Und jetzt?! Rekord-Rezession, Rekord-Arbeitslosigkeit, Rekord-Budgetdefizit: ie die Pandemie Arbeitnehmer*innen und Unternehmen trifft ...

 
WEITER LESEN
Und jetzt?! Rekord-Rezession, Rekord-Arbeitslosigkeit, Rekord-Budgetdefizit: ie die Pandemie Arbeitnehmer*innen und Unternehmen trifft ...
Herausgegeben von AK und ÖGB AUSGABE 3/2020, 74. Jahrgang € 2,50                         www.arbeit-wirtschaft.at

                          Und jetzt?!
               Rekord-Rezession, Rekord-Arbeitslosigkeit,
                Rekord-Budgetdefizit: ie die Pandemie
              Arbeitnehmer*innen und Unternehmen trifft.

                   Gebot der Stunde / 18                           Zahlen, bitte! / 42
               Weshalb das Arbeitslosengeld               Diese Krise wird teuer werden.
              dringend erhöht werden muss.                     Wer soll das bezahlen?
Und jetzt?! Rekord-Rezession, Rekord-Arbeitslosigkeit, Rekord-Budgetdefizit: ie die Pandemie Arbeitnehmer*innen und Unternehmen trifft ...
IMPRESSUM                                                                                                              Arbeit&Wirtschaft 3/2020

#3
MICHAEL MAZOHL CHEFREDAKTEUR
ANJA MELZER CHEFIN VOM DIENST                                                   Mitwirkende dieser Ausgabe
THOMAS JARMER ART DIRECTOR & LAYOUT
NICOLA SKALÉ LAYOUT
MARKUS ZAHRADNIK FOTOS
MIRIAM MONE ILLUSTRATIONEN
WOLFGANG DORNINGER LEKTORAT
SONJA ADLER SEKRETARIAT

Mitarbeiter*innen dieser Ausgabe
Sonja Adler, Veronika Bohrn Mena, Wolfgang Dorninger,
Lisz Hirn, Thomas Jarmer, Nani Kauer, Michael Mazohl,
Anja Melzer, Beatrix Mittermann, Robert Misik, Miriam
Mone, Brigitte Pellar, Werner Reisinger, Nicola Skalé, Irene
Steindl, Christina Weichselbaumer, Markus Zahradnik

                                                                                                                                                    Melzer, Zahradnik © Markus Zahradnik | Pellar © Privat | Bohrn Mena © Michael Mazohl
Redaktion Arbeit&Wirtschaft
Johann-Böhm-Platz 1, 1020 Wien
                                                                          ANJA MELZER                              BRIGITTE PELLAR
Tel.: (01) 534 44-39263, Fax: (01) 534 44-100222                       CHEFIN VOM DIENST                             HISTORIKERIN
redaktion@arbeit-wirtschaft.at
                                                                     Unser Neuzugang studierte               Als die neue Chefredaktion noch
Redaktionskomitee
www.arbeit-wirtschaft.at/impressum
                                                                  Kunstgeschichte, Publizistik und          in die Windeln nässte, arbeitete die
Herausgeber                                                    Kriminologie in Wien und Regensburg.        renommierte Historikerin schon seit
Bundesarbeitskammer                                             Seit 2014 arbeitet sie als Journalistin    Jahren für die Arbeit&Wirtschaft. Ihr
1040 Wien, Prinz-Eugen-Straße 20–22 und
Österreichischer Gewerkschaftsbund
                                                               und Reporterin für österreichische und     Wissen und ihre Gabe, es zu vermitteln,
1020 Wien, Johann-Böhm-Platz 1                                 internationale Zeitungen und Magazine.        ist für unser Medium unersetzbar.
Medieninhaber
Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes
GmbH, 1020 Wien, Johann-Böhm-Platz 1
Tel.: (01) 662 32 96-0, Fax: (01) 662 32 96-39793
zeitschriften@oegbverlag.at
www.oegbverlag.at
Hersteller
Walstead Leykam Druck GmbH & CO KG
7201 Neudörfl, Bickfordstr. 21
Verlagsort Wien
Herstellungsort Neudörfl
Abonnementverwaltung und Adressänderung
Johannes Bagga, Tugce Öztürk
Johann-Böhm-Platz 1, 1020 Wien
Tel.: (01) 662 32 96-0, aboservice@oegbverlag.at                      MARKUS ZAHRADNIK                         VERONIKA BOHRN MENA
Einzelnummer: € 2,50 (inkl. Mwst.)
Jahresabonnement Inland € 20,– (inkl. Mwst.)                                FOTOGRAF                                    AUTORIN
Ausland zuzüglich € 12,– Porto                                  Als es noch cool war, fotografierte er       Die Autorin des Buches „Die neue
für Lehrlinge, StudentInnen und PensionistInnen
ermäßigtes Jahresabonnement € 10,– (inkl. Mwst.)
                                                                die schnellsten Autos der Welt. Jetzt       ArbeiterInnenklasse – Menschen in
Offenlegung gemäß Mediengesetz, § 25                             setzt der exzellente Fotograf unsere       prekären Verhältnissen“ beschäftigt
www.arbeit-wirtschaft.at/offenlegung                             Interviews, Reportagen und andere           sich seit Jahren intensiv mit dem
ZVR-Nr. 576439352 • DVR-Nr. 0046655
ISSN (Print) 0003-7656, ISSN (Online) 1605-6493,
                                                                 Motive in Szene – und zeichnet für       Prekariat, Segmentierungsprozessen und
ISSN (Blog) 2519-5492                                               unsere Videos verantwortlich.           Veränderungen in der Arbeitswelt.
Die in der Zeitschrift „Arbeit&Wirtschaft“ wiederge-
gebenen Artikel entsprechen nicht notwendigerweise
der Meinung von Redaktion und Herausgeber. Jeder/
jede AutorIn trägt die Verantwortung für seinen/ihren
Beitrag. Es ist nicht die Absicht der Redaktion, die
vollständige Übereinstimmung aller MitarbeiterInnen
zu erzielen. Sie sieht vielmehr in einer Vielfalt der
Meinungen die Grundlage einer fruchtbaren geistigen
Auseinandersetzung. Die Redaktion übernimmt kei-
ne Gewähr für unverlangt eingesandte Manuskripte.
Nachdrucke, auch auszugsweise, nur mit Zustimmung
der Redaktion und mit Quellenangabe.

                                                                                  2
Und jetzt?! Rekord-Rezession, Rekord-Arbeitslosigkeit, Rekord-Budgetdefizit: ie die Pandemie Arbeitnehmer*innen und Unternehmen trifft ...
Arbeit&Wirtschaft 3/2020                                                                                         STANDPUNKT

                   Wa bi her ge hah

                                                                                                    ANJA MELZER
                                                                                                 MICHAEL MAZOHL
                                                                                                     REDAKTION

                  U
                            nd plötzlich war bei uns die Bude dicht, ab Mitte März gab es keinen Großraum-
                            bürobetrieb mehr – sondern Homeoffice für alle. Was für ein Glück, dass wir eine
                            Arbeit haben, die das erlaubt, dass wir nicht wie Hunderttausende andere sofort
                   unsere Jobs verloren haben. Unsere neue Chefin vom Dienst, Anja Melzer, hatte gerade
                   eben diesen Dienst angetreten, und wir arbeiteten gerade intensiv an der nächsten ge-
                   druckten Ausgabe.
                       Schnell war klar: Die Arbeit&Wirtschaft wird überwiegend an Betriebe verschickt –
                   doch wen erreichen wir in dieser Situation mit einer gedruckten Ausgabe? Also haben
                   wir uns dazu entschieden, keine Ausgabe zu drucken, sondern sofort verstärkt auf unser
                   Online-Format zu setzen. Mit einer Reihe von Reportagen und laufenden Artikeln mit
                   Zahlen, Daten und Fakten rund um die Corona-Krise – und einem Krisentagebuch im
                   Videoformat, in dem Politikwissenschafterin Natascha Strobl, Autorin Veronika Bohrn
                   Mena, Autor und Videoblogging-Urgroßvater Robert Misik oder Bildungsexperte Daniel
                   Landau ihre Beiträge gestaltet haben.
                       Unter medizinischen und selbst genähten Stoffmasken fährt das Land jetzt wieder
                   hoch. Ein neu-alter Arbeitsalltag kehrt zurück und damit auch eine neu-alte gedruckte
                   Ausgabe der Arbeit&Wirtschaft, in der wir uns den Auswirkungen der Corona-Krise auf
                   Unternehmen und ihre Beschäftigten widmen und der Frage nachgehen: Wer soll für die
                   Krise bezahlen?
                       „Wir werden eine Verteilungsdiskussion haben, die sich gewaschen hat“, sagt Ingrid
                   Reischl, Leitende Sekretärin für Grundsatz im ÖGB, in unserem Interview. Die Wirt-
                   schafts- und Finanzkrise 2008/09 haben die Arbeitnehmer*innen bezahlt. Aber Rekordar-
                   beitslosigkeit und Kurzarbeit sowie eine drohende Insolvenzwelle bei kleinen und mittleren
                   Unternehmen zeigen: Das kann dieses Mal nicht wieder so laufen. Wir werden einen Anteil
                   von denen brauchen, die es sich leisten können: den Reichen und Superreichen. Und zwar
                   einen Anteil, der sich gewaschen hat.

