 50-59 60-69 70-79 80+ nerell war die Inzidenz bei Frauen höher als bei Männern und nahm mit dem Al- Jahre ter stark zu (Abbildung 3). Abb. 3
03_2021 7 Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Fragilitätsfrakturen häufige, kost- spielige und – vor allem – vermeidbare Ereignisse sind. Die demografische Entwicklung wird in Zukunft zu einer noch höheren Belastung führen. Behandlungsrichtlinien müssen sich auch auf die Prävention konzentrie- ren, um die hohen Kosten zu vermeiden, die mit Frakturbehandlung und Rehabilitation verbunden sind, insbesondere wenn man bedenkt, dass vie- le Patientinnen und Patienten wiederkehrende Frakturen haben werden. Autorinnen und Autoren: evidence for a change in the secular trend. Osteoporos Int 2011;22:685–92. Priv.-Doz. Dr. Christian Muschitz, [7] Dimai HP, Svedbom A, Fahrleitner-Pammer Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien A, et al. Epidemiology of proximal humeral Dr. Michael Hummer, DI Anton Hlava, frac-tures in Austria between 1989 and 2008. Osteoporos Int 2013;24:2413–21. Mag. Andreas H. Birner, [8] Kanis JA, Odén A, McCloskey EV, Johansson Gesundheit Österreich GmbH H, Wahl DA, Cooper C. A systematic review of Assoc. Prof. Dr. Johannes Grillari, hip fracture incidence and probability of frac- Ludwig Boltzmann Institut für Traumatolo- ture worldwide. Osteoporos Int 2012;23:2239– 56. gie, das Forschungszentrum in Kooperation [9] Kanis JA, Borgström F, Compston J, et al. mit der AUVA SCOPE: a scorecard for osteoporosis in Euro- Dr.in Margit Hemetsberger, pe. Arch Osteoporos 2013;8:144. [10] Hummer M., Hlava A., Birner A. H. Epidemio- hemetsberger medical services logie osteoporotischer Fragilitätsfrakturen. Ao. Univ.-Prof. Dr. Hans Peter Dimai, Wien: Gesundheit Österreich, 2020. Medizinische Universität Graz Quellen: [1] Consensus Development Conference: pro- phylaxis and treatment of osteoporosis. Am J Med 1991;90:107–10. [2] Baim S, Binkley N, Bilezikian JP, et al. Official positions of the International Society for Clinical Densitometry and executive summary of the 2007 ISCD Position Development Conference. J Clin Densitom 2008;11:75–91. [3] Siris ES, Chen Y-T, Abbott TA, et al. Bone mine- ral density thresholds for pharmacological in-tervention to prevent fractures. Arch Intern Med 2004;164:1108–12. [4] Johnell O, Kanis J. Epidemiology of osteopo- rotic fractures. Osteoporos Int 2005;16 Suppl 2:S3-7. [5] Dimai HP, Svedbom A, Fahrleitner-Pammer A, et al. Epidemiology of distal forearm fractures in Austria between 1989 and 2010. Osteopo- ros Int 2014;25:2297–306. [6] Dimai HP, Svedbom A, Fahrleitner-Pammer A, et al. Epidemiology of hip fractures in Austria:
8 03_2021 Antibiotikaverordnungen: Treffsicherheit verbessern Delayed Prescribing als Option bei Erkältungskrankheiten Die steigende Resistenzentwicklung von Bakterien ist unter anderem auf einen übermäßigen Einsatz von Antibiotika bei Erkältungskrank- heiten zurückzuführen. Diese sind in den allermeisten Fällen viral bedingt und selbstlimitierend, die Komplikationsrate ist auch ohne Antibiotikaeinsatz niedrig. Ziel ist, Antibiotika dann einzusetzen, wenn eine bakterielle Ursache vorliegt und eine rasche Selbstheilung unwahrscheinlich erscheint. Anhand klinischer Merkmale kann zwi- das Rezept zwar ausgestellt, es verbleibt den oben beschriebenen Bedingungen schen viraler und bakterieller Genese aber in der Ordination und kann bei einzulösen. Andernfalls solle das Rezept bei Erkältungskrankheiten kaum unter- Bedarf, das heißt, wenn nach einer be- vernichtet werden. Auch eine telefoni- schieden werden. Der Einsatz klinischer stimmten Zeit die Symptome nicht abge- sche Rückmeldung der Patientin bzw. Scores, wie z. B. des McIsaac-Scores bei klungen sind oder sich diese verschlech- des Patienten zur Ärztin bzw. zum Arzt Halsschmerzen (siehe Abbildung 1), kann tern, ohne erneuten direkten Kontakt mit über den Start der Antibiotikaeinnahme die Wahrscheinlichkeit, eine vorliegende der Ärztin oder dem Arzt bei der Ordina- ist möglich. Diese Vorgehensweise setzt bakterielle Ursache zu finden, erhöhen. tionshilfe abgeholt und in der Folge ein- allerdings die Bereitschaft der Patientin Ein CRP-Schnelltest kann die Chancen gelöst und angewendet werden. bzw. des Patienten voraus mitzuarbei- nochmals verbessern, auch wenn eine ten und erfordert auch viel Vertrauen routinemäßige Bestimmung in der Re- Die zweite Möglichkeit ist die Ausstel- in die Patientin/den Patienten. Die Ver- gel nicht empfohlen wird [2]. Aber auch lung und Mitgabe des fertigen Rezepts lockung ist groß, das Rezept trotzdem wenn ein solcher Test nicht eingesetzt mit der Information für die Patientin sofort einzulösen und sich über die ärzt- wird, gibt es Optionen, um einen unnöti- bzw. den Patienten, dieses erst unter liche Empfehlung hinwegzusetzen, in- gen Antibiotikaeinsatz zu vermeiden. Eine Möglichkeit ist das sogenannte Delayed Prescribing, das mit verzöger- McIsaac-Score ter Verordnung übersetzt werden kann. Andere Bezeichnungen sind Stand-by- Symptom Punkte Rezept oder Back-Pocket-Verordnung. Körpertemperatur (in der Anamnese) > 38 °C +1 Kernelement dieses Konzepts ist, dass kein Husten +1 eine Antibiotikaeinnahme – falls sie zervikale Lymphknotenschwellung +1 überhaupt erwogen wird – nicht sofort, Tonsillenschwellung oder -exsudat +1 sondern erst nach einer gewissen Zeit Alter 3–14 Lebensjahre +1 stattfindet. Und das unter der Bedin- 15–44 Lebensjahre 0 gung, dass sich Symptome in dieser Zeit ≥ 45 Lebensjahre –1 (üblicherweise zwei bis vier Tage) nicht bessern oder sogar verschlechtern. Punktesumme Wahrscheinlichkeit einer Streptokokken-Infektion ≤ 0 1 – 2,5 % Praktische Umsetzung 1 5 – 10 % 2 11 – 17 % 3 28 – 35 % In der Praxis gibt es zwei Herangehens- ≥ 4 51 – 53 % weisen: Die erste Möglichkeit wird z. B. in Großbritannien bereits seit mehreren Abb. 1: McIsaac-Score zur Einschätzung der Wahrscheinlichkeit einer Streptokokken-Beteili- Jahren erfolgreich eingesetzt. Dabei wird gung bei Halsschmerzen nach [1].
