DISPUT - Partei DIE LINKE

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DISPUT - Partei DIE LINKE
DISPUT
                                                           ISSN 0948–2407 | 67485

                                                                 Europa
MITGLIEDER ZEITSCHRIF T DER PARTEI DIE LINKE
MÄR Z 2 EURO                                   Der Bonner Parteitag be-
                                               schloss am 23. Februar das
                                               Europawahlprogramm.
                                               Die Vertreterinnen- und Ver-
                                               treterversammlung wenig
                                               später die Wahlliste. 3

                                                                   Flucht
                                               Kapitänin Pia Klemp arbeitet
                                               für »Sea Watch« und rettet
                                               im Mittelmeer ertrinkende
                                               Flüchtlinge. Auf dem Europa-
                                               parteitag der LINKEN hielt sie
                                               eine aufrüttelnde Rede. 14

                                                                 Frauen
                                               Der Internationale
                                               Frauentag soll in diesem
                                               Jahr auch zu einem Frauen-
                                               streiktag werden.
                                               DISPUT sprach mit einer der
                                               Organisatorinnen. 18

                                                               Foto: Dirk Anhalt
DISPUT - Partei DIE LINKE
INHALT

                                                         liefen, blieben fair im Ton und orien-                    sogar eine Gefängnisstrafe droht.
                                                         tiert an der Sache. Derzeit wird in der                   Der Vorsitzende der sächsischen
                                                         Bundesgeschäftsstelle noch eifrig ge-                     LINKEN, Rico Gebhardt, macht in
                                                         tippt, um die beschlossenen Ände-                         seinem Beitrag auf Seite 21 deut-
                                                         rungen in den Entwurf einzuarbeiten.                      lich, warum eine »Ost-Quote« als
                                                         Fakt ist: Wir haben ein gutes, kämp-                      Teil einer Länderquote sogar von
                                                         ferisches Wahlprogramm und eine                           der Verfassung geboten ist. Für
                                                         ausgewogene Wahlliste. Neben dem                          Gebhardt wäre die Quote auch ei-
                                                         Parteitag bildet der Frauentag einen                      ne Frage der Wiedergutmachung
                                                         zweiten Schwerpunkt in diesem Heft.                       durch Teilhabe.
                                                         Insbesondere dem geplanten Frau-
                                                         enstreik gilt das besondere Augen-                            Thomas Lohmeier ist Leiter der

    N
                 un liegen sie hinter                    merk der Redaktion. Im Interview er-                          Bereichs Bürgerdialog, Medien und
                 uns, die 2. Tagung des                  klärt die Mitbegründerin des Bünd-                            Öffentlichkeitsarbeit (BMÖ) in der
                 6. Parteitags und die                   nisses Frauenstreik, wie diese Streiks                        Bundesgeschäftsstelle der LINKEN
                 Vertreterinnen- und                     in Deutschland aussehen sollen und                            in Berlin.
                 Vertreterversamm-                       warum sie glaubt, dass die Aktionen
    lung. Der Einfachheit halber fir-                    den Beginn einer größeren Bewe-
    miert das Ereignis hier unter der                    gung markieren. Zudem dokumentiert
    Bezeichnung Bonner Europapartei-                     der DISPUT die Rede der Kapitänin                                     DISPUT 03/2019
    tag. Drei Tage lang diskutierten die                 Pia Klemp, die an Bord des Seenotret-
    Genossinnen und Genossen über                        tungsschiffs »Sea Watch 3« viele Ge-
    Programm und Wahlliste. Die Dis-                     flüchtete vor dem Ertrinken im Mittel-                                     VOR-GELESEN VON
    kussionen, so hitzig sie auch ver-                   meer gerettet hat und der deswegen                                        THOMAS  -GELESEN
                                                                                                                                        VORLOHMEIER
                                                                                                                                            VON ???

DISPUT- SCHWERPUNK T                                                                                               FESTUNG EUROPA
EUROPAPAR TEITAG                                                                                                   Eine Seenotretterin klagt an 14

Bericht aus Bonn 3                                                                                                 FR AUENK ÄMPFE
                                                                                                                   Europäische Vorreiterinnen 16
Das war der Parteitag 4
                                                                                                                   FR AUENSTREIK
Katja Kipping:                                                                                                     Warum am 8. März auf die Straße
EU-Kritik ist progressiv 6                                                                                         gehen 18

Gregor Gysi:                                                                                                       FR AUENQUOTE
Gegen nationale Egoismen 7                                                                                         Brandenburgs Parité-Gesetz ist
                                                                                                                   notwendig 20
Unsere Liste
Kandidaten und Wahlergebnisse 8                             JEDEN MONAT                                            OST- QUOTE
                                                            AUS DEM HAUS 5                                         Mehr Führungsjobs für Ostdeut-
Unsere Spitze                                               PRES SEDIENST 24                                       sche 22
Schirdewan und Demirel 10                                   DAS KLEINE BL ABL A 25
                                                            FEUILLE TON 27                                         GESCHICHTE
Hinter den Kulissen                                         NEU IM KINO 29                                         Noskes Berliner Blutbad 28
Der Orga-Chef erzählt 11                                    KULTUR 30
                                                            MÄR ZKOLUMNE 31
Bernd Riexinger:
Die EU verändern 12                                                                                                Foto: Dirk Anhalt

IMPRESSUM DISPUT ist die Mitgliederzeitschrift der Partei DIE LINKE, herausgegeben vom Parteivorstand, und erscheint einmal monatlich über Neue Zeitungsverwaltung GmbH,
Weydingerstraße 14–16, 10178 Berlin REDAKTION Fabian Lambeck, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin, Telefon: 030 24009510, disput@die-linke.de
GRAFIK UND LAYOUT Thomas Herbell DRUCK EVERSFRANK BERLIN GmbH | Ballinstraße 15 | Postfach 470355 | 12359 Berlin ABOSERVICE Neues Deutschland, Druckerei
und Verlag GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Telefon: (030) 29 78 18 00 ISSN 0948-2407
REDAKTIONSSCHLUSS HEFT 3: 1.3.2019. DISPUT 4/2019 erscheint am 28.3.2019.

2                                                                                                                                                  DISPUT März 2019
DISPUT - Partei DIE LINKE
EUROPAPARTEITAG

Europa, wir kommen!
In Bonn beschloss die LINKE ihr Europawahlprogramm und kürte die Spitzenkandidaten für
den richtungsweisenden Urnengang im Mai VON SARAH MEYERS UND FABIAN LAMBECK

                                                                                                    ALLES IM RAHMEN

                                                                                       Die 2. Tagung des 6. Parteitags
                                                                                       und die Vertreterinnen- und
                                                                                       Vertreterversammlung waren
                                                                                       geprägt von Reden und Dis-
                                                                                       kussionen, die trotz aller Ve-
                                                                                       hemenz, mit der sie geführt
                                                                                       und ausgetragen wurden, doch
                                                                                       stets im Rahmen dessen blie-
                                                                                       ben, was als lebendige Partei-
                                                                                       kultur verstanden wird. Inso-
                                                                                       fern war das lange Wochen-
                                                                                       ende im Bonner World Con-
                                                                                       ference Center am Ufer des
                                                                                       Rheins ein voller Erfolg.