                                                               3
Und jetzt?! Rekord-Rezession, Rekord-Arbeitslosigkeit, Rekord-Budgetdefizit: ie die Pandemie Arbeitnehmer*innen und Unternehmen trifft ...
Arbeit&Wirtschaft 3/2020

Inhalt
DER DOPPELTE SCHOCK

26
          Angebotsschock, Nachfrageschock: Die Regierung wird             Die fetten Jahre sind vorbei                                 10
          gigantische Budgetdefizite in Kauf nehmen müssen, um             Was in der Krise 1A bei A1 läuft und was nicht
eine Pleitewelle zu verhindern. Wer sicher nicht dafür bezahlen           Die große Frage                                              15
darf: wieder allein die einfachen Leute.                                   Es antwortet Lisz Hirn, Philosophin und Publizistin
                                                                          Zu Kurz gekommen                                             16
                                                                           Was passiert da eigentlich gerade im Journalismus?
GLÜCK IM UNGLÜCK
                                                                          Das Gebot der Stunde                                         18

34
          Quer durch ganz Österreich kämpfen Unternehmen                   Im Gespräch mit Ingrid Reischl, ÖGB
          mit Umsatzeinbrüchen. Ganz Österreich? In Wiener                Arbeitsmarkt: Der Einsturz                                   22
Neudorf erwartet ein Industrieunternehmen Rekordumsätze für                Wer von der Krise am stärksten betroffen ist
2020. Wie das geht? Gelebte Sozialpartnerschaft im Betrieb.               Auf einen Blick                                              24
                                                                           Die spannendsten Prognosen zur Krise
                                                                          Genuss kehrt zurück – und die Arbeit?                        30
GEGENSÄTZE ZIEHEN SICH AN
                                                                           Lokalaugenschein bei NORDSEE in Wien

36
          Wenn wir über die Zukunft sprechen, sollten wir jene fra-       A&W Blog                                                     33
          gen, die das am meisten betrifft: die Jungen. Paul Stich,        Wofür die Gewerkschaften jetzt kämpfen müssen
Vorsitzender der Sozialistischen Jugend im (Streit-)Gespräch mit          Land der Vermögensberge                                      40
Anna Stürgkh, der Vorsitzenden der Jungen liberalen NEOS.                  Die Spirale der Ungleichheit dreht sich schneller
                                                                          Zahlen, bitte!                                               42
                                                                           Und wer übernimmt die Rechnung?
                                                                          Zu guter Letzt                                               46
                                                                           Das letzte Wort hat diesmal Renate Anderl, AK-Präsidentin

                                                                      4
Und jetzt?! Rekord-Rezession, Rekord-Arbeitslosigkeit, Rekord-Budgetdefizit: ie die Pandemie Arbeitnehmer*innen und Unternehmen trifft ...
Arbeit&Wirtschaft 3/2020                                                                                                   HISTORIE

                                                                  Neoliberalismus –
                                                                  Freiheit für wen?
                                                  Leitideologie für das digitale Zeitalter? Oder verstaubter linker Kampfbegriff?
                                                    Die Geschichte zeigt: Die Antwort hängt davon ab, wer von neoliberaler
                                                           Politik profitiert und wem sie schadet. Eine Frage, die in der
                                                                     Corona-Krise wieder zum Thema wurde.

                                                                                         TEXT BRIGITTE PELLAR

                                                         I
                                                            m Jahr 1944 brachte der aus Österreich stammende, an der London School of Econo-
                                                            mics tätige Ökonomie-Professor Friedrich August Hayek das Buch „Der Weg zur Knecht-
                                                            schaft“ heraus. Sein Kollege an der Harvard-Universität in Boston, Joseph Schumpeter,
© Österreichische Nationalbibliothek

                                                          ebenfalls Exilösterreicher und jeder Sympathie für irgendeine Spielart des Kommunismus
                                                          unverdächtig, stellte nach der Lektüre trocken fest: „Die Grundsätze der Initiative und der
                                                          Selbsthilfe des Einzelnen sind die Grundsätze einer sehr begrenzten Klasse. Den meisten
                                                          Menschen, die – aus welchem Grund auch immer – den mit ihnen verbundenen Anforde-
                                                          rungen nicht gewachsen sind, bedeuten sie nichts.“
                                                              Schumpeter benannte damit den Kern des neoliberalen Menschen- und Gesellschafts-
                                                          bilds: Nur der freie Markt im Kapitalismus garantiert Freiheit und Fortschritt. Wenn der
                                                          Staat ein soziales Netz aufbaut, entmündigt er die Menschen, nimmt ihnen ihre Kreativität
                                                          und ihre Leistungsfähigkeit. Aber der Staat ist keineswegs überflüssig: Er hat den freien
                                                          Markt und die Möglichkeit, Profite zu machen, zu schützen und für die Schwachen zu sor-
                                                          gen – so wie die Familie Kinder und Behinderte schützt. (Neoliberale würden sich massiv
                                                          dagegen verwehren, sie seien „unsozial“.)
                                                              Diese Grundüberzeugung zieht sich durch alle Schriften der fünf wichtigsten Begrün-
                                                          der neoliberaler Ideologie, so unterschiedlich und manchmal sogar gegensätzlich ihre Ana-
                                                          lysen und Konzepte manchmal sind. Drei von ihnen haben österreichische Wurzeln, neben
                                                          Hayek sein Lehrer Ludwig Mises, Chefökonom der Wiener Kammer für Handel, Gewerbe
                                                          und Industrie (der heutigen Wirtschaftskammer), und der Philosoph Karl Popper. Die
                                                          anderen beiden sind US-Amerikaner, der Journalist und Politikberater Walter Lippmann
                                                          und Milton Friedman, Professor an der Universität von Chicago.

                                                                                                                                 Kampf um den Sozialstaat.
                                                                                                                                 Werbung für das Sparprogramm
                                                                                                                                 von Bundeskanzler Seipel 1923.
Und jetzt?! Rekord-Rezession, Rekord-Arbeitslosigkeit, Rekord-Budgetdefizit: ie die Pandemie Arbeitnehmer*innen und Unternehmen trifft ...
H ISTO RI E                                                                                       Arbeit&Wirtschaft 3/2020

                                                                          ... dass für alle
                                                                   schaffenden Bewohner dieses
                                                                   Staatswesens die Möglichkeit
                                                                gegeben ist, „auf freiem Grund mit
                                                                freiem Volk zu stehen“, aber nicht
                                                               bloß als politisch freie, sondern auch
                                                                als wirtschaftlich freie. Nur soziale
              Ferdinand Hanusch (1866–1923) war in
                                                                Einsicht und soziale Gerechtigkeit
              der Habsburgermonarchie führender Ge-
              werkschafter, von 1918 bis 1920 Staats-                   können diesen Staat
              sekretär für Soziales (Sozialminister) der                     begründen.
              ersten Regierung der österreichischen Re-
              publik und dann bis zu seinem Tod Grün-

                                                                                                                             Hanusch © ÖGB-Bildarchiv | Hayek © London School of Economics Library | Mises © Mises Institute
              dungsdirektor der Arbeiterkammer in
              Wien. In seiner Amtszeit als Staatssekre-
              tär wurden die Grundlagen des modernen
              österreichischen Sozialstaats geschaffen.

              Feindbild Sozialstaat

              Die Zeit vor und nach dem Ende des Ersten Weltkriegs war eine revolutionäre Phase. Russ-
              land wurde nach dem Sieg der Bolschewiki zur Sowjetunion. Die junge österreichische
              Republik legte unter sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung bis 1920 die Grundlagen
              für einen demokratischen Sozialstaat. Während der Weltwirtschaftskrise nach 1929 gelang
              es US-Präsident Franklin D. Roosevelt, mit seinem „New Deal“-Programm durch Eingriffe
              in die „Marktfreiheit“ die Folgen für die große Mehrheit der Menschen abzuschwächen,
              und auch einige europäische Staaten hatten mit einer ähnlichen Strategie Erfolg. Nach dem
              Zweiten Weltkrieg herrschte in Europa Übereinstimmung, dass Vollbeschäftigung und so-
              ziale Sicherheit der beste Schutz für die Stabilisierung der Demokratie seien.
                  Mises, Hayek, Lippmann und Co. liefen von Anfang an gegen diese Entwicklung
              Sturm. Alle waren sie davon überzeugt, dass „Kollektivismus“ und „Planwirtschaft“ quasi
              automatisch zur Diktatur führen müssten, und verwiesen auf die faschistischen Regime
              und die stalinistische Sowjetunion. Nach 1945 richtete sich der Schwerpunkt der Angriffe
              auf die Wohlfahrts- und Sozialstaatsprojekte in den westlichen Demokratien. Denn, so
              Hayek, das Ziel von mehr Gerechtigkeit und Gleichheit sei immer mit Verteilungspoli-
              tik verbunden und Umverteilung sei Raub durch den Staat. Hayek-Freund Karl Popper
              steuerte die Ablehnung von Utopien bei: Soziale Verbesserungen würden im Kapitalismus
              ohnehin laufend stattfinden, die Politik auf das Ziel einer gerechteren Gesellschaft, etwa
              auf ein „gutes Leben für alle“, auszurichten, sei demokratieschädigend.

