DISPUT - Partei DIE LINKE
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DISPUT ISSN 0948–2407 | 67485 Europa MITGLIEDER ZEITSCHRIF T DER PARTEI DIE LINKE MÄR Z 2 EURO Der Bonner Parteitag be- schloss am 23. Februar das Europawahlprogramm. Die Vertreterinnen- und Ver- treterversammlung wenig später die Wahlliste. 3 Flucht Kapitänin Pia Klemp arbeitet für »Sea Watch« und rettet im Mittelmeer ertrinkende Flüchtlinge. Auf dem Europa- parteitag der LINKEN hielt sie eine aufrüttelnde Rede. 14 Frauen Der Internationale Frauentag soll in diesem Jahr auch zu einem Frauen- streiktag werden. DISPUT sprach mit einer der Organisatorinnen. 18 Foto: Dirk Anhalt
INHALT liefen, blieben fair im Ton und orien- sogar eine Gefängnisstrafe droht. tiert an der Sache. Derzeit wird in der Der Vorsitzende der sächsischen Bundesgeschäftsstelle noch eifrig ge- LINKEN, Rico Gebhardt, macht in tippt, um die beschlossenen Ände- seinem Beitrag auf Seite 21 deut- rungen in den Entwurf einzuarbeiten. lich, warum eine »Ost-Quote« als Fakt ist: Wir haben ein gutes, kämp- Teil einer Länderquote sogar von ferisches Wahlprogramm und eine der Verfassung geboten ist. Für ausgewogene Wahlliste. Neben dem Gebhardt wäre die Quote auch ei- Parteitag bildet der Frauentag einen ne Frage der Wiedergutmachung zweiten Schwerpunkt in diesem Heft. durch Teilhabe. Insbesondere dem geplanten Frau- enstreik gilt das besondere Augen- Thomas Lohmeier ist Leiter der N un liegen sie hinter merk der Redaktion. Im Interview er- Bereichs Bürgerdialog, Medien und uns, die 2. Tagung des klärt die Mitbegründerin des Bünd- Öffentlichkeitsarbeit (BMÖ) in der 6. Parteitags und die nisses Frauenstreik, wie diese Streiks Bundesgeschäftsstelle der LINKEN Vertreterinnen- und in Deutschland aussehen sollen und in Berlin. Vertreterversamm- warum sie glaubt, dass die Aktionen lung. Der Einfachheit halber fir- den Beginn einer größeren Bewe- miert das Ereignis hier unter der gung markieren. Zudem dokumentiert Bezeichnung Bonner Europapartei- der DISPUT die Rede der Kapitänin DISPUT 03/2019 tag. Drei Tage lang diskutierten die Pia Klemp, die an Bord des Seenotret- Genossinnen und Genossen über tungsschiffs »Sea Watch 3« viele Ge- Programm und Wahlliste. Die Dis- flüchtete vor dem Ertrinken im Mittel- VOR-GELESEN VON kussionen, so hitzig sie auch ver- meer gerettet hat und der deswegen THOMAS -GELESEN VORLOHMEIER VON ??? DISPUT- SCHWERPUNK T FESTUNG EUROPA EUROPAPAR TEITAG Eine Seenotretterin klagt an 14 Bericht aus Bonn 3 FR AUENK ÄMPFE Europäische Vorreiterinnen 16 Das war der Parteitag 4 FR AUENSTREIK Katja Kipping: Warum am 8. März auf die Straße EU-Kritik ist progressiv 6 gehen 18 Gregor Gysi: FR AUENQUOTE Gegen nationale Egoismen 7 Brandenburgs Parité-Gesetz ist notwendig 20 Unsere Liste Kandidaten und Wahlergebnisse 8 JEDEN MONAT OST- QUOTE AUS DEM HAUS 5 Mehr Führungsjobs für Ostdeut- Unsere Spitze PRES SEDIENST 24 sche 22 Schirdewan und Demirel 10 DAS KLEINE BL ABL A 25 FEUILLE TON 27 GESCHICHTE Hinter den Kulissen NEU IM KINO 29 Noskes Berliner Blutbad 28 Der Orga-Chef erzählt 11 KULTUR 30 MÄR ZKOLUMNE 31 Bernd Riexinger: Die EU verändern 12 Foto: Dirk Anhalt IMPRESSUM DISPUT ist die Mitgliederzeitschrift der Partei DIE LINKE, herausgegeben vom Parteivorstand, und erscheint einmal monatlich über Neue Zeitungsverwaltung GmbH, Weydingerstraße 14–16, 10178 Berlin REDAKTION Fabian Lambeck, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin, Telefon: 030 24009510, disput@die-linke.de GRAFIK UND LAYOUT Thomas Herbell DRUCK EVERSFRANK BERLIN GmbH | Ballinstraße 15 | Postfach 470355 | 12359 Berlin ABOSERVICE Neues Deutschland, Druckerei und Verlag GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Telefon: (030) 29 78 18 00 ISSN 0948-2407 REDAKTIONSSCHLUSS HEFT 3: 1.3.2019. DISPUT 4/2019 erscheint am 28.3.2019. 2 DISPUT März 2019
EUROPAPARTEITAG Europa, wir kommen! In Bonn beschloss die LINKE ihr Europawahlprogramm und kürte die Spitzenkandidaten für den richtungsweisenden Urnengang im Mai VON SARAH MEYERS UND FABIAN LAMBECK ALLES IM RAHMEN Die 2. Tagung des 6. Parteitags und die Vertreterinnen- und Vertreterversammlung waren geprägt von Reden und Dis- kussionen, die trotz aller Ve- hemenz, mit der sie geführt und ausgetragen wurden, doch stets im Rahmen dessen blie- ben, was als lebendige Partei- kultur verstanden wird. Inso- fern war das lange Wochen- ende im Bonner World Con- ference Center am Ufer des Rheins ein voller Erfolg. Foto: Martin Heinlein D ie Sonne strahlt und das be- überlassen will, möchte Dennis Lan- diskutiert. So gibt es keine Mehrheit schauliche Bonn wirkt freund- der aus dem Saarland in erster Linie für den Antrag, die umstrittene For- lich. Doch der schöne Schein innenpolitisch gegen Armut kämp- mulierung wieder in den Text aufzu- trügt, denn es weht ein kalter Wind. fen. Roberto Hallop teilt mit Lucia nehmen. Ebenso wenig wie für den Auch der politische Wind hat sich ge- den Kampf gegen den Rechtsruck. Vorstoß des Forums Demokratischer dreht, ist rauer geworden – in Euro- Für ihn ist an diesem Wochenende ei- Sozialismus zur »Republik Europa«. pa und der Welt. Die Rechte ist auf ne ganz besondere Motivation aber, Trotz aller Diskussionen beschließen dem Vormarsch und die Linke, so dass er sich wie »ein kleines Zahnrad die rund 600 Delegierten am Sonn- scheint es zumindest, ist in der De- in einem großen Getriebe« fühlen abend mit großer Mehrheit das Pro- fensive. Unter diesen Vorzeichen ste- kann. Julian Theiß und Lena Binsack gramm für den Wahlkampf. hen der Parteitag und die Vertreterin- setzen auf die europäische Jugend. Nach kurzer Unterbrechung und nen- und Vertreterversammlung der Sie wollen ihre Zukunft nicht länger minimalem Personalwechsel beginnt LINKEN, die Europawahlprogramm in die Hände von anderen legen und die Vertreterinnen- und Vertreter- und Wahlliste beschließen sollen. Europa endlich mitgestalten. Dass versammlung. Die Genossinnen und »We are your friends, you’ll never be die LINKE immer jünger und weibli- Genossen folgen, zumindest was die alone again!« – »Wir sind Deine Freun- cher wird, sehen sie als klaren Vor- aussichtsreichsten ersten acht Listen- de, Du wirst nie mehr allein sein!«: teil. Nicht nur die Welt, auch die LIN- plätze betrifft, den Vorschlägen des Diese Liedzeilen hallen durch den KE befindet sich im Umbruch. Den Bundesausschusses, der bereits am Plenarsaal des Bonner World Con- Kampf für soziale Gerechtigkeit hat 17. November 2018 eine Vorschlags- ference Centers, der in Rot und fri- aber niemand aufgegeben. liste mit insgesamt 14 Kandidatinnen schem Pink erstrahlt. »Erkämpft das und Kandidaten erstellt hatte. Menschenrecht«, steht in großen Let- Großen Applaus für ihre Reden er- tern über der Bühne. Es klingt wie ei- Großer Applaus halten nicht nur die Parteivorsitzen- ne Aufforderung und gleichzeitig wie für Klemp den Katja Kipping und Bernd Riexin- ein Versprechen. Die Farben und das ger, EL-Präsident Gregor Gysi oder Licht im Saal vermitteln eine kämpfe- Bereits im Vorfeld hatte der Partei- Fraktionschef Dietmar Bartsch, son- rische Aufbruchsstimmung. Die Dele- vorstand aus der Einleitung des Pro- dern auch Pia Klemp, die als Kapi- giertenschar in der Halle ist bunt ge- grammentwurfs die Formulierung tänin für die Seenotretter von Sea- mischt: Während Lucia Schnell aus gestrichen, wonach die Grundlagen Watch arbeitet. Ihre bewegende Rede Berlin auf internationale Solidarität der EU »militaristisch, neoliberal steht unter dem Motto: Europa darf setzt und dabei Europa, ebenso wie und undemokratisch« seien. Trotz- keine Festung sein und Menschen- Europa-Kritik, nicht den Rechten dem wird in Bonn leidenschaftlich rechte sind unteilbar! DISPUT März 2019 3
