Umwelt.nrw nach(haltig) gedacht!
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umwelt.nrw nach(haltig) umwelt.nrw gedacht! 01 nach(haltig) gedacht! Ausgabe 01 Planetare ökologische Grenzen einhal- ten: Nordrhein-Westfalen in der Klima- und Umweltkrise Wolfgang Lucht et Al. Wolfgang Lucht et al. PLANETARE ÖKOLOGISCHE GRENZEN EINHALTEN: NORDRHEIN-WESTFALEN IN DER KLIMA- UND UMWELTKRISE WOLFGANG LUCHT ET AL.
DIE AUTORENSCHAFT Prof. Dr. Wolfgang Lucht leitet die For- schungsabteilung für Erdsystemanalyse am Potsdam-Institut für Klimafolgenfor- schung (PIK) und hat den Alexander-von- Humboldt-Lehrstuhl für Nachhaltigkeits- wissenschaften am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Er ist Mitglied des Sachverstän- digenrats für Umweltfragen der Bundes- regierung. Als Geoökologe und Nachhaltig- keitswissenschaftler befasst er sich mit der Analyse der Erde als System, der Zu- kunft der Biosphäre, den Planetaren Be- lastungsgrenzen und der Ko-Evolution menschlicher Gesellschaften mit ihrer globalen Umwelt im Anthropozän. Constanze Werner ist Doktorandin in der Forschungsabteilung Erdsystemanalyse des PIK und absolvierte den Masterstudien- gang Physische Geographie von Mensch- Umwelt-Systemen an der Humboldt-Uni- versität zu Berlin. Prof. Dr. Dieter Gerten ist Forscher gruppenleiter in der Forschungsabteilung für Erdsystemanalyse am PIK und Professor für Klimasystem und Wasserhaushalt im Globalen Wandel am Geographischen In- stitut der Humboldt-Universität zu Berlin.
PLANETARE ÖKOLOGISCHE GRENZEN EINHALTEN: NORDRHEIN-WESTFALEN IN DER KLIMA- UND UMWELTKRISE WOLFGANG LUCHT, CONSTANZE WERNER, DIETER GERTEN
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort 6 Planetare ökologische Grenzen einhalten: Nordrhein-Westfalen in der Klima- und Umweltkrise 8 Planetare Belastungsgrenzen und Nordrhein-Westfalen 16 Planetare Belastungsgrenze Klimawandel und Landesbezüge 20 Planetare Belastungsgrenze Biogeochemische Flüsse des Stickstoffs und Landesbezüge 32 Planetare Belastungsgrenze Landnutzungswandel und Landesbezüge 38 Planetare Belastungsgrenze Integrität der Biosphäre und Landesbezüge 44 Schlussfolgerungen und Ausblick 50 Literaturverzeichnis 54 Abkürzungsverzeichnis 60 Impressum 64 4
ABBILDUNGS- UND TABELLENVERZEICHNIS Abb. 01: Planetare Belastungsgrenzen und ihre Überschreitungen nach Steffen et al. 10 Abb. 02: Regionalisierter Planetare Grenzen-Radar – NRW-Beiträge zum Druck auf Belastungsgrenzen und Status der Zielerreichung von Indikatoren im Wirkungsbereich nach Steffen et al. 11 Tab. 01: Erdsystemprozesse, Planetare Grenzen und Status der vier prekärsten Sektoren nach Steffen et al. 12 Abb. 03: NRW-Umweltindikator Warming Stripes und globale Kohlendioxidkonzentration 21 Abb. 04: Beobachtete und projizierte mittlere NRW-Jahreslufttemperatur 1881 bis 2100 22 Tab. 02: RCP-Szenarien 2.6, 4.5 und 8.5 aus dem Fünften Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC 23 Abb. 05: NRW-Umweltindikator Treibhausgasemissionen 24 Abb. 06: NRW-Umweltindikator Erneuerbare Energien 26 Abb. 07: Budgets bei linearen CO2-Emissionsreduktionen für NRW 28 Abb. 08: NRW-Umweltindikator Stickstoffüberschuss der landwirtschaftlich genutzten Fläche (Flächenbilanz) 34 Abb. 09: NRW-Umweltindikator Nitratkonzentration im Grundwasser 35 Abb. 10: NRW-Umweltindikator Flächenverbrauch Teilindikator Zunahme der Siedlungs- und Verkehrsfläche 40 Abb. 11: NRW-Nachhaltigkeitsindikator Fläche des landesweiten Biotopverbundes 41 Abb. 12: NRW-Umweltindikator Artenvielfalt und Landschaftsqualität 46 Abb. 13: NRW-Umweltindikator Ökologischer Zustand /ökologisches Potenzial oberirdischer Fließgewässer 48 5
VORWORT Sehr geehrte Damen und Herren, das Essay „Planetare Um es vorwegzunehmen: Ja, es ist mit dem „Regionalisier- ökologische Grenzen ten Planetare Grenzen-Radar“ gelungen, eine Resonanz einhalten: Nordrhein- herzustellen zwischen Elementen aus dem nordrhein- Westfalen in der Klima- westfälischen Umweltmonitoring und dem Konzept der und Umweltkrise“ ist in Planetaren Belastungsgrenzen! Und ja, dieser neu entwi- vielerlei Hinsicht beson- ckelte Ansatz, der auch für andere Regionen anwendbar ders: Zum einen bildet ist, ermöglicht wichtige neue Sichten, Erkenntnisse und es den Auftakt für die Diskurse! Konkret wurden den prominentesten Sektoren, Publikationsreihe „um- bei denen zugleich die Planetaren Belastungsgrenzen Ursula Heinen-Esser | Ministerin welt.nrw: nach(haltig) überschritten sind – nämlich Klimawandel, Biogeochemi- gedacht!“ des Ministe- sche Flüsse des Stickstoffs, Landnutzungswandel, Integri- riums für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucher- tät der Biosphäre –, Umweltindikatoren zugeordnet und schutz. Ziel der neuen Reihe ist es, aktuelle und/oder zu- zusammen mit den von der Landesregierung gesteckten kunftsweisende Trends und Entwicklungen aus den Zielen betrachtet. Darüber hinaus wurden die durch For- Bereichen der Ressorts vorzustellen, zu thematisieren meln definierten Planetaren Grenzen auf die Landesebene und Denkimpulse zu liefern – nachhaltig gedacht eben. übersetzt und diskutiert. Zum anderen geht das Essay, für das der renommierte Geoökologe und Nachhaltigkeitswissenschaftler Prof. Dr. Deutlich wird dabei: Mit unserem Umweltindikatoren-Set Wolfgang Lucht vom Potsdam-Institut für Klimafolgen- und unserem Umweltmonitoring sind wir gut aufgestellt. forschung als Leitautor gewonnen werden konnte, zwei Sie bilden eine bewährte Grundlage für die Bewertung des spannenden Fragen nach: Inwieweit kann man das Konzept Umweltzustands. Deutlich wird vor allem aber auch, welche Planetare Grenzen auf die Ebene eines Bundeslandes Ziele sich Nordrhein-Westfalen hinsichtlich Klimawandel, herunterbrechen? Und was kann man daraus ableiten? Stickstoffbelastungen, Landnutzungswandel und Biodiver- sität setzen müsste, um seinen Beitrag zur Einhaltung der Dazu muss man wissen, dass das im Jahr 2009 von einer Planetaren Belastungsgrenzen zu leisten. Insofern liefert hochkarätigen Gruppe von Wissenschaftlerinnen und das Essay zu künftigen Landeszielen, Lösungen und Pers- Wissenschaftlern um Prof. Dr. Johan Rockström veröffent- pektiven wertvolle Denkansätze. lichte Konzept der Planetaren Grenzen neun Sektoren nennt, bei denen ökologische Grenzen nicht überschritten werden Dass wir in herausfordernden Zeiten leben und die Trans- sollten, um die Stabilität des Ökosystems und die Lebens- formation zur Nachhaltigkeit nicht nachlassen darf, hat grundlagen der Menschheit nicht zu gefährden. Das 2015 uns besonders schmerzlich das Hochwasser in West- und aktualisierte Konzept hat weltweit großen Einfluss in der Mitteleuropa 2021 gezeigt. Allein in Nordrhein-Westfalen Wissenschaft, Forschung und Politikberatung. In Teilen sind durch diese Naturkatastrophe in diesem Sommer mit wurde es bereits von der internationalen Klimapolitik über- schweren Sturzfluten und Überschwemmungen 47 Men- nommen, um die Erderwärmung bis zum Jahr 2100 auf schen verstorben und unfassbare materielle Schäden weniger als zwei Grad Celsius gegenüber dem vorindust- entstanden. Ursache waren außergewöhnlich große riellen Niveau zu begrenzen. Niederschlagsmengen durch ein sich sehr langsam fort 6 Vorwort