              Vom Nulldefizit und den „Leistungsträger*innen“

              Mises und Hayek bestärkten nach 1920 die rechtskonservativen österreichischen Regie-
              rungen in der von den internationalen Geldgebern als Gegenleistung für die Budgetsanie-
              rung verordneten Hartwährungs- und Sozialabbau-Politik. Jahrzehnte später propagierte
              Friedman eine harte Sparpolitik, um politisches Handeln in Grenzen zu halten, denn:
              „Geld auszugeben ist das Lebenselixier von Politikern. Und zugleich die Grundlage ihrer

                                                           6
Und jetzt?! Rekord-Rezession, Rekord-Arbeitslosigkeit, Rekord-Budgetdefizit: ie die Pandemie Arbeitnehmer*innen und Unternehmen trifft ...
Arbeit&Wirtschaft 3/2020
                                             Der vorherrschende Glaube an
                                         „soziale Gerechtigkeit“ ist gegenwärtig
                                        wahrscheinlich die schwerste Bedrohung
                                         der meisten anderen Werte einer freien
                                             Zivilisation. ... Wahr ist auch,
                                             dass eine soziale Demokratie
                                                  keine Demokratie ist.
                                                                                                           Der Rechtsstaat soll
                                                                                                        durch den Wohlfahrtsstaat
                                                                                                        ersetzt werden, in dem die
Friedrich   August    Hayek    (1899–1992)
organisierte 1947 die „Mont Pèlerin So-
                                                                                                       Regierung frei schalten darf.
ciety“, eine Vereinigung von Wirtschafts-                                                              In diesem Sinne geschah es,
wissenschafter*innen, die eine Politik des
                                                                                                     dass man überall die subjektiven
„freien Marktes“ gegen den Sozialstaat
durchsetzen wollten. Mit seinem Einfluss auf                                                          Rechte der Bürger und ihren
US-Präsident Ronald Reagan und die briti-        Ludwig Mises (1881–1973)         war    Wirt-          Schutz eingeschränkt hat.
sche Premierministerin Margaret Thatcher         schaftswissenschafter und Sekretär der
trug er ab den 1970er-Jahren entscheidend        Handelskammer (Wirtschaftskammer) in
zur neoliberalen Wende in der Politik bei.       Wien. Als Berater österreichischer Regie-
                                                 rungen ab den 1920er-Jahren machte er
                                                 sich für Budgetsanierungen ohne Rücksicht
                                                 auf soziale Folgen stark. 1940 in die USA
                                                 emigriert, trug er als Universitätsprofessor
                                                 und Regierungsberater entscheidend zur
                                                 neoliberalen Wende der US-Politik bei.

                        Macht.“ Die Ideologie vom „Nulldefizit“, die vor Kurzem noch in der österreichischen
                        Verfassung verankert werden sollte, bis die Corona-Krise das Thema vorerst vom Tisch
                        fegte, hat hier ihre Wurzeln. Lippmann diffamierte 1937 in seiner Polemik gegen den „New
                        Deal“ den Wohlfahrtsstaat als „soziale Hängematte“, er würde „Sozialschmarotzertum“ be-
                        günstigen und benachteilige die „Leistungsträger*innen“: „Freiheit ohne Risiko gibt es nicht,
                        das wäre ein Widerspruch in sich selbst.“ Und das, so ergänzte Friedman 1962, sei durchaus
                        wünschenswert, denn „das große Verdienst des Kapitalismus liegt … in der Vielzahl von
                        Möglichkeiten, die er den Menschen zur Ausweitung, Entwicklung und Verbesserung ihrer
                        Fähigkeiten verschafft“.

                        Feindbild Gewerkschaft

                        Schon Anfang der 1920er-Jahre ging Mises in offene Konfrontation mit „Kollektivismus“
                        und „Gewerkschaftsmonopol“. Der Streik, „die Waffe der Gewerkschaften“, sei eine „ge-
                        waltsame Erpressung“, schrieb er 1922. „Die gewerkschaftliche Politik habe „an der Bes-
                        serung der Lage der Arbeiter nicht das geringste Verdienst gehabt.“ Sie habe im Gegenteil
                        „ihren Teil dazu beigetragen, dass das kunstvolle Gebäude der kapitalistischen Wirtschaft,
                        in der sich das Los aller, auch das des ärmsten Arbeiters, von Tag zu Tag gebessert hat, in sei-
                        nen Grundfesten erschüttert wurde“. Die „Zerschlagung des „Arbeitsmarktmonopols der
                        Gewerkschaften“ ist seit Mises Ziel des Neoliberalismus. Hayek betonte nach dem Zweiten
                        Weltkrieg neuerlich: „Wenn … irgendeine Hoffnung auf Rückkehr zu einer freien Wirt-
                        schaft bestehen soll, muss die Frage, wie die Macht der Gewerkschaften … eingeschränkt

                                                                       7
Und jetzt?! Rekord-Rezession, Rekord-Arbeitslosigkeit, Rekord-Budgetdefizit: ie die Pandemie Arbeitnehmer*innen und Unternehmen trifft ...
H ISTO RIE                                                                                        Arbeit&Wirtschaft 3/2020

                                                                                   Demonstration in Chile Ende 2019.
                                                                                   Eine der Ursachen des Protests sind die
                                                                                   Langfristfolgen der Privatisierung des
                                                                                   Bildungssystems unter General Pinochet.

             werden kann, eine der allerwichtigsten sein.“ Wo die Demokratie Gewerkschaftsverbote
             ausschließt, werden Instrumente wie staatliche Schlichtung bei Arbeitskonflikten oder Be-
             tretungsverbote für Betriebe eingesetzt.

             Reaganomics und Thatcherismus – Beginn der neoliberalen Offensive

             Auf Initiative Hayeks gründeten 1947 neoliberale Wissenschafter*innen, Journalist*innen
             und Wirtschaftstreibende die „Mont Pèlerin Society“. (Neoliberal war übrigens seit 1938

                                                                                                                             © Frente Fotográfico
             die Eigenbezeichnung der Gruppe.) Ihr Ziel: den Sozialstaat durch eine Politik der Markt-
             freiheit zu ersetzen. Die Strategie: Aufbau eines Netzwerks, Politikberatung – Spindoktoren
             und Think-Tanks sind neoliberale Erfindungen. In den 1970er-Jahren gelang der Durch-
             bruch – unter den Vorzeichen des Zusammenbruchs des Sowjetsystems.
                 Als Eisbrecherinnen fungierten: die USA mit Präsident Ronald Reagan und Großbri-
             tannien mit Premierministerin Margaret Thatcher. Sparpolitik, Privatisierung der Sozial-
             systeme und Zerschlagung des Gewerkschaftseinflusses waren ihre Markenzeichen. In den
             USA wurde dies 1981 mit der Entlassung von 11.000 streikenden Fluglotsen vorexerziert.
             Die „eiserne Lady“ folgte 1984, als sie den Widerstand der starken Bergarbeitergewerk-
             schaft gegen Privatisierungen brutal brach.

             Demokratie mit beschränkter Haftung

             Für die „neuen Liberalen“ gilt der von Friedman formulierte Grundsatz: „Wirtschaftliche
             Freiheit ist eine Voraussetzung für politische Freiheit.“ Weil Mehrheitsentscheidungen den
             freien Markt gefährden würden, sei, so Hayek und vor ihm Lippmann, eine „beschränk-
             te Demokratie“ wünschenswert. Die Beliebtheit von nicht gewählten und keinem Parla-
             ment verantwortlichen „Weisenräten“ ist eine Konsequenz daraus und in weiterer Folge das
             Übergehen parlamentarischer Rechte wie aktuell in der Corona-Krise.
                  Ganz in den Hintergrund zu treten hat die Demokratie, wenn es darum geht, Ge-
             werkschaften und andere Feinde der Marktfreiheit auszubooten. Mises erklärte 1927, der
             italienische Faschismus habe „für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet“. In
             diesem Geist argumentierte auch Hayek sein Engagement für die Terrordiktatur des Ge-
             nerals Pinochet in Chile: „Es gibt viele Beispiele autoritärer Regierungen, unter denen
             persönliche Freiheit besser gesichert ist als in manchen Demokratien.“ Und Friedman, der
             in Chicago einen Teil der Pinochet-Berater ausgebildet hatte, bezeichnete deren Politik als
             „das Wunder von Chile“. w

                                                         8
Und jetzt?! Rekord-Rezession, Rekord-Arbeitslosigkeit, Rekord-Budgetdefizit: ie die Pandemie Arbeitnehmer*innen und Unternehmen trifft ...
www.arbeit-wirtschaft.at
                                                                        € 2,50
                                         AUSGABE 3/2020, 74. Jahrgang
          Herausgegeben von AK und ÖGB

                                                                                                                             Das Magazin
                                                                                                                             Zehnmal im Jahr Arbeit&Wirtschaft als Heft.
                                                                                                                             Attraktiv und informativ aufbereitete Beiträge zu
                                                                                                                             aktuellen Themen aus der Arbeitswelt.
                                                                                                                             Online laufend neue Artikel, Video-Interviews,
                                                                                                                             Reportagen und Kommentare.
                                                                                                                                   Website, Facebook, Twitter, Instagram, YouTube
                                          Und jetzt?!
                              Rekord-Rezession, Rekord-Arbeitslosigke
                                                                      it,
                                                                     ie
                                                                                                                                   werktäglich mit Abendpost als Newsletter-Abo:
                               Rekord-Budgetdefizit: Wie die Pandem
                                                             ehmen  trifft.
                             Arbeitnehmer*innen und Untern
                                                                                                          / 32
                                                                                                                                   www.arbeit-wirtschaft.at/newsletter
                                                                            Gelebte Sozialpartnerschaft
                                   Gebot der Stunde / 18
                                                                          Rekord-Arbeitslosigkeit und -Budget-
                              Weshalb das Arbeitslosengeld
                                                                             defizit: Wer soll das bezahlen?
                              dringend erhöht werden muss.