EUROPAPARTEITAG E waren nicht Es Nena nas »99 Lu nas na L ftballon nss««, die da durch den e Saal de d s Bonnner WC CC CB flogen. Aber als ls auflocke kernde ke d s Elem menent funktionier- fuu teen di die roten Bälle mi die mitt de d m LINK KE- E- Logo alllleemal. Für manche war Lo ar es auch ar ein ei n Abschi h ed hi e , ettwa wa für Gabi Zimm mererr,, die bish her e ige Vorsitzeend nd deer GU nde GUE/ / NGL-Fr Frrak a tion on (unten link on nkks) n s). Ge Geeint nt zeeiggte zeig tenn siich c Frar kt kttiio ions ns-- unund d Paart P rtei e fü ei führ hrun hr ungg in Bon un onn n ( nt (un en recht hts) s).. Fotos: Martin Heinlein, Dirk Anhalt 4 DISPUT März 2019
AUS DEM HAUS D iese Ausgabe des DISPUT der Figuren auf dem Tisch in der Hand erscheint nach einem lan- halten? Das sind wir. Da ist DIE LINKE. gen, anregenden und for- In Kürze: Wir kämpfen für ein Europa, dernden Wochenende, an in dem die Interessen der Menschen dem wir uns auf dem Euro- über den Profitinteressen stehen. Was paparteitag in Bonn intensiv mit Perso- wir mit Europa vorhaben? Es den Men- nal-, Sach- und Detailfragen beschäf- schen zurückgeben! tigt haben. Auf dieser Grundlage können wir dann Nachdem jetzt unser Programm und über die Details unserer Reformpolitik die Liste stehen, möchte ich Euch ein- auf EU-Ebene reden. laden, den Blick auf etwas Grund- Deutlich mehr als ein Detail ist sätzliches zu lenken: Die große Fra- JÖRG SCHINDLER das Engagement der LINKEN im ge, warum uns Menschen eigent- Frauen*streik am 8. März. Noch im- lich wählen. Nicht die Fachleute und mer werden vorwiegend Frauen um- Aktivist*innen, die gründlich die Pro- fassend und selbstverständlich für Tä- grammpassagen und Wahlprüfsteine Eine tigkeiten im »Care-Bereich«, also z.B. der verschiedenen Parteien verglei- Erziehungs-, Haushalts- und Pflegear- chen. Nicht die Insider*innen, die sich klare beit eingespannt, erhalten dafür aber ausführlich informieren, wofür unse- Antwort weder angemessenen Respekt noch re Kandidat*innen persönlich stehen. angemessene Bezahlung. Dazu sagen Sondern die große Mehrheit. Frauen in aller Welt: »Wir lassen uns Und diese Frage stellt sich in Euro- das nicht länger gefallen! Wir streiken!« pa anders als auf nationaler Ebene. In Wir LINKEN setzen passend zu unse- Deutschland ist den Menschen klar: heit der Menschen von uns in diesem rer Kampagne einen Schwerpunkt zum DIE LINKE steht für soziale Gerech- Wahlkampf mitbekommen wird. Bereich Pflege. Und das verspricht ein tigkeit. Wir sind die glaubwürdigsten Um hier durchzudringen und gut posi- voller Erfolg zu werden. Die Beteili- Vertreter*innen eines sozialen Gegen- tioniert zu sein, brauchen wir eine ein- gung an Aktionen in den Kreisverbän- entwurfs. Für Europa müssen wir die- fache, klare und eindeutige Antwort. den wird das vorige Jahr noch über- se Erzählung in neue Begriffe über- Eine Losung, die zutreffend, aber auch treffen – zum Redaktionsschluss sind setzen. Denn, was »Soziale Gerechtig- auf Anhieb verständlich ist. Die wir bis 549 Aktionen in ca. 171 Kreisverbän- keit« aus linker Sicht auf europäischer zum 26. Mai tausende Male in allen Zu- den gemeldet. Das zeigt zweierlei: Die Ebene bedeutet, ist den Wähler*innen sammenhängen wiederholen können, Pflegekampagne hat in unserer Par- viel weniger deutlich. Der gesellschaft- bis jede*r unserer Wähler*innen weiß, tei kein bisschen an Fahrt verloren und liche Diskurs schwankt hier zwischen wofür wir in Europa stehen. die Kampagnenfähigkeit unserer Partei »seid ihr für Europa (mit all seinen sozi- Ich schlage dazu die folgende kurze Er- wächst Jahr für Jahr. Grund genug, um alen Zumutungen)? oder gegen Europa zählung vor: mit Optimismus in die Wahlkämpfe die- (und wie wollt ihr dann etwas Soziales Die Reichen und Mächtigen und ihre ses Jahres zu gehen. erreichen, wenn ihr den Laden doch Lobbyist*innen zocken um Europa. Sie eh komplett abschaffen wollt)?«. Nicht wollen die EU nach ihren Interessen Jörg Schindler ist Bundesgeschäfts- umsonst sind unsere Ergebnisse auf formen und Parteien, die unkritisch führer der LINKEN europäischer Ebene bislang spürbar »für Europa« sind, spielen dabei mit. unter denen auf Bundesebene. Rechtspopulist*innen wollen den Spiel- Diese Frage wahlwirksam zu beantwor- tisch umwerfen. Aber was dabei her- Fotos: Mark Mühlhaus/attenzione, ten, ist eine Aufgabe, die auch das bes- auskommt, wenn sich rechte Rowdys DIE LINKE te Programm nicht erfüllen kann. Denn mit geprellten Zockern um die Trüm- ein Programm ist notwendigerweise mer streiten, kann man sich vorstellen. ausführlich und komplex. Es ist ange- Aber was, wenn die Spielfiguren füllt mit Antworten auf Detailfragen für selbst vom Tisch aufstehen und den die Insider*innen, Aktivist*innen und Spieler*innen die Würfel aus der Hand Fachleute. Auch ein Nachschlagewerk nehmen? Wenn sie die Regeln in Fra- für die Genoss*innen am Infostand ge stellen und neue Wege der Vertei- und die Aktiven beim Haustürwahl- lung der Einsätze vereinbaren? Sehen kampf. Aber nicht das, was die Mehr- Sie die kleinen roten Fahnen, die einige DISPUT März 2019