bewegendes Tief. Neben der dauerhaften Verantwortung auch ethische und moralische Herausforderung Antworten für die Menschen und ihre schwer getroffenen Städte und zu geben. Denkverbote darf es nicht geben, vielmehr sind Gemeinden in unserem Land gilt es mehr denn je, Verant- kreative und wirksame Ideen und Konzepte gefragt. In die- wortung zu tragen für den Schutz des Klimas, denn es ist sen Kontext ist auch die Studie von Prof. Dr. Lucht et al. und der menschengemachte Klimawandel, der extreme Wetter- die neue Publikationsreihe „umwelt.nrw: nach(haltig) ge- eignisse wie bei der Flutkatastrophe 2021 oder die Dürren dacht!“ einzuordnen. in den vergangenen Jahren immer wahrscheinlicher ein- treten lässt. Neben der Publikationsreihe wird es auch ein digitales Dialogformat geben. Unter dem Begriff umwelt.nrw: Stärker als bisher rückt nach diesen Ereignissen das Vor- nach(haltig) gedacht! möchten wir auch digital über den sorgeprinzip in den Fokus der Umweltpolitik. Denkbare „Tellerrand“ schauen und gemeinsam mit Vertreterinnen Belastungen beziehungsweise Schäden für Mensch und und Vertretern aus Gesellschaft, Wissenschaft und Wirt- Umwelt gilt es im Voraus zu vermeiden oder weitestgehend schaft über Trends und Entwicklungen aus den Themen- zu verringern. In diesem Kontext ist auch das Klimaanpas- feldern des Ministeriums für Umwelt, Landwirtschaft, sungsgesetz zu sehen, dass die Landesregierung als erstes Natur- und Verbraucherschutz diskutieren. Ziel ist auch Bundesland auf den Weg gebracht hat. Das Gesetz bein- hier, Ideen und Lösungsansätzen eine Plattform zu bieten haltet ein Maßnahmenpaket, um die Folgen des zunehmen- und gemeinsam die Grundlagen für einen erfolgreichen den Klimawandels einzudämmen. Von zentraler Bedeutung und nachhaltigen Umweltschutz weiterzuentwickeln. Ich sind insbesondere der Ausbau grüner Infrastruktur und freue mich schon jetzt auf viele interessante Diskussionen. ein angepasstes Wassermanagement. Diese und weitere Maßnahmen der Landesregierung fügen sich in das Ge- Abschließend möchte ich mich bei Prof. Dr. Wolfgang Lucht samtgefüge der großen umweltpolitischen Zukunftsprojekte und allen anderen Beteiligten für die Erstellung dieses unserer Zeit ein, wie der „Green Deal“ von der Europäischen Essays für den Start der Publikationsreihe „umwelt.nrw: Kommission, das Europäische Klimagesetz oder die „Farm- nach(haltig) gedacht!“ ganz herzlich bedanken. Ich bin to-Fork-Strategie“. überzeugt, dass diese erste Ausgabe nur der Auftakt für viele weitere interessante Veröffentlichungen ist und wün- Trotz allem bisher Erreichten liegt noch viel Arbeit vor uns. sche Ihnen eine gute, inspirierende Lektüre. Der Schutz unserer Umwelt ist und bleibt die zentrale Menschheitsaufgabe unserer Zeit – und die nächsten Jahrzehnte sind entscheidend. Das Urteil des Bundesver- Ihre fassungsgerichts zum generationsübergreifenden Klima- schutz hat dies ebenfalls noch einmal manifestiert und rechtlich neue Maßstäbe gesetzt. Gerade in Nordrhein- Westfalen als hoch entwickeltem Industriestandort ist es URSULA HEINEN-ESSER eine Herausforderung, die Klimaschutzziele zu erreichen Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, und gleichzeitig Industrieland zu bleiben. Wir sind gefor- Natur- und Verbraucherschutz dert, auf diese wirtschaftliche, gesellschaftliche, aber des Landes Nordrhein-Westfalen 7
PLANETARE ÖKOLOGISCHE GRENZEN EINHALTEN: NORDRHEIN-WESTFALEN IN DER KLIMA- UND Prof. Dr. Wolfgang Lucht | Leitautor UMWELTKRISE Nordrhein-Westfalen (NRW) hat eine lange Tradition der selbstbewusst in den Dienst der öffentlichen Wohlfahrt zu Umweltpolitik. Dieser kommt im industriellen Herzland stellen. Angesichts der globalen Klima- und Umweltkrise ist und bevölkerungsreichsten Bundesland Deutschlands hierfür in Deutschland, insbesondere aber auch in NRW, eine besondere Bedeutung zu. Denn NRW ist nicht nur eine ambitionierte, zielorientierte, wissenschaftsbasierte Schrittmacher für Politik auch auf der nationalen Ebene, Umweltpolitik notwendig. sondern hat zudem mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und später mit dem Rückgang der Schwer- Der Einführungstext zum „Integrierten Umweltprogramm industrie und des Bergbaus in der zweiten Hälfte des 2030“ des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz 20. Jahrhunderts tiefgreifende Transformationen erlebt und nukleare Sicherheit führt entschieden aus, dass „Um- und gemeistert. weltpolitik heute nicht mehr nur den Anspruch haben [kann], die Kollateralschäden eines aus dem Ruder gelau- Die globale Umwelt- und Klimakrise, mit welcher sich die fenen Wirtschaftsmodells zu beseitigen“ (BMUB, 2016). Menschheit heute konfrontiert sieht, ist im Vergleich dazu Vielmehr gehe es darum, „zu einer Wirtschaftsweise zu jedoch von einer nochmals anderen Qualität. Erstmals ist kommen, die die Grenzen unserer natürlichen Lebensgrund- der Zustand des gesamten Planeten Erde von den kollekti- lagen respektiert“. Darin liege eine große Chance für die ven Entscheidungen der Menschheit abhängig, zu denen weitere Entwicklung unseres Landes, weshalb gefolgert wird: auch NRW signifikante Beiträge liefert. Wir sind dabei, die „Es ist Zeit für einen neuen Aufbruch der deutschen Um- klimatische und ökologische Integrität der Erde in einem weltpolitik.“ Diese müsse sich als Teil eines Wandels begrei- Ausmaß zu destabilisieren, das die bisherigen Erfolge der fen, der die Wohlfahrt unserer Gesellschaft langfristig wirt- Industrie- und Technologiegeschichte zu unterminieren schaftlich, gesellschaftlich und ökologisch sichert und dabei droht. Für die notwendigen Weichenstellungen in eine neue, insbesondere auch die Anliegen der jungen und nachkom- eine ökologische Richtung ist das begonnene Jahrzehnt von menden Generationen berücksichtigt. Gerade in einem entscheidender Bedeutung. technologisch versierten Industrieland kann eine sehr viel tiefere Integration von Umweltpolitik in Wirtschafts- und Die COVID-19-Pandemie führt seit März 2020 eindrücklich Sozialpolitik wegweisend sein. Dies bedeutet einerseits, die vor Augen, dass die Wohlfahrt der Gesellschaft gerade auch sich entwickelnde planetare Klima- und Umweltkrise auch in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung an zahlreiche als solche ernst zu nehmen, andererseits, sich den sozial- Voraussetzungen geknüpft ist. Es ist deutlich geworden, wie ökonomischen Veränderungsprozessen zu stellen und diese wichtig internationale Zusammenarbeit, wissenschaftliche zu gestaltender gesellschaftlicher Erneuerung zu nutzen. Analyse, Daten, Modelle und ein informierter öffentlicher Wenn derzeit die Jugend-Protestbewegungen in vielen Diskurs zwischen Wissenschaft, Bevölkerung und Politik Teilen der Welt fordern, dass die Zukunft dieser jungen sind. All dies gilt ebenso für die Umweltpolitik. Es ist das Menschen gesichert wird, so ist dies keine leere Phrase: Kennzeichen einer aufgeklärten Zivilisation, dass sie auch Heute Geborene werden im Jahr 2050 nicht mehr als 30 in schwierigen Zeiten der Umgestaltung in der Lage ist, ihre Jahre alt sein und größtenteils das Jahr 2100 erleben. Das Fähigkeiten zu sachlicher Analyse und politischer Abwägung Bundesverfassungsgericht hat in seiner wegweisenden 8 Einführung