  Der Blog
  Täglich neue Fakten und Positionen, spannende
  Beiträge von Expert*innen aus Arbeiterkammern,
  Gewerkschaften und Forschungseinrichtungen,
  auf Facebook, Twitter und per Newsletter.
  www.awblog.at

                                                                                                                             Der Podcast
                                                                                                                             Im Podcast „Warum eigentlich?“ spricht Journalistin
                                                                                                                             und Autorin Sara Hassan mit Expert*innen über
                                                                                                                             Themen aus den Bereichen Wirtschafts-, Sozial-
                                                                                                                             und Gesellschaftspolitik, Umwelt, Europa und
                                                                                                                             Mitbestimmung. Gemeinsam suchen sie Antworten

F O LG E U N S !
                                                                                                                             auf Fragen, die uns heute bewegen.
                                                                                                                             www.arbeit-wirtschaft.at/podcast
       /AundWMagazin

                                                                                                                               9
Und jetzt?! Rekord-Rezession, Rekord-Arbeitslosigkeit, Rekord-Budgetdefizit: ie die Pandemie Arbeitnehmer*innen und Unternehmen trifft ...
C OVERSTO RY                                                     Arbeit&Wirtschaft 3/2020

Die fetten Jahre
sind vorbei
 orona hat tiefe uren dur h terrei h Wirt haft und Arbeit markt
gezogen die a ita ge e haften ind ma i on den Au irkungen
betroffen. a te t i h die rage: o en in die er age trotzdem
  i idenden und anager-Boni au ge h ttet erden u Be u h bei A
mitten in der kriti hen nfra truktur.

                                                           Die A1-Zentrale im zweiten Wiener
                                                    Gemeindebezirk, nur ein paar Schritte vom
                                                            Prater entfernt, ist seit Mitte März
TEXT ANJA MELZER                                               ein Geisterhaus: menschenleer.

                                     10
Arbeit&Wirtschaft 3/2020

E
        s war am 26. Februar, am Ascher-                                                         buhlen mit einem flotten, aber warnenden
        mittwoch, und zwar um 11.50 Uhr                                                          Spruch um distanzierende Aufmerksamkeit:
        und damit exakt zwölf Tage, bevor            „Wir haben eigene Modelle „Ich bin ein Pärchenlift und nur für Zweier-
erstmals die nationalen Behörden zaghaft                 kreiert, um Kurzarbeit                  fahrten da. Bitte mindestens einen Meter
im fernen Ischgl einschreiten sollten, als bei                                                   Abstand halten.“ Oben, im siebten Stock,
fast 11.000 Mitarbeiter*innen von A1 Tele-                   zu verhindern.“                     hat Werner Luksch sein Büro. Die Räume
kom Austria plötzlich ein Mail eintrudelte.                                                      daneben sind unbesetzt, das ganze Stock-
                                                               Werner Luksch,
Es sollte – und auch das wusste an dem Tag                                                       werk wirkt verlassen.
                                                           Zentralbetriebsrat A1
noch niemand – das erste aus einer bis heute                                                          Als der Bundeskanzler den Lockdown
nicht abgerissenen Mail-Serie werden. Eine                                                       ausruft, als die Schulen schließen und das
neue Ära, für die man nur wenige Wochen                                                          ganze Land stillzustehen beginnt, findet sich
später einen Superlativ gefunden haben                                                           die A1 Telekom Austria, der führende Tele-
sollte: historische Wirtschaftskrise globalen                                                    kommunikationsanbieter in Österreich, in
Ausmaßes.                                                                                        einer gänzlich anderen Situation wieder: Das
    Man hatte zwar schon in den allabend-                                                        Unternehmen zählt zur sogenannten kriti-
lichen Fernsehnachrichten mitbekommen,                                                           schen Infrastruktur. Der Betrieb muss auch
dass sich ein neuartiges Virus über die gan-                                                      in Krisenzeiten gewährleistet sein, Internet
ze Welt auszubreiten begann. Doch in Ös-                                                          und Handynetze müssen das Land am Lau-
terreich nahmen das viele zu diesem Zeit-                                                         fen halten. So dürfen die Shops trotz der
punkt noch nicht besonders ernst. Bis auf                                                         Sperren auch weiterhin in reduzierter Zahl
den Absender dieses Mails, er hatte schon                                                       geöffnet bleiben, auch Kundendienst muss
eine dunkle Ahnung: Werner Luksch, Zent-                                                      möglich sein – nur in die Hochrisikogebiete,
ralbetriebsrat, seit 23 Jahren freigestellter Perso-                                        also nach Ischgl und in andere Quarantäne-Or-
nalvertreter, seit 2016 im A1-Aufsichtsrat und auch                                     te, habe man vorübergehend keine Mitarbeiter*in-
Vizevorsitzender der Kommunikationsgewerkschaft                                    nen mehr fahren lassen. Denn eines musste tunlichst
GPF. Möglicherweise, so informierte er, könnte es bald zu drasti- verhindert werden: dass sich Schlüsselpersonal mit COVID-19 in-
schen arbeitsrechtlichen Änderungen kommen, die alle betreffen fiziert und auch noch untereinander das Virus verbreitet.
würden. Auch das Wort „Epidemiegesetz“, inzwischen fest im All-
tagsjargon verankert, damals aber den meisten Menschen in Öster- Ab ins Homeoffice
reich gänzlich unbekannt, fällt in jenem digitalen Schriftstück.
                                                                        15. März 2020, ein Sonntag, das Land steckt seit nicht einmal 48
                                                                        Stunden im Lockdown. Dieser Tag sollte auch als derjenige in die
Ein menschenleeres Geisterhaus
                                                                        Geschichte eingehen, an dem die Republik erstmals die Miliz ein-
Werner Luksch ist ein Macher, einer, der eine grundoptimistische berief. Kurz darauf klickten der A1-CEO Marcus Grausam und
Ruhe ausstrahlt. Das sieht man im ersten Moment, wenn man ihm Luksch als Personalvertretung – als gemeinsame Absender – wieder
gegenübersteht, so wie an diesem Morgen eines warmen Junitags. auf den Mailabsender und kündigten ihren knapp 11.000 Kol-
Drei Monate und ein paar Tage ist es her, seit er das Mail abgeschickt leg*innen eine Mobile-Working-Regelung an; sprich: Wer konn-
hatte. Drei Monate, in denen sich die ganze Welt verändert hat. Die te, sollte ab dem nächsten Morgen von zu Hause arbeiten. Alle
A1-Zentrale, ein wuchtiges Gebäude im zweiten Wiener Gemeinde- anderen wurden angehalten, ihre Überstunden abzubauen. Um
bezirk, nur ein paar Schritte vom Prater entfernt, ist ein Geisterhaus. den Mitarbeiter*innen das Fernbleiben vom Arbeitsplatz noch
Menschenleer. Lediglich die Dame am Empfang ist da, verbarrika- schmackhafter zu machen, wurde sogar mit Anreizen geworben:
diert hinter Plexiglasscheiben. Ganz vereinzelt sieht man Personen Wer in der kommenden Woche zwei Urlaubstage nehme, bekom-
mit Mundschutzmasken vorbeigehen. Der Getränkeautomat in der me einen obendrauf. For free, sozusagen. Urlaub, davon ist Luksch
Eingangshalle steht einsam und bis zum Anschlag gefüllt im Eck.         überzeugt, sei auch schon gesundheitlich betrachtet nicht dazu da,
    Dass wir von Arbeit&Wirtschaft uns überhaupt im Gebäude ewig gehortet zu werden. Und jetzt war Solidarität gefragt.
bewegen dürfen, ist eine Ausnahme. Schon Tage zuvor musste der              „Wir haben von Anfang an vorbildlich zusammengearbeitet“,
Besuch angemeldet und sichergestellt werden, dass sich nicht mehr sagt Luksch über das gemeinsame Vorgehen mit dem Management.
Personen als erlaubt im Haus befinden. Ohne Mund-Nasen-Schutz Ein, wenn man so will, Musterbeispiel betrieblicher Sozialpartner-
kommt man nicht einmal durch das Hauptportal, die Aufzüge schaft. Und: „Wir haben eigene Modelle kreiert, um Kurzarbeit zu

                                                                      11
Arbeit&Wirtschaft 3/2020

                                                                      Um manches habe er in der Corona-Krise aber schon ziemlich
                                                                      kämpfen müssen: „Zu Beginn fehlte die Schutzausrüstung für die
                                                                      Kolleg*innen im persönlichen Kundenkontakt oder man wollte
                                                                      keine Personalvertreter*innen in den wichtigen Gremien, wie etwa
                                                                      dem Krisenteam, dabeihaben. Das kenne ich von anderen Unter-
                                                                      nehmen anders. Aber man muss doch gerade jetzt an einem Strang
                                                                      ziehen!“ – Schließlich landete auch jemand aus der Personalvertre-
                                                                      tung im Gremium. Diese Sitzungen fanden bzw. finden teils immer
                                                                      noch via Skype & Co statt, ein eigener Datenschutzexperte sorgt
                                                                      für den richtigen Schutz beim Videotelefonieren. „Wir waren wirk-
                                                                      lich ausgefüllt mit den Online-Konferenzen, aber die haben bisher
                                                                      überraschend gut funktioniert.“ Werner Luksch lacht und seine
                                                                      Augen grinsen verschmitzt: „Oft funktionieren sie sogar besser als
                                                                      live.“ Die größte Gefahr dabei: Man höre so gar nicht mehr auf,
                                                                      zu Hause zu arbeiten. Umso wichtiger sei es, auch daheim auf die
                                                                      Einhaltung aller Pausen zu achten.