EUROPAPARTEITAG Liebeserklärung an Europa KATJA KIPPING will Kritik nicht den EU-Feinden überlassen W er heutzutage so etwas sagt diesem Kontinent. Es sind vielmehr u.a. mit den Daten, die wir dort täg- wie: Europa muss sozial die Kräfte der Solidarität, die Mut lich einspeisen. Aber dann drücken werden oder es scheitert, machen auf ein anderes Europa. So sie sich mit Tricks vor ordentlichen wird schnell als Europafeind abge- retten engagierte Aktivistinnen und Steuern. Ich sage deshalb: Wer Euro- stempelt. Ich frage deshalb: Was ist Aktivisten z. B. von »Seawatch« Flüch- pa wirklich will, muss die Konzerne die größere Liebeserklärung an Eu- tende vorm Ertrinken. Fortschrittli- an die Kandare nehmen und gerecht ropa? Sich kritisch mit Fehlern aus- che Stadtregierungen, darunter Ber- besteuern! Veränderung beginnt vor einandersetzen oder über alle Fehler lin, haben ein Netzwerk der solidari- Ort. Dass die Öffentliche Hand durch- hinwegzusehen? Ich meine, auf ei- schen Städte gegründet, um sich für aus etwas tun kann für Steuergerech- ne andere EU hinzuarbeiten, ist die die Aufnahme der Geretteten ein- tigkeit, hat DIE LINKE hier in Bonn größere Liebeserklärung an Europa zusetzen. Sie beweisen, es ist nicht bewiesen. Sie hat durchgesetzt, dass als zuzulassen, dass die EU so bleibt, egal, wer regiert. Ein anderes Euro- die Stadt zwei Betriebsprüfer ein- wie sie ist. Denn der jetzige Zustand pa ist möglich, wenn in Rathäusern stellt. Im Ergebnis sind die Einnah- der EU spielt den Rechten und den und Parlamenten andere Mehrhei- men bei der Gewerbesteuer gestiegen Marktradikalen in die Hände. Und ten herrschen und wenn sich deren (650.000 Euro in 2017). Liebe Bonner das dürfen wir nicht zulassen. In ei- Arbeit verbindet mit dem Einsatz LINKE, ihr habt im Kleinen bewiesen: nem darf es bei unser Kritik jedoch der Vielen, die schon in Bewegung Die Öffentliche Hand ist nicht wehr- los gegenüber Unternehmen, die bei der Steuer tricksen! Das ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt, DIE LINKE macht in den Kommunen den Unterschied. Lasst uns das auch bei den Kommunalwahlen immer wieder deutlich machen. Veränderung be- ginnt vor Ort! Und DIE LINKE macht den Unterschied! Wer Rechts verhindern will, muss Links wählen! Das gilt auch für die drei ostdeutschen Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thü- ringen. Was haben Ostdeutsche und Frauen bundesweit gemeinsam? Sie müssen im Durchschnitt deutlich länger arbeiten, um auf das gleiche Einkommen zu kommen, wie ein männlicher westdeutscher Beschäf- tigter. Ein Ostdeutscher muss im Durchschnitt 38 Tage im Jahr länger schuften, um das gleiche Einkom- Foto: Martin Heinlein men zu erarbeiten. 30 Jahre nach dem Mauerfall muss diese soziale keinerlei Zweideutigkeit geben: Wir sind. Wenn die nationalen Regierun- Mauer fallen. Gleiche Löhne in Ost wollen kein Auseinanderbrechen gen es nicht wollen, dann fangen die und West sind auch eine Frage des der EU. Wenn wir die konkrete EU- fortschrittlichen Städte an, so gut sie Respekts! Respekt – dabei geht es Politik kritisieren, dann niemals mit eben können. Und dass sie anfangen, auch um die Art, wie über ostdeut- dem Ziel, dass es zurück in das Ne- ist großartig. Ein Dank nach Neapel, sche Erfahrungen gesprochen wird. beneinanderher von Nationalstaaten nach Barcelona und nach Berlin. So 30 Jahre nach dem Mauerfall ist es geht. Als Sozialistinnen und Sozialis- geht Regieren in Bewegung! So geht überfällig, dass die Ignoranz gegen- ten wollen wir kein Zurück in die Ver- Europa solidarisch und von unten! über ostdeutschen Erfahrungen ab- gangenheit. Vielmehr kämpfen wir Konzerne wie Google und Ama- gelegt wird und der Bereitschaft um eine bessere Zukunft. zon lachen sich ins Fäustchen an- weicht, auch mal anzuhören. Res- Rechte wie Neoliberale haben gesichts der Handlungsunfähigkeit pekt für den Osten – dafür stehen nichts zu bieten für die Zukunft auf der EU. Sie machen riesige Profite wir, DIE LINKE. 6 DISPUT März 2019
Die EU als Chance GREGOR GYSI wandte sich in seiner Rede gegen nationale Egoismen W as setzen wir gegen den na- tionalen Egoismus? Eine neue Solidarität. Denn die soziale Frage ist eine globale Frage geworden. Die großen Konzerne und die großen Banken haben eine Welt- wirtschaft begründet. Und sie sind ja auch froh. Es gibt ja keine funktio- nierende Weltpolitik, die sie regulie- ren kann. Umso besser. So können sie machen, was sie wollen. Dort, wo sie Schäden anrichten, sind wir ja alle da – die Steuerzahlerinnen und Steu- erzahler – und bezahlen das. Das fin- den sie natürlich auch toll. Aber sie haben zwei Dinge mit angerichtet, auf die sie nicht gekommen sind: Wir haben doch in Europa so gelebt wie wir in Europa gelebt haben, weil vie- le Menschen in Afrika gar nicht ge- wusst haben, wie wir leben. Sein wir doch mal ehrlich. Nun haben sie aber das Handy erfunden und das Inter- Foto: Martin Heinlein net. Und nun gibt es den weltwei- ten Lebensstandardvergleich. Das Interessen der Mehrheit der Bevölke- wenn es sie überhaupt gibt, gibt es ist neu. Die soziale Frage war immer rung durchzusetzen. sie nur in der Politik, nicht aber auf schon auch eine internationale. Aber Der Kapitalismus hat nach dem den Finanzmärkten. Deshalb müssen sie war vornehmlich eine nationa- Ende des Staatssozialismus, nach nicht die Finanzmärkte entscheiden le. Und deshalb sage ich: Wer denn dem Ende des Kalten Krieges kei- was die Politik macht, sondern die sonst, wenn nicht wir LINKEN, müs- nen Grund mehr, besonders sozial Politik entscheiden, was auf den Fi- sen auf die soziale Frage der Mensch- zu sein. Die Agenda 2010, prekäre nanzmärkten erlaubt ist. So herum heit eine Antwort suchen, finden und Beschäftigung, Niedriglohnsektor… muss es laufen! geben? Das ist unsere Aufgabe! Ich Wir haben den größten Niedriglohn- Gerade weil die Rechte national sage also, dass diese Frage, die sozia- sektor in Deutschland im Vergleich und europäisch an dieser neoliberalen le Frage, neben dem Klimawandel die zu den anderen Ländern der Europä- Zerstörung der Demokratie anknüpft neue Herausforderung des 21. Jahr- ischen Union. Das alles ist Ergebnis und demokratische Strukturen und hunderts ist. Wer, wenn nicht wir! davon und wurde übrigens von SPD Grundrechte direkt angreift, müssen Die anderen Parteien können doch und Grünen beschlossen. Jahrzehnte wir auch auf europäischer Ebene da- über ihre Obergrenzen Debatten füh- des Neoliberalismus haben wir hin- gegenhalten. DIE LINKE muss das Ge- ren, solange sie wollen. Das ist nicht ter uns. Schon 1996, mehr als 10 Jah- genüber zum Rechtspopulismus und unsere Aufgabe. Wir müssen die Ur- re vor der Finanzkrise, sagte der da- zum Rechtsextremismus sein und sachen der Fluchtbewegung und die malige Bundesbankpräsident Tiet- bleiben! Deshalb kämpfen wir für ein notwendigen Schritte dagegen be- meyer in Davos, er habe bisweilen Europa und für eine EU mit sozialer nennen und eben die soziale Frage den Eindruck, »dass sich die meisten Gerechtigkeit, Frieden, Demokratie für unsere Gesellschaft, aber auch Politiker immer noch nicht im Kla- und Freiheit. Und dann können wir für Europa und die Menschheit be- ren sind, wie sehr sie bereits heute die EU nicht als notwendiges Übel se- antworten! Im Kern geht es neben unter der Kontrolle der Finanzmärk- hen, sondern müssen sie als Chance der Friedensfrage darum, ob die De- te stehen und sogar von diesen be- begreifen, Veränderungen gemeinsam mokratie weiter marktkonform zu- herrscht werden«. Er meinte das al- mit anderen Linken und auch darüber gerichtet und damit in ihrem Wesen lerdings nicht kritisch, sondern be- hinaus in Europa zu erkämpfen! Wir zerstört wird, oder ob wir auf demo- stätigend. Wir sollten das kritisch können und müssen die Menschen für kratischem Wege Märkten und Kapi- sehen. Wir brauchen wieder eine Pri- unseren Weg in ein linkes Europa be- tal Regeln festsetzen können, um die orität der Politik, denn Demokratie, geistern. DISPUT März 2019 7