Entscheidung vom 29. April 2021 zur „intertemporalen Die globale Verantwortung, die Belastungsgrenzen unseres Gerechtigkeit“ beim Klimaschutz deutlich gemacht, dass Planeten sowie die wirtschaftlichen und sozialen Entwick- das Staatsziel des Artikels 20a Grundgesetz (GG), wonach lungsperspektiven beachtet die Landesregierung dabei als die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen sind, dem Handlungsrahmen.“ Freiheitsschutz der jungen Generationen dient. Hier taucht das Konzept der „Planetaren Grenzen unserer Warum stecken wir heute in einer Krise des Erdsystems Erde“, kurz der „Planetaren Grenzen“ (Englisch: planetary von nie da gewesener Dramatik, wenn wir in unserem Alltag boundaries), „planetarischen Grenzen“ oder sehr zutreffend derzeit oft noch zu wenig davon bemerken – obwohl sich auch „Planetaren Belastungsgrenzen“ explizit auf. Dieses die besorgniserregenden Nachrichten über Hitzewellen, Konzept verweist auf die Notwendigkeit einer wissenschaft- Überschwemmungen, großflächige Brände und schmel- lich begründeten Begrenzung der Veränderungen des Erd- zendes Eis doch in Zahl und Dramatik deutlich vermehrt systems insgesamt, um gesellschaftlich, ökologisch und haben? Woran können wir uns orientieren, wenn eine Politik ethisch unverantwortliche Risiken zu vermeiden. Es geht verfolgt werden soll, welche daher den sozialen Rechtsstaat darum, die planetaren ökologischen Grundlagen der heu- um eine ökologische Dimension erweitert, die ihm bisher tigen Gesellschaften so zu bewahren, dass deren Wohlfahrt noch fehlt? Und was bedeutet dies für die Integration von langfristig gesichert ist. Dies hat unter den Maßgaben Umweltpolitik in die Politik NRWs? grundlegender Menschenrechte auf ein gutes Leben mit gerechter Teilhabe zu geschehen, nach Maßgabe des Grund- Nicht nur im Grundgesetz wird im Artikel 20a für alle Politik gesetzes explizit auch im Hinblick auf künftige Generatio- verbindlich festgelegt, dass der Staat „auch in Verantwor- nen. Bezüglich der konkreten Aufgabe des Klimaschutzes tung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebens- formuliert das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel: grundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmä- „Subjektivrechtlich schützen die Grundrechte als intertem- ßigen Ordnung“ schützt und damit eine gewisse, Politik porale Freiheitssicherung vor einer einseitigen Verlagerung bindende Wirkung entfaltet. Auch die Deutsche Nachhal- der durch Artikel (Art.) 20a GG aufgegebenen Treibhaus- tigkeitsstrategie der Bundesregierung führt die dabei an- gasminderungslast in die Zukunft. Auch der objektivrecht- zuwendenden Grundprinzipien klar aus: „Die Planetaren liche Schutzauftrag des Art. 20a GG schließt die Notwendig- Grenzen unserer Erde bilden zusammen mit der Orientie- keit ein, mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam rung an einem Leben in Würde für alle die absoluten Leit- umzugehen und sie der Nachwelt in solchem Zustand zu planken für politische Entscheidungen“ (Bundesregierung, hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht 2018). Ähnliche Prinzipien kennzeichnen auch die weiter- nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter entwickelte NRW-Nachhaltigkeitsstrategie (Landesregie- bewahren könnten.“ (Bundesverfassungsgericht, 2021). rung NRW, 2020): „In unserem Nachhaltigkeitsverständnis müssen die wirtschaftliche, soziale und ökologische Ent- wicklung zusammenspielen, um auch zukünftigen Gene- rationen die gleichen Chancen für ein gutes Leben zu bieten. 9
Abb. 01 Planetare Belastungsgrenzen und ihre Überschreitungen nach Steffen et al. (Quelle: angepasst nach Steffen et al., 2015) äre Klimawandel Ne sph che u io tis un e S er B ene lfalt Le d m ub s ät d G Vie be odi ta e ns fiz al fo i nz e Vi tion t ri r en Fu teg er n t t m In l fa nk e el ? ? Ozo ratosphäre wande s- ung St nver l Landnutz lust in der ? Süß re os alt phä wa tm lgeh sse r A so rn de ero ut A zu ng P Bi hos og pho g eo r che uerun a e mis Stickstoff Vers Meer che F lüsse der Sicherer Handlungsraum verlassen: Menschheit agiert im sicheren hohes Risiko gravierender Folgen Handlungsraum Sicherer Handlungsraum verlassen; Belastungsgrenze nicht erhöhtes Risiko gravierender Folgen definiert Von Rockström et al. im Jahr 2009 entwickelte und von Steffen et al. 2015 aktualisierte Abbildung der Planetaren Belastungsgrenzen. Danach agiert die Menschheit beim Ozonverlust in der Stratosphäre, der Versauerung der Meere und der Süßwassernutzung zurzeit noch im sicheren Handlungsraum. Beim Klimawandel, den biogeochemischen Flüssen, dem Landnutzungswandel und der Integrität der Biosphäre ist dagegen der sichere Handlungsraum bereits verlassen, hier bestehen teils erhöhte und teils hohe Risiken gravierender Folgen. Bei den neuen Substanzen und modifizierten Lebensformen (z. B. radioaktive Elemente, Schwermetalle, Chemikalien, Nano materialien, Mikroplastik), dem Aerosolgehalt der Atmosphäre und der Funktionalen Vielfalt (Funktionsfähigkeit der Biosphäre durch Organismen und ihre Verteilung und Eigenschaften in Ökosystemen) als einem Part der Intaktheit der Biosphäre sind die Belastbarkeits grenzen zurzeit noch nicht definiert. 10 Einführung
Abb. 02 Regionalisierter Planetare Grenzen-Radar – NRW-Beiträge zum Druck auf Belastungsgrenzen und Status der Zielerreichung von Indikatoren im Wirkungsbereich nach Steffen et al. um n gsra lu re and sphä Klim H io r e r B Vielfa t l aw an e t d onal re de Ökol. Zu em ausgas- he Pote ewäs ti n Flie Fu tä one Sic l i nzia ser ßg nk Ar r issi eg t stand/ u. env re Treibh l La ie ba 1 Int qu n lf er ien alit dsch alt u ne erg n ät Er En forme aft ebens s- nzen und L a Subst L a n d n ut zu n Neue Kernflächen Kernflächen Ozonverlust in der Stratosphäre nd Biotopverbu Aero solge Ver halt d s er At n- 3 Sü aueru mosp häre che uch ßw as ng der on im zen- ä Fl bra Me Bi se gsw asser ere übers og r rn Sti huss 2 ve ut kon eo zu cks ch ng an Grundw rat em c el tof trati Nit d isc f- he Bi Fl üs og Stickstoff sse se eo c hemische Flü :P ho sp ho r Bei Fortsetzung der Entwicklung würde der Zielwert des Indikators erreicht oder um weniger als 5 % verfehlt werden 1 Anteil am Bruttostromverbrauch Bei Fortsetzung der Entwicklung würde der Zielwert des Indikators um 5 % bis 20 % verfehlt werden 2 der landwirtschaftlich genutzten Bei Fortsetzung der Entwicklung würde der Zielwert des Indikators um mehr als 20 % verfehlt werden Fläche 3 Zunahme der Siedlungs- und Der Indikator entwickelt sich nicht in die gewünschte Richtung Verkehrsfläche Produktionsbasierter NRW-Beitrag zu der entsprechenden planetaren Belastungsgrenze Die NRW-Beiträge zum Druck auf die vier prekärsten Planetaren Belastungsgrenzen wurden über die globale Gleichverteilung (pro Kopf beziehungsweise pro Fläche) und die entsprechenden Kontrollvariablen ermittelt und als mintfarbene Strahlen dargestellt. Sie beziehen sich auf den produktionsbasierten Ansatz (ohne Einbeziehung von Im- und Export) und übertreffen derzeit den als Ring abgebildeten, mit den Planetaren Grenzen kompatiblen sicheren Handlungsraum um ein Vielfaches. Dazu sind innen je Wirkungsbereich einer Belas- tungsgrenze die Status der Zielerreichung von zwei Umwelt- beziehungsweise Nachhaltigkeitsindikatoren (deren Ziele von der amtie- renden Landesregierung beschlossen wurden) visualisiert. Die Status wurden anhand der Fortführung der aktuellen Entwicklungen klassifiziert (in der Regel Trends der letzten zehn Jahre und entsprechend der Verfehlung, gemessen in Prozent (%) der Differenz zwi- schen Zielwert und aktuellem Wert). 11