                                                                      Homeoffice funktioniert nicht überall

                                                                      A1 kommt in den letzten Wochen zeitweise auf die höchste Home-
                                                                      office-Quote Österreichs. Insgesamt, das zeigt auch eine ganz ak-
                                                                      tuelle Studie der Arbeiterkammer Wien über die Situation der
                                                                      großen Kapitalgesellschaften, für die 483 Betriebsrät*innen in
                                                                      Aufsichtsräten zu ihren Einschätzungen befragt wurden, hat jedes
Werner Luksch ist ein Macher, der eine grundoptimistische Ruhe        vierte Unternehmen mehr als drei Viertel seiner Beschäftigten ins
ausstrahlt. Das sieht man sofort, wenn man ihm gegenübersteht.        Homeoffice geschickt, damit sie sich selbst und die anderen vor
                                                                      dem Virus schützen. Nur: Wer als Angestellte*r im Büro arbeitet,
                                                                      kann die Tätigkeit natürlich deutlich einfacher auch zu Hause
verhindern.“ Das hat man auch erfolgreich geschafft. Kurzarbeit       durchführen als jemand im Industriebereich – dort waren laut der
hätte nämlich zusätzlich Ungleichheit bedeutet, die eine Hälfte der   Befragung nicht einmal zehn Prozent permanent in Heimarbeit.
A1-Belegschaft – die Beamt*innen – hätte man gesetzlich gar nicht     Denn die Möglichkeit von Homeoffice ist nicht primär durch die
in Kurzarbeit schicken können, die andere hätte plötzlich deutlich    Branche bestimmt, schreiben die Studienautor*innen, sondern vor
weniger verdient.                                                     allem durch Funktion und Arbeitsfeld. Übrigens: Selbst im Verkauf
    Ein Mitbewerber auf dem Telekommunikationsmarkt wechsel-          konnte die Hälfte von zu Hause aus bearbeitet werden.
te im April doch noch in die Kurzarbeit. Für Luksch unverständ-
lich: „Ich frage mich ja, wieso man einerseits Dividenden auszahlt
und andererseits die Beschäftigten zur Kurzarbeit anmeldet. Da
finanziert man die Dividende an den Eigentümer mit dem Geld
der Steuerzahler*innen.“ Kurzarbeit sei in erster Linie gedacht für
Klein- und Mittelbetriebe, die verzweifelt ums Überleben kämp-
fen. „Wir bei A1 sind stark genug.“ Und wenn Werner Luksch das
sagt, der seit Jahrzehnten alle Krisen dieses Unternehmens mitaus-
gefochten hat, glaubt man es ihm.

                 Bei A1 konnte Kurzarbeit bisher verhindert wer-
                   den. Außerdem kam das Unternehmen auf die
                         höchste Homeoffice-Quote Österreichs.
Arbeit&Wirtschaft 3/2020

      „Man sieht jetzt, dass Führungskräfte lange
       Zeit versucht haben, Dinge zu verhindern,
    die eigentlich immer umsetzbar gewesen wären.“
                                                             Werner Luksch

Beim Phänomen Homeoffice machte die Krise sogar Dinge mög-               beim Unternehmen. Alle Shop-Angestellten tragen Mund-Nasen-
lich, die vorher unmöglich schienen. Lange vor Corona wurde auch         Schutz und einen Button am Kragen, auf dem eine durchgestriche-
bei A1 dafür gekämpft, einen Homeoffice-Arbeitstag pro Woche in          ne Handfläche abgebildet ist: Nicht anfassen. Die Beratungstische
der Betriebsvereinbarung zu fixieren. Alle Beschäftigten sollten einen   haben einen Schutz aus Plexiglas.
Anspruch darauf haben, ohne darum betteln zu müssen. Dennoch                  Auch Milos war sechs Wochen lang in der Hotline im Home-
hatten manche Abteilungsleiter*innen immer wieder Gründe dage-           office eingesetzt. „Es war schön zu merken, wie die Kund*innen
gen gefunden: Es gebe nicht genug Hardware, man müsse erst Gerä-         sich gefreut haben, dass wir weiterhin für sie da sind, nur eben jetzt
te bestellen, es sei datenschutzrechtlich fraglich und bestimmt würde    am Telefon“, erzählt er. „Die Bewertungs-SMS im Anschluss hatten
doch die Produktivität der Angestellten darunter leiden.                 echt höchste Zufriedenheitslevels, und das tut einem schon sehr gut
                                                                         beim Arbeiten.“ Extrem viele Anfragen seien zu besseren Handyver-
                                                                         trägen gekommen, weil das mobile Kommunizieren im Social-Dis-
Steil aufwärts bei der Digitalisierung
                                                                         tancing-Status wichtiger wurde. Diese Ausnahmezeit habe sein Team
Nun, da plötzlich coronabedingt Tausende A1-Mitarbeiter*innen            zusammengeschweißt. „Angst um den Job hatten wir eigentlich nie,
gleichzeitig und noch dazu wochenlang ins Homeoffice wechseln            aber wir haben uns alle in neuen Situationen kennengelernt, das
mussten, ohne dass der Betrieb auch nur annähernd zusammen-              ist ur wertvoll jetzt.“ Seine Augen wandern zu seinen Kolleg*innen
brach, dürfte die Diskussion wohl zukünftig kein Thema mehr sein,        durch den Raum, einmal die ganze Runde, und es ist, als würde er
glaubt Luksch. Und die aktuellen Rückmeldungen aus der Kol-              unter seinem Mundschutz alle verhalten anlächeln.
leg*innenschaft zeigen ihm, wofür er nach Corona kämpfen wird:
für das Recht auf noch mehr Homeoffice-Tage pro Woche. „Man              Alle Shop-Angestellten tragen Mund-Nasen-Schutz
sieht jetzt“, so der Betriebsrat, „dass Führungskräfte lange Zeit ver-   und einen Button am Kragen, auf dem eine durchge-
sucht haben, Dinge zu verhindern, die eigentlich immer umsetzbar         strichene Handfläche abgebildet ist: Nicht anfassen.
gewesen wären und sehr vielen hier geholfen hätten.“ Für A1 habe
Corona einen unglaublichen Digitalisierungsschub bedeutet.
    Trotzdem – die andauernde und unfreiwillige Verbannung ins
Homeoffice macht offenbar sehr viele nicht glücklich. Fast jede*r
Zweite gab in der AK-Studie an, unter Vereinsamung und Ver-
unsicherung zu leiden. Viele ächzen unter den deutlich höheren
Belastungen, gerade Frauen – und zwar 46 Prozent der von Über-
belastung Betroffenen – sehen sich zerrissen zwischen Homeoffice
und Homeschooling der Kinder.
    Im Erdgeschoss der Zentrale, mit einer langen Fensterfront,
durch die man hinaus auf die breite Lassallestraße blickt, die den
Praterstern mit der Reichsbrücke verbindet, arbeiten Milos und
seine Kolleg*innen zwischen den allerneuesten Smartphones und
blinkenden Mobile Gadgets im A1-Shop. „Willkommen zurück!“,
steht auf einem Plakat an der Tür. Seit vier Jahren ist der 25-Jährige
Jetzt droht die Armutskrise