                                                             Foto: Martin Heinlein

D
       ie Sonne strahlt und das be-      überlassen will, möchte Dennis Lan-         diskutiert. So gibt es keine Mehrheit
       schauliche Bonn wirkt freund-     der aus dem Saarland in erster Linie        für den Antrag, die umstrittene For-
       lich. Doch der schöne Schein      innenpolitisch gegen Armut kämp-            mulierung wieder in den Text aufzu-
trügt, denn es weht ein kalter Wind.     fen. Roberto Hallop teilt mit Lucia         nehmen. Ebenso wenig wie für den
Auch der politische Wind hat sich ge-    den Kampf gegen den Rechtsruck.             Vorstoß des Forums Demokratischer
dreht, ist rauer geworden – in Euro-     Für ihn ist an diesem Wochenende ei-        Sozialismus zur »Republik Europa«.
pa und der Welt. Die Rechte ist auf      ne ganz besondere Motivation aber,          Trotz aller Diskussionen beschließen
dem Vormarsch und die Linke, so          dass er sich wie »ein kleines Zahnrad       die rund 600 Delegierten am Sonn-
scheint es zumindest, ist in der De-     in einem großen Getriebe« fühlen            abend mit großer Mehrheit das Pro-
fensive. Unter diesen Vorzeichen ste-    kann. Julian Theiß und Lena Binsack         gramm für den Wahlkampf.
hen der Parteitag und die Vertreterin-   setzen auf die europäische Jugend.              Nach kurzer Unterbrechung und
nen- und Vertreterversammlung der        Sie wollen ihre Zukunft nicht länger        minimalem Personalwechsel beginnt
LINKEN, die Europawahlprogramm           in die Hände von anderen legen und          die Vertreterinnen- und Vertreter-
und Wahlliste beschließen sollen.        Europa endlich mitgestalten. Dass           versammlung. Die Genossinnen und
»We are your friends, you’ll never be    die LINKE immer jünger und weibli-          Genossen folgen, zumindest was die
alone again!« – »Wir sind Deine Freun-   cher wird, sehen sie als klaren Vor-        aussichtsreichsten ersten acht Listen-
de, Du wirst nie mehr allein sein!«:     teil. Nicht nur die Welt, auch die LIN-     plätze betrifft, den Vorschlägen des
Diese Liedzeilen hallen durch den        KE befindet sich im Umbruch. Den            Bundesausschusses, der bereits am
Plenarsaal des Bonner World Con-         Kampf für soziale Gerechtigkeit hat         17. November 2018 eine Vorschlags-
ference Centers, der in Rot und fri-     aber niemand aufgegeben.                    liste mit insgesamt 14 Kandidatinnen
schem Pink erstrahlt. »Erkämpft das                                                  und Kandidaten erstellt hatte.
Menschenrecht«, steht in großen Let-                                                     Großen Applaus für ihre Reden er-
tern über der Bühne. Es klingt wie ei-               Großer Applaus                  halten nicht nur die Parteivorsitzen-
ne Aufforderung und gleichzeitig wie                      für Klemp                  den Katja Kipping und Bernd Riexin-
ein Versprechen. Die Farben und das                                                  ger, EL-Präsident Gregor Gysi oder
Licht im Saal vermitteln eine kämpfe-    Bereits im Vorfeld hatte der Partei-        Fraktionschef Dietmar Bartsch, son-
rische Aufbruchsstimmung. Die Dele-      vorstand aus der Einleitung des Pro-        dern auch Pia Klemp, die als Kapi-
giertenschar in der Halle ist bunt ge-   grammentwurfs die Formulierung              tänin für die Seenotretter von Sea-
mischt: Während Lucia Schnell aus        gestrichen, wonach die Grundlagen           Watch arbeitet. Ihre bewegende Rede
Berlin auf internationale Solidarität    der EU »militaristisch, neoliberal          steht unter dem Motto: Europa darf
setzt und dabei Europa, ebenso wie       und undemokratisch« seien. Trotz-           keine Festung sein und Menschen-
Europa-Kritik, nicht den Rechten         dem wird in Bonn leidenschaftlich           rechte sind unteilbar!

DISPUT März 2019                                                                                                         3
DISPUT - Partei DIE LINKE
EUROPAPARTEITAG

                                                       E waren nicht
                                                       Es
                                                Nena nas »99 Lu
                                                     nas
                                                     na         L ftballon    nss««,
                                              die da durch den    e Saal de     d s
                                           Bonnner WC    CC CB flogen. Aber als        ls
                                        auflocke kernde
                                                 ke     d s Elem menent funktionier-
                                                                          fuu
                                        teen di
                                             die roten Bälle mi
                                             die                   mitt de
                                                                         d m LINK       KE-
                                                                                          E-
                                      Logo alllleemal. Für manche war
                                      Lo                                       ar es auch
                                                                               ar
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                                                              wa für Gabi Zimm         mererr,,
                                       die bish  her
                                                   e ige Vorsitzeend  nd deer GU
                                                                      nde           GUE/   /
                                        NGL-Fr Frrak
                                                   a tion
                                                        on (unten link
                                                        on              nkks)
                                                                        n   s). Ge
                                                                                 Geeint  nt
                                             zeeiggte
                                             zeig   tenn siich
                                                            c Frar kt
                                                                   kttiio
                                                                       ions
                                                                         ns-- unund  d
                                                  Paart
                                                  P   rtei
                                                        e fü
                                                        ei führ
                                                             hrun
                                                             hr ungg in Bon
                                                                un          onn n
                                                       ( nt
                                                       (un en recht  hts)
                                                                        s)..

Fotos: Martin Heinlein, Dirk Anhalt

4                                                                                             DISPUT März 2019
DISPUT - Partei DIE LINKE
AUS DEM HAUS

D
             iese Ausgabe des DISPUT                                                    der Figuren auf dem Tisch in der Hand
             erscheint nach einem lan-                                                  halten? Das sind wir. Da ist DIE LINKE.
             gen, anregenden und for-                                                   In Kürze: Wir kämpfen für ein Europa,
             dernden Wochenende, an                                                     in dem die Interessen der Menschen
             dem wir uns auf dem Euro-                                                  über den Profitinteressen stehen. Was
paparteitag in Bonn intensiv mit Perso-                                                 wir mit Europa vorhaben? Es den Men-
nal-, Sach- und Detailfragen beschäf-                                                   schen zurückgeben!
tigt haben.                                                                             Auf dieser Grundlage können wir dann
Nachdem jetzt unser Programm und                                                        über die Details unserer Reformpolitik
die Liste stehen, möchte ich Euch ein-                                                  auf EU-Ebene reden.
laden, den Blick auf etwas Grund-                                                       Deutlich mehr als ein Detail ist
sätzliches zu lenken: Die große Fra-                     JÖRG SCHINDLER                 das Engagement der LINKEN im
ge, warum uns Menschen eigent-                                                          Frauen*streik am 8. März. Noch im-
lich wählen. Nicht die Fachleute und                                                    mer werden vorwiegend Frauen um-
Aktivist*innen, die gründlich die Pro-                                                  fassend und selbstverständlich für Tä-
grammpassagen und Wahlprüfsteine                                   Eine                 tigkeiten im »Care-Bereich«, also z.B.
der verschiedenen Parteien verglei-                                                     Erziehungs-, Haushalts- und Pflegear-
chen. Nicht die Insider*innen, die sich                           klare                 beit eingespannt, erhalten dafür aber
ausführlich informieren, wofür unse-                            Antwort                 weder angemessenen Respekt noch
re Kandidat*innen persönlich stehen.                                                    angemessene Bezahlung. Dazu sagen
Sondern die große Mehrheit.                                                             Frauen in aller Welt: »Wir lassen uns
Und diese Frage stellt sich in Euro-                                                    das nicht länger gefallen! Wir streiken!«
pa anders als auf nationaler Ebene. In                                                  Wir LINKEN setzen passend zu unse-
Deutschland ist den Menschen klar:           heit der Menschen von uns in diesem        rer Kampagne einen Schwerpunkt zum
DIE LINKE steht für soziale Gerech-          Wahlkampf mitbekommen wird.                Bereich Pflege. Und das verspricht ein
tigkeit. Wir sind die glaubwürdigsten        Um hier durchzudringen und gut posi-       voller Erfolg zu werden. Die Beteili-
Vertreter*innen eines sozialen Gegen-        tioniert zu sein, brauchen wir eine ein-   gung an Aktionen in den Kreisverbän-
entwurfs. Für Europa müssen wir die-         fache, klare und eindeutige Antwort.       den wird das vorige Jahr noch über-
se Erzählung in neue Begriffe über-          Eine Losung, die zutreffend, aber auch     treffen – zum Redaktionsschluss sind
setzen. Denn, was »Soziale Gerechtig-        auf Anhieb verständlich ist. Die wir bis   549 Aktionen in ca. 171 Kreisverbän-
keit« aus linker Sicht auf europäischer      zum 26. Mai tausende Male in allen Zu-     den gemeldet. Das zeigt zweierlei: Die
Ebene bedeutet, ist den Wähler*innen         sammenhängen wiederholen können,           Pflegekampagne hat in unserer Par-
viel weniger deutlich. Der gesellschaft-     bis jede*r unserer Wähler*innen weiß,      tei kein bisschen an Fahrt verloren und
liche Diskurs schwankt hier zwischen         wofür wir in Europa stehen.                die Kampagnenfähigkeit unserer Partei
»seid ihr für Europa (mit all seinen sozi-   Ich schlage dazu die folgende kurze Er-    wächst Jahr für Jahr. Grund genug, um
alen Zumutungen)? oder gegen Europa          zählung vor:                               mit Optimismus in die Wahlkämpfe die-
(und wie wollt ihr dann etwas Soziales       Die Reichen und Mächtigen und ihre         ses Jahres zu gehen.
erreichen, wenn ihr den Laden doch           Lobbyist*innen zocken um Europa. Sie
eh komplett abschaffen wollt)?«. Nicht       wollen die EU nach ihren Interessen           Jörg Schindler ist Bundesgeschäfts-
umsonst sind unsere Ergebnisse auf           formen und Parteien, die unkritisch           führer der LINKEN
europäischer Ebene bislang spürbar           »für Europa« sind, spielen dabei mit.
unter denen auf Bundesebene.                 Rechtspopulist*innen wollen den Spiel-
Diese Frage wahlwirksam zu beantwor-         tisch umwerfen. Aber was dabei her-        Fotos: Mark Mühlhaus/attenzione,
ten, ist eine Aufgabe, die auch das bes-     auskommt, wenn sich rechte Rowdys          DIE LINKE
te Programm nicht erfüllen kann. Denn        mit geprellten Zockern um die Trüm-
ein Programm ist notwendigerweise            mer streiten, kann man sich vorstellen.
ausführlich und komplex. Es ist ange-        Aber was, wenn die Spielfiguren
füllt mit Antworten auf Detailfragen für     selbst vom Tisch aufstehen und den
die Insider*innen, Aktivist*innen und        Spieler*innen die Würfel aus der Hand
Fachleute. Auch ein Nachschlagewerk          nehmen? Wenn sie die Regeln in Fra-
für die Genoss*innen am Infostand            ge stellen und neue Wege der Vertei-
und die Aktiven beim Haustürwahl-            lung der Einsätze vereinbaren? Sehen
kampf. Aber nicht das, was die Mehr-         Sie die kleinen roten Fahnen, die einige