Das Konzept der Planetaren Belastungsgrenzen wurde erst- der Europäischen Union sowie in Deutschland die nationalen mals 2009 von einer internationalen Gruppe von Wissen- Strategien für Nachhaltigkeit, Klima- und Umweltschutz. schaftlerinnen und Wissenschaftlern veröffentlicht (Rock- ström et al., 2009) und 2015 umfassend aktualisiert Neun Planetare Belastungsgrenzen wurden für den Zustand (Steffen et al., 2015). Es hat sich seither als Orientierungs- der Erde als Ganzes bestimmt (Abb. 01, Tab. 01). Sie adres- rahmen für Nachhaltigkeitspolitik als sehr einflussreich sieren den Klimawandel, die Integrität der Biosphäre, den erwiesen. So lieferte es eine Grundlage für die Umwelt- Landnutzungswandel, die Süßwassernutzung, biogeoche- dimensionen der Nachhaltigen Entwicklungsziele (Englisch: mische Flüsse, die Versauerung der Meere, den Aerosol- Sustainable Development Goals, kurz SDGs) der Vereinten gehalt der Atmosphäre, den Ozonverlust in der Stratosphäre Nationen, und es beeinflusste das Umweltaktionsprogramm und neue Substanzen und modifizierte Lebensformen im Tab. 01 Erdsystemprozesse, Planetare Grenzen und Status der vier prekärsten Sektoren nach Steffen et al. Erdsystemprozess Indikator Planetare Grenze Status im Jahr 2015 [mit Unsicherheitsbereich] Klimawandel a) Atmosphärische CO2- 350[–450] ppm 396,5 ppm Konzentration b) Energiebilanz am Rand Änderung des Strahlungsantriebs 2,3 W/m2 der Atmosphäre egenüber vorindustriellem Wert: g < 1,0[–1,5] W/m2 Biogeochemische Flüsse a) Phosphor-Kreislauf: Global: 11[–100] Tg/Jahr; ≈ 22 Tg Phosphor / Jahr (Phosphor, Stickstoff) global: Phosphor-Eintrag regional: 6,2[–1,2] Tg/Jahr auf von Flüssen in den Ozean; erodierbare Böden aufgebracht regional: Phosphor-Ein- trag in erodierbare Böden b) Nitrat-Kreislauf: 62[–82] Tg Nitrat / Jahr ≈ 150 Tg Nitrat / Jahr global: industrielle und biologische Nitrat-Fixie- rung Landnutzungswandel Global und regional: 75[–54] % als Mittel dreier 62 % Waldfläche in % der Biom-spezifischer Grenzen: ursprünglichen Fläche Regenwald 85[–60] %, Wälder gemäßigter Breiten 50[–30] %, boreale Wälder 85[–60] % Verlust der Integrität a) Genetische Vielfalt < 10[–100], idealerweise ≈ 1 Extinktio- 100–1.000 Extinktionen der Biosphäre nen pro 1 Million Spezies und Jahr pro 1 Million Spezies und Jahr b) Funktionale Vielfalt „Biodiversity Intactness Index“ ? 90[–30] %, für Großregionen (Biome) (84 % in Südafrika) oder funktionelle Großgruppen 12 Einführung
Erdsystem. Die jeweiligen Belastungsgrenzen sprechen des Plastiks in den Weltmeeren, im Insektensterben und vereinfacht drei zentrale Bereiche an, in welchen das Aus- im Verlust von Artenvielfalt (vgl. IPCC, 2021, IPBES, 2019). maß menschlicher Eingriffe die globale Umwelt grundsätz- Diese große Besorgnis erregenden Beobachtungen sollen lich verändert: Klimawandel, Abnahme der Integrität der die Erfolge einer engagierten Umweltpolitik in den vergan- Biosphäre und Eintrag von gesundheits- und umweltschäd- genen Jahrzehnten nicht schmälern. Diese haben die Situa- lichen Substanzen in die Umwelt. Alle Belastungsgrenzen tion verbessert, aber zu keiner grundsätzlichen Wende ge- stehen miteinander in Zusammenhang und beschreiben führt. Heute haben wir es mit tiefgreifenden strukturellen gemeinsam den Gesamtzustand der Erde. Die Referenz Herausforderungen zu tun, welche gängige Konzepte der für die einzuhaltenden Grenzen der Veränderung ist, inso- industriellen Zivilisation nach bisheriger, sehr energie- und fern dies möglich ist, der Zustand der Erde, wie er seit dem ressourcenintensiver Verfahrensweise infrage stellen. Die Ende der letzten Eiszeit vor fast 12.000 Jahren bis in die Menschheit steht an einer Weggabelung mit der vielleicht vorindustrielle Zeit bestand. In dieser Periode des Holozäns letzten guten Möglichkeit, einen alternativen Weg einzu- erlebte unser Planet aus astronomischen Gründen einen schlagen, da die Prozesse der planetaren Veränderung erst ungewöhnlich stabilen und lang anhaltenden Zustand mit am Anfang stehen: Sie beginnen allmählich, aber je größer nur geringen Veränderungen des Klimas und auch, von die Destabilisierung der planetaren Teilsysteme der Erde natürlichen Fluktuationen abgesehen, der Biosphäre. In erfolgt, desto rascher addieren sie sich zu einer Destabili- dieser günstigen Periode sierung des gesamten, wurde die Landwirtschaft historisch gewohnten Zu- entwickelt, bildeten sich Herausforderungen wie die stands des Erdsystems. Zivilisationen und Staaten, Stabilisierung der Erde sollten nicht und zuletzt erwuchs die als Hemmnisse betrachtet, sondern Dabei spielen mehrere moderne Welt mit globa- Formen der Veränderung als Auslöser von Innovation und eine Rolle: Neben der all- lem Handel, Industrie, Technologie und Digitali- Entwicklung angesehen werden. mählichen Verschiebung sierung. der gewohnten mittleren Werte des Umweltzustands sind Veränderungen der räum- Lange Zeit hat die Erde dem dabei nach und nach wachsen- lichen und zeitlichen Struktur von Strömungen in Atmo- den Druck der menschlichen Nutzung widerstanden. Ihr sphäre und Ozean, Veränderungen in der Variabilität der Zustand wurde trotz großer Veränderungen in einzelnen Umweltphänomene und Veränderungen in den komplexen Regionen auf der planetaren Ebene vom Menschen nicht ökologischen Netzwerken der Erde von besonderer Bedeu- tiefgreifend verändert. Seit einigen Jahrzehnten jedoch hat tung. Hierbei stellen sogenannte Kipppunkte im Erdsystem die Nutzung beziehungsweise Übernutzung ein Ausmaß eine besondere Gefahr dar (vgl. Lenton et al., 2008, Lenton erreicht, auf welches die Erde mit tiefgreifenden Verände- et al., 2019). Aus der Erdgeschichte und wissenschaftlichen rungen reagiert. Das Klima hat begonnen, sich global zu ver- Untersuchungen ist bekannt, dass wichtige Teilsysteme der ändern. Trotz vieler Fortschritte in der Bekämpfung der Erde wie die Eismassen der Arktis und der Antarktis, die klassischen Umweltverschmutzung besteht nach wie vor Waldsysteme des Amazonas und des hohen Nordens in eine bedeutende Vergiftung und Vermüllung der Umwelt. Kanada und Sibirien sowie Phänomene wie der indische Und auch die Abholzung von Wäldern, die industrielle Land- und der westafrikanische Monsun mit ihren Regenfällen wirtschaft und der generelle Rückgang von Lebensräumen bei der Überschreitung bestimmter Schwellenwerte der für Flora und Fauna durch Flächenneuinanspruchnahme Klimaerwärmung in einen anderen Zustand überwechseln führen zu einer erheblich abnehmenden Qualität der öko- können, in dem sie sehr andere Eigenschaften als heute logischen Lebensgrundlagen. hätten. Dies hätte gewaltige Folgen und tritt, wenn es ge- schieht, ohne viel Vorwarnung ein, sobald der Schwellen- Die Folgen dieser Entwicklungen sind bereits klar nachweis- wert überschritten wird. Die Veränderung ist dabei sehr bar. Sie spiegeln sich zum Beispiel in vermehrten extremen oft nicht umkehrbar, es gibt keinen Weg zurück. Wetterlagen, steigendem Meeresspiegel, der Problematik 13