03_2021 9 dem direkt mit der Antibiotikaeinnahme biotikaeinsatz erst, wenn sich die Symp- kaverordnung. Die eingeschlossenen begonnen wird. Es ist auch vorstellbar, tome nicht bessern. [3, 4] Studien waren sowohl randomisierte, dass das Rezept zwar eingelöst wird, Bei diesen Szenarien könnte unter Um- kontrollierte Studien (n = 9) als auch Be- die Antibiotika aber aufbewahrt wer- ständen auch ein Delayed Prescribing obachtungsstudien (n = 4) und wurden den und zu einem späteren Zeitpunkt zum Einsatz kommen. größtenteils im Hausarzt-Setting (11/13) ohne ärztliche Konsultation zum Einsatz in Europa und Nordamerika durchge- kommen. Dieses Szenario ist unter dem In der DEGAM-Leitlinie „Halsschmer- führt. Zusätzlich wurden fünf Studien Gesichtspunkt der Resistenzentwick- zen“ wird für Personen mit Halsschmer- eingeschlossen, die keine individuellen lung natürlich suboptimal. zen, die älter als drei Jahre sind, keine Patientendaten zur Verfügung stellten. Red Flags (z. B. Verdacht auf Mono- Es wurden Daten von über 55.000 Pa- Idealerweise erfolgt die verzögerte Anti- nukleose oder Scharlach, Immunsup- tientinnen und Patienten ausgewertet. biotikaverordnung in einem Shared-De- pression oder ein erhöhtes Risiko für cision-Making-Prozess zwischen Ärztin/ akutes rheumatisches Fieber) aufweisen Insgesamt ergab sich kein signifikanter Arzt und Patientin/Patient, das heißt, und für die ein mittleres Risiko für eine Unterschied in der Symptomschwere unter partizipativer Entscheidungsfin- Infektion mit Gruppe-A-Streptokok- nach zwei bis vier Tagen zwischen ver- dung. So können die beiderseitigen Er- ken ermittelt wurde (drei Punkte beim zögerter und keiner Antibiotikaverord- wartungen bestmöglich erfüllt werden. McIsaac-, Centor- oder FeverPain-Sco- nung (durchschnittlicher Unterschied re), sogar explizit eine verzögerte anti- auf der verwendeten 7-Punkte-Skala: Implementierung in Leitlinien biotische Verordnung empfohlen [2]. -0,003; 95-%-Konfidenzintervall -0,12– 0,11) bzw. zwischen verzögerter und so- Die Initiative „Gemeinsam gut ent- Studienlage fortiger Antibiotikaverordnung (0,02; scheiden – Choosing Wisely Austria“ -0,11–0,15). In einer Subgruppenanalyse empfiehlt eine generelle Zurückhaltung Eine rezent veröffentlichte Meta-Ana- war bei Kindern unter fünf Jahren für die beim Einsatz von Antibiotika bei Infekti- lyse hat untersucht, welche Auswirkun- verzögerte Antibiotikaverordnung eine onen der oberen Atemwege. Bei der Be- gen Delayed Prescribing auf die Sym- leicht erhöhte Symptomschwere nach handlung einer einseitigen akuten Mit- ptomschwere und andere Parameter zwei bis vier Tagen im Vergleich zu einer telohrentzündung von Kindern im Alter bei Erkältungskrankheiten (unter an- sofortigen Antibiotikagabe (0,10; 0,03– von zwei bis zwölf Jahren wird unter der derem Halsschmerzen, akute Mittel- 0,18) erkennbar. Der Unterschied ist Bedingung einer jederzeit möglichen ohrentzündung, Husten) hat [5]. Als zwar statistisch signifikant, allerdings re- ärztlichen Konsultation ein Watch-and- Vergleichsszenarien dienten eine sofor- lativ gering, wenn man die verwendete Wait-Ansatz empfohlen, also ein Anti- tige bzw. eine unterbliebene Antibioti- 7-Punkte-Skala bedenkt. Das Ausmaß
10 03_2021 der klinischen Relevanz ist unklar. In an- ßer war als ohne Antibiotikaverordnung deren Altersgruppen konnten derartige (3,04 zu 2,96 Punkte einer vierstufi- Korrelationen nicht festgestellt werden. gen Skala; durchschnittlicher Unter- schied 0,09; 95-%-Konfidenzintervall Die Studie liefert auch noch andere in- 0,06–0,11). Zwischen verzögerter und teressante Ergebnisse: Es konnte zwar sofortiger Antibiotikaverordnung gab mit einer sofortigen Antibiotikagabe es diesbezüglich keinen signifikanten schnellere Symptomfreiheit erreicht Unterschied (2,87 zu 2,99; -0,12; -0,26– werden als mit einer verzögerten Ver- 0,03). ordnung, allerdings war der Unterschied mit 11,4 zu 10,9 Tagen überschaubar (Hazard Ratio 1,04; 95-%-Konfidenzin- Quellen: [1] McIsaac WJ, Kellner JD, Aufricht P. Empirical tervall 1,01–1,08). Die Rekonsultations- validation of guidelines for the management rate war in der Gruppe mit verzögerter of pharyngitis in children and adults. JAMA Antibiotikaverordnung statistisch sig- 2004;291(13):1587-95. [2] Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin nifikant geringer als ohne Antibiotika- und Familienmedizin. S3-Leitlinie Halsschmer- verordnung (13 % zu 17 %; Odds Ratio zen (DEGAM-Leitlinie Nr. 