EUROPAPARTEITAG Unser Team Europa Die Wahlergebnisse der Vertreterinnen- und Vertreterversammlung im Überblick Listenplatz 1 und 2 – Scholz, Helmut: 276 Stimmen (58,2 Prozent) Spitzenkandidat und Spitzenkandidatin Gewählt: Helmut Scholz 475 abgegebene Stimmen, 35 Enthaltungen, 2 ungültige Stimmen Listenplatz 5 Martin Schirdewan: 391 Stimmen (82,3 Prozent) 458 abgegebene Stimmen, 10 Enthaltungen Tavassoli Bijan: 47 Stimmen (9,9 Prozent) Benda, Judith: 100 Stimmen (21,8 Prozent) Gewählt: Martin Schirdewan Michels, Martina: 216 Stimmen (47,1 Prozent) 474 abgegebene Stimmen, 27 Enthaltungen Scheringer-Wright, Johanna: 79 Stimmen (17,2 Prozent) 400 Ja-Stimmen (84,4 Prozent), 47 Nein-Stimmen (9,9 Steffgen, Susanne: 53 Stimmen (11,5 Prozent) Prozent) Stichwahl Gewählt: Özlem Alev Demirel ohne Gegenkandidatin 417 abgegebene Stimmen, 14 Enthaltungen Benda, Judith: 153 Stimmen (36,7 Prozent) Listenplatz 3 Michels, Martina: 250 Stimmen (59,9 Prozent) 474 abgegebene Stimmen, 473 gültige Stimmen, Gewählt: Martina Michels 1 ungültige Stimme, 35 Enthaltungen 383 Ja-Stimmen (80,8 Prozent), 55 Nein-Stimmen Listenplatz 6 (11,6 Prozent) 464 abgegebene Stimmen, 1 Enthaltung Gewählt: Cornelia Ernst ohne Gegenkandidatin Al-Dailami, Ali: 244 Stimmen (52,6 Prozent) Atalan, Aziz: 3 Stimmen (0,7 Prozent) Listenplatz 4 Erhardt, Michael: 96 Stimmen (20,7 Prozent) 467 abgegebene Stimmen, 5 Enthaltungen Hansen, Kevin-Christopher: 3 Stimmen (0,7 Prozent) Aggelidis, Michael: 69 Stimmen (14,6 Prozent) Ostendarp, Herbert: 4 Stimmen (0,8 Prozent) Erhardt, Michael: 114 Stimmen (24,1 Prozent) Petzold, Harald: 76 Stimmen (16,4 Prozent) Moritz, Werner: 6 Stimmen (1,3 Prozent) Yilmaz, Murat: 35 Stimmen (7,5 Prozent) Nitzler, Wolfgang: 2 Stimmen (0,4 Prozent) Gewählt: Ali Al-Dailami Foto: Martin Heinlein 8 DISPUT März 2019
Foto: Dirk Anhalt Listenplatz 7 Listenplatz 10 442 abgegebene Stimmen, 34 Enthaltungen, 433 abgegebene Stimmen, 15 Enthaltungen 1 ungültige Stimme Dolzer, Martin: 74 Stimmen (17,1 Prozent) Haydt, Claudia: 318 Stimmen (71,9 Prozent) Gottschall, Heiko: 92 Stimmen (21,3 Prozent) Steffgen, Susanne: 89 Stimmen (20,1 Prozent) Neumann, Jens: 86 Stimmen (19,9 Prozent) Gewählt: Claudia Haydt Reimers, Maximilian: 55 Stimmen (12,7 Prozent) Yilmaz, Murat: 111 Stimmen (25,6 Prozent) Listenplatz 8 Stichwahl 441 abgegebene Stimmen, 32 Enthaltungen 435 abgegebene Stimmen, 10 Enthaltungen, 374 Ja-Stimmen (84,8 Prozent), 35 Nein-Stimmen 1 ungültige Stimme (7,9 Prozent) Gottschall, Heiko: 172 Stimmen (40,5 Prozent) Gewählt: Malte Fiedler ohne Gegenkandidaten Yilmaz, Murat: 214 Stimmen (50,4 Prozent) Gewählt: Murat Yilmaz Listenplatz 9 432 abgegebene Stimmen, 9 Enthaltungen Listenplätze 11 bis 20 Benda, Judith: 143 Stimmen (33,1 Prozent) Auf der Frauenliste gewählt: Kolter, Marianne: 151 Stimmen 34,9 Prozent) Listenplatz 11: Sarah Mirow Scheringer-Wright, Johanna: 76 Stimmen (17,6 Prozent) Listenplatz 13: Heidi Scharf Steffgen, Susanne: 53 Stimmen (12,2 Prozent) Listenplatz 15: Kathrin Flach Gomez Stichwahl Listenplatz 17: Anna-Maria Dürr 435 abgegebene Stimmen, 10 Enthaltungen, Listenplatz 19: Susanne Steffgen 1 ungültige Stimme Auf der gemischten Liste gewählt: Benda, Judith: 181 Stimmen (41,6 Prozent) Listenplatz 12: Keith Barlow Kolter, Marianne: 242 Stimmen (55,6 Prozent) Listenplatz 14: Hannes Nehls Gewählt: Marianne Kolter Listenplatz 16: Fotis Matentzoglou Listenplatz 18: David Schwarzendahl Listenplatz 20: Florian Wilde DISPUT März 2019 9
EUROPAPARTEITAG »Europa geht nur solidarisch« Aus den Bewerbungsreden der beiden in Bonn gewählten Spitzenkandidaten MARTIN SCHIRDEWAN und ÖZLEM DEMIREL MARTIN SCHIRDEWAN Der promovierte Politikwissen- schaftler wurde 1975 in Ber- lin (Ost) geboren. Seit Novem- ber 2017 ist er als Abgeordne- ter im Europäischen Parlament zuständig für Wirtschafts- und Währungsfragen sowie stell- vertretendes Mitglied im Aus- schuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz. Wir wissen, dass die soziale Ungleich- heit in der EU in den letzten Jahren drastisch zugenommen hat. Die Ju- Foto: Martin Heinlein gendarbeitslosigkeit im Süden Euro- pas beträgt noch immer 30 Prozent. gleichheit immer weiter vergrößert. tiert haben, als überzeugte Europä- Ein Fünftel der Älteren ist von Al- Denn wir wissen: Europa geht nur so- er gefeiert werden. Nein, wir spie- tersarmut betroffen oder bedroht. lidarisch. len dieses Spiel nicht mit. Uns geht Und seitdem Angela Merkel Kanzle- es um reale Verbesserung nicht um rin ist, hat sich allein in Deutschland abstrakte Symbole. Europa - das die Zahl der Kinder in Armut auf ist für mich die Seebrückenbewe- der einen Seite und die der Vermö- ÖZLEM DEMIREL gung. Europa sind die Kolleginnen gensmillionäre auf der anderen Sei- und Kollegen bei Amazon, bei Ry- te verdoppelt. Die Armut der einen an Air, die über nationale Grenzen ist der Reichtum der anderen. Geän- Kam als Tochter einer politi- hinweg streiken. Europa das sind dert werden kann das nur durch ei- schen Flüchtlingsfamilie 1989 Mieter*innenbewegungen hier, in nen grundlegenden Politikwechsel aus der Türkei nach Deutsch- Spanien und in anderen Ländern auf europäischer Ebene. Und genau land. Die ver.di-Gewerkschafts- EU. Das Europa, für das ich stehe, ist dafür braucht es eine starke Linke im sekretärin war Parlamentari- das Europa der Millionen, nicht der Europäischen Parlament. Alle, die in sche Geschäftsführerin der Konzerne. Liebe Genossinnen und Europa leben, haben doch das Recht NRW-Landtagsfraktion DIE LIN- Genossen, in unserer Kritik geht es darauf, ein Leben frei von Armut und KE sowie Bundesvorsitzende um nicht weniger als um eine Wirt- Existenznot zu führen. Jede Europäe- der DIDF (Föderation demokra- schafts- und Politikordnung, welche rin und jeder Europäer hat das Recht tischer Arbeitervereine e.V.). permanente Ungerechtigkeiten pro- darauf, ein gutes Leben zu führen. duziert. Deshalb lasst uns diesen Aber dieses Recht muss jeden Tag Wahlkampf zu einem Wahlkampf wieder erkämpft werden. Deshalb für Gerechtigkeit machen. Zu einem fordern wir armutsfeste Mindestlöh- Wahlkampf für soziale Errungen- ne und eine europäische Arbeitslo- Sind sie für oder gegen Europa? Sind schaften, für Menschenrechte und senversicherung. Und deshalb strei- sie Europäerin? Bekennen sie sich für Frieden. Wir akzeptieren nicht, ten wir gemeinsam mit den Gewerk- zur EU? Das sind ernsthaft Fragen, dass die EU Menschen im Mittelmeer schaften für gute Arbeit in Europa. die mir gestellt werden. Mir! Wäh- ertrinken lässt, dass die Schere zwi- Für diesen radikalen Kurswechsel in rend ein Herr Schäuble oder eine schen Arm und Reich weiter ausei- der europäischen Politik braucht es Frau Merkel, die Griechenland er- nanderdriftet und dass unsere Um- einen Bruch mit der falschen Spar- presst haben, die anderen Ländern welt nachhaltig zerstört wird für die und Kürzungspolitik, die die Un- eine brutale Kürzungspolitik auf dik- Profitinteressen einiger weniger! 10 DISPUT März 2019