                                                                      Nach Einschätzung der Arbeitnehmer*innenvertretungen, die in der
                                                                      AK-Studie auch zu diesem Themenkomplex erhoben wurden, sollte
                                                                      die Dividende bei jedem zweiten Unternehmen wenigstens gekürzt
                                                                      werden oder sogar gänzlich ausfallen. Bei einem weiteren Viertel
                                                                      wird zumindest darüber diskutiert. Und bei jedem vierten Unter-
                                                                      nehmen soll die Dividende unbeirrt konstant ausbezahlt werden.
                                                                           Auch bei A1 sind in den letzten Wochen die Zahlen eingebro-
Milos, 25: „Das alles hat uns als Team zusammengeschweißt.“           chen, Roaming beispielsweise ist komplett weggefallen. Stundungen
                                                                      und Preisnachlässe setzen einen volkswirtschaftlich bedenklichen
                                                                      Kreislauf in Gang und drängen das Unternehmen in die Enge. „Jeder
Dividenden erhöhen die Insolvenzgefahr
                                                                      versucht gerade besser dazustehen als die anderen. Und die Ersten,
Und welche Lektion zieht Werner Luksch, inzwischen draußen im die so was zu spüren bekommen, sind natürlich die Arbeiter*innen,
Innenhof des Gebäudekomplexes auf einem der hohen Holzsesseln das wird immer nach unten weitergegeben. Nach der Wirtschaftskri-
sitzend, aus den letzten Wochen? Er überlegt. „Es war eine Situa- se droht uns die Armutskrise“, so Luksch. Eine solche zu verhindern,
tion, die keiner kannte. Und in der keiner                                                   das sei jetzt die Aufgabe der Politik.
etwas falsch machen wollte.“ Der sofort
                                                   „Wir sollten die Dividenden Und Werner Luksch selbst, was hat die Krise
umgesetzte und breit angelegte Homeoffice-                                                   eigentlich mit ihm persönlich gemacht? „Ich
Erlass sei die absolut richtige Entscheidung         aussetzen    oder  zumindest            lebe meinen Job, aber jetzt in der Corona-
gewesen. Immer sei die Gesundheit im Vor- verringern. Die Corona-Krise Krise komme sogar ich an meine Grenzen.“
dergrund gestanden, die Führungskräfte                                                       Ständig wird der Zentralbetriebsrat ange-
waren durchgehend angehalten, ihren Leu-
                                                    führt  uns   die Dringlichkeit           rufen. „Du bist immer bereit, sieben Tage
ten zu sagen: „Wenn ihr Angst habt oder                      vor Augen!“                     die Woche, 0 bis 24 Uhr, abschalten kannst
euch nicht sicher seid – macht es nicht.“                                                    du in dem Job eigentlich eh nie“, meint er.
    Was die Liquidität von Kapitalgesellschaften in der Coro- Krisen sei er zwar gewohnt, Jahr für Jahr werden bei A1 Telekom
na-Krise gefährden könnte: Wenn genau in dieser Situation auch Austria Mitarbeiter*innen abgebaut, und es müssen gute Lösungen
noch Dividenden an die Aktionär*innen ausgeschüttet werden. – von Karenzmodellen bis Golden Handshake – erkämpft werden.
Denn das erhöht – so auch das Fazit der genannten AK-Studie zu             Erschwerend in der Corona-Krise seien für ihn auch nicht die
den großen Kapitalgesellschaften – die Insolvenzgefahr.               unzähligen Skype-Gespräche gewesen, sondern etwas anderes:
    „Wir sollten die Dividenden aussetzen oder zumindest verrin- „Viele Menschen verlieren die Nerven, über allen schwebt etwas
gern. Die Corona-Krise führt uns die Dringlichkeit vor Augen! In- Unbekanntes, nicht Greifbares, sie haben Angst. Ich kann da nur
vestitionen in die Volkswirtschaft bringen uns viel mehr, damit das versuchen, ruhig zu bleiben und Hoffnung zu geben.“ Genau diese
Land wieder hochfahren kann!“, sagt Luksch. „Eigentümer sollten Haltung, sagt Luksch, habe er bei der Regierung vermisst, die lie-
die Mitarbeiter*innen und Österreich in den Mittelpunkt stellen, ber Ängste schürte, beispielsweise mit Sätzen wie diesem aus dem
es soll ihnen doch jetzt bitte um den Erfolg des Unternehmens Mund von Kanzler Sebastian Kurz, der in der Bevölkerung Spuren
gehen – und nicht um ihre Dividenden!“ Nur Investitionen und hinterlassen hat: „Bald wird jeder von uns jemanden kennen, der
Konsum, argumentiert er immer emotionaler, kurbelten die Volks- an Corona gestorben ist.“ Werner Luksch hält das anders: „Mir ist
wirtschaft an. „Die Reichen geben ihr Geld nicht aus, verschicken wichtig, immer Fakten an die Kolleg*innen zu geben. Wenn man
es in andere Länder oder verstecken es steuerfrei auf irgendwelchen keine Fakten hat, ist es besser, nix zu sagen.“
Inseln – doch die Arbeitnehmer*innen geben es gleich wieder aus.“
    Man müsse die Corona-Krise als riesige Chance begreifen und Gugelhupf für alle
den Druck erhöhen. Es brauche endlich eine öffentliche Diskus-
sion um die hohen Managergagen. „Man kann nicht immer von Werner Luksch, der Macher und Kämpfer, nix zu sagen fällt ihm
den Arbeitnehmer*innen Opfer verlangen, während sie einem den in Wahrheit natürlich schwer. Mit einem Gugelhupf in der Hand
Karren aus dem Dreck ziehen, sondern endlich einmal von denen, marschiert er noch mal spontan zu den Kolleg*innen in den Shop.
die es sich leisten können.“ Er fände es – gerade in dieser Notsi- „Ich hatte Geburtstag, aber was soll ich mit dem oben im Büro
tuation – vorbildlich, wenn man auch in der Managementebene bei allein.“ Also wird er ihn teilen. So wie er auch die Manager-Boni
ihm im Unternehmen verzichten würde.                                  teilen würde. Gemeinsam halt. w

                                                                  14
Arbeit&Wirtschaft 3/2020                                                                                        DIE GROSSE FRAGE

                                              Was ist
                                             eigentlich
                                           Gerechtigkeit?
© Eisenberger

                                Gerechtigkeit ist ein Begriff, der uns das ganze Leben lang begleitet. In Kants „Metaphysik der Sit­
                                ten“ heißt es: „Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, dass Menschen auf
                                Erden leben.“ Klar, dass in der Familie, im Freundeskreis, in der Ausbildung oder in der Arbeitswelt
                                genau darum gerungen wird. In Demokratien beruhen das Recht und seine Anwendung auf einem
                                 gemeinsamen Verständnis von Gerechtigkeit und der Gleichheit aller vor dem geltenden Recht.
                                Quoten, Gleichberechtigung und Generationenvertrag sind wiederkehrende Themen in aktuel­
                                len Gerechtigkeitsdebatten. Deren Ziel ist es, Lösungen zu finden, die möglichst viele Beteiligte
                                für einigermaßen gerecht halten. Die Sache mit der Gerechtigkeit bleibt kompliziert, auch wenn
                                Moralapostel und Selbstgerechte etwas anderes behaupten. Vor allem da unser Gerechtigkeits­
                                empfinden oft nur dann anschlägt, wenn wir uns selbst ungerecht behandelt fühlen. Bevor wir also
                                das nächste Mal andere beurteilen, sollten wir uns selbst prüfen: Ob wir überhaupt gerecht sein
                                                                  könnten, wenn wir es wollten.

                                                                           LISZ HIRN
                                                        PHILOSOPHIN UND PUBLIZISTIN IN WIEN

                                                                                15
Arbeit&Wirtschaft 3/2020

Zu Kurz
gekommen
  ntfa der Werbeeinnahmen urzarbeit o iti her ru k und
g ei hzeitig erh hte nformation bed rfni der B rger*innen:
Wa ma ht die orona- ri e mit dem ourna i mu in terrei h

TEXT WERNER REISINGER

K
       rise – das ist im Journalismus hier-
       zulande ein Dauerzustand – doch
       Corona bringt für die (Qualitäts-)
Medien die paradoxe Situation eines einer-
seits enorm gesteigerten Informationsbe-
dürfnisses mit Rekordquoten und -klick-
zahlen, anderseits einer wirtschaftlich
existenzbedrohenden Situation aufgrund
des Entfalls der Werbegelder.

Viel Geld für wenige

Diese Situation, so die vielfache Kritik,
mache sich die für Medien verantwortli-
che ÖVP geschickt zunutze. Da wäre zum
einen die „Corona-Sondermedienförde-
rung“. Als Kriterium wurde die letztjährige
Druckauflage herangezogen. Der Effekt:
Die ohnehin inseratenverwöhnten Bou-
levardmedien „Krone“, „Österreich“ und
„Heute“ wurden mit Millionen unterstützt
und auch Gratiszeitungen mit einer Auf-
lageförderung bedacht. Ohne den Protest
von Qualitätsmedien und Gewerkschaft
wäre der Geldsegen sogar noch höher
ausgefallen. Digitalmedien erhalten hin-
gegen noch immer kaum Unterstützung.
Man wolle kein „Husch-Pfusch-Gesetz“