14), Stand 10/2020. [3] Gemeinsam gut entscheiden – Choosing 0,72; 95-%-Konfidenzintervall 0,60– Wisely Österreich. Top Empfehlungen Allge- 0,87). Die Rekonsultationsrate war im meinmedizin. Abrufbar unter: https://gemeinsam-gut-entscheiden.at/be- Vergleich zu einer sofortigen Antibiotika- reich/empfehlungen/allgemeinmedizin/. verordnung ebenfalls geringer, aller- [4] Glechner A, Rabady S, Bachler H, et al. A dings nicht statistisch signifikant (16 % Choosing Wisely top-5 list to support general practitioners in Austria. Wien Med Wochenschr zu 22 %; Odds Ratio 0,95; 95-%-Kon- 2021 (preprint). fidenzintervall 0,74–1,22). Ein weiterer [5] Stuart B, Hounkpatin H, Becque T, et al. Delay- ed antibiotic prescribing for respiratory tract untersuchter Punkt betraf die Patien- infections: individual patient data meta-analy- tenzufriedenheit, die mit verzögerter sis. BMJ 2021;373:n808. Antibiotikaverordnung geringfügig grö- Fazit Die verzögerte Verordnung von Antibiotika bei Erkältungskrankheiten wie Halsschmerzen, akuter Mittelohrentzündung und Husten ist eine effektive und sichere Behandlungsstrategie. Im Vergleich zu einer ausbleibenden Antibiotikaverordnung ist die Rekon- sultationsrate niedriger und die Patientenzufriedenheit leicht gesteigert. Im Vergleich zu einer sofortigen Antibiotikaverordnung gibt es keine erhöh- ten Komplikationsraten und auch die Patientenzufriedenheit leidet nicht. Durch niedrigere Verordnungszahlen sind bremsende Effekte auf die Re- sistenzentwicklung möglich und auch die positiven heilmittelökonomi- schen Effekte sollen nicht unerwähnt bleiben. In einige Leitlinien hat diese Strategie bereits Einzug gehalten und es ist zu erwarten, dass weitere fol- gen werden.
03_2021 11 Antikoagulanzien – neue Erkenntnisse DOAK im Vergleich zu Vitamin-K-Antagonisten Die direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) sind gerinnungshemmende, antithrombotische Wirkstoffe, welche für die Vorbeugung und Behandlung thromboembolischer Erkrankungen verabreicht werden. Zu dieser Gruppe gehören einerseits die entweder ein DOAK oder Phenpro- jede DOAK-Patientin bzw. für jeden die Faktor-Xa-Inhibitoren Apixaban, coumon bzw. Warfarin erhielten. 99,4 % DOAK-Patienten mit Hilfe von sta- Edoxaban, Rivaroxaban und der Throm- in der VKA-Gruppe bekamen Phenpro- tistischen Methoden eine Phenpro- bin (Faktor IIa)-Inhibitor Dabigatran, coumon, 0,6 % Warfarin. coumon-Anwenderin bzw. ein Phen- deren Effekte auf einer direkten Hem- procoumon-Anwender ermittelt, der mung von Blutgerinnungsfaktoren be- Um die Ergebnisse möglichst ver- hinsichtlich Alter, Begleiterkrankun- ruhen. DOAK wurden als Nachfolger gleichbar zu machen, wurde für gen und CHA 2DS2-VASc-Score ein für die Heparine und Vitamin-K-Anta- gonisten entwickelt. Unterschiede zu diesen älteren Wirkstoffgruppen sind die einfachere Handhabung und die nicht routinemäßig notwendigen Ge- rinnungskontrollen. Real-World-Daten aus Datenbanken Es gibt bereits Studien, in denen DOAK mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA) verglichen wurden. Allerdings sind diese Ergebnisse, meist aus den USA, nicht ohne weiteres auf Österreich übertragbar, da oftmals nur Warfarin als Vitamin-K-Antagonist betrachtet wurde, welches hierzulande nicht er- hältlich ist. Das in Österreich häufig verordnete Phenprocoumon hat ge- genüber Warfarin eine längere Halb- wertszeit, daher ist ein direkter Ver- gleich von Phenprocoumon mit den DOAK wichtig. In Österreich ist in der Indikation nicht-valvuläres Vorhofflim- mern auch der Wirkstoff Acenocouma- rol zugelassen. In einer retrospektiven Analyse aus Deutschland [1] wurden zwischen 2010 und 2017 insgesamt 837.430 Patien- tinnen und Patienten mit nicht-valvu- lärem Vorhofflimmern eingeschlossen,
12 03_2021 Direkte orale Antikoagulanzien (DOAK): Indikationen und Ökonomie Nicht empfohlen/ Therapie- Kontraindikation Indikation (EKO) kosten** bei CrCL [ml/min] Prävention günstig Medikament/ Applikation Dosierung Zugelassenes Behand- Schlaganfall/ Wirkstoff p.o. mg Antidot lung Prävention SE bei Vorhof- TVT/LE TE nach < 30 < 15 flimmern mit Prophylaxe Hüft-/ einem oder rez. Knie-TEP mehreren TVT/LE Risikofaktoren* Lixiana® PM/ 1 x tgl. nein ✔ ✔ ✔ Edoxaban Je nach Indi- Eliquis® PM/ 2 x tgl. ja ✔ ✔ ✔ ✔ kation und Apixaban Komorbidi- täten siehe Xarelto® PM/ 1 x tgl. ja ✔ ✔ ✔ ✔ Fach- Rivaroxaban information Pradaxa®/ 2 x tgl. ja ✔ ✔ ✔ ✔ ✔ teuer Dabigatran Abb. 1: Die Tabelle bezieht sich auf die im EKO