EUROPA Wir sind Teil der Bewegung Die EU muss verändert werden, damit sie den Menschen und nicht nur den Konzernen dient VON BERND RIEXINGER die Unabhängigkeit gegenüber den USA zu vergrößern, die neoliberale Ausrichtung der EU zu verstärken. Merkels Mantra von Wohlstand und Sicherheit durch mehr Wettbewerbs- fähigkeit steht in scharfem Kontrast zur Realität. So wurde in den letzten Jahrzehn- ten gezielt eine staatliche Ebene ge- schaffen, zu der die Lohnabhängigen, ihre Gewerkschaften und linke Par- teien nur schwer Zugang haben, so- lange sie national organisiert bleiben. Über diese Ebene der europäischen Institutionen wurde und wird die de- mokratische Einflussnahme auf wirt- schaftlichen Rahmenbedingungen Foto: Martin Heinlein ausgehebelt. Der Druck auf Löhne, Sozialstandards und die öffentliche D ass die Politik der Europäi- gungen, die machtvoll über Länder- Daseinsvorsorge bleibt fest veran- schen Union (EU) seit Jahr- grenzen hinweg mobilisieren und kert im europäischen Institutionen- zehnten neoliberal geprägt ist, Druck erzeugen können. gefüge und den ihr zugrunde liegen- entspringt keinem Naturgesetz, son- Im Vorfeld der Europawahlen ver- den Verträgen. dern resultiert aus verfestigten Kräf- suchen erneut einige Medien, die po- Dafür gibt es viele Beispiele, drei teverhältnissen, etwa zwischen Kapi- litischen Positionen der Parteien zu stechen beispielhaft hervor: Die tal und Arbeit und zwischen den ein- sortieren anhand der simplen Frage: Macht und die Funktionsweise der zelnen Mitgliedsstaaten. Aufgrund Bis du für oder gegen die EU? Diese EU-Kommission begünstigt die politi- dieser Kräfteverhältnisse sind die schablonenhafte Verkürzung spielt sche Einflussnahme durch Großkon- Verträge und Institutionen der EU da- den bürgerlichen Parteien in Hände, zerne, die Europäische Zentralbank rauf ausgerichtet, die weltweit wett- weil sie eine Debatte darüber verhin- (EZB) handelt jenseits wirksamer de- bewerbsfähigste Region zu schaffen – dert, wie die EU verändert werden mokratischer Einflussnahme und im in globaler Konkurrenz mit den USA muss, damit sie den Menschen und Fiskalpakt wurden mittels Schulden- und China. Von der neoliberalen Ver- nicht nur den Unternehmen dient. bremsen die Gestaltungsmöglichkei- fasstheit der EU profitieren in erster Schließlich ist die EU heute sozial ten nationaler und regionaler Parla- Linie hiesige Großkonzerne und Ban- und wirtschaftlich so tief gespalten mente beschnitten. Geändert wer- ken, die Interessen der Mehrheit der wie noch nie seit ihrer Gründung – den kann diese Ausrichtung nur Bevölkerung werden hingegen durch ein Nährboden, auf dem bislang vor durch gezielten Vertragsbruch oder sie verletzt. Mit dieser EU wird DIE allem rechtspopulistische und rechts- durch andere Mehrheitsverhältnis- LINKE keinen Frieden machen. Doch extreme Parteien wachsen. se in allen Mitgliedsstaaten der EU. auch eine Rückkehr zum National- SPD und Grüne inszenieren sich Hinzu kommt, dass die neoliberale staat, wie von der extremen Rechten als konsequent pro-europäische Par- Konstruktion der Eurozone bewirkt, propagiert, bietet den Lohnabhän- teien. Tatsächlich aber schlagen sie dass unter dem Druck zur Steigerung gigen keine Lösung; sie bleiben den nur kosmetische Korrekturen an der der Wettbewerbsfähigkeit vor allem Widrigkeiten der globalen Standort- Ausrichtung der EU vor. Das greift zu schwächere Volkswirtschaften lei- konkurrenz ausgesetzt. Ein sozialer kurz, denn soziale Gerechtigkeit und den, während die deutsche Exportin- und demokratischer Neustart der EU wirksamer Klimaschutz sind nur zu dustrie davon profitiert. ist notwendig. Voraussetzung hier- verwirklichen, wenn die EU grundle- Angesichts der herrschenden für ist eine grundlegende Verände- gend verändert wird. CDU und CSU, Kräfteverhältnisse, die gegenwär- rung der Kräfteverhältnisse: einer- angeführt von Bundeskanzlerin An- tig grundlegenden Veränderungen seits durch linke Regierungen in den gela Merkel, benutzen die Abgren- entgegenstehen, stellen sich für DIE mächtigen Ländern wie Deutschland zung von der gefährlichen Politik des LINKE zwei Aufgaben. Zum einen set- und Frankreich, andererseits durch US-amerikanischen Präsidenten Do- zen wir uns für jede konkrete Verbes- Gewerkschaften und soziale Bewe- nald Trump, um mit dem Argument, serung auf europäischer Ebene ein, 12 DISPUT März 2019
die der Mehrheit der Bevölkerung steuert werden, ist eine Gerechtig- Europas Städten. Wir werben für ei- nutzt. Wir schlagen vor, dass europä- keitswende finanzierbar. Wir kämp- nen umfassenden ökologischen Um- ische Mindeststeuersätze für Super- fen für mehr Geld für Bildung, Pflege bau der Industrie, inklusive Arbeits- reiche und Unternehmen eingeführt und bezahlbares Wohnen. Wir setzen zeitverkürzung und Einkommensga- werden, um den Betrug an der All- uns ein für Abrüstung und Diploma- rantien für die Beschäftigten. gemeinheit durch Steuerdumping zu tie; eine europäische Armee ist das Hoffnung auf ein soziales Euro- unterbinden. Wir plädieren für mas- Gegenteil von europäischer Friedens- pa speist sich aus den europäischen sive Investitionen in Klimaschutz politik. Streiks der jüngeren Vergangen- und gute Arbeitsplätze als Alternati- Mit unserem Sofortprogramm heit, bei Ryanair und Amazon. Hoff- ve zur neoliberalen Kürzungspolitik. für Klimagerechtigkeit bringen wir nung auf ein gerechtes Europa resul- Und wir fordern, dass die EZB in Zu- wirksamen Klimaschutz und sozia- tiert aus den vielfältigen Initiativen kunft den sozial-ökologischen Umbau le Gerechtigkeit zusammen. Notwen- für bezahlbare Mieten und der Soli- der Wirtschaft und das Ziel der Voll- dig sind umfangreiche Investitionen daritätsbewegung mit Geflüchteten. beschäftigung fördert statt die Wett- in die Energie- und Mobilitätswende, Hoffnung auf ein ökologisches Eu- bewerbsfähigkeit zugunsten der Kon- in regionale Wirtschaftskreisläufe ropa machen die Schülerinnen und zerne. und in den sozial-ökologischen Woh- Schüler, die für Klimaschutz strei- Zum anderen setzen wir uns – nungsbau. Statt die Abhängigkeit ken. DIE LINKE geht mit einer klaren auch außerhalb der Parlamente – ein vom Automobil zu verfestigen, setzen Botschaft in diesen Wahlkampf: Wir für radikale Reformen der EU. Ein wir uns ein für bezahlbare Bahnprei- sind Teil der Bewegung für ein besse- neuer Verfassungsprozess zur Demo- se und kostenfreien Nahverkehr in res Europa. kratisierung