Deshalb muss es ein vorrangiges Ziel der Umweltpolitik kann. Entweder kann eine zwar veränderte, aber noch er- sein, eine Überschreitung solcher Schwellenwerte und damit kennbar dem heutigen Zustand entsprechende Erde erhal- ein Kippen der betreffenden Teilsysteme der Erde so weit ten werden oder dies gelingt nicht und die Erde entwickelt wie noch möglich zu vermeiden. Aufgrund der Komplexität sich in einen Zustand hinein, welchen nicht nur keine Zivi- der beteiligten Vorgänge sind diese auslösenden Werte oft lisation der Geschichte je erlebt hat, sondern auch der nicht ganz genau bekannt. Daher greift wie in vielen anderen Mensch als Spezies nicht. In beiden Fällen befände sich Bereichen der öffentlichen Daseinsfürsorge das Vorsorge- die Erde in einer vom Menschen dominierten Periode ihrer prinzip: Wo Unsicherheit besteht und große Folgen drohen, Entwicklung, dem Anthropozän, in welchem die Mensch- ist hinreichender Abstand zu halten, sodass das Risiko in heit einen Einfluss auf das Erdsystem hat, welcher mit einem noch vertretbaren, weitgehend sicheren Bereich den großen geologischen Kräften der Erdgeschichte zu liegt (vgl. SRU, 2019). Eine Vermeidung der großen Kipp- vergleichen ist. punkte im Klimasystem ist eine zivilisatorische Aufgabe von herausragender Bedeutung und fordert zu Innovation Im Falle einer stabilisierten Erde würde der lenkende Ein- und kreativen Antworten der Gesellschaften heraus. fluss der Menschheit auf planetare Prozesse zur Einhaltung der Planetaren Belastungsgrenzen genutzt. Die Stabilität Klar ist: Die sich entwickelnde globale Klima- und Umwelt- des Erdsystems würde als bindender Faktor in die interna- krise ist eine Menschheitsaufgabe und die Weiterentwick- tionale sozioökonomische Entwicklung einbezogen, wie es lung der derzeitigen Industriegesellschaften in sozial, öko- die weiterentwickelte Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie logisch und ökonomisch nachhaltige Gesellschaften eine an verschiedenen Stellen formuliert. Im Falle einer Fortset- zivilisatorische Zentralaufgabe. zung der derzeitigen, oft nicht nachhaltigen Entwicklung würde der natürliche Zustand der Erde hingegen destabili- Die Erde, und mit ihr die Menschheit, steht heute somit an siert. Sie würde sich in den nächsten Jahrzehnten in einen einem Scheidepunkt, der mit Recht epochal genannt werden Zustand entwickeln, welchen der Sachverständigenrat für 14 Einführung
Umweltfragen der Bundesregierung als „Verwüstungsan- gleich zu einer Legislaturperiode wie eine lange Zeit. Jedoch thropozän“ (vgl. SRU, 2019) bezeichnet hat. Das Klima entspricht sie maximal einem Drittel einer Lebensspanne. wäre das einer „Heißzeit-Erde“ mit stark veränderten Sie entspricht der typischen Lebensdauer großer Infrastruk- Strömungsmustern in Atmosphäre und Ozean und ent- turen. Und 30 Jahre sind bereits vergleichsweise tatenlos sprechend disruptiven Auswirkungen auf die Ökosysteme vergangen, seitdem die Veränderungen des Erdsystems der Erde. Die Biosphäre würde unter der Last von Über- auch in den Messergebnissen sichtbar wurden. nutzung und Stoffeinträgen funktional und genetisch so stark degradiert, dass ihre selbstregulierenden Funktionen Aber Gesellschaften wachsen an ihren Herausforderungen. teilweise verloren gingen. Die Konsequenz für die Mensch- Herausforderungen wie die Stabilisierung der Erde sollten heit wäre, dass die Möglichkeit, geopolitische Sicherheit, nicht als Hemmnisse betrachtet, sondern als Auslöser von nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung und eine lebens- Innovation und Entwicklung angesehen werden. Betrachten werte Umwelt sicherzustellen, zunehmend verloren ginge, wir also nachfolgend die Umweltsituation in NRW in einigen und zwar langfristig. Schon ein substanzielles Risiko für ausgewählten Bereichen im Kontext der Planetaren Belas- eine solche Entwicklung muss ausgeschlossen werden – tungsgrenzen, welche über den landesweiten sehr wichtigen denn ist der destabilisierende Pfad erst einmal eingeschla- Umweltschutz hinaus einen aus globaler Sicht notwendigen gen, führt in wichtigen Dimensionen kein Weg mehr zurück. Bezugsrahmen für künftige integrierte Umweltpolitik dar- stellen. Knapp 20, 30 Jahre, so wenig Zeit verbleibt bis 2040 bezie- hungsweise 2050. In diesem Zeitraum wird sich im Wesent- lichen entschieden haben, ob die Menschheit insgesamt die sich dramatisch verändernde Erde stabilisiert haben wird oder sich weiterhin auf dem Weg in ein Verwüstungsanthro- pozän befinden wird. 20 oder 30 Jahre erscheint im Ver- 15
PLANETARE BELASTUNGSGRENZEN UND NORDRHEIN- WESTFALEN 16
Jede Weltregion trägt auf ihre Weise zur derzeitigen Dies wirft jedoch die Frage auf: In welchem Verhältnis stehen Belastung des Erdsystems bei und kann daher umge- diese zu den Planetaren Belastungsgrenzen? Welche Ziele kehrt zu einer Stabilisierung der Erde als Grundlage für müsste NRW sich setzen, um seinem angemessenen Beitrag nachhaltige Entwicklung beitragen. Ein Land wie NRW zur Einhaltung der Planetaren Belastungsgrenzen gerecht trägt auf dem eigenen Territorium zu Umweltverände- zu werden? Leider ist eine direkte Umrechnung der plane- rungen, zum Beispiel zum Klimawandel durch Emission taren Dimension auf regionale Anteile weder einfach noch von Treibhausgasen, bei. immer sinnvoll. Die Planetaren Belastungsgrenzen betreffen das gesamte Erdsystem und sind in diesem Sinne nicht teil- Darüber hinaus reichen die von NRW bewirkten Umweltver- bar. Wo sie auf Anteile nach Territorium oder Bevölkerungs- änderungen durch Import und Export weit über die Landes- zahl aufteilbar sind, stellen sich normative Fragen der grenzen hinaus, NRW bewirkt einen globalen Fußabdruck anzuwendenden Verteilungsgerechtigkeit. Schon bei der durch Belastung der Umwelt an den genutzten Produktions- Aufteilung eines globalen Emissionsbudgets auf Nationen standorten. Außerdem wirkt NRW durch seine wirtschaft- besteht, obwohl ein vergleichsweise gut erfassbares Prob- liche und gesellschaftliche Verfahrensweise auf andere lem, international erhebliche Uneinigkeit über die anzu- Akteure ein und kann durch Vorbildfunktion und Zusam- wendenden Verteilungsprinzipien. menarbeit die Praxis in anderen Weltregionen Obwohl es Versuche gibt, positiv beeinflussen. „In“, Außerdem wirkt NRW durch seine planetare Anteile auf „pla- „durch“ und „mit“ NRW wirtschaftliche und gesellschaftliche netare Quoten“, welche sind daher relevante Kate- Verfahrensweise auf andere Akteure sich auf Produktionsein- gorien. Das Bundesver- heiten, Konsumeinheiten, fassungsgericht hat in ein und kann durch Vorbildfunktion Territorien oder Personen- seinem Beschluss zum und Zusammenarbeit die Praxis in gruppen beziehen lassen, Klimaschutz betont: „Der anderen Weltregionen positiv herunterzurechnen, sind nationalen Klimaschutz- diese derzeit nicht opera- verpflichtung steht nicht beeinflussen. tionalisiert (vgl. Meyer & entgegen, dass der globale Newman, 2018). Ein sol- Charakter von Klima und Erderwärmung eine Lösung der ches Verfahren wäre aber für eine bessere Quantifizierung Probleme des Klimawandels durch einen Staat allein aus- der umweltlichen Dimension in den Nachhaltigen Entwick- schließt.