DISPUT März 2019
DISPUT - Partei DIE LINKE
EUROPAPARTEITAG

Liebeserklärung an Europa
KATJA KIPPING will Kritik nicht den EU-Feinden überlassen

W
          er heutzutage so etwas sagt    diesem Kontinent. Es sind vielmehr          u.a. mit den Daten, die wir dort täg-
          wie: Europa muss sozial        die Kräfte der Solidarität, die Mut         lich einspeisen. Aber dann drücken
          werden oder es scheitert,      machen auf ein anderes Europa. So           sie sich mit Tricks vor ordentlichen
wird schnell als Europafeind abge-       retten engagierte Aktivistinnen und         Steuern. Ich sage deshalb: Wer Euro-
stempelt. Ich frage deshalb: Was ist     Aktivisten z. B. von »Seawatch« Flüch-      pa wirklich will, muss die Konzerne
die größere Liebeserklärung an Eu-       tende vorm Ertrinken. Fortschrittli-        an die Kandare nehmen und gerecht
ropa? Sich kritisch mit Fehlern aus-     che Stadtregierungen, darunter Ber-         besteuern! Veränderung beginnt vor
einandersetzen oder über alle Fehler     lin, haben ein Netzwerk der solidari-       Ort. Dass die Öffentliche Hand durch-
hinwegzusehen? Ich meine, auf ei-        schen Städte gegründet, um sich für         aus etwas tun kann für Steuergerech-
ne andere EU hinzuarbeiten, ist die      die Aufnahme der Geretteten ein-            tigkeit, hat DIE LINKE hier in Bonn
größere Liebeserklärung an Europa        zusetzen. Sie beweisen, es ist nicht        bewiesen. Sie hat durchgesetzt, dass
als zuzulassen, dass die EU so bleibt,   egal, wer regiert. Ein anderes Euro-        die Stadt zwei Betriebsprüfer ein-
wie sie ist. Denn der jetzige Zustand    pa ist möglich, wenn in Rathäusern          stellt. Im Ergebnis sind die Einnah-
der EU spielt den Rechten und den        und Parlamenten andere Mehrhei-             men bei der Gewerbesteuer gestiegen
Marktradikalen in die Hände. Und         ten herrschen und wenn sich deren           (650.000 Euro in 2017). Liebe Bonner
das dürfen wir nicht zulassen. In ei-    Arbeit verbindet mit dem Einsatz            LINKE, ihr habt im Kleinen bewiesen:
nem darf es bei unser Kritik jedoch      der Vielen, die schon in Bewegung           Die Öffentliche Hand ist nicht wehr-
                                                                                     los gegenüber Unternehmen, die bei
                                                                                     der Steuer tricksen! Das ist nur ein
                                                                                     Beispiel von vielen, das zeigt, DIE
                                                                                     LINKE macht in den Kommunen den
                                                                                     Unterschied. Lasst uns das auch bei
                                                                                     den Kommunalwahlen immer wieder
                                                                                     deutlich machen. Veränderung be-
                                                                                     ginnt vor Ort! Und DIE LINKE macht
                                                                                     den Unterschied!
                                                                                        Wer Rechts verhindern will, muss
                                                                                     Links wählen! Das gilt auch für die
                                                                                     drei ostdeutschen Landtagswahlen
                                                                                     in Brandenburg, Sachsen und Thü-
                                                                                     ringen. Was haben Ostdeutsche und
                                                                                     Frauen bundesweit gemeinsam? Sie
                                                                                     müssen im Durchschnitt deutlich
                                                                                     länger arbeiten, um auf das gleiche
                                                                                     Einkommen zu kommen, wie ein
                                                                                     männlicher westdeutscher Beschäf-
                                                                                     tigter. Ein Ostdeutscher muss im
                                                                                     Durchschnitt 38 Tage im Jahr länger
                                                                                     schuften, um das gleiche Einkom-
                                                             Foto: Martin Heinlein   men zu erarbeiten. 30 Jahre nach
                                                                                     dem Mauerfall muss diese soziale
keinerlei Zweideutigkeit geben: Wir      sind. Wenn die nationalen Regierun-         Mauer fallen. Gleiche Löhne in Ost
wollen kein Auseinanderbrechen           gen es nicht wollen, dann fangen die        und West sind auch eine Frage des
der EU. Wenn wir die konkrete EU-        fortschrittlichen Städte an, so gut sie     Respekts! Respekt – dabei geht es
Politik kritisieren, dann niemals mit    eben können. Und dass sie anfangen,         auch um die Art, wie über ostdeut-
dem Ziel, dass es zurück in das Ne-      ist großartig. Ein Dank nach Neapel,        sche Erfahrungen gesprochen wird.
beneinanderher von Nationalstaaten       nach Barcelona und nach Berlin. So          30 Jahre nach dem Mauerfall ist es
geht. Als Sozialistinnen und Sozialis-   geht Regieren in Bewegung! So geht          überfällig, dass die Ignoranz gegen-
ten wollen wir kein Zurück in die Ver-   Europa solidarisch und von unten!           über ostdeutschen Erfahrungen ab-
gangenheit. Vielmehr kämpfen wir             Konzerne wie Google und Ama-            gelegt wird und der Bereitschaft
um eine bessere Zukunft.                 zon lachen sich ins Fäustchen an-           weicht, auch mal anzuhören. Res-
   Rechte wie Neoliberale haben          gesichts der Handlungsunfähigkeit           pekt für den Osten – dafür stehen
nichts zu bieten für die Zukunft auf     der EU. Sie machen riesige Profite          wir, DIE LINKE.

6                                                                                                          DISPUT März 2019
DISPUT - Partei DIE LINKE
Die EU als Chance
GREGOR GYSI wandte sich in seiner Rede gegen nationale Egoismen

W
          as setzen wir gegen den na-
          tionalen Egoismus? Eine
          neue Solidarität. Denn die
soziale Frage ist eine globale Frage
geworden. Die großen Konzerne und
die großen Banken haben eine Welt-
wirtschaft begründet. Und sie sind ja
auch froh. Es gibt ja keine funktio-
nierende Weltpolitik, die sie regulie-
ren kann. Umso besser. So können sie
machen, was sie wollen. Dort, wo sie
Schäden anrichten, sind wir ja alle
da – die Steuerzahlerinnen und Steu-
erzahler – und bezahlen das. Das fin-
den sie natürlich auch toll. Aber sie
haben zwei Dinge mit angerichtet,
auf die sie nicht gekommen sind: Wir
haben doch in Europa so gelebt wie
wir in Europa gelebt haben, weil vie-
le Menschen in Afrika gar nicht ge-
wusst haben, wie wir leben. Sein wir
doch mal ehrlich. Nun haben sie aber
das Handy erfunden und das Inter-                                                                    Foto: Martin Heinlein
net. Und nun gibt es den weltwei-
ten Lebensstandardvergleich. Das          Interessen der Mehrheit der Bevölke-    wenn es sie überhaupt gibt, gibt es
ist neu. Die soziale Frage war immer      rung durchzusetzen.                     sie nur in der Politik, nicht aber auf
schon auch eine internationale. Aber         Der Kapitalismus hat nach dem        den Finanzmärkten. Deshalb müssen
sie war vornehmlich eine nationa-         Ende des Staatssozialismus, nach        nicht die Finanzmärkte entscheiden
le. Und deshalb sage ich: Wer denn        dem Ende des Kalten Krieges kei-        was die Politik macht, sondern die
sonst, wenn nicht wir LINKEN, müs-        nen Grund mehr, besonders sozial        Politik entscheiden, was auf den Fi-
sen auf die soziale Frage der Mensch-     zu sein. Die Agenda 2010, prekäre       nanzmärkten erlaubt ist. So herum
heit eine Antwort suchen, finden und      Beschäftigung, Niedriglohnsektor…       muss es laufen!
geben? Das ist unsere Aufgabe! Ich        Wir haben den größten Niedriglohn-         Gerade weil die Rechte national
sage also, dass diese Frage, die sozia-   sektor in Deutschland im Vergleich      und europäisch an dieser neoliberalen
le Frage, neben dem Klimawandel die       zu den anderen Ländern der Europä-      Zerstörung der Demokratie anknüpft
neue Herausforderung des 21. Jahr-        ischen Union. Das alles ist Ergebnis    und demokratische Strukturen und
hunderts ist. Wer, wenn nicht wir!        davon und wurde übrigens von SPD        Grundrechte direkt angreift, müssen
Die anderen Parteien können doch          und Grünen beschlossen. Jahrzehnte      wir auch auf europäischer Ebene da-
über ihre Obergrenzen Debatten füh-       des Neoliberalismus haben wir hin-      gegenhalten. DIE LINKE muss das Ge-
ren, solange sie wollen. Das ist nicht    ter uns. Schon 1996, mehr als 10 Jah-   genüber zum Rechtspopulismus und
unsere Aufgabe. Wir müssen die Ur-        re vor der Finanzkrise, sagte der da-   zum Rechtsextremismus sein und
sachen der Fluchtbewegung und die         malige Bundesbankpräsident Tiet-        bleiben! Deshalb kämpfen wir für ein
notwendigen Schritte dagegen be-          meyer in Davos, er habe bisweilen       Europa und für eine EU mit sozialer
nennen und eben die soziale Frage         den Eindruck, »dass sich die meisten    Gerechtigkeit, Frieden, Demokratie
für unsere Gesellschaft, aber auch        Politiker immer noch nicht im Kla-      und Freiheit. Und dann können wir
für Europa und die Menschheit be-         ren sind, wie sehr sie bereits heute    die EU nicht als notwendiges Übel se-
antworten! Im Kern geht es neben          unter der Kontrolle der Finanzmärk-     hen, sondern müssen sie als Chance
der Friedensfrage darum, ob die De-       te stehen und sogar von diesen be-      begreifen, Veränderungen gemeinsam
mokratie weiter marktkonform zu-          herrscht werden«. Er meinte das al-     mit anderen Linken und auch darüber
gerichtet und damit in ihrem Wesen        lerdings nicht kritisch, sondern be-    hinaus in Europa zu erkämpfen! Wir
zerstört wird, oder ob wir auf demo-      stätigend. Wir sollten das kritisch     können und müssen die Menschen für
kratischem Wege Märkten und Kapi-         sehen. Wir brauchen wieder eine Pri-    unseren Weg in ein linkes Europa be-
tal Regeln festsetzen können, um die      orität der Politik, denn Demokratie,    geistern.