angeführten Präparate, Preisstand 07/2021 inkl. Preismodellpreise. Die Kosten werden wegen Preismodellen (PM) farblich abgestuft, wobei weiß am günstigsten ist. SE = systemische Embolie, TE = Thromboembolie, TVT/LE = tiefe Venen- thrombose/Lungenembolie. No-Box-Präparate (Großpackungen von Xarelto und Lixiana) haben kein Preismodell und sind teurer. * Risikofaktoren wie z. B. vorausgegangener Schlaganfall oder transitorische ischämische Attacke (TIA), Alter ≥ 75 Jahre, Herzinsuffizienz (NYHA Klasse ≥ II), Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie. ** Annahme Therapiedauer 6 Monate und Standarddosierung in der Indikation Vorhofflimmern. vergleichbares Risikoprofil sowie eine Analyse der EMA der Dosierungsempfehlungen für be- vergleichbare Co-Medikation auf- stimmte Patientengruppen von Nutzen wies. Auch die EMA gab Studien in Auftrag [2], sein könnten. bei denen reale Daten aus der Anwen- Unter DOAK ergab sich insgesamt eine dung aus sechs europäischen Ländern Interpretation um 32 % höhere relative Schlaganfall- herangezogen wurden. Zwar war das rate pro 1.000 Patientenjahre als unter Schlaganfallrisiko in der DOAK-Grup- Es ist festzuhalten, dass sich aus retro- Phenprocoumon (HR 1,32; 95 % KI 1,29- pe gegenüber VKA in drei von vier Da- spektiven Analysen nur eingeschränkte 1,35) und eine um 11 % geringere Rate an tenbanken erhöht, 2020 hat der Aus- Aussagen zum Nutzen-Risiko-Verhält- Blutungen, unabhängig vom Schwere- schuss für Humanarzneimittel der EMA nis eines Arzneimittels ableiten lassen. grad (HR 0,89; 95 % KI 0,88-0,90). Eine (CHMP) jedoch bekanntgegeben, dass Inwieweit die Patientinnen und Pati- eventuelle Unter- oder Überdosierung keine Änderungen an den Produktinfor- enten in den oben erwähnten Studien in der DOAK-Gruppe wurde nicht un- mationen gerechtfertigt seien. Es solle der DOAK-Gruppen eventuell unter- tersucht. aber geprüft werden, ob Änderungen dosiert waren, wurde nicht untersucht.
03_2021 13 In einem systematischen Review von Quellen: [1] Paschke LM, Klimke K, Altiner A, Stillfried D v., 75 Studien [3] zeigte sich, dass in diesen Schulz M. Comparing stroke prevention thera- Studien etwa 25–50 % der DOAK-Pa- py of direct oral anticoagulants and vitamin K tientinnen und -Patienten mit Vorhof- antagonists in patients with atrial fibrillation: a nationwide retrospective observational study. flimmern eine Dosis erhielten, die nicht BMC Med 2020;18:254. den Leitlinien entspricht. [2] European Medicines Agency. Assessment report: Procedure under Article 5(3) of Regula- Dem Review zufolge ist eine Über- tion (EC) No 726/2004 - INN/active substance: dosierung mit erhöhter Sterblichkeit direct oral anticoagulants (DOACs), 26. März 2020. Abrufbar unter: https://www.ema.europa. sowie Blutungsereignissen assoziiert, eu/en/documents/referral/assessment-re- während für eine Unterdosierung eine port-article-53-procedure-direct-oral-anticoa- höhere Rate an kardiovaskulär beding- gulants-doacs_en.pdf [3] Santos J, António N, Rocha M, Fortuna A. ten Krankenhausaufenthalten sowie Impact of direct oral anticoagulant off-label teilweise ein höheres Schlaganfallrisiko doses on clinical outcomes of atrial fibrillation patients: A systematic review. Br J Clin Pharma- besteht. col 2020;86:533–47. [4] Steffel J, Collins R, Antz M, et al. 2021 European Praxisleitfaden 2021 Heart Rhythm Association Practical Guide on the Use of Non-Vitamin K Antagonist Oral An- ticoagulants in Patients with Atrial Fibrillation. 2021 hat die „European Heart Rhythm Europace 2021:euab065. Association“ eine neue Version des Praxisleitfadens zum Einsatz von DOAK veröffentlicht [4]. Bei den praktischen Empfehlungen sind vor allem die Informationen zu Medika- mentenwechselwirkungen hervorzu- heben. Des Weiteren wird auf speziel- le Patientenpopulationen eingegan- gen, bei denen die Behandlung mit einem DOAK eine besondere Heraus- forderung darstellt, z. B. Patientinnen und Patienten > 75 Jahre. Fazit Die EMA hat auf Basis ihrer Studien 2020 keine Änderung der Produkt- information für DOAK durchgeführt. Patientinnen und Patienten mit einer DOAK-Über- bzw. -Unterdosierung zeigten jedoch ein deutlich schlechteres Nutzen-Risiko-Profil in Daten- auswertungen. Regelmäßige Updates zu Medikamenteninteraktionen und Dosierungs- empfehlungen bei bestimmten Patientenpopulationen tragen dazu bei, ein optimales Nutzen-Risiko-Verhältnis zu erzielen. Außerdem können so unangebrachte Dosisreduktionen vermieden werden.