der EU ist notwendig, Foto: Dirk Anhalt damit soziale Rechte Vorrang vor der Freiheit des Marktes bekommen, Konzerne demokratisch kontrolliert und das Europäische Parlament zum eigentlichen Gesetzgeber wird. Erfolgreiche linke Politik muss an die Alltagserfahrungen der Men- schen anknüpfen. Einer Befragung der Hans- Böckler-Stiftung zufolge sehen nur 14 Prozent der Menschen in Deutschland die Mitgliedschaft in der EU negativ. Etwa ein Drittel der Geringverdienenden ist der Meinung, dass in der EU die Nachteile die Vor- teile überwiegen. Eine Mehrheit von 83 Prozent der Bevölkerung befür- wortet eine Vertiefung der europä- ischen Zusammenarbeit. Zugleich gibt es starke Kritik daran, wie die EU handelt. Eine Mehrheit der Men- schen erwartet, dass die EU den Frie- den in Europa sichert, Konzerne stär- ker besteuert, die Rechte der Be- schäftigten stärkt, Armut bekämpft und mehr für Klimaschutz tut. An diese Erwartungen an ein bes- seres Europa werden wir im Wahl- kampf anknüpfen. Wir fordern höhe- re Steuern für Konzerne und Reiche und höhere Löhne und soziale Absi- cherung für alle. Nur wenn Superrei- che und Konzerne angemessen be- DISPUT März 2019 13
SEENOTRE T TUNG Die Würde Europas ertrinkt Wenn Menschenrechte nicht universell und unveräußerlich für alle gelten, dann gelten sie für niemanden VON PIA KLEMP Foto: Dirk Anhalt L iebe Menschenrechtsfunda- schiffes »Iuventa« im Mittelmeer. zweijährigen toten Jungen in der Tief- mentalistinnen und Menschen- Ich war auch dabei, als es im August kühltruhe in internationalen Gewäs- rechtsfundamentalisten, vielen 2017 unter fadenscheinigen Grün- sern auf und ab, weil kein europäi- Dank, dass ich hier heute sprechen den in Italien beschlagnahmt wur- sches Land ihn retten wollte, als es darf. Ich hätte mich sehr gefreut, de, wo es seitdem an der Kette liegt. noch möglich war und sie uns dann wenn ich hier auf Eurem Europapar- Ein Schiff, mit dem allein über 14.000 einen Hafen verwehrten. Seine Mut- teitag sagen könnte, es geht nur um Menschen in Seenot das Leben geret- ter war auch bei uns an Board – le- Europa, um die sogenannten euro- tet wurde. Als Kapitänin der »Sea- bendig. Was sage ich einer traumati- päischen Werte und all das. Es geht Watch« fuhr ich weitere Rettungsein- sierten Frau, deren Kind da in mei- mir leider auch nicht darum, dass ich sätze, sah nicht nur Menschen elen- nem Gefrierschrank liegt über den und andere freiwillige Seeleute mög- dig ertrinken, sondern auch alltäg- Friedensnobelpreisträger EU. Die licherweise für bis zu 20 Jahre in Eu- lich Menschenrechtsverletzungen im Europäische Union setzt seit Jahren ropa ins Gefängnis müssen, weil wir Mittelmeer. Wir wurden Zeugen da- auf Migrationsabwehr. Sie lässt Men- uns strikt an internationales Recht von, was Frauen, Männer und Kin- schen wissentlich ertrinken, macht gehalten haben. Es ist viel schlimmer. der auf sich nehmen müssen, wenn Flüchtende und Migrantinnen und Es geht um einen Grundsatz, der gera- ihnen sichere Einreisewege verwehrt Migranten zu Illegalen, finanziert li- de in diesem Land 74 Jahre nach der werden, davon, wie Flüchtlingsboote bysche Milizen, die in unserem Na- Befreiung von Auschwitz und 70 Jah- von europäischen Kriegsschiffen ig- men Menschen in Internierungslager re nach der Verabschiedung der all- noriert werden und libysche Milizen verschleppen, in denen ihnen Depor- gemeinen Erklärung der Menschen- brutal Menschen entführen. tation, Vergewaltigung, Folter oder rechte nicht zur Debatte stehen dürf- Wir bergen Flüchtende von seeun- der Tod drohen. So sehen die Reali- te. Es geht darum, dass jedes Men- tauglichen, überfüllten Schrottboo- tät und die Normalität europäischer schenleben gleich viel wert ist. ten und nehmen sie auf. Manchmal Außengrenzen aus. Ich war Kapitänin des Rettungs- zu spät. Tagelang fuhr ich mit einem Als Folge einer gezielten Abschot- 14 DISPUT März 2019
tungsstrategie bleibt das Mittelmeer unter anderem Anschuldigungen we- Juristische Einschüchterungen die tödlichste Grenze der Welt. Und gen Schlepperkriminalität gegen Hel- von humanitären Helferinnen und innerhalb Europas wird die Hil- ferinnen und Helfer in Lesbos, tune- Helfern darf nicht als Deckmantel für fe für Menschen auf der Flucht blo- sische Fischer, italienische Bürger- die politische Verfolgung jener soli- ckiert und kriminalisiert. Vor Malta meister, französische Bauern, einen darischen Bewegungen dienen, die und Italien spielen sich wochenlan- deutschen Diakon und 24 Rettungs- es gewagt haben, gegen das durch ge Hängepartien ab. Gerettete müs- kräfte von vier Hilfsorganisationen das EU-Grenzregime verursachte sen tagelang an Bord eines Schiffes erhoben. Das »Institute of Race Rela- Sterben Stellung zu beziehen. Ganz bleiben, bis sich europäische Staaten tions« hatte in den beiden Jahren zu- im Gegenteil muss die unterlassene finden, auf die die wenigen Flüch- vor insgesamt 45 Fälle von Personen Hilfeleistung seitens der EU und die tenden verteilt werden. NGO-Schiffe aus ganz Europa gemeldet, die wegen strafrechtliche Verfolgung humani- werden rechtswidrig in Häfen festge- ihres solidarischen Handelns krimi- tärer Hilfe als das benannt werden, setzt, Flaggen werden entzogen, offi- nalisiert wurden. was sie ist: grundlegend falsch, men- zielle Dokumente angezweifelt, und Die Vielzahl der Verfolgten und schenverachtend und unzulässig. die Besatzung sieht sich mit hanebü- blockierten Helferinnen und Hel- Ich freue mich, in eurem Wahl- chenen Vorwürfen von Schlepperei fer aus der Zivilgesellschaft offen- programm zu lesen, dass ihr die Ur- konfrontiert. Aus Angst vor solchen bart ein unheilvolles Motiv: die sys- sachen von Flucht und Vertreibung Situationen und vor potentieller Kri- tematische Unterbindung von Hilfs- bekämpfen wollt. Ihr dürft dabei nur minalisierung kommen deshalb auch maßnahmen für Menschen auf der nicht den Klimawandel vergessen, immer weniger Handelsschiffe ihrer Flucht. Aber weitaus wichtiger als denn der wird einer der Hauptfluch- seerechtlichen Pflicht zur Rettung die Schikane und die Verfolgung, der tursachen werden. Ich lese, dass Ihr nach. Momentan ist nur ein einziges wir ausgesetzt sind, ist das Schick- sichere Fluchtwege schaffen wollt, NGO-Schiff, die »Alankodu«, im Ein- sal derer, die völlig ihrer Rechte be- damit das Sterben im Mittelmeer auf- satzgebiet. Alle anderen NGO-Schif- raubt sind, derer, die weiterhin tag- hört, dass Ihr die Festung Europa ab- fe sind blockiert oder mussten ihren täglich bei der Suche nach Schutz, bei reißen wollt und offene Grenzen für Dienst ganz einstellen. Wie das alles dem Versuch, das europäische Fest- Menschen in Not fordert. Ja, macht mit der immens gestiegenen Todesra- land zu erreichen, sterben. Es steht das bitte, und macht das mit Feuerei- te zusammenhängt, erklärt sich von uns nicht zu, die Beweggründe