DISPUT März 2019                                                                                                        7
DISPUT - Partei DIE LINKE
EUROPAPARTEITAG

Unser Team Europa
Die Wahlergebnisse der Vertreterinnen- und Vertreterversammlung im Überblick

Listenplatz 1 und 2 –                                 Scholz, Helmut: 276 Stimmen (58,2 Prozent)
Spitzenkandidat und Spitzenkandidatin                 Gewählt: Helmut Scholz
475 abgegebene Stimmen, 35 Enthaltungen,
2 ungültige Stimmen                                   Listenplatz 5
Martin Schirdewan: 391 Stimmen (82,3 Prozent)         458 abgegebene Stimmen, 10 Enthaltungen
Tavassoli Bijan: 47 Stimmen (9,9 Prozent)             Benda, Judith: 100 Stimmen (21,8 Prozent)
Gewählt: Martin Schirdewan                            Michels, Martina: 216 Stimmen (47,1 Prozent)
474 abgegebene Stimmen, 27 Enthaltungen               Scheringer-Wright, Johanna: 79 Stimmen (17,2 Prozent)
400 Ja-Stimmen (84,4 Prozent), 47 Nein-Stimmen (9,9   Steffgen, Susanne: 53 Stimmen (11,5 Prozent)
Prozent)                                              Stichwahl
Gewählt: Özlem Alev Demirel ohne Gegenkandidatin      417 abgegebene Stimmen, 14 Enthaltungen
                                                      Benda, Judith: 153 Stimmen (36,7 Prozent)
Listenplatz 3                                         Michels, Martina: 250 Stimmen (59,9 Prozent)
474 abgegebene Stimmen, 473 gültige Stimmen,          Gewählt: Martina Michels
1 ungültige Stimme, 35 Enthaltungen
383 Ja-Stimmen (80,8 Prozent), 55 Nein-Stimmen        Listenplatz 6
(11,6 Prozent)                                        464 abgegebene Stimmen, 1 Enthaltung
Gewählt: Cornelia Ernst ohne Gegenkandidatin          Al-Dailami, Ali: 244 Stimmen (52,6 Prozent)
                                                      Atalan, Aziz: 3 Stimmen (0,7 Prozent)
Listenplatz 4                                         Erhardt, Michael: 96 Stimmen (20,7 Prozent)
467 abgegebene Stimmen, 5 Enthaltungen                Hansen, Kevin-Christopher: 3 Stimmen (0,7 Prozent)
Aggelidis, Michael: 69 Stimmen (14,6 Prozent)         Ostendarp, Herbert: 4 Stimmen (0,8 Prozent)
Erhardt, Michael: 114 Stimmen (24,1 Prozent)          Petzold, Harald: 76 Stimmen (16,4 Prozent)
Moritz, Werner: 6 Stimmen (1,3 Prozent)               Yilmaz, Murat: 35 Stimmen (7,5 Prozent)
Nitzler, Wolfgang: 2 Stimmen (0,4 Prozent)            Gewählt: Ali Al-Dailami

Foto: Martin Heinlein

8                                                                                             DISPUT März 2019
DISPUT - Partei DIE LINKE
Foto: Dirk Anhalt

Listenplatz 7                                           Listenplatz 10
442 abgegebene Stimmen, 34 Enthaltungen,                433 abgegebene Stimmen, 15 Enthaltungen
1 ungültige Stimme                                      Dolzer, Martin: 74 Stimmen (17,1 Prozent)
Haydt, Claudia: 318 Stimmen (71,9 Prozent)              Gottschall, Heiko: 92 Stimmen (21,3 Prozent)
Steffgen, Susanne: 89 Stimmen (20,1 Prozent)            Neumann, Jens: 86 Stimmen (19,9 Prozent)
Gewählt: Claudia Haydt                                  Reimers, Maximilian: 55 Stimmen (12,7 Prozent)
                                                        Yilmaz, Murat: 111 Stimmen (25,6 Prozent)
Listenplatz 8                                           Stichwahl
441 abgegebene Stimmen, 32 Enthaltungen                 435 abgegebene Stimmen, 10 Enthaltungen,
374 Ja-Stimmen (84,8 Prozent), 35 Nein-Stimmen          1 ungültige Stimme
(7,9 Prozent)                                           Gottschall, Heiko: 172 Stimmen (40,5 Prozent)
Gewählt: Malte Fiedler ohne Gegenkandidaten             Yilmaz, Murat: 214 Stimmen (50,4 Prozent)
                                                        Gewählt: Murat Yilmaz
Listenplatz 9
432 abgegebene Stimmen, 9 Enthaltungen                  Listenplätze 11 bis 20
Benda, Judith: 143 Stimmen (33,1 Prozent)               Auf der Frauenliste gewählt:
Kolter, Marianne: 151 Stimmen 34,9 Prozent)             Listenplatz 11: Sarah Mirow
Scheringer-Wright, Johanna: 76 Stimmen (17,6 Prozent)   Listenplatz 13: Heidi Scharf
Steffgen, Susanne: 53 Stimmen (12,2 Prozent)            Listenplatz 15: Kathrin Flach Gomez
Stichwahl                                               Listenplatz 17: Anna-Maria Dürr
435 abgegebene Stimmen, 10 Enthaltungen,                Listenplatz 19: Susanne Steffgen
1 ungültige Stimme                                      Auf der gemischten Liste gewählt:
Benda, Judith: 181 Stimmen (41,6 Prozent)               Listenplatz 12: Keith Barlow
Kolter, Marianne: 242 Stimmen (55,6 Prozent)            Listenplatz 14: Hannes Nehls
Gewählt: Marianne Kolter                                Listenplatz 16: Fotis Matentzoglou
                                                        Listenplatz 18: David Schwarzendahl
                                                        Listenplatz 20: Florian Wilde

DISPUT März 2019                                                                                               9
DISPUT - Partei DIE LINKE
EUROPAPARTEITAG

»Europa geht nur solidarisch«
Aus den Bewerbungsreden der beiden in Bonn gewählten Spitzenkandidaten
MARTIN SCHIRDEWAN und ÖZLEM DEMIREL

          MARTIN SCHIRDEWAN

     Der promovierte Politikwissen-
     schaftler wurde 1975 in Ber-
     lin (Ost) geboren. Seit Novem-
     ber 2017 ist er als Abgeordne-
     ter im Europäischen Parlament
     zuständig für Wirtschafts- und
     Währungsfragen sowie stell-
     vertretendes Mitglied im Aus-
     schuss für Binnenmarkt und
     Verbraucherschutz.