14 03_2021 Adhärenz als wesentlicher Faktor Voraussetzung für ein optimales Behandlungsergebnis Wenn Patientinnen und Patienten von Behandlungsempfehlungen abweichen, so wird dies als fehlende Adhärenz bezeichnet [1]. Dies betrifft sowohl Empfehlungen von Ärztinnen und Ärzten als auch von anderen nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen, wie zum Beispiel Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten, Gesundheits- und Kranken- pflegepersonal oder Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten. In einer patientenzentrierten Gesund- lungsziele fest. Um die aktive Rolle der Begriff der Compliance vorgezogen. heitsversorgung legen Patientinnen Patientinnen und Patienten zu unter- Compliance meint meist eine vorwie- und Patienten gemeinsam mit den Ge- mauern, wird in diesem Zusammen- gend passive „Therapietreue“, in der die sundheitsdienstanbietern die Behand- hang auch der Begriff Adhärenz dem Gesundheitsberufe den Patientinnen und Patienten bestimmte Behandlun- gen „vorschreiben“, ohne auf deren Präferenzen und Bedürfnisse einzuge- hen. Adhärenz betont im Gegensatz dazu, dass die Patientin bzw. der Pati- ent und die Gesundheitsdienstanbieter gemeinsam Entscheidungen treffen. Voraussetzung dafür ist, dass die Pati- entin bzw. der Patient eine informierte Entscheidung treffen kann [1]. Adhärenz unterstützen Man geht davon aus, dass solche ge- meinsamen Entscheidungen die Ad- härenz erhöhen. Trotzdem hielten sich bis zu 80 % der Patientinnen und Patienten mit rheumatischen und muskuloskelettalen Erkrankungen im Laufe ihrer Behandlung zumindest einmal nicht an die Empfehlungen der Gesundheitsdienstanbieter [2]. Dies kann zu ungünstigen Behand- lungsergebnissen führen, wie zum Bei- spiel vermehrter Krankheitsaktivität, Schmerzen, Müdigkeit und Verlust von Funktionsfähigkeit [3], aber auch zu steigenden Behandlungs- und The- rapiekosten [1]. Fehlende Adhärenz betrifft medikamentöse Therapien gleichermaßen wie nicht-pharmako- logische Interventionen, wie zum Bei- spiel das Durchführen von funktionellen Übungen oder das Einhalten von Er-
03_2021 15 nährungsempfehlungen [1]. Die Unter- stützung der Adhärenz ist daher wich- tig, um die Behandlungsergebnisse zu verbessern und die Behandlungskosten langfristig zu reduzieren [1]. Eine internationale Arbeitsgruppe der European Alliance of Associations for Rheumatology (EULAR), bestehend aus 16 Expertinnen und Experten aus verschiedenen Gesundheitsberufen sowie zwei Patientenvertretern erar- beiteten daher auf Grundlage aktueller wissenschaftlicher Literatur Empfeh- lungen [4] wie fehlende Adhärenz in der Praxis erkannt und Personen mit rheumatischen und muskuloskeletta- len Erkrankungen bestmöglich in ihrer Adhärenz unterstützt werden können. Shared Decision Making Ein Beispiel dafür ist Shared Decision Making, also die gemeinsame Entschei- dungsfindung von Patientin bzw. Pa- renz einen dynamischen Verlauf haben heit nicht gut kontrolliert ist oder die tient und Gesundheitsdienstanbieter und sich über die Zeit immer wieder Patientinnen und Patienten von Prob- hinsichtlich der Behandlung. Im Deut- verändern. Damit ist Adhärenz in allen lemen im persönlichen Umgang mit der schen wird dafür der Ausdruck partizipa- Krankheitsphasen von Bedeutung. Ef- Krankheit berichten. Wichtig ist hierbei, tive Entscheidungsfindung verwendet. fektive Kommunikation (empathische dass diese Gespräche ohne Vorwürfe Diese Art der Entscheidungsfindung ist Gesprächsführung, offene und nicht und Schuldzuweisungen geführt wer- wichtig, damit Patientinnen und Pati- wertende Fragen, Zulassen von beidsei- den. Wenn spezifisches Fachwissen enten Behandlungsempfehlungen gut tigem Feedback u. a.), das Abstimmen oder der Zugang zu Spezialistinnen und umsetzen können. Fehlende Adhärenz der Behandlung/Maßnahmen auf die Spezialisten oder besonderen Interven- ist darüber hinaus auch von anderen individuellen Ziele und Bedürfnisse der tionen zur Unterstützung von Adhärenz Faktoren abhängig. Neben dem Ver- Patientinnen und Patienten sowie klare hilfreich sein können, sollten diese zur trauen und einer guten Beziehung zum Information sind in allen Phasen wichtig Verfügung gestellt bzw. ermöglicht wer- Gesundheitsdienstanbieter beeinflus- [5]. den. sen die persönliche Einstellung zu den Behandlungsempfehlungen, mögliche Individuell abgestimmte Maßnahmen Stimmen Patientinnen und Patienten Nebenwirkungen und die Lebens- wie beispielsweise die Vereinfachung bestimmten Behandlungsplänen von umstände der Patientin bzw. des Patien- von Behandlungsplänen und Verwen- ärztlicher oder therapeutischer Seite ten, ob Menschen das tun, was sie vor- dung von Erinnerungshilfen helfen explizit nicht zu, so sollte nach anderen her gemeinsam mit dem Gesundheits- ebenfalls dabei, die Behandlungsemp- Lösungen gesucht werden, die für die dienstanbieter vereinbart haben oder fehlungen im Alltag umzusetzen [6]. Patientinnen und Patienten akzeptabel nicht [5]. Außerdem sollte Adhärenz mit den Pa- sind. Die Bedürfnisse der Patientinnen tientinnen und Patienten regelmäßig und Patienten müssen erhoben und die Bei Patientinnen und Patienten mit anhand offener Fragen thematisiert Behandlung individuell an deren Le- chronischen Erkrankungen kann Adhä- werden, insbesondere wenn die Krank- bensumstände angepasst werden [5].