ihrer fer, denn die eklatanten Folgen euro- selbst. Suche nach Zuflucht zu hinterfragen, päischer Abschottungspolitik ergie- Die Kriminalisierung trifft auch während ihr Leben in unmittelbarer ßen sich nicht nur in der politischen Einzelpersonen. Italien ermittelt mit Gefahr ist. Es war und bleibt unser Verfolgung von Helferinnen und Hel- einem unfassbaren Aufwand wegen aller Verantwortung, Menschenle- fern; in Folter, Vergewaltigung und Beihilfe zu illegalen Einwanderun- ben zu retten, wann immer es mög- Tod von tausenden schutzsuchenden gen gegen uns, gegen zehn Mitglie- lich ist, Schutz zu bieten, wo er benö- Flüchtenden, sondern führen uns zu- der der »Iuventa«-Crew. Im Falle ei- tigt wird, und jedem Menschen mit rück zu einer Gesellschaft, in der das ner Verurteilung drohen uns bis zu Würde und unter Berücksichtigung Leben des einen weniger wert ist als 20 Jahre Haft dafür, dass wir Leben der universell geltenden Menschen- das des anderen, zurück zu einem gerettet haben. Als Unterstützerin- rechte zu begegnen. Die Rettung von Europa, in dem die Ungleichheit von nen und Unterstützer von Flüchten- Menschen auf See ist eine Pflicht, Menschen perfides System hat. den und Migrantinnen und Migran- nicht bloß ein Recht und gewiss kein Wenn Menschenrechte nicht uni- ten verteidigen wir Menschenrechte. Verbrechen. versell und unveräußerlich für alle Daher sollte unsere Arbeit gemäß Ar- Trotzdem. Ich kann hier heute gelten, dann gelten sie für niemanden tikel 18 der Richtlinien und Grund- auf Eurem Parteitag stehen, weil ich – nicht für mich und nicht für dich. sätze des Hochkommissariats der nicht auf See bin, nicht auf See sein So erschreckend es ist, dass man es Vereinten Nationen für Menschen- darf, weil mir U-Haft in Italien droht, überhaupt noch sagen muss, umso rechte geschützt und erleichtert wer- wenn ich noch einen weiteren Men- wichtiger ist es, dass man es laut und den. Aber das Gegenteil ist der Fall. schen aus Seenot rette. Ja, ich könnte deutlich tut. Wir solidarischen Kräfte sind ein in den Knast gehen, wenn ich ein Le- Riss in der Mauer der Festung Euro- ben rette, das eines Flüchtenden, ver- Pia Klemp ist Kapitänin des Seenot- pa, und wir sind nicht gern gesehen. steht sich. Bei der Rettung des Inha- rettungsschiffes »Sea-Watch 3«. Heute kann es in Europa zur Straftat bers eines europäischen Passes wür- Die hier abgedruckte Rede hielt sie werden, Menschen in Not zu helfen. de mir nichts passieren. Soweit sind auf dem Europaparteitag der Im Verlauf des Jahres 2018 wurden wir hier. LINKEN. DISPUT März 2019 15
INTERNATIONALER FR AUENTAG Für das schöne Leben Der 8. März soll in diesem Jahr zu einem Frauenstreiktag werden, denn noch immer sind wir von wahrer Gleichberechtigung weit entfernt VON KERSTIN WOLTER A m 8. März wollen Frauen in in Deutschland. Doch von vollkom- griffen. Die Folgen neoliberaler Poli- ganz Deutschland die Arbeit mener Gleichberechtigung sind wir tik durch massive Kürzungen, Priva- niederlegen. Sie gehen in den noch weit entfernt. Schlimmer noch: tisierungen und immer schlechtere Streik. Damit findet das erste Mal seit Bereits errungene Rechte liefen und Jobs treffen Frauen im besonderen 25 Jahren in diesem Land wieder ein laufen Gefahr, rückgängig gemacht Maße. So ist Altersarmut mehrheit- Frauenstreik statt. Wenn diese Frau- zu werden. Ein großer Rückschritt – lich weiblich. EU-weit leben mehr en von Arbeit reden, dann meinen sie vor allem für die Frauen aus der DDR Frauen (16 Prozent) als Männer (12 nicht nur jene Arbeiten, für die sie ei- – war in Deutschland bereits vor bald Prozent) im Rentenalter in Armut. nen Lohn bekommen, sondern auch 30 Jahren die Anpassung des neuen Das liegt vor allem an fehlenden Ein- jene unzähligen Stunden an unbe- deutschen Rechtssystems an die Ge- kommensjahren während die Kin- zahlter Haus- und Erziehungsarbeit. setze der früheren BRD. Diese wa- der klein sind und schlecht bezahl- Sie meinen auch die vielen ehren- ren an vielen Stellen – beispielswei- ten Teilzeit-Jobs. In den Ländern der amtlichen Tätigkeiten in sozialen Be- se beim Recht auf Abtreibung und in Europäischen Union verdienen Frau- reichen, vor allem von Seniorinnen. Bezug auf Gewalt in der Ehe – weni- en heute immer noch durchschnitt- Nicht zu vergessen die emotionale ger fortschrittlich als das DDR-Recht. lich 16,2 Prozent weniger als Män- Arbeit, die Frauen täglich in der Fa- Heute wollen neue Rechte und ihnen ner. Deutschland bildet mit rund 21 milie, in Freundschaften, aber auch vorauseilende Konservative erneut Prozent eines der Schlusslichter. Hin- auf der Arbeit leisten. Frauenrechte in Frage stellen. Das zu kommt, dass Frauen weiterhin den Wie soll das gehen, mag man sich betrifft nicht nur die Rolle von Frau- Großteil der nicht entlohnten Haus-, fragen? Wie soll ein Streik nicht nur en und Männern in der Gesellschaft Erziehungs- und Pflegearbeit leisten. innerhalb, sondern auch außerhalb – regelmäßig sprechen Rechte und Die Kürzungen in der sozialen Infra- des Betriebes funktionieren? Frauen Faschisten auf der ganzen Welt vom struktur Europas durch die Auste- auf der ganzen Welt haben es bereits »Genderwahn« und berufen sich auf ritätspolitik des letzten Jahrzehnts vorgemacht. Im vergangenen Jahr, die alten Tugenden der Männlichkeit wurden insbesondere von Frauen am 8. März, gingen beispielsweise in – sondern es geht auch um konkrete privat aufgefangen. Ihre doppelte Be- Spanien schätzungsweise sechs Mil- rechtliche Verschlechterungen. lastung spitzt sich also zu, ohne dass lionen Frauen gegen Ausbeutung, sie durch ökonomische Eigenständig- Gewalt und Ungleichbehandlung in keit aufgewogen wird. Diese ökono- den Streik und inspirierten damit Streiks in 50 Ländern mische Schlechterstellung drückt auch Frauen in Deutschland. Sie leg- sich auf grausame Weise auch in Dis- ten entlohnte und nicht entlohnte Ar- In Spanien und Polen gab es Versu- kriminierung, Sexismus, Missbrauch beit nieder, wo es ging. Sie blockier- che, das Recht auf Abtreibung einzu- und Gewalt in der Familie, am Ar- ten Straßen und Autobahnen, legten schränken, was durch große Protes- beitsplatz oder im öffentlichen Raum den Bahnverkehr zum Teil lahm und te in Spanien und einen Frauenstreik aus. Jede dritte Frau in der EU hat schmückten die Häuser und Straßen in Polen zunächst verhindert werden körperliche oder sexuelle Gewalt er- mit lila Kleidungsstücken. »Wenn wir konnte. Auch in Deutschland werden fahren. Es fehlen systematische Ana- streiken, steht die Welt still«, war ihr Schwangerschaftsabbrüche bis heu- lysen, doch gibt es Anzeichen dafür, Motto und es soll auch das Motto des te kriminalisiert. Durch den Fall der dass geschlechterspezifische und ins- hiesigen Streiks werden. Doch war- Ärztin Kristina Hänel, die aufgrund besondere häusliche Gewalt gerade um sind in Spanien so viele