“ Entsprechendes gilt auf subnationaler Ebene auch lungszielen sehr hilfreich und daher für die kommenden für NRW. Jahre ein großes Desiderat für die Forschungsförderung. Es gibt einen entsprechenden Diskussionsprozess, wissen- Der Fokus in diesem Aufsatz auf Planetare Belastungsgren- schaftsbasierte Entwicklungsleitlinien und -ziele zu formulie- zen und die Herausforderungen des Anthropozäns sollte ren. Diese Bemühungen stehen aber größtenteils noch am nicht so verstanden werden, dass das etablierte System Anfang, weil die benötigten Analyseinstrumente sich noch von Umweltindikatoren auf diese planetare Dimension hin im Aufbau befinden. Der Schritt von der etablierten Klima- ausgerichtet oder an diese angeglichen werden sollte. Denn forschung zu einer vieldimensionalen Erdsystemforschung es gibt gute Gründe für die sehr wichtigen Ziele des Umwelt- ist noch nicht mit der nötigen operationellen Tiefe erfolgt. schutzes in einem Bundesland, welche keinen Bezug zur planetaren Dimension haben, und es wäre auch unsinnig, In Anbetracht wohl etablierter Systeme der Umweltzu- etablierte Verfahrensweisen leichtfertig hinter sich zu lassen. standserfassung in Regionen wie NRW kann es daher Die Basis für die umweltliche Bewertung NRWs bleibt also nicht das Ziel sein, Planetare Belastungsgrenzen direkt das bestehende, laufend fortentwickelte Set an Umweltindi- für ein Land wie NRW auszuwerten. Vielmehr ist es das katoren und -zielen (www.umweltindikatoren.nrw.de). Ziel, umsichtig eine Resonanz herzustellen zwischen 17
diesen beiden diskursiven Bereichen: jenem, der das ganze Der Beitrag fokussiert nachfolgend auf die vier auch für Erdsystem betrifft, und jenem, welcher in einer Region aus NRW prekären, da global bereits überschrittenen Dimen- guten Gründen bereits etabliert ist. Dies gelingt für einige sionen der Planetaren Belastungsgrenzen: den Klimawandel, der planetaren Dimensionen besser als für andere. Es er- die biogeochemischen Flüsse des Stickstoffs, den Land- fordert einen wechselseitigen Übersetzungsvorgang: Zum nutzungswandel und die Biodiversität. Zunächst werden einen müssen in einem Land definierte Umweltziele im einschlägige Umweltindikatoren im Wirkungsbereich der Kontext der Planetaren Belastungsgrenzen eingeordnet jeweiligen Planetaren Belastungsgrenzen in Bezug auf die werden können und damit verständlich bleiben; zum an- aktuelle Lage und die Entwicklung zu den entsprechenden deren müssen die Planetaren Belastungsgrenzen eine Be- Umweltzielen betrachtet. Anschließend wird der Beitrag, den deutung im Kontext der regional gültigen Umweltqualitäts- NRW zu dem Druck auf die Planetaren Belastungsgrenzen ziele erlangen. Sowohl regionales Umweltmonitoring als liefert, global eingeordnet und diskutiert. auch eine Betrachtung des planetaren Gesamtzustandes sollte im jeweils anderen Kontext bedeutungsvoll bleiben. Hierbei wird zunächst betrachtet, welchen Druck das Wirt- schaften und Handeln NRWs innerhalb des eigenen Territo- Eine solche Übersetzungsarbeit zwischen Planetaren Be- riums auf die Planetaren Belastungsgrenzen ausübt: Was lastungsgrenzen und ausgewählten Umweltdimensionen passiert vor Ort und wie lässt sich dies in Bezug auf die glo- in NRW soll hier vertieft andiskutiert werden. Es handelt bale Verantwortung einordnen? Beim sogenannten pro- sich bei dieser Studie um eine Betrachtung möglicher Ana- duktionsbasierten Ansatz wird der Einfluss auf der Auf- lysen und Herangehensweisen, die angesichts der planetaren kommensseite betrachtet, auch wenn das Produkt oder Herausforderungen und mit Blick auf die aktuellen Umwelt- die Dienstleistung exportiert wird. Entstehen beispielswei- entwicklungen auch in NRW den erforderlichen Wandel se bei der Wurstproduktion Treibhausgase und Stickstoff- unterstützen können. In diesem Sinne möchte dieser Auf- einträge auf nordrhein-westfälischem Boden, werden die- satz zu einem notwendigen Denk-, Diskurs- und Umset- se im produktionsbasierten Ansatz für NRW verrechnet, zungsprozess anregen. selbst wenn die Wurst am Ende in Frankreich konsumiert 18 Planetare Belastungsgrenzen und Nordrhein-Westfalen
wird. Hier wird also die Belastung innerhalb des Landes sowie die globale Verantwortung des Produzenten in den Fokus genommen. Doch in einer globalisierten Welt ist es außerdem notwendig, auch durch Importe bewirkte Einflüsse auf das Klima, Land- ressourcen, Stickstoffeinträge sowie die Biodiversität in anderen Regionen der Welt zu berücksichtigen. Der konsum- basierte Ansatz bezieht sich auf ökologische Auswirkungen, die einem Land aufgrund des Verbrauchs von selbst pro- duzierten oder importierten Produkten beziehungsweise Dienstleistungen zuzurechnen sind. So werden bei dieser Herangehensweise zum Beispiel Waldrodungen für Palm- ölplantagen in Malaysia entsprechend den Endverbrauchern von palmölhaltigen Kosmetikartikeln (also anteilig auch NRW) angerechnet. Die Berechnung der konsumbasierten Umweltauswirkungen würde jedoch eine weitreichende Erfassung von Produk- tionsbedingungen und Warenströmen erfordern, welche hier nicht geleistet werden kann. Zur Veranschaulichung des konsumbasierten Ansatzes verweisen wir daher auf andere Studien, die eine grobe Einordnung des Drucks durch den Konsum ermöglichen. 19
PLANETARE BELASTUNGSGRENZE KLIMAWANDEL UND LANDESBEZÜGE 20