Wir wissen, dass die soziale Ungleich-
heit in der EU in den letzten Jahren
drastisch zugenommen hat. Die Ju-                                                                    Foto: Martin Heinlein
gendarbeitslosigkeit im Süden Euro-
pas beträgt noch immer 30 Prozent.        gleichheit immer weiter vergrößert.     tiert haben, als überzeugte Europä-
Ein Fünftel der Älteren ist von Al-       Denn wir wissen: Europa geht nur so-    er gefeiert werden. Nein, wir spie-
tersarmut betroffen oder bedroht.         lidarisch.                              len dieses Spiel nicht mit. Uns geht
Und seitdem Angela Merkel Kanzle-                                                 es um reale Verbesserung nicht um
rin ist, hat sich allein in Deutschland                                           abstrakte Symbole. Europa - das
die Zahl der Kinder in Armut auf                                                  ist für mich die Seebrückenbewe-
der einen Seite und die der Vermö-                       ÖZLEM DEMIREL            gung. Europa sind die Kolleginnen
gensmillionäre auf der anderen Sei-                                               und Kollegen bei Amazon, bei Ry-
te verdoppelt. Die Armut der einen                                                an Air, die über nationale Grenzen
ist der Reichtum der anderen. Geän-          Kam als Tochter einer politi-        hinweg streiken. Europa das sind
dert werden kann das nur durch ei-           schen Flüchtlingsfamilie 1989        Mieter*innenbewegungen hier, in
nen grundlegenden Politikwechsel             aus der Türkei nach Deutsch-         Spanien und in anderen Ländern
auf europäischer Ebene. Und genau            land. Die ver.di-Gewerkschafts-      EU. Das Europa, für das ich stehe, ist
dafür braucht es eine starke Linke im        sekretärin war Parlamentari-         das Europa der Millionen, nicht der
Europäischen Parlament. Alle, die in         sche Geschäftsführerin der           Konzerne. Liebe Genossinnen und
Europa leben, haben doch das Recht           NRW-Landtagsfraktion DIE LIN-        Genossen, in unserer Kritik geht es
darauf, ein Leben frei von Armut und         KE sowie Bundesvorsitzende           um nicht weniger als um eine Wirt-
Existenznot zu führen. Jede Europäe-         der DIDF (Föderation demokra-        schafts- und Politikordnung, welche
rin und jeder Europäer hat das Recht         tischer Arbeitervereine e.V.).       permanente Ungerechtigkeiten pro-
darauf, ein gutes Leben zu führen.                                                duziert. Deshalb lasst uns diesen
Aber dieses Recht muss jeden Tag                                                  Wahlkampf zu einem Wahlkampf
wieder erkämpft werden. Deshalb                                                   für Gerechtigkeit machen. Zu einem
fordern wir armutsfeste Mindestlöh-                                               Wahlkampf für soziale Errungen-
ne und eine europäische Arbeitslo-        Sind sie für oder gegen Europa? Sind    schaften, für Menschenrechte und
senversicherung. Und deshalb strei-       sie Europäerin? Bekennen sie sich       für Frieden. Wir akzeptieren nicht,
ten wir gemeinsam mit den Gewerk-         zur EU? Das sind ernsthaft Fragen,      dass die EU Menschen im Mittelmeer
schaften für gute Arbeit in Europa.       die mir gestellt werden. Mir! Wäh-      ertrinken lässt, dass die Schere zwi-
Für diesen radikalen Kurswechsel in       rend ein Herr Schäuble oder eine        schen Arm und Reich weiter ausei-
der europäischen Politik braucht es       Frau Merkel, die Griechenland er-       nanderdriftet und dass unsere Um-
einen Bruch mit der falschen Spar-        presst haben, die anderen Ländern       welt nachhaltig zerstört wird für die
und Kürzungspolitik, die die Un-          eine brutale Kürzungspolitik auf dik-   Profitinteressen einiger weniger!

10                                                                                                       DISPUT März 2019
EUROPA

Wir sind Teil der Bewegung
Die EU muss verändert werden, damit sie den Menschen und nicht nur den Konzernen dient
VON BERND RIEXINGER

                                                                                    die Unabhängigkeit gegenüber den
                                                                                    USA zu vergrößern, die neoliberale
                                                                                    Ausrichtung der EU zu verstärken.
                                                                                    Merkels Mantra von Wohlstand und
                                                                                    Sicherheit durch mehr Wettbewerbs-
                                                                                    fähigkeit steht in scharfem Kontrast
                                                                                    zur Realität.
                                                                                       So wurde in den letzten Jahrzehn-
                                                                                    ten gezielt eine staatliche Ebene ge-
                                                                                    schaffen, zu der die Lohnabhängigen,
                                                                                    ihre Gewerkschaften und linke Par-
                                                                                    teien nur schwer Zugang haben, so-
                                                                                    lange sie national organisiert bleiben.
                                                                                    Über diese Ebene der europäischen
                                                                                    Institutionen wurde und wird die de-
                                                                                    mokratische Einflussnahme auf wirt-
                                                                                    schaftlichen Rahmenbedingungen
                                                            Foto: Martin Heinlein   ausgehebelt. Der Druck auf Löhne,
                                                                                    Sozialstandards und die öffentliche

D
       ass die Politik der Europäi-      gungen, die machtvoll über Länder-         Daseinsvorsorge bleibt fest veran-
       schen Union (EU) seit Jahr-       grenzen hinweg mobilisieren und            kert im europäischen Institutionen-
       zehnten neoliberal geprägt ist,   Druck erzeugen können.                     gefüge und den ihr zugrunde liegen-
entspringt keinem Naturgesetz, son-          Im Vorfeld der Europawahlen ver-       den Verträgen.
dern resultiert aus verfestigten Kräf-   suchen erneut einige Medien, die po-          Dafür gibt es viele Beispiele, drei
teverhältnissen, etwa zwischen Kapi-     litischen Positionen der Parteien zu       stechen beispielhaft hervor: Die
tal und Arbeit und zwischen den ein-     sortieren anhand der simplen Frage:        Macht und die Funktionsweise der
zelnen Mitgliedsstaaten. Aufgrund        Bis du für oder gegen die EU? Diese        EU-Kommission begünstigt die politi-
dieser Kräfteverhältnisse sind die       schablonenhafte Verkürzung spielt          sche Einflussnahme durch Großkon-
Verträge und Institutionen der EU da-    den bürgerlichen Parteien in Hände,        zerne, die Europäische Zentralbank
rauf ausgerichtet, die weltweit wett-    weil sie eine Debatte darüber verhin-      (EZB) handelt jenseits wirksamer de-
bewerbsfähigste Region zu schaffen –     dert, wie die EU verändert werden          mokratischer Einflussnahme und im
in globaler Konkurrenz mit den USA       muss, damit sie den Menschen und           Fiskalpakt wurden mittels Schulden-
und China. Von der neoliberalen Ver-     nicht nur den Unternehmen dient.           bremsen die Gestaltungsmöglichkei-
fasstheit der EU profitieren in erster   Schließlich ist die EU heute sozial        ten nationaler und regionaler Parla-
Linie hiesige Großkonzerne und Ban-      und wirtschaftlich so tief gespalten       mente beschnitten. Geändert wer-
ken, die Interessen der Mehrheit der     wie noch nie seit ihrer Gründung –         den kann diese Ausrichtung nur
Bevölkerung werden hingegen durch        ein Nährboden, auf dem bislang vor         durch gezielten Vertragsbruch oder
sie verletzt. Mit dieser EU wird DIE     allem rechtspopulistische und rechts-      durch andere Mehrheitsverhältnis-
LINKE keinen Frieden machen. Doch        extreme Parteien wachsen.                  se in allen Mitgliedsstaaten der EU.
auch eine Rückkehr zum National-             SPD und Grüne inszenieren sich         Hinzu kommt, dass die neoliberale
staat, wie von der extremen Rechten      als konsequent pro-europäische Par-        Konstruktion der Eurozone bewirkt,
propagiert, bietet den Lohnabhän-        teien. Tatsächlich aber schlagen sie       dass unter dem Druck zur Steigerung
gigen keine Lösung; sie bleiben den      nur kosmetische Korrekturen an der         der Wettbewerbsfähigkeit vor allem
Widrigkeiten der globalen Standort-      Ausrichtung der EU vor. Das greift zu      schwächere Volkswirtschaften lei-
konkurrenz ausgesetzt. Ein sozialer      kurz, denn soziale Gerechtigkeit und       den, während die deutsche Exportin-
und demokratischer Neustart der EU       wirksamer Klimaschutz sind nur zu          dustrie davon profitiert.
ist notwendig. Voraussetzung hier-       verwirklichen, wenn die EU grundle-           Angesichts der herrschenden
für ist eine grundlegende Verände-       gend verändert wird. CDU und CSU,          Kräfteverhältnisse, die gegenwär-
rung der Kräfteverhältnisse: einer-      angeführt von Bundeskanzlerin An-          tig grundlegenden Veränderungen
seits durch linke Regierungen in den     gela Merkel, benutzen die Abgren-          entgegenstehen, stellen sich für DIE
mächtigen Ländern wie Deutschland        zung von der gefährlichen Politik des      LINKE zwei Aufgaben. Zum einen set-
und Frankreich, andererseits durch       US-amerikanischen Präsidenten Do-          zen wir uns für jede konkrete Verbes-
Gewerkschaften und soziale Bewe-         nald Trump, um mit dem Argument,           serung auf europäischer Ebene ein,