                                              16
Arbeit&Wirtschaft 3/2020

machen, rechtfertigte sich die Regierung                         „Die Qualitätsmedien befinden sich
– und stellt für die Zeit nach der Pande-
mie ein neues Gesetz in Aussicht. Welche                       in einer Art Geiselhaft der Regierung.“
Wirkung hat das?
                                                                    Fritz Hausjell, Medienwissenschafter
    „Die Qualitätsmedien befinden sich in
einer Art Geiselhaft der Regierung“, sagt
Fritz Hausjell. Der Medienwissenschafter
vom Wiener Institut für Publizistik und      „Der Boulevard hingegen ist mit der Inse-       der Wissenschaftsredaktionen erwiesen
Kommunikationswissenschaft geht mit          ratenkampagne von Regierung und Rotem           – Stichwort: Umgang mit den von der
der Regierungspraxis hart ins Gericht.       Kreuz doppelt alimentiert worden“, sagt         Politik gelieferten Pandemie-Daten. Auch
Gerade das In-Aussicht-Stellen von mehr      Hausjell. Er nimmt hier die Qualitätsmedi-      Frauen seien in der Berichterstattung zu-
Geld für Qualität in dieser für Medien ex-   en selbst in die Pflicht. Spätestens bei Vor-   gunsten männlicher Experten wieder wei-
trem schwierigen, teils existenzbedrohen-    liegen einer Gallup-Studie, die zeigt, dass     ter in den Hintergrund gerückt, kritisiert
den Zeit berge die Gefahr der Selbstzensur   sich die Österreicher*innen während der         Kraus. Dass direkte Interventionsversu-
in einer für die Regierung Kurz heiklen      Corona-Pandemie viel stärker als angenom-       che aus dem Kanzleramt, wie zuletzt bei
Phase, sagt er. Nach dem Motto: Wer die      men über Qualitätsmedien informieren,           der „Kleinen Zeitung“ und der Bericht-
Karotte vor der Nase hat, wird automa-       hätte man die Vergabe der Informationsin-       erstattung zum Kanzlerbesuch im Klein-
tisch eine gewisse Beißhemmung im Kopf       serate thematisieren müssen.                    walsertal, nur selten transparent gemacht
entwickeln.                                      Auch wenn man über Ziele und Ab-            werden, liege an einem zu schwachen
                                             sichten der Corona-Sonderförderung nur          „professionellen Selbstbewusstsein“.
                                             mutmaßen könne – die Annahme, dass da-              Ein solches ortet die Wiener Politik-
                                             bei der Wunsch nach Selbstdisziplinierung       wissenschafterin Petra Bernhardt in einem
                                             der Qualitätsmedien mitspielt, sei ange-        wenig öffentlichkeitswirksam diskutierten
                                             sichts der Ergebnisse im Boulevard „schwer      Bereich: der visuellen Inszenierung des
                                             von der Hand zu weisen“, sagt Daniela           Corona-Managements der Regierung.
                                             Kraus. „Unentspannt“, so fasst die Gene-        Mangels öffentlicher Auftrittsmöglichkei-
                                             ralsekretärin des Presseclubs Concordia das     ten versuchte man, mit der fast täglichen
                                             regierungsseitige Verhalten gegenüber den       Pressekonferenz das Zepter in der Hand
                                             Qualitätsmedien zusammen. Offensicht-           zu behalten. „Mal mit Maske, dann hin-
                                             lich gebe es ein recht geringes Vertrauen in    ter Plexiglas, die Experten in den Krisen-
                                             die Mündigkeit der Bürger*innen.                stäben blieben dabei größtenteils unsicht-
                                                                                             bar“, sagt Bernhardt. Frankreich sei, was
                                             Probleme unter der Lupe                         diese Transparenz betrifft, den gegenteili-
                                                                                             gen Weg gegangen.
                                             Wie ein Vergrößerungsglas habe die Co-
                                             rona-Krise die Probleme im Journalismus
                                                                                             Unklare Interventionen
                                             noch stärker sichtbar gemacht: zu wenig
                                             Zeit, weil zu wenige Journalist*innen in        Message-Control, so Bernhardt, werde
                                             den Redaktionen. Die Aufregung, als Ge-         aber überschätzt. Mit einer „Mischung aus
                                             sundheitsminister Rudolf Anschober rich-        Belustigung und Befriedigung“ würden
                                             tigstellte, dass private Zusammenkünfte         die Message-Controller selbst auf die Jour-
                                             ohnehin immer erlaubt waren, sei nur            nalist*innen blicken und Letztere ihren
                                             durch eines zu erklären: „Viele Kolleg*in-      eigenen Handlungsspielraum unterschät-
                                             nen haben einfach die damalige Verord-          zen. „Wir hören immer wieder von ein-
                                             nung nicht genau gelesen. Da hat es wohl        zelnen Fälle von Intervention, wissen aber
                                             ein wenig zu viel Gutgläubigkeit gegeben.“      wenig über die Art und Weise, wer wann
                                             Reichlich spät habe man wieder in die           wo wie oft interveniert. Hier fehlt es an der
                                             Rolle als Kontrollinstanz hineingefunden.       Bereitschaft der jeweiligen Medien, das zu
                                             Als fatal habe sich dabei die Ausdünnung        artikulieren.“ w

                                                                  17
IM G ESP RÄCH                                                                                                 Arbeit&Wirtschaft 3/2020

Das Gebot
der Stunde
  ie Arbeitnehmer*innen eite dr ngt auf eine rh hung de Arbeit o enge d
f r ngrid Rei h eitende ekret rin im        B die dring i h te ozia -
und irt haft o iti he a nahme erz h t ie im nter ie .

                                                                                                     INTERVIEW MICHAEL MAZOHL

                                           I
                                             ngrid Reischl, die Leitende Sekretärin für       Wir trommeln das als ÖGB schon länger,
                                             Grundsatz des ÖGB, betritt den Raum              wir kämpfen dafür – und es gibt auch be-
                                             mit Maske. Man sieht trotzdem ihr Lä-            reits Gespräche mit der Regierung. Ich hoffe
                                           cheln in den Augen, als sie sich vergewis-         wirklich, dass diese Maßnahme gesetzt wird
                                           sert, dass für das Interview – wir zeichnen        und zwar sehr, sehr rasch und am besten
                                           es auch auf Video auf – die notwendigen            auch nachhaltig. Eigentlich stelle ich mir
                                           Abstände eingehalten werden. Schließlich           nicht vor, dass wir jetzt eine zeitlich befriste-
                                           geht es auch bei einem Interview um Ar-            te Erhöhung der Nettoersatzrate einführen,
          INGRID REISCHL                   beitnehmer*innenschutz.                            sondern eine, die auch dauerhaft wirkt.
 LEITENDE SEKRETÄRIN DES ÖGB                   Die letzten Wochen waren sehr hart, er-
 Die studierte Politikwissenschafterin     zählt sie, „ich habe so viel gearbeitet wie noch   Der Vorschlag lautet, die Nettoersatzrate
 Ingrid Reischl, 61, folgte im vergange-   nie zuvor in meinem Leben“. Sie kommt              auf 70 Prozent zu erhöhen?
nen Jahr Bernhard Achitz als Leitende      direkt von einer Besprechung mit Arbeits-          Unsere Vorstellung wären 70 Prozent, und
 Sekretärin im ÖGB nach, verantwort-       ministerin Christine Aschbacher. Der ÖGB,          auch die Bezugsdauer sollte ausgedehnt
 lich für den Bereich Grundlagen und       die Sozialpartnerschaft ist wieder gefragt,        werden, bevor man in die Notstandshilfe
 Interessenpolitik. Zuvor war sie unter    und Ingrid Reischl hat viele Antworten.            fällt. Neben der sozialpolitischen Notwen-
anderem langjährige Obfrau der Wiener                                                         digkeit ist das jetzt auch eine wirtschafts-
Gebietskrankenkasse und Leiterin des       Wir haben derzeit etwa 550.000 arbeits-            politische Notwendigkeit.
Grundlagenbereichs der GPA-djp sowie       los gemeldete Menschen, über 1,2 Millio-
    Lektorin am Institut für Staats-       nen sind in Kurzarbeit. Welche Maßnah-             Aufgrund der Menge der Anträge zur Kurz-
   und Politikwissenschaften an der        men müssen für die Betroffenen gesetzt             arbeit ist im AMS ein Flaschenhals aufge-
           Universität Wien.               werden?                                            treten, und mit mehr Arbeitslosen steigt
                                           Die dringlichste Maßnahme ist – und                auch der Betreuungsaufwand. Aufgrund
                                           nicht nur aus sozialpolitischen Gründen –,         der günstigen Situation am Arbeitsmarkt
                                           die Nettoersatzrate des Arbeitslosengelds          im vergangenen Jahr wurden die AMS-Mit-
                                           zu erhöhen. Arbeitslose Menschen haben             tel gekürzt – müssten diese nicht umge-
                                           mit 55 Prozent im europäischen Vergleich           kehrt jetzt massiv aufgestockt werden?
                                           eine sehr niedrige Ersatzrate. Ein höheres         Ein Gebot der Stunde! Es ist dringend not-
                                           Arbeitslosengeld stärkt schließlich auch die       wendig, die schon zugesagten 500 zusätz-
                                           Nachfrage.                                         lichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

                                                                 18
Arbeit&Wirtschaft 3/2020

„Ein höheres Arbeitslosengeld hilft nicht nur den Betroffenen, sondern bringt auch die Konsumnachfrage in Schwung“, so Reischl.