Die erhöhte Treibhausgaskonzentration in der Atmos Die globalen Trends der Klimaänderungen bekommen die phäre ist fast vollständig auf menschliche Aktivität Menschen aber auch vor Ort ganz konkret zu spüren. Das zurückzuführen und verursacht Klimaänderungen, mit Jahr 2020 war in Deutschland mit einer Jahresmitteltem- denen wir unter anderem durch die steigende Häufig- peratur von 10,4 Grad Celsius (°C) das zweitwärmste Jahr keit, Intensität und Dauer von Extremereignissen wie seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1881. Geringfügig Starkniederschlägen, Dürren und Hitzewellen sowie wärmer war es nur 2018 mit 10,5 °C gewesen, 2019 ver- ökologischen Störungen konfrontiert werden (vgl. IPCC, zeichnete mit 10,3 °C die dritthöchste Jahresmitteltempe- 2021). Gleichzeitig nähern wir uns mit anhaltend hohen ratur. Auch verliefen diese Jahre in weiten Teilen Deutsch- Treibhausgasemissionen immer mehr Kipppunkten im lands zu trocken und mit mehr Sonnenschein als üblich Erdsystem, also der Möglichkeit des Kippens vom sta- (vgl. DWD, 2020). Eine der Ursachen war hier ein besonderer bilen System in einen anderen Zustand, gar in eine Zustand der sogenannten planetaren Wellen in der Atmo- „Heißzeit“ oder ein „Verwüstungsanthropozän“ (vgl. sphäre, welche das Wetter bei uns stark beeinflussen. Die Steffen et al., 2018, SRU, 2019). derzeit zunehmende Häufigkeit und Dauer solcher Ereignis- se steht mit der einsetzenden Klimaerwärmung vermutlich in einem Zusammenhang (vgl. Kornhuber et al., 2019). Abb. 03 NRW-Umweltindikator Warming Stripes und globale Kohlendioxidkonzentration (Quellen: ESRL, DWD, NASA) Kohlendioxidkonzentration in parts per million 430 410 390 370 350 330 310 290 270 1881 1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020 CO2-Konzentration in der Atmosphäre 7,4 °C Jahresmitteltemperatur 11,1 °C Abgebildet sind die NRW-Jahresmitteltemperaturen seit Beobachtungsbeginn im Jahr 1881 nach Hawkins mit bipolarer sequenzieller Farbskala, Wertebereich 7,4 °C (tiefblau, Jahr 1888) bis 11,1 °C (tiefrot, Jahr 2020). Hinterlegt ist die für den Treibhauseffekt wesentliche CO2-Konzentration der globalen Atmosphäre, um den Zusammenhang von Temperatur und CO2-Konzentration zu verdeutlichen (bestimmt aus antarktischen Eisbohrkernen beziehungsweise gemessen auf Mauna Loa). Im Jahr 2020 lag die globale CO2-Konzentration im Mit- tel bei 412,5 ppm. Die Jahresmitteltemperaturen und CO2-Konzentrationen steigen statistisch signifikant. 21
In NRW waren im Jahr 2020 fast alle Monate gekennzeichnet sogar an mehreren Tagen in Folge, die wärmsten Orte waren durch zu viel Wärme, Trockenheit und Sonne. Im Frühjahr Duisburg-Baerl und Tönisvorst westlich von Krefeld mit brachen zahlreiche Waldbrände aus, zum Beispiel im April 41,2 °C (vgl. DWD, 2019). Auch das Jahr 2018 brachte in bei Gummersbach, bei dem 75 Hektar Wald vernichtet wur- NRW einen Dürre- und Hitzesommer mit millionenschweren den. An insgesamt zwölf Tagen stieg das Thermometer auf Ernteausfällen in der Landwirtschaft, außergewöhnlich über 30 °C, und mit 11,1 °C gab es eine neue Rekordjahres- vielen Waldbränden und dem stärksten Borkenkäferbefall mitteltemperatur (Abb. 03, vgl. LANUV, 2020, DWD, 2020). seit Jahrzehnten. Im Herbst fielen historische Rekorde bei Im Jahr 2019 wurden aufgrund von Sturmtiefs und eines den Rheinpegelniedrigständen. Infolgedessen mussten Tornados mehrere Tote und Verletzte beklagt, Dutzende Kraftwerke ihre Stromproduktion drosseln, weil Kühlwasser Häuser beschädigt sowie zahlreiche Karnevalszüge am fehlte, und Schlüsselindustrien ihre Produktion zurückfahren Rosenmontag abgesagt. Ende Juli 2019 wurden in NRW oder Tankstellen den Verkauf von Kraftstoff zeitweise ein- verbreitet absolute Rekordtemperaturen gemessen, teils stellen, da die Binnenschiffe nur noch einen Bruchteil ihrer Abb. 04 Beobachtete und projizierte mittlere NRW-Jahreslufttemperatur 1881 bis 2100 (Quelle: DWD) Grad Celsius 16 15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 1880 1890 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 2030 2040 2050 2060 2070 2080 2090 2100 Beobachtung Einzelläufe RCP 2.6 Einzelläufe RCP 4.5 Einzelläufe RCP 8.5 Im 30-Jahres-Zeitraum 1881 bis 1910 lag die Jahresmitteltemperatur NRWs bei 8,4 °C. Im Zeitraum 1991 bis 2020 lag sie mit 10,0 °C um 1,6 °C höher. Eine Trendberechnung über den Zeitraum 1881 bis 2020 ergibt einen signifikanten Anstieg der Jahresmitteltemperatur um 1,7 °C. Nach den 21 projizierten Einzelläufen des „Weiter wie bisher“-Szenarios RCP 8.5 ist für den 30-Jahres-Zeitraum 2071 bis 2100 mit einer mittleren Jahreslufttemperatur von etwa 12,0 bis 13,9 °C zu rechnen, nach den 12 Einzelläufen des „Stabilisierungsszenarios“ RCP 4.5 mit einer von etwa 10,4 bis 12,3 °C. Die 11 Einzelläufe des weitgehend mit dem Übereinkommen von Paris 2015 konformen Klimaschutzszenarios RCP 2.6 lassen dagegen auf eine mittlere Jahreslufttemperatur von etwa 9,7 bis 11,1 °C für die letzten 3 Dekaden des 21. Jahrhunderts schließen (jeweils mittlere 70 % der Modellensembles). 22 Planetare Belastungsgrenze Klimawandel und Landesbezüge
Ladekapazität nutzen konnten. Wenn sich die Treibhaus- mafolgenmonitoring eine klare Sprache (www.kfm.nrw.de). gasemissionen weltweit weiter so entwickeln wie bisher, So stieg die mittlere Jahreslufttemperatur NRWs im linearen dann wären solche Bedingungen in NRW in wenigen Jahr- Trend seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1881 zehnten keine Ausnahme mehr, sondern der Normalfall. um 1,7 °C. Ein enormer Anstieg in relativ kurzer Zeit, wenn man zum Beispiel bedenkt, dass bereits Zehntelgrade bei Nun empfiehlt sich bei der Einordnung von Wetterereignis- der mittleren Jahreslufttemperatur entscheidend sind für sen einzelner Jahre eine gewisse Zurückhaltung, wenngleich einen gesunden Wuchs der heimischen Pflanzen. Für NRW die Evidenz rasch wächst, dass sie immer häufiger mit den gerechnete Temperaturprojektionen (Datengrundlage siehe langfristigen Erwärmungstrends zusammenhängen. Unstrit- Brienen et al. [2020]) zeigen auf Basis repräsentativer tig ist in jedem Fall, dass sich auch hierzulande längerfristig Konzentrationspfade (Englisch: Representative Concen- die zunehmende Treibhausgaskonzentration in der Atmo- tration Pathways, kurz RCPs) des Weltklimarates IPCC, sphäre auswirkt, da spricht das nordrhein-westfälische Kli- dass hier ein weiterer Anstieg der Temperatur praktisch Tab. 02 RCP-Szenarien 2.6, 4.5 und 8.5 aus dem Fünften Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC Szenario Treibhausgaskonzentrationen Erläuterung RCP 2.6 mit einem relativ niedrigen 475 ppm atmosphärische Treibhausgas- Klimaschutzszenario („peak and Strahlungsantrieb von 2,6 W/m² konzentration, Emissionsmaximum im decline“-Szenario), sehr ambitionierte Jahr 2020, danach Rückgang Reduktion des Treibhausgasausstoßes RCP 4.5 mit 4,5 W/m² 630 ppm atmosphärische Treibhausgas- Stabilisierungsszenario mit einem Strahlungsantrieb konzentration, Maximum im Jahr 2100 mittleren Strahlungsantrieb RCP 8.5 mit einem sehr hohen 1.313 ppm atmosphärische Treibhausgas- Hohe Treibhausgasemissionen Strahlungsantrieb von 8,5 W/m² konzentration, Maximum im Jahr 2100 („Weiter wie bisher“-Szenario), auf fossilen noch nicht erreicht Energieträgern beruhendes Wirtschafts- wachstum wie bisher 23