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die der Mehrheit der Bevölkerung        steuert werden, ist eine Gerechtig-     Europas Städten. Wir werben für ei-
nutzt. Wir schlagen vor, dass europä-   keitswende finanzierbar. Wir kämp-      nen umfassenden ökologischen Um-
ische Mindeststeuersätze für Super-     fen für mehr Geld für Bildung, Pflege   bau der Industrie, inklusive Arbeits-
reiche und Unternehmen eingeführt       und bezahlbares Wohnen. Wir setzen      zeitverkürzung und Einkommensga-
werden, um den Betrug an der All-       uns ein für Abrüstung und Diploma-      rantien für die Beschäftigten.
gemeinheit durch Steuerdumping zu       tie; eine europäische Armee ist das        Hoffnung auf ein soziales Euro-
unterbinden. Wir plädieren für mas-     Gegenteil von europäischer Friedens-    pa speist sich aus den europäischen
sive Investitionen in Klimaschutz       politik.                                Streiks der jüngeren Vergangen-
und gute Arbeitsplätze als Alternati-       Mit unserem Sofortprogramm          heit, bei Ryanair und Amazon. Hoff-
ve zur neoliberalen Kürzungspolitik.    für Klimagerechtigkeit bringen wir      nung auf ein gerechtes Europa resul-
Und wir fordern, dass die EZB in Zu-    wirksamen Klimaschutz und sozia-        tiert aus den vielfältigen Initiativen
kunft den sozial-ökologischen Umbau     le Gerechtigkeit zusammen. Notwen-      für bezahlbare Mieten und der Soli-
der Wirtschaft und das Ziel der Voll-   dig sind umfangreiche Investitionen     daritätsbewegung mit Geflüchteten.
beschäftigung fördert statt die Wett-   in die Energie- und Mobilitätswende,    Hoffnung auf ein ökologisches Eu-
bewerbsfähigkeit zugunsten der Kon-     in regionale Wirtschaftskreisläufe      ropa machen die Schülerinnen und
zerne.                                  und in den sozial-ökologischen Woh-     Schüler, die für Klimaschutz strei-
    Zum anderen setzen wir uns –        nungsbau. Statt die Abhängigkeit        ken. DIE LINKE geht mit einer klaren
auch außerhalb der Parlamente – ein     vom Automobil zu verfestigen, setzen    Botschaft in diesen Wahlkampf: Wir
für radikale Reformen der EU. Ein       wir uns ein für bezahlbare Bahnprei-    sind Teil der Bewegung für ein besse-
neuer Verfassungsprozess zur Demo-      se und kostenfreien Nahverkehr in       res Europa.
kratisierung der EU ist notwendig,
                                                                                                       Foto: Dirk Anhalt
damit soziale Rechte Vorrang vor
der Freiheit des Marktes bekommen,
Konzerne demokratisch kontrolliert
und das Europäische Parlament zum
eigentlichen Gesetzgeber wird.
    Erfolgreiche linke Politik muss
an die Alltagserfahrungen der Men-
schen anknüpfen. Einer Befragung
der Hans- Böckler-Stiftung zufolge
sehen nur 14 Prozent der Menschen
in Deutschland die Mitgliedschaft in
der EU negativ. Etwa ein Drittel der
Geringverdienenden ist der Meinung,
dass in der EU die Nachteile die Vor-
teile überwiegen. Eine Mehrheit von
83 Prozent der Bevölkerung befür-
wortet eine Vertiefung der europä-
ischen Zusammenarbeit. Zugleich
gibt es starke Kritik daran, wie die
EU handelt. Eine Mehrheit der Men-
schen erwartet, dass die EU den Frie-
den in Europa sichert, Konzerne stär-
ker besteuert, die Rechte der Be-
schäftigten stärkt, Armut bekämpft
und mehr für Klimaschutz tut.
    An diese Erwartungen an ein bes-
seres Europa werden wir im Wahl-
kampf anknüpfen. Wir fordern höhe-
re Steuern für Konzerne und Reiche
und höhere Löhne und soziale Absi-
cherung für alle. Nur wenn Superrei-
che und Konzerne angemessen be-

DISPUT März 2019                                                                                                    13
SEENOTRE T TUNG

Die Würde Europas ertrinkt
Wenn Menschenrechte nicht universell und unveräußerlich für alle gelten, dann gelten
sie für niemanden VON PIA KLEMP

                                                                                                         Foto: Dirk Anhalt

L
       iebe Menschenrechtsfunda-         schiffes »Iuventa« im Mittelmeer.        zweijährigen toten Jungen in der Tief-
       mentalistinnen und Menschen-      Ich war auch dabei, als es im August     kühltruhe in internationalen Gewäs-
       rechtsfundamentalisten, vielen    2017 unter fadenscheinigen Grün-         sern auf und ab, weil kein europäi-
Dank, dass ich hier heute sprechen       den in Italien beschlagnahmt wur-        sches Land ihn retten wollte, als es
darf. Ich hätte mich sehr gefreut,       de, wo es seitdem an der Kette liegt.    noch möglich war und sie uns dann
wenn ich hier auf Eurem Europapar-       Ein Schiff, mit dem allein über 14.000   einen Hafen verwehrten. Seine Mut-
teitag sagen könnte, es geht nur um      Menschen in Seenot das Leben geret-      ter war auch bei uns an Board – le-
Europa, um die sogenannten euro-         tet wurde. Als Kapitänin der »Sea-       bendig. Was sage ich einer traumati-
päischen Werte und all das. Es geht      Watch« fuhr ich weitere Rettungsein-     sierten Frau, deren Kind da in mei-
mir leider auch nicht darum, dass ich    sätze, sah nicht nur Menschen elen-      nem Gefrierschrank liegt über den
und andere freiwillige Seeleute mög-     dig ertrinken, sondern auch alltäg-      Friedensnobelpreisträger EU. Die
licherweise für bis zu 20 Jahre in Eu-   lich Menschenrechtsverletzungen im       Europäische Union setzt seit Jahren
ropa ins Gefängnis müssen, weil wir      Mittelmeer. Wir wurden Zeugen da-        auf Migrationsabwehr. Sie lässt Men-
uns strikt an internationales Recht      von, was Frauen, Männer und Kin-         schen wissentlich ertrinken, macht
gehalten haben. Es ist viel schlimmer.   der auf sich nehmen müssen, wenn         Flüchtende und Migrantinnen und
Es geht um einen Grundsatz, der gera-    ihnen sichere Einreisewege verwehrt      Migranten zu Illegalen, finanziert li-
de in diesem Land 74 Jahre nach der      werden, davon, wie Flüchtlingsboote      bysche Milizen, die in unserem Na-
Befreiung von Auschwitz und 70 Jah-      von europäischen Kriegsschiffen ig-      men Menschen in Internierungslager
re nach der Verabschiedung der all-      noriert werden und libysche Milizen      verschleppen, in denen ihnen Depor-
gemeinen Erklärung der Menschen-         brutal Menschen entführen.               tation, Vergewaltigung, Folter oder
rechte nicht zur Debatte stehen dürf-       Wir bergen Flüchtende von seeun-      der Tod drohen. So sehen die Reali-
te. Es geht darum, dass jedes Men-       tauglichen, überfüllten Schrottboo-      tät und die Normalität europäischer
schenleben gleich viel wert ist.         ten und nehmen sie auf. Manchmal         Außengrenzen aus.
    Ich war Kapitänin des Rettungs-      zu spät. Tagelang fuhr ich mit einem        Als Folge einer gezielten Abschot-