aufzunehmen, um rascher die Kurzarbeits-      erst einmal langsam hochgefahren. Für vie-     ende wird das Geld reichen. Auch in der
anträge behandeln zu können. Wir sind         le Unternehmer war es ja nicht absehbar,       Krise 2008/09 haben wir lediglich 30 bis
jetzt noch immer in der Verhandlung mit       wie der Verlauf dieser Corona-Krise sein       40 Prozent der budgetierten Mittel tatsäch-
der Regierung um die Verlängerung der         wird. Und das hat dazu geführt, dass viele     lich verbraucht.
Kurzarbeit – wir haben ja vereinbart, am      Unternehmen für zehn Prozent Arbeitszeit
legendären Freitag, den 13., in einer Ver-                                                   Bleiben wir noch kurz bei der Arbeitslosig-
handlung, die sehr rasch erfolgen musste:                                                    keit: Wir haben ja schon vor der Krise ein
drei Monate plus drei Monate Kurzarbeit,             „Es braucht etwas                       recht großes Problem gehabt bei Lang-
und jetzt haben wir die entsprechende Ver-          Vergleichbares wie die                   zeitarbeitslosen über fünfzig. Wie kann
längerung vereinbart.                                                                        man diesen Menschen helfen, nach der
                                                     ,Aktion 20.000‘.“                       Krise wieder irgendwie in das Erwerbsle-
Ziel der Regierung ist es aber, dass die                                                     ben zurückzukehren?
                                                           Ingrid Reischl
Kurzarbeit günstiger werden muss ...                                                         Es braucht etwas Vergleichbares wie die
Das sehen wir auch so. Wobei von der                                                         „Aktion 20.000“. Wir haben aber zwei Pro-
Bundesregierung mittlerweile zwölf Mil-       angesucht haben, und tatsächlich zeigt sich    blemgruppen: Das eine sind die Jungen, die
liarden Euro dafür budgetiert wurden, zu      aber, dass die Firmen jetzt sukzessive hoch-   jetzt in eine schwierige Zukunft schauen,
Beginn haben wir für 400 Millionen Euro       fahren. Wir sind überzeugt, dass wir die       mit einer Arbeitslosenrate über neun Pro-
gekämpft. Die Regierung hat Angst, dass       zehn Milliarden Euro vielleicht brauchen       zent, und wir haben die Älteren. Für bei-
dafür einfach zu viel Geld ausgegeben wird.   werden, aber nicht für die ersten drei Mo-     de Gruppen wird es spezielle Programme
Wir sehen aber jetzt: In den Betrieben wird   nate, sondern wir rechnen: Bis zum Jahres-     brauchen. Für die Jugendlichen muss es

                                                                  19
IM G ESP RÄCH                                                                                             Arbeit&Wirtschaft 3/2020

                                                                                           „Wir werden eine Verteilungsdiskussion
                                                                                           bekommen, die sich gewaschen hat.“
                                                                                           Reischl drängt darauf, dass die Kosten der
                                                                                           Krise gerecht verteilt werden – und auch
                                                                                           Reiche zur Kassa gebeten werden.

                                                                                           Die Regierung davor war ja gerade da-
                                                                                           bei, unser Gesundheitssystem kaputtzu-
                                                                                           machen. Wir haben schon vor der Coro-
                                                                                           na-Krise die ersten Auswirkungen gemerkt:
                                                                                           Diese neue fusionierte Österreichische Ge-
                                                                                           sundheitskasse ist plötzlich dagestanden
                                                                                           mit einem angekündigten Verlust von 1,7
                                                                                           Milliarden Euro statt der versprochenen
                                                                                           Patientenmilliarde.
                                                                                               Ich bin auch sehr froh, dass man der
                                                                                           Empfehlung des Rechnungshofs noch nicht
                                                                                           Folge geleistet hat, die Spitalsbetten dras-
                                                                                           tisch zu reduzieren. Ich hoffe wirklich, dass
                                                                                           wir darauf jetzt einen anderen Blick haben.
                                                                                           Es wurde zudem noch befürchtet, dass auf
                                                                                           die Sozialversicherungsreform Privatisierun-
                                                                                           gen folgen werden, und ich hoffe, dass diese
                                                                                           Diskussion jetzt endgültig vorbei ist.

um Qualifikation gehen, und es wird auch      müssen die Unternehmer selbst zahlen –       Ein großes Dilemma haben wir im Pflege-
darum gehen, die überbetrieblichen Aus-       wurde wenig in Anspruch genommen. Üb-        bereich. Meine demenzkranke 90-jährige
bildungsmodelle, etwa in der Lehre, wieder    rig geblieben sind die Frauen.               Oma ist jetzt von der 24-Stunden-Betreu-
hochzufahren.                                     Unsere ÖGB-Frauen fordern deshalb        ung zu Hause in ein Pflegeheim gekommen.
                                              eine Kinderbetreuung für die Ferien. Das     Es geht ihr halbwegs gut, aber so geht es
Eine gewichtige Rolle spielt auch die Be-     würde übrigens auch Arbeitsplätze schaf-     jetzt wahrscheinlich vielen anderen Omas
treuungssituation von Kindern. Die Schu-      fen, nämlich für die Betreuungspersonen,     und Opas. Was braucht unser Pflegesys-
len wurden wieder geöffnet – aber bis zu      und so etwas ist unbedingt notwendig. Sie    tem jetzt?
den Ferien bleiben ungefähr 15 Schultage      sagen es richtig: Der Urlaub ist oft schon   Wir haben vorhin über die hohe Anzahl
übrig. Viele Eltern haben schon ihren Ur-     aufgebraucht – ja was sollen denn die El-    von Arbeitslosen gesprochen. Ja und dann
laub aufgebraucht, was besonders die Müt-     tern mit den Kindern machen?                 holen wir mit Flugzeugen und Sonder-
ter betrifft. Wie kann es da weitergehen?                                                  zügen kostengünstige Pflegekräfte aus
Also das ist wirklich eine große Herausfor-   Schauen wir mal auf unser Gesundheits-       dem Ausland. Also ich denke, da wird es
derung. Man sieht, die Frauen sind die gro-   system, das jetzt ordentlich auf dem Prüf-   jetzt wirklich Zeit, in der Pflege attraktive
ßen Verliererinnen in der Krise, mit – wenn   stand gestanden ist. Sie waren ja früher     Arbeitsplätze zu schaffen, damit Menschen
überhaupt möglich – Homeoffice und ne-        Obfrau der Wiener Gebietskrankenkasse:       diesen Job auch ausüben wollen. Und dazu
benbei Homeschooling. Die Sonderbetreu-       Was kann man aus der Krise lernen, was       muss natürlich auch einfach die Bezahlung
ungszeit, die von der Regierung eingeführt    die Bedeutung unseres öffentlichen Ge-       passen. Hier kann man wirklich viele gute
wurde – zwei Drittel der Personalkosten       sundheitssystems betrifft?                   Jobs schaffen.

                                                                 20
Arbeit&Wirtschaft 3/2020

                  „Wir werden neue Modelle brauchen,
                   wie wir Menschen unterstützen.“
                                                            Ingrid Reischl

                                                                                              und Finanzkrise 2008/09, die überwie-
                                                                                              gend von den „kleinen Leuten“ bezahlt
                                                                                              wurde. Wer soll diesmal bezahlen?
                                                                                              Wir werden eine Verteilungsdiskussion be-
                                                                                              kommen, die sich gewaschen hat, und es ist
                                                                                              ganz logisch, dass die „kleinen Leute“ diese
                                                                                              Krise nicht bezahlen werden können.

                                                                                              Woran denken Sie? Reichensteuern, Soli-
                                                                                              daritätsabgaben?
                                                                                              Das sind die ersten Ideen, wie man auch
                                                                                              die, die jetzt noch Geld haben, zur Kasse
                                                                                              bittet. Als ÖGB haben wir einen Beschluss
                                                                                              für eine Vermögenssteuer ab einem Freibe-
                                                                                              trag von 700.000 Euro. Es wäre mir jedes
                                                                                              Mittel recht, um von oben zu holen.
                                                                                                  Ob das jetzt mehrere befristete Maßnah-
                                                                                              men wären, um die Krise ein bisschen zu
                                                                                              bezahlen, ja, das ist mir völlig egal. Es kann
Die Regierung hat angekündigt, die Pflege-     und zweitens reduzieren sie sich durch         nur nicht so sein, dass diejenigen, die wir
krise zu lösen. Jetzt wäre wirklich der ge-    niedrigere Einkommen aufgrund der ho-          jetzt vielleicht als Heldinnen feiern, dann
eignete Zeitpunkt dafür.                       hen Arbeitslosigkeit beziehungsweise der       diejenigen sind, die die Krise bezahlen. w
                                               Kurzarbeit. Das heißt, es wird notwendig
Wenn wir aus der Krise etwas lernen            sein, den Gesundheitssektor finanziell ent-
möchten – was sind Punkte, wo wir unse-        sprechend auszugestalten. Und wir werden
ren Sozialstaat ausbauen oder nachschär-       neue Modelle brauchen, wie wir Menschen
fen sollten?                                   unterstützen.
Das Wichtigste ist, glaube ich, die Arbeits-       Ich glaube, man muss auch über die
losenversicherung. Das zeigt sich jetzt. Ar-   Mindestsicherung reden. Man hört, es
beitslosenversicherung und Notstandshilfe      werden viele Menschen in die Mindestsi-
ausbauen und nicht, wie vor allem von der      cherung fallen, und auch hier sollten Ver-
türkis-blauen Regierung angedacht, den         besserungen finanzieller Art gesetzt werden.
Bereich niederfahren. Das ist eigentlich das   Denn all das bringt Konsumnachfrage, und
Dringlichste neben den Gesundheitsmaß-         genau diese Nachfrage brauchen wir jetzt.
nahmen.                                                                                       & ONLINE
    Es fehlt wahnsinnig viel Geld. Die So-     Wir hören es ständig von der Politik und in    Das ausführliche Interview als Video
zialversicherungsbeiträge brechen ein, ers-    den Medien: Die Krise kostet wahnsinnig        finden Sie unter
tens sind sie großzügig gestundet worden,      viel Geld, weit mehr als die Wirtschafts-      www.arbeit-wirtschaft.at/interviews

                                                                   21
Sie können auch lesen