16 03_2021 Zusammenfassend erfordert Adhärenz Quellen: [1] World Health Organization. Adherence to ein partnerschaftliches Miteinander von Long-Term Therapies, Evidence for action. Seiten der Patientinnen und Patienten Genf, 2003. und der Gesundheitsdienstanbieter. [2] van den Bemt BJF, Zwikker HE, van den Ende CHM. Medication adherence in patients with Patientinnen und Patienten und ihre rheumatoid arthritis: a critical appraisal of the Bedürfnisse müssen im Mittelpunkt existing literature. Expert Rev Clin Immunol 2012;8:337–51. des medizinischen Handelns stehen. [3] Achaval S de, Suarez-Almazor ME. Treatment Patientinnen und Patienten sollten au- adherence to disease-modifying antirheumatic drugs in patients with rheumatoid arthritis and ßerdem aktiv in ihrem Gesundheitsma- systemic lupus erythematosus. Int J Clin Rheu- nagement unterstützt werden. Ebenso matol 2010;5:313–26. ist die Stärkung der Selbstwirksamkeit [4] van der Heijde D, Aletaha D, Carmona L, et al. 2014 Update of the EULAR standardised für Adhärenz von größter Bedeutung. operating procedures for EULAR-endorsed re- commendations. Ann Rheum Dis 2015;74:8–13. Funding [5] Ritschl V, Lackner A, Boström C, et al. I do not want to suppress the natural process of inflam- ma-tion: new insights on factors associated with non-adherence in rheumatoid arthritis. Dieses Projekt wurde durch EULAR fi- Arthritis Res Ther 2018;20:234. nanziert (Projektnummer HPR037). [6] Ritschl V, Stamm TA, Aletaha D, et al. 2020 EULAR points to consider for the prevention, scree-ning, assessment and management of non-adherence to treatment in people with Autorinnen und Autoren: rheumatic and musculoskeletal diseases Valentin Ritschl, MSc, for use in clinical practice. Ann Rheum Dis 2021;80:707-13. Erika Mosor, MSc, PhD, Univ.-Prof.in Dr.in Tanja A. Stamm, PhD Institut für Outcomes Research, Zentrum für Medizinische Statistik, Informatik und Intel- ligente Systeme, Medizinische Universität Wien
03_2021 17 Diabetes und Psyche Wechselseitige Beeinflussung und negative Folgen Diabetes mellitus ist häufig mit psychischen Erkrankungen wie Depression, Angststörungen, auffälligem Essverhalten und kognitiven Defiziten assoziiert. Andererseits wurde beobachtet, dass schizophrene und wahnhafte Störungen sowie bipolare Störungen zu einer erhöhten Inzidenz von Diabetes mellitus führen können. Die Koinzidenz von Stoffwechseler- ist zwischen einer zumeist vorüber- „Psychischer Stress“ krankung und psychischer Erkrankung gehenden Überforderung durch die durch Diabetes nimmt zumeist durch ungünstige wech- chronische Stoffwechselerkrankung selseitige Beeinflussung einen negati- mit kognitivem und emotionalem Die Herausforderungen, die für betrof- ven Einfluss auf den Stoffwechsel mit Stresserleben („diabetes distress“) und fene Menschen mit Diabetes mellitus vermehrtem Auftreten von diabeti- einer manifesten psychischen Erkran- zu bewältigen sind, um ein bestmögli- schen Folgeschäden. kung wie Depression zu unterschei- ches Stoffwechselmanagement zu er- den. Da viele Symptome ähnlich sind, zielen, werden unterschiedlich erlebt Die Ursachen für das gemeinsame sollten validierte Instrumente für die und bewertet. Je nach individueller Auftreten sind vielfältig und lassen diagnostische Unterscheidung her- Belastungstoleranz und Bewältigungs- sich nur teilweise erklären. Generell angezogen werden. kompetenz kann eine signifikante kog-
18 03_2021 nitive und emotionale Stressbelastung Patienten mit Entlastungsgesprächen (PAID) auch in deutscher Sprache zur entstehen, die wiederum zu negativen zu unterstützen. Patientenschulungen Verfügung. PAID umfasst 20 Fragen, direkten Auswirkungen auf den Stoff- können durch Aneignung von Wissen die sowohl emotionalen Stress als auch wechsel und auf das Stoffwechselma- und Steigerung der Eigenkompetenz spezifische Belastungen des Diabetes nagement führen kann. Kognitive und „psychischem Stress“ entgegenwirken. erfassen. Die Diabetes Distress Scale emotionale Stressbelastung können (DDS) umfasst 17 Fragen und vier Be- Symptome der Depression generieren, Achtung: Nicht selten ist die Ursache reiche wie emotionale Belastung, inter- ohne dass die diagnostischen Kriterien von mangelnder Therapieadhärenz personelle Belastung, Arzt-bezogenen für Depression erfüllt werden. „Diabetes „psychischer Stress“ durch Diabetes. Stress und Therapie-assoziierten Stress. distress“ ist relativ häufig (Prävalenz 18 – Eine validierte deutschsprachige Versi- 45 %) und darf nicht mit Depression ver- Für die Diagnose „diabetes distress“ on liegt aktuell nicht vor. wechselt werden. In der Praxis gilt, Sym- und für die Abgrenzung zur Depression ptome der Überforderung zu erkennen, stehen einfach anzuwendende Instru- Oftmals sind bei der Diagnose „psy- und die betroffenen Patientinnen und mente wie Problem areas in Diabetes chischer Stress“ ein oder zwei Entlas- tungsgespräche für die betroffenen Patientinnen und Patienten hilfreich bzw. auch ausreichend, um eigene Be- wältigungsstrategien zu entwickeln. Ein Entlastungsgespräch kann von jeder Ärztin bzw. jedem Arzt geführt werden, eine besondere Ausbildung ist nicht erforderlich. Ein Entlastungsgespräch sollte in jedem Fall Selbstvorwürfe, Schuld- und Versagensängste und Or- ganminderwertigkeitsgefühle thema- tisieren und bei der Bewältigung unter- stützen. Dabei ist auch die Verbesse- rung der zumeist reduzierten Problem- lösungskapazität zu berücksichtigen bzw. in den Therapieplan einzubauen. Depression Depressive Störungen kommen bei Men- schen mit Diabetes mellitus doppelt so häufig vor wie in der nicht-diabetischen Population. Die Koinzidenz von Stoff- wechselerkrankung und Depression ist durch nachhaltig ungünstige Auswirkun- gen auf den Stoffwechsel charakterisiert. Schlechtere Stoffwechselkontrolle und erhöhte Prävalenz von mikro- und mak- roangiopathischen Komplikationen sind die Konsequenzen. Auch akute Kom- plikationen des Diabetes mellitus wie schwere Hypo- und Hyperglykämie bzw. ketoazidotische Entgleisung werden mit Depression assoziiert. Prävalenz und Ver-
03_2021 19 lauf der Depression dürften für Diabetes mit Symptomen der Depression höhere die Ausprägung von Spätschäden ist mellitus Typ 1 und Typ 2 unterschiedlich HbA1c-Spiegel, mehr Spätkomplikatio- positiv mit Depression korreliert. Die sein. Die meisten Studien zu Diabetes nen, mehr Episoden von Ketoazidosen Depression wird häufig nicht als sol- und Depression untersuchen eine aus Di- und schweren Hypoglykämien innerhalb che erkannt und verspätet diagnos- abetes mellitus Typ 1 und Typ 2 gemischte der letzten drei Monate aufwiesen. Die- tiziert. Daher ist empfehlenswert bei Population oder nur reine Typ-2-Popu- se Patientinnen und Patienten zeigten Patientinnen und Patienten mit Symp- lationen. Daher liegen für reine Typ-1- auch weniger körperliche Aktivität und tomen wie Freud- und Interesselosig- Populationen deutlich weniger Studien ließen häufiger Insulindosen aus. Diesel- keit, Schlafstörungen, fehlendem An- vor. be Studiengruppe untersuchte rezent trieb und mangelnder Therapieadhä- in einer Typ-1-Population den Verlauf renz an eine subklinische oder klinische Depressive Symptome können nach der der Depression über vier Jahre und die Depression zu denken und diagnosti- ICD-10 Klassifikation im Wesentlichen Auswirkungen der Veränderungen (Bes- sche Schritte einzuleiten. zu depressiven Episoden (leicht - mit- serung oder Verschlechterung) der De- telgradig - schwer), rezidivierenden de- pression auf den Stoffwechseloutcome. Ursachen der Depression pressiven Störungen und anhaltenden bei Diabetes mellitus affektiven Störungen zugeteilt werden. In diese Beobachtungsstudie wurden Als ursächlich für die erhöhte Depressi- 2.744 erwachsene Personen mit Dia- onsprävalenz bei Diabetes mellitus wer- Schlechte Therapieadhärenz – ein be- betes mellitus Typ 1 inkludiert. Das Le- den einerseits neuroendokrine Mecha- achtenswertes Problem bei der The- bensalter lag im Mittel bei 42 Jahren, nismen und andererseits Veränderungen rapie des Diabetes mellitus – kann der HbA1c-Wert bei 7,6 % und der Frau- auf der Verhaltensebene mit ungünsti- unter anderem ein Signal für eine psy- enanteil betrug 57 %. Im Verlauf über gen Folgen diskutiert. Diabetes mellitus chische Komorbidität sein. Der Anteil vier Jahre blieben 5 % der Patientinnen mit den spezifischen Herausforderun- von Patientinnen und Patienten mit und Patienten depressiv, bei 4 % besser- gen bedeutet für Betroffene kognitiven schlechter Therapieadhärenz macht ten sich die Symptome der Depression und emotionalen Stress. Stress, der nicht in der Typ-2-Population ca. 40 % aus. und bei 6 % trat neu eine Depression bewältigbar ist, führt zur Aktivierung des Die Ergründung der Ursachen ist ein auf. Bei der Mehrheit der Studienteil- sympathischen Nervensystems mit er- wesentlicher Bestandteil der Therapie. nehmerinnen und Studienteilnehmer, höhter Katecholaminausschüttung und Entsprechend dem