14                                                                                                       DISPUT März 2019
tungsstrategie bleibt das Mittelmeer    unter anderem Anschuldigungen we-             Juristische Einschüchterungen
die tödlichste Grenze der Welt. Und     gen Schlepperkriminalität gegen Hel-      von humanitären Helferinnen und
innerhalb Europas wird die Hil-         ferinnen und Helfer in Lesbos, tune-      Helfern darf nicht als Deckmantel für
fe für Menschen auf der Flucht blo-     sische Fischer, italienische Bürger-      die politische Verfolgung jener soli-
ckiert und kriminalisiert. Vor Malta    meister, französische Bauern, einen       darischen Bewegungen dienen, die
und Italien spielen sich wochenlan-     deutschen Diakon und 24 Rettungs-         es gewagt haben, gegen das durch
ge Hängepartien ab. Gerettete müs-      kräfte von vier Hilfsorganisationen       das EU-Grenzregime verursachte
sen tagelang an Bord eines Schiffes     erhoben. Das »Institute of Race Rela-     Sterben Stellung zu beziehen. Ganz
bleiben, bis sich europäische Staaten   tions« hatte in den beiden Jahren zu-     im Gegenteil muss die unterlassene
finden, auf die die wenigen Flüch-      vor insgesamt 45 Fälle von Personen       Hilfeleistung seitens der EU und die
tenden verteilt werden. NGO-Schiffe     aus ganz Europa gemeldet, die wegen       strafrechtliche Verfolgung humani-
werden rechtswidrig in Häfen festge-    ihres solidarischen Handelns krimi-       tärer Hilfe als das benannt werden,
setzt, Flaggen werden entzogen, offi-   nalisiert wurden.                         was sie ist: grundlegend falsch, men-
zielle Dokumente angezweifelt, und         Die Vielzahl der Verfolgten und        schenverachtend und unzulässig.
die Besatzung sieht sich mit hanebü-    blockierten Helferinnen und Hel-              Ich freue mich, in eurem Wahl-
chenen Vorwürfen von Schlepperei        fer aus der Zivilgesellschaft offen-      programm zu lesen, dass ihr die Ur-
konfrontiert. Aus Angst vor solchen     bart ein unheilvolles Motiv: die sys-     sachen von Flucht und Vertreibung
Situationen und vor potentieller Kri-   tematische Unterbindung von Hilfs-        bekämpfen wollt. Ihr dürft dabei nur
minalisierung kommen deshalb auch       maßnahmen für Menschen auf der            nicht den Klimawandel vergessen,
immer weniger Handelsschiffe ihrer      Flucht. Aber weitaus wichtiger als        denn der wird einer der Hauptfluch-
seerechtlichen Pflicht zur Rettung      die Schikane und die Verfolgung, der      tursachen werden. Ich lese, dass Ihr
nach. Momentan ist nur ein einziges     wir ausgesetzt sind, ist das Schick-      sichere Fluchtwege schaffen wollt,
NGO-Schiff, die »Alankodu«, im Ein-     sal derer, die völlig ihrer Rechte be-    damit das Sterben im Mittelmeer auf-
satzgebiet. Alle anderen NGO-Schif-     raubt sind, derer, die weiterhin tag-     hört, dass Ihr die Festung Europa ab-
fe sind blockiert oder mussten ihren    täglich bei der Suche nach Schutz, bei    reißen wollt und offene Grenzen für
Dienst ganz einstellen. Wie das alles   dem Versuch, das europäische Fest-        Menschen in Not fordert. Ja, macht
mit der immens gestiegenen Todesra-     land zu erreichen, sterben. Es steht      das bitte, und macht das mit Feuerei-
te zusammenhängt, erklärt sich von      uns nicht zu, die Beweggründe ihrer       fer, denn die eklatanten Folgen euro-
selbst.                                 Suche nach Zuflucht zu hinterfragen,      päischer Abschottungspolitik ergie-
   Die Kriminalisierung trifft auch     während ihr Leben in unmittelbarer        ßen sich nicht nur in der politischen
Einzelpersonen. Italien ermittelt mit   Gefahr ist. Es war und bleibt unser       Verfolgung von Helferinnen und Hel-
einem unfassbaren Aufwand wegen         aller Verantwortung, Menschenle-          fern; in Folter, Vergewaltigung und
Beihilfe zu illegalen Einwanderun-      ben zu retten, wann immer es mög-         Tod von tausenden schutzsuchenden
gen gegen uns, gegen zehn Mitglie-      lich ist, Schutz zu bieten, wo er benö-   Flüchtenden, sondern führen uns zu-
der der »Iuventa«-Crew. Im Falle ei-    tigt wird, und jedem Menschen mit         rück zu einer Gesellschaft, in der das
ner Verurteilung drohen uns bis zu      Würde und unter Berücksichtigung          Leben des einen weniger wert ist als
20 Jahre Haft dafür, dass wir Leben     der universell geltenden Menschen-        das des anderen, zurück zu einem
gerettet haben. Als Unterstützerin-     rechte zu begegnen. Die Rettung von       Europa, in dem die Ungleichheit von
nen und Unterstützer von Flüchten-      Menschen auf See ist eine Pflicht,        Menschen perfides System hat.
den und Migrantinnen und Migran-        nicht bloß ein Recht und gewiss kein          Wenn Menschenrechte nicht uni-
ten verteidigen wir Menschenrechte.     Verbrechen.                               versell und unveräußerlich für alle
Daher sollte unsere Arbeit gemäß Ar-       Trotzdem. Ich kann hier heute          gelten, dann gelten sie für niemanden
tikel 18 der Richtlinien und Grund-     auf Eurem Parteitag stehen, weil ich      – nicht für mich und nicht für dich.
sätze des Hochkommissariats der         nicht auf See bin, nicht auf See sein     So erschreckend es ist, dass man es
Vereinten Nationen für Menschen-        darf, weil mir U-Haft in Italien droht,   überhaupt noch sagen muss, umso
rechte geschützt und erleichtert wer-   wenn ich noch einen weiteren Men-         wichtiger ist es, dass man es laut und
den. Aber das Gegenteil ist der Fall.   schen aus Seenot rette. Ja, ich könnte    deutlich tut.
   Wir solidarischen Kräfte sind ein    in den Knast gehen, wenn ich ein Le-
Riss in der Mauer der Festung Euro-     ben rette, das eines Flüchtenden, ver-       Pia Klemp ist Kapitänin des Seenot-
pa, und wir sind nicht gern gesehen.    steht sich. Bei der Rettung des Inha-        rettungsschiffes »Sea-Watch 3«.
Heute kann es in Europa zur Straftat    bers eines europäischen Passes wür-          Die hier abgedruckte Rede hielt sie
werden, Menschen in Not zu helfen.      de mir nichts passieren. Soweit sind         auf dem Europaparteitag der
Im Verlauf des Jahres 2018 wurden       wir hier.                                    LINKEN.

DISPUT März 2019                                                                                                           15
INTERNATIONALER FR AUENTAG

Für das schöne Leben
Der 8. März soll in diesem Jahr zu einem Frauenstreiktag werden, denn noch immer sind wir
von wahrer Gleichberechtigung weit entfernt VON KERSTIN WOLTER

A
         m 8. März wollen Frauen in        in Deutschland. Doch von vollkom-         griffen. Die Folgen neoliberaler Poli-
         ganz Deutschland die Arbeit       mener Gleichberechtigung sind wir         tik durch massive Kürzungen, Priva-
         niederlegen. Sie gehen in den     noch weit entfernt. Schlimmer noch:       tisierungen und immer schlechtere
Streik. Damit findet das erste Mal seit    Bereits errungene Rechte liefen und       Jobs treffen Frauen im besonderen
25 Jahren in diesem Land wieder ein        laufen Gefahr, rückgängig gemacht         Maße. So ist Altersarmut mehrheit-
Frauenstreik statt. Wenn diese Frau-       zu werden. Ein großer Rückschritt –       lich weiblich. EU-weit leben mehr
en von Arbeit reden, dann meinen sie       vor allem für die Frauen aus der DDR      Frauen (16 Prozent) als Männer (12
nicht nur jene Arbeiten, für die sie ei-   – war in Deutschland bereits vor bald     Prozent) im Rentenalter in Armut.
nen Lohn bekommen, sondern auch            30 Jahren die Anpassung des neuen         Das liegt vor allem an fehlenden Ein-
jene unzähligen Stunden an unbe-           deutschen Rechtssystems an die Ge-        kommensjahren während die Kin-
zahlter Haus- und Erziehungsarbeit.        setze der früheren BRD. Diese wa-         der klein sind und schlecht bezahl-
Sie meinen auch die vielen ehren-          ren an vielen Stellen – beispielswei-     ten Teilzeit-Jobs. In den Ländern der
amtlichen Tätigkeiten in sozialen Be-      se beim Recht auf Abtreibung und in       Europäischen Union verdienen Frau-
reichen, vor allem von Seniorinnen.        Bezug auf Gewalt in der Ehe – weni-       en heute immer noch durchschnitt-
Nicht zu vergessen die emotionale          ger fortschrittlich als das DDR-Recht.    lich 16,2 Prozent weniger als Män-
Arbeit, die Frauen täglich in der Fa-      Heute wollen neue Rechte und ihnen        ner. Deutschland bildet mit rund 21
milie, in Freundschaften, aber auch        vorauseilende Konservative erneut         Prozent eines der Schlusslichter. Hin-
auf der Arbeit leisten.                    Frauenrechte in Frage stellen. Das        zu kommt, dass Frauen weiterhin den
   Wie soll das gehen, mag man sich        betrifft nicht nur die Rolle von Frau-    Großteil der nicht entlohnten Haus-,
fragen? Wie soll ein Streik nicht nur      en und Männern in der Gesellschaft        Erziehungs- und Pflegearbeit leisten.
innerhalb, sondern auch außerhalb          – regelmäßig sprechen Rechte und          Die Kürzungen in der sozialen Infra-
des Betriebes funktionieren? Frauen        Faschisten auf der ganzen Welt vom        struktur Europas durch die Auste-
auf der ganzen Welt haben es bereits       »Genderwahn« und berufen sich auf         ritätspolitik des letzten Jahrzehnts
vorgemacht. Im vergangenen Jahr,           die alten Tugenden der Männlichkeit       wurden insbesondere von Frauen
am 8. März, gingen beispielsweise in       – sondern es geht auch um konkrete        privat aufgefangen. Ihre doppelte Be-
Spanien schätzungsweise sechs Mil-         rechtliche Verschlechterungen.            lastung spitzt sich also zu, ohne dass
lionen Frauen gegen Ausbeutung,                                                      sie durch ökonomische Eigenständig-
Gewalt und Ungleichbehandlung in                                                     keit aufgewogen wird. Diese ökono-
den Streik und inspirierten damit             Streiks in 50 Ländern                  mische Schlechterstellung drückt
auch Frauen in Deutschland. Sie leg-                                                 sich auf grausame Weise auch in Dis-
ten entlohnte und nicht entlohnte Ar-      In Spanien und Polen gab es Versu-        kriminierung, Sexismus, Missbrauch
beit nieder, wo es ging. Sie blockier-     che, das Recht auf Abtreibung einzu-      und Gewalt in der Familie, am Ar-
ten Straßen und Autobahnen, legten         schränken, was durch große Protes-        beitsplatz oder im öffentlichen Raum
den Bahnverkehr zum Teil lahm und          te in Spanien und einen Frauenstreik      aus. Jede dritte Frau in der EU hat
schmückten die Häuser und Straßen          in Polen zunächst verhindert werden       körperliche oder sexuelle Gewalt er-
mit lila Kleidungsstücken. »Wenn wir       konnte. Auch in Deutschland werden        fahren. Es fehlen systematische Ana-
streiken, steht die Welt still«, war ihr   Schwangerschaftsabbrüche bis heu-         lysen, doch gibt es Anzeichen dafür,
Motto und es soll auch das Motto des       te kriminalisiert. Durch den Fall der     dass geschlechterspezifische und ins-
hiesigen Streiks werden. Doch war-         Ärztin Kristina Hänel, die aufgrund       besondere häusliche Gewalt gerade
um sind in Spanien so viele Frauen         von Informationen über Schwanger-         in Zeiten ökonomischer Krisen zu-
in den Streik gegangen, und warum          schaftsabbrüche auf ihrer Website         nimmt.
wird auch in Deutschland am Frau-          zu einer hohen Geldstraße verurteilt          Diese Zustände wollen sich Mil-
enstreik gearbeitet? Die Verhältnis-       wurde, wird das Thema des Informa-        lionen Frauen in Europa nicht län-
se in Spanien sind nicht die gleichen      tionsrechts wieder in der Öffentlich-     ger gefallen lassen. Sie wehren sich
wie in Deutschland und doch liegen         keit diskutiert. Der Paragraph 219a,      auf vielfältige Weise. Der Streik ist
die Gründe für einen feministischen        der dieses Informationsrecht verbie-      dabei eine Widerstandspraxis, die
Streik gar nicht so weit auseinander.      tet, soll nun nach vielen Protesten re-   bereits in der Vergangenheit erfolg-
   Europaweit wurden im vergange-          formiert werden. Doch was nach ei-        reich erprobt wurde. In Island streik-
nen Jahrhundert zwar viele Frauen-         ner Lockerung aussieht, verschlech-       ten 1975 etwa 90 Prozent der Frauen
rechte erkämpft – erst vor wenigen         tert das Recht auf Information durch      und setzten so Verbesserungen in der
Monaten jährte sich zum 100. Mal die       Ärztinnen und Ärzte weiter.               Kinderbetreuung durch. Die Schwei-
Einführung des Frauenwahlrechts                Doch nicht nur frauenspezifische      zerinnen nahmen 1991 den Streik
im Zuge der Novemberrevolution             Rechte werden immer häufiger ange-        der Isländerinnen zum Vorbild und