Frauen von Informationen über Schwanger- in Zeiten ökonomischer Krisen zu- in den Streik gegangen, und warum schaftsabbrüche auf ihrer Website nimmt. wird auch in Deutschland am Frau- zu einer hohen Geldstraße verurteilt Diese Zustände wollen sich Mil- enstreik gearbeitet? Die Verhältnis- wurde, wird das Thema des Informa- lionen Frauen in Europa nicht län- se in Spanien sind nicht die gleichen tionsrechts wieder in der Öffentlich- ger gefallen lassen. Sie wehren sich wie in Deutschland und doch liegen keit diskutiert. Der Paragraph 219a, auf vielfältige Weise. Der Streik ist die Gründe für einen feministischen der dieses Informationsrecht verbie- dabei eine Widerstandspraxis, die Streik gar nicht so weit auseinander. tet, soll nun nach vielen Protesten re- bereits in der Vergangenheit erfolg- Europaweit wurden im vergange- formiert werden. Doch was nach ei- reich erprobt wurde. In Island streik- nen Jahrhundert zwar viele Frauen- ner Lockerung aussieht, verschlech- ten 1975 etwa 90 Prozent der Frauen rechte erkämpft – erst vor wenigen tert das Recht auf Information durch und setzten so Verbesserungen in der Monaten jährte sich zum 100. Mal die Ärztinnen und Ärzte weiter. Kinderbetreuung durch. Die Schwei- Einführung des Frauenwahlrechts Doch nicht nur frauenspezifische zerinnen nahmen 1991 den Streik im Zuge der Novemberrevolution Rechte werden immer häufiger ange- der Isländerinnen zum Vorbild und 16 DISPUT März 2019
In Island streikten 1975 etwa 90 Prozent der Frauen und setzten so Verbesserungen in der Kinderbetreuung durch. Bereits im vergangenen Jahr forderten in Deutschland viele Frauen am 8. März ihre Rechte ein. Foto: Martin Heinlein streikten für Verbesserungen im Ar- enstreik aufzurufen, denn der politi- zeigen und zum Beispiel die Sorgear- beitsrecht – mit Erfolg. Die Ausei- sche Streik wird in Deutschland be- beit für das gemeinsame Kind oder nandersetzungen um den Paragra- straft. Doch auch wer am 8. März den pflegebedürftigen Vater an die- phen 218 und die permanente Miss- nicht den Arbeitsplatz verlassen sem Tag komplett zu übernehmen. achtung der Perspektive von Frauen kann, weil sie sonst Gefahr läuft, den Nun könnte man meinen, dass ein in der Post-Wendezeit führte auch in Job zu riskieren, kann zum Beispiel einmaliger Streik nicht viel mehr als Deutschland bereits 1994 zu einem eine politische Mittagspause einbe- ein symbolischer Akt sein wird, ohne Frauenstreik, an dem sich etwa ei- rufen und mit den Kolleginnen vor große Folgen. Doch der 8. März 2019 ne Million Frauen beteiligten. Die das Haus ziehen, um ungerechte Be- ist nur ein Anfang. Die vielen Netz- Geschichte des Frauenstreiks setzte zahlung, Sexismus am Arbeitsplatz werke, die in den letzten Monaten sich fort. Im Jahr 2017 fanden bereits oder fehlendes Personal zu themati- geknüpft wurden, wollen auch über in über 50 Ländern weltweit Frau- sieren. Der Kreativität sind hier kei- den Frauenstreiktag 2019 hinaus ak- enstreikaktionen am 8. März statt. In ne Grenzen gesetzt, denn der Streik tiv bleiben. Ganz nach dem Motto: Deutschland wollen sich nun das ers- gehört niemandem, außer uns allen. Nach dem Streik ist vor dem Streik. te Mal seit 25 Jahren Frauen dieser DIE LINKE schließt sich den Pro- Weitere Informationen zum globalen Streikbewegung anschlie- testen an und ruft dazu auf, sich an Frauen*streik, den lokalen Netzwer- ßen. Seit letztem Mai haben sich in den zahlreichen Streikaktivitäten zu ken und Streikideen auf www.frau- über 30 Städten und kleineren Or- beteiligen und an den vielen Demons- enstreik.org. ten Frauen-Streiknetzwerke gegrün- trationen zum 8. März und damit am det. Es gibt einen engen Austausch Frauenstreiktag teilzunehmen. Män- Kerstin Wolter ist Mitglieder der mit den Gewerkschaften. Für sie ist ner ruft DIE LINKE dazu auf, sich mit LINKEN und Mitinitiatorin des es nicht so einfach, zu einem Frau- den Streiks der Frauen solidarisch zu Frauenstreiks DISPUT März 2019 17
FR AUENSTREIK »Wir müssen uns nur trauen« ALEXANDRA WISCHNEWSKI über die Vorbereitungen und die Resonanz auf den geplanten Frauenstreik am 8. März führt wird, dann bitte gerne bei uns melden, denn wir versuchen Inter- essierte zusammen zu bringen. Oder einfach selbst eine Ortsgruppe grün- den. Gerade in kleineren Städten wäre das toll. Ich glaube auch, dass gerade DIE LINKE eine sehr, sehr gute Infrastruktur dafür bietet, um über den Frauenstreik zu informie- ren und sich zu organisieren und zu- sammenzuschließen. Wie soll der Streik aussehen? Der 8. März soll allen Frauen die Möglichkeit geben, ihre eigenen Streikformen zu finden, die zu ihrer Realität passen. Wir wollen zwar, dass Streik am Arbeitsplatz statt- findet, befinden uns dabei aber in einer schwierigen Situation, da es ja ein politischer Streik ist. Darum schlagen wir auch andere Formen des Streiks vor. In Betrieben kön- nen zum Beispiel Betriebsversamm- lungen an dem Tag einberufen wer- den, in denen über das Recht auf gleiche Entlohnung gesprochen wird. Oder es kann symbolische Mittagspausen geben. Es gibt auch die Idee einer symbolischen Urab- stimmung, ob man denn gern strei- ken würde. Wir wollen aber auch Frauen mobilisieren, die unbezahl- te Haus- und Pflegearbeit leisten. Das ist natürlich schwieriger, weil Kinder oder zu pflegende Angehöri- ge nicht so zur Seite gelegt werden können wie ein Stift oder ein Ak- tenordner. Deshalb haben wir uns Foto und Grafik: Bianca Theis hier kreative Formen überlegt, sei es Tücher aus dem Fenster zu hän- Du bist aktiv bei den Vorberei- Wir sagen allen, die uns fragen, wie gen oder die Nachbarinnen zu einer tungen zum 8. März. Wie plant sie für den Frauenstreik mobilisie- kleinen Versammlung einzuberu- ihr einen bundesweiten Frau- ren können: Der erste Schritt ist, fen. Wir haben auch einen Lohnzet- enstreik? sprich mit deiner Umgebung, sprich tel für Hausfrauen erstellt, der aus- Der Frauenstreik ist dezentral an- mit anderen Frauen um dich herum gefüllt zum Beispiel über Social-Me- gelegt. Es gibt einen gemeinsamen und frage sie, was sie davon halten, dia-Kanäle verbreitet werden kann. Aufruf, der auf dem ersten bundes- warum sie gerne streiken würden Und wir rufen wie jedes Jahr zur weiten Frauenstreik-Treffen ent- oder eben nicht. Tausch dich aus. Frauenkampftagsdemo auf. schieden wurde. Interessierte kön- Dazu braucht es meist aber erstmal Du hast erwähnt, dass der nen sich entweder einer schon be- einen persönlichen Kontakt. Auf der Frauenstreik ein politischer stehenden Ortsgruppe anschließen, Webseite haben wir eine Liste von Streik ist. Wie unterscheidet selbst eine gründen oder ganz indi- Ortsgruppen, aber auch wenn kei- sich denn ein politischer Streik viduell bei dem Streik mitmachen. ne nahestehende Ortsgruppe aufge- von herkömmlichen Streiks? 18 DISPUT März 2019
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