biopsychosozialen nämlich 85 %, war weder zu baseline, zur Aktivierung der Hypothalamus-Hy- Modell ist eine vertiefende Exploration noch zum Follow up nach vier Jahren pophysen-Nebennierenachse mit er- mit Einlassen auf die Persönlichkeit der eine Depression feststellbar. Der An- höhten CRH-, ACTH- und Cortisolspie- Patientin bzw. des Patienten und Ken- stieg von HbA1c war am höchsten bei geln. Die Wirkung all dieser Hormone auf nenlernen des sozialen Umfeldes ein den Patientinnen und Patienten mit den Stoffwechsel ist ungünstig und führt wesentlicher Faktor für eine wirksame Depression. Diese Studie bestätigt den zur Verschlechterung unter anderem des Begegnung mit der Patientin bzw. dem Einfluss von Depressionssymptomen Glukosestoffwechsels. Patienten. Die Ursachen von mangeln- auf die Stoffwechselkontrolle bei Diabe- der Therapieadhärenz sind vielfältig tes mellitus Typ 1. Bei einer nicht unerheblichen Zahl von und nicht immer einfach zu erfassen. Menschen mit Diabetes führen die Fasst man die aktuelle Studienlage zu- Diabetes mellitus Typ 2 Anforderungen, die für ein ordentli- sammen, nehmen psychische Erkran- und Depression hes Blutzuckermanagement notwendig kungen bei zumindest 50 % der Pati- Die depressive Episode nach Klassi- sind, zu einer Überforderung vor allem entinnen und Patienten Einfluss auf die fikation ICD-10 ist die häufigste Er- auf psychischer Ebene. Diese Über- Therapieadhärenz. scheinungsform der Depression bei forderung ist mit emotionalem Stress Diabetes mellitus Typ 2. Laut einer re- assoziiert und resultiert somit in oben Diabetes mellitus Typ 1 zenteren Metaanalyse leiden 17,6 % der erwähnten neuroendokrinen Verän- und Depression Patientinnen und Patienten mit Diabe- derungen. Klinisch stehen „Rückzugs- Eine amerikanische Studiengruppe tes mellitus Typ 2 an einer Depression symptome“ wie Vernachlässigen des berichtete, dass Patientinnen und Pa- unterschiedlicher Ausprägung. Frauen Diabetesmanagements, ungesunde Er- tienten mit Diabetes mellitus Typ 1 und sind häufiger betroffen als Männer und nährung, wenig körperliche Bewegung
20 03_2021 2-Fragen-Test Diagnose Diabetes mellitus Typ 2 Screening auf Depression Screening auf Depression 1 x jährlich und Gewichtszunahme im Vordergrund. Rückzug in Hinblick auf Diabetesma- nagement resultiert auch häufig in Gab es in den Suchtverhalten. Darüber hinaus ist eine letzten 4 Wochen missglückte Bewältigungsstrategie als NEIN eine Zeitspanne, während der neuerliche Noxe für die Psyche zu be- Sie sich niedergeschlagen, traurig werten. oder hoffnungslos gefühlt haben? Diagnostik der Depression und therapeutische Möglichkeiten Für die diagnostische Differenzierung JA einer Depression empfiehlt sich die Durchführung des 2-Fragen-Tests von Whooley et al., der 1997 erstmals be- Gab es in den schrieben wurde und ein wertvolles letzten 4 Wochen eine NEIN Zeitspanne, während der Sie das Screeninginstrument darstellt (Abbil- Interesse an Tätigkeiten verloren haben, dung 1). Werden bei dem Test beide die Ihnen normalerweise Fragen mit JA beantwortet und ist die Freude machen? Symptomatik anhaltend, ist die Wahr- scheinlichkeit für das Vorliegen einer Depression gegeben und eine weiter- JA führende Diagnostik bzw. die Vorstel- lung bei einer Fachärztin bzw. einem Facharzt für Psychiatrie zu empfehlen. NEIN Sehr einfach durchzuführen und aussa- War dies fast jeden Tag der Fall? gekräftig ist der HADS (Hospital Anxiety and Depression Score). Es handelt sich dabei um ein Fragebogeninstrument zur Selbstbeurteilung von Angst und De- pressivität für Erwachsene, welches sta- JA tionär und ambulant anwendbar ist. Die Bearbeitungszeit liegt zwischen zwei und drei Minuten. Der Test verfügt über je sie- NEIN Hielt dieser Zustand ben Items für Symptome der Depression mindestens und Angst. Die Validität des Tests wird 2 Wochen an? mit „sehr gut“ bewertet. Weiters verfügt der Test über eine sehr gute Anwender- freundlichkeit und Akzeptanz von Seiten JA der Befragten und ist daher sehr gut als klinisches Standardverfahren geeignet. Wahrscheinlichkeit Diagnostik bzw. Vorstellung bei einer für das Vorliegen Fachärztin bzw. einem Facharzt für Die Durchführung des WHO-5 Well- einer Depression Psychiatrie wird empfohlen Being-Index empfiehlt sich bei Ver- ist gegeben dacht auf Depression und/oder bei si- gnifikant verminderter Lebensqualität (Abbildung 2). Abb. 1 : 2-Fragen-Test von Whooley et al.
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