Abb. 05 NRW-Umweltindikator Treibhausgasemissionen (Quelle: LANUV) Millionen Tonnen Kohlendioxidäquivalente 368 361 339 336 329 331 327 306 230 301 306 291 293 284 285 275 261 228 203 (vorl.) max. 129 max. 44 0 1990 1995 2000 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Ziel Ziel Ziel 2030 2040 2045* Energiewirtschaft Industrie Verkehr Haushalte/Kleinverbrauch Flüchtige Em. aus Brennstoffen Produktanwendungen/Sonstiges Landwirtschaft Abfall * Treibhausneutralität Im Jahr 2019 wurden 228,5 Mt klimaschädliche Treibhausgase ausgestoßen. Der vorläufige Wert für 2020 beträgt etwa 203,5 Mt CO2-Äqui- valente, rund 11 % weniger gegenüber dem Vorjahr. Der starke Rückgang ist zurückzuführen auf eine reduzierte Kohleverstromung, die Stilllegung großer Kraftwerke sowie eine geringere Auslastung der Kohlekraftwerke, insbesondere durch den Rückgang des Bruttostrom- verbrauchs wegen des COVID-19-Lockdowns. Es sind weitere große Anstrengungen nötig, um die im novellierten Klimaschutzgesetz NRW formulierten Ziele zu erreichen, nämlich die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 65 % und bis 2040 um mindestens 88 % gegenüber denen im Bezugsjahr 1990 zu mindern sowie bis spätestens 2045 die Treibhausgasneutralität zu schaffen. sicher ist (Abb. 04, Tab. 02, vgl. MULNV, 2021). Nach Projek- auf netto null gesenkt werden. In NRW wurden im Jahr 2019 tionen für das „Weiter wie bisher“-Szenario RCP 8.5 ist im bei einem rückläufigen Trend allerdings noch 228,5 Mega- Zeitraum 2071 bis 2100 mit einer mittleren Jahreslufttem- tonnen (Mt) Treibhausgase emittiert (in CO2-Äquivalenten, peratur von etwa 12,0 bis 13,9 °C zu rechnen, einhergehend Abb. 05). 93 % entfielen auf Kohlendioxid (CO2), der Rest mit etwa 9 bis 35 Heißen Tagen pro Jahr (mit einer maxima- bestand aus Methan, Lachgas und synthetischen Gasen len Lufttemperatur von wenigstens 30 °C, im Hitzesommer (vgl. Filz & Hoppe, 2021). Umgerechnet entspricht das etwa 2018 gab es in NRW 18 solcher Tage). Das Klimaschutzsze- 12,7 t CO2-Äquivalenten pro Kopf allein in dem Jahr. Damit nario RCP 2.6 würde dagegen eine mittlere Jahreslufttem- lag die Emissionsrate des Landes deutlich über dem Bun- peratur von etwa 9,7 bis 11,1 °C für die letzten 3 Dekaden desmittel (9,7 t CO2-Äquivalente pro Kopf) und dem Wert des Jahrhunderts bei etwa 2 bis 16 Heißen Tagen pro Jahr der meisten europäischen Länder (zum Beispiel 6,5 t CO2- bedeuten. Äquivalente pro Kopf in Frankreich und 7,6 t CO2-Äquivalente pro Kopf in Dänemark [vgl. EEA, 2021]) – eine Folge des Um die Klimaauswirkungen möglichst gering zu halten, Status von NRW als Industriestandort mit weit überregio- müssen die Treibhausgasemissionen global und somit naler Bedeutung, daher aber auch überregionaler Verant- auch in NRW innerhalb der nächsten beiden Jahrzehnte wortung. 24 Planetare Belastungsgrenze Klimawandel und Landesbezüge
Für das Jahr 2020 sank der vorläufige Gesamtwert des und Wasserkraft sind – anders als die fossilen Energieträger NRW-Treibhausgas-Emissionsinventars auf 203,5 Mt CO2- Erdöl, Erdgas, Braun- und Steinkohle sowie Uranerz – ver- Äquivalente bzw. etwa 11,4 t pro Kopf. Das entspricht einer gleichsweise sauber und basieren nicht, mit der Ausnahme Minderung der Emissionen gegenüber dem Vorjahr um der benötigten Landfläche, in gleichem Maße auf kritisch etwa 13 % und gegenüber dem Referenzjahr 1990 um begrenzten Ressourcen. Aktuell liegen jedoch die hiesigen etwa 38 %. Die Gründe sind unter anderem eine reduzierte Anteile der Erneuerbaren Energien beim Bruttostromver- Kohleverstromung, die auch ein Ergebnis der Reform des brauch mit 14,2 % und beim Primärenergieverbrauch mit europäischen Emissionshandels ist, die zu höheren CO2- 5,4 % trotz steigenden Trends noch auf vergleichsweise Preisen führte, die Stilllegung großer Kraftwerke wie die niedrigem Niveau (Abb. 06). des Steinkohlekraftwerks in Lünen und des Heizkraftwerks in Wuppertal-Elberfeld sowie eine geringere Auslastung NRW, das sich auch „Energieland Nummer eins“ nennt, der Kohlekraftwerke, insbesondere durch den Rückgang muss diese Anteile also mächtig steigern, damit Deutsch- des Bruttostromverbrauchs wegen des Sondereffektes land seine Ziele im Hinblick auf die Erneuerbaren Energien durch den Corona-Lockdown (vgl. Filz & Hoppe, 2021, UBA, und seine Treibhausgasemissions-Minderungsziele errei- 2021). chen kann. Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat das Ziel, einen „substanziellen Beitrag zum Bundes- Nach dem bereits mehr- ziel von 65 % Anteil der fach erwähnten Bundes- Um die Klimaauswirkungen möglichst Erneuerbaren Energien verfassungsgerichtsurteil am Bruttostromverbrauch folgte der Landtag den gering zu halten, müssen die Treib- in 2030“ zu leisten. Inter- kürzlich verschärften Kli- hausgasemissionen global und somit pretiert man dies als eine maschutzvorgaben des auch in NRW innerhalb der nächsten Steigerungsverpflichtung Bundes und novellierte NRWs von ebenfalls min- das Klimaschutzgesetz beiden Jahrzehnte auf netto null destens 65 % gemäß ei- NRW am 1. Juli 2021. Als gesenkt werden. ner Gleichverteilung der Zwischenziele werden Bemühungen auf alle nunmehr Treibhausgasreduktionen von mindestens 65 % Länder – obwohl ein „substanzieller“ Anteil sicherlich mehr bis 2030 und 88 % bis 2040 gegenüber dem Referenzjahr als das Mittel bedeuten sollte – spricht der aktuelle Trend 1990 sowie eine Treibhausgasneutralität bis zum Jahr 2045 für eine klare Verfehlung dieses Ziels (Abb. 02). Nochmals angestrebt. Sollte der derzeitige Trend der aktuellen Ent- ambitionierter müsste der Ausbaupfad jedoch ausfallen, um wicklung (2011 bis 2020) trotz des temporären Sonder- auch noch das im Erneuerbare-Energien-Gesetz definierte effektes durch COVID-19 umfassend fortgesetzt werden, bundesweite Ziel eines Anteils der Erneuerbaren Energien könnten rechnerisch gesehen das Minderungsziel von am Bruttostromverbrauch auf mindestens 80 % bis zum mindestens 65 % etwa im Jahr 2029, das Minderungsziel Jahr 2050 zu erreichen. Für beide Ziele würde, falls sich von mindestens 88 % etwa im Jahr 2037 und die Treibhaus- der aktuelle Entwicklungstrend fortsetzt, weniger als die gasneutralität etwa im Jahr 2041 erreicht werden (Abb. 02). Hälfte des angestrebten Ausbaus erreicht werden. Dies würde neben einer konsequenten Fortsetzung der Emissionsminderungen im Stromsektor jedoch entspre- Aus der Perspektive der Erdsystemforschung ist es ent- chende Reduktionen in den anderen emittierenden Sekto- scheidend, dass politisch verhandelte, regional gesetzte ren wie Verkehr, Gebäudewärme und Landwirtschaft vor- Klimaziele wie diejenigen, welche sich NRW im Rahmen aussetzen. der deutschen und europäischen Klimaziele gesetzt hat, transparent im Kontext der völkerrechtlich verbindlichen Der mit Abstand größte Emittent von Treibhausgasen ist Vorgaben des Abkommens der UN-Klimakonferenz von in NRW die Energiewirtschaft, gefolgt von den Sektoren 2015 in Paris ausgewertet und bewertet werden. Diese ori- Industrie und Verkehr. Ein entscheidender Schlüssel, um entieren sich am Ziel der Erhaltung eines stabilen Klima- die Klimaschutzziele zu erreichen, ist daher die Wende hin systems der Erde und finden ihr Pendant im Konzept der zu den Erneuerbaren Energien. Windenergie, Solarenergie, Planetaren Belastungsgrenzen, einer tragenden Säule Biomasse (in sorgfältig begrenztem Umfang), Erdwärme nationaler und internationaler Nachhaltigkeitsstrategien. 25
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