16                                                                                                          DISPUT März 2019
In Island streikten 1975 etwa 90 Prozent
                                                      der Frauen und setzten so Verbesserungen
                                                                 in der Kinderbetreuung durch.

Bereits im vergangenen Jahr forderten in Deutschland viele Frauen am 8. März ihre Rechte ein. Foto: Martin Heinlein

streikten für Verbesserungen im Ar-         enstreik aufzurufen, denn der politi-       zeigen und zum Beispiel die Sorgear-
beitsrecht – mit Erfolg. Die Ausei-         sche Streik wird in Deutschland be-         beit für das gemeinsame Kind oder
nandersetzungen um den Paragra-             straft. Doch auch wer am 8. März            den pflegebedürftigen Vater an die-
phen 218 und die permanente Miss-           nicht den Arbeitsplatz verlassen            sem Tag komplett zu übernehmen.
achtung der Perspektive von Frauen          kann, weil sie sonst Gefahr läuft, den          Nun könnte man meinen, dass ein
in der Post-Wendezeit führte auch in        Job zu riskieren, kann zum Beispiel         einmaliger Streik nicht viel mehr als
Deutschland bereits 1994 zu einem           eine politische Mittagspause einbe-         ein symbolischer Akt sein wird, ohne
Frauenstreik, an dem sich etwa ei-          rufen und mit den Kolleginnen vor           große Folgen. Doch der 8. März 2019
ne Million Frauen beteiligten. Die          das Haus ziehen, um ungerechte Be-          ist nur ein Anfang. Die vielen Netz-
Geschichte des Frauenstreiks setzte         zahlung, Sexismus am Arbeitsplatz           werke, die in den letzten Monaten
sich fort. Im Jahr 2017 fanden bereits      oder fehlendes Personal zu themati-         geknüpft wurden, wollen auch über
in über 50 Ländern weltweit Frau-           sieren. Der Kreativität sind hier kei-      den Frauenstreiktag 2019 hinaus ak-
enstreikaktionen am 8. März statt. In       ne Grenzen gesetzt, denn der Streik         tiv bleiben. Ganz nach dem Motto:
Deutschland wollen sich nun das ers-        gehört niemandem, außer uns allen.          Nach dem Streik ist vor dem Streik.
te Mal seit 25 Jahren Frauen dieser            DIE LINKE schließt sich den Pro-             Weitere Informationen zum
globalen Streikbewegung anschlie-           testen an und ruft dazu auf, sich an        Frauen*streik, den lokalen Netzwer-
ßen. Seit letztem Mai haben sich in         den zahlreichen Streikaktivitäten zu        ken und Streikideen auf www.frau-
über 30 Städten und kleineren Or-           beteiligen und an den vielen Demons-        enstreik.org.
ten Frauen-Streiknetzwerke gegrün-          trationen zum 8. März und damit am
det. Es gibt einen engen Austausch          Frauenstreiktag teilzunehmen. Män-             Kerstin Wolter ist Mitglieder der
mit den Gewerkschaften. Für sie ist         ner ruft DIE LINKE dazu auf, sich mit          LINKEN und Mitinitiatorin des
es nicht so einfach, zu einem Frau-         den Streiks der Frauen solidarisch zu          Frauenstreiks

DISPUT März 2019                                                                                                               17
FR AUENSTREIK

 »Wir müssen uns nur trauen«
ALEXANDRA WISCHNEWSKI über die Vorbereitungen und die Resonanz auf den
geplanten Frauenstreik am 8. März

                                                                                  führt wird, dann bitte gerne bei uns
                                                                                  melden, denn wir versuchen Inter-
                                                                                  essierte zusammen zu bringen. Oder
                                                                                  einfach selbst eine Ortsgruppe grün-
                                                                                  den. Gerade in kleineren Städten
                                                                                  wäre das toll. Ich glaube auch, dass
                                                                                  gerade DIE LINKE eine sehr, sehr
                                                                                  gute Infrastruktur dafür bietet, um
                                                                                  über den Frauenstreik zu informie-
                                                                                  ren und sich zu organisieren und zu-
                                                                                  sammenzuschließen.
                                                                                  Wie soll der Streik aussehen?
                                                                                  Der 8. März soll allen Frauen die
                                                                                  Möglichkeit geben, ihre eigenen
                                                                                  Streikformen zu finden, die zu ihrer
                                                                                  Realität passen. Wir wollen zwar,
                                                                                  dass Streik am Arbeitsplatz statt-
                                                                                  findet, befinden uns dabei aber in
                                                                                  einer schwierigen Situation, da es
                                                                                  ja ein politischer Streik ist. Darum
                                                                                  schlagen wir auch andere Formen
                                                                                  des Streiks vor. In Betrieben kön-
                                                                                  nen zum Beispiel Betriebsversamm-
                                                                                  lungen an dem Tag einberufen wer-
                                                                                  den, in denen über das Recht auf
                                                                                  gleiche Entlohnung gesprochen
                                                                                  wird. Oder es kann symbolische
                                                                                  Mittagspausen geben. Es gibt auch
                                                                                  die Idee einer symbolischen Urab-
                                                                                  stimmung, ob man denn gern strei-
                                                                                  ken würde. Wir wollen aber auch
                                                                                  Frauen mobilisieren, die unbezahl-
                                                                                  te Haus- und Pflegearbeit leisten.
                                                                                  Das ist natürlich schwieriger, weil
                                                                                  Kinder oder zu pflegende Angehöri-
                                                                                  ge nicht so zur Seite gelegt werden
                                                                                  können wie ein Stift oder ein Ak-
                                                                                  tenordner. Deshalb haben wir uns
                                                  Foto und Grafik: Bianca Theis   hier kreative Formen überlegt, sei
                                                                                  es Tücher aus dem Fenster zu hän-
Du bist aktiv bei den Vorberei-       Wir sagen allen, die uns fragen, wie        gen oder die Nachbarinnen zu einer
tungen zum 8. März. Wie plant         sie für den Frauenstreik mobilisie-         kleinen Versammlung einzuberu-
ihr einen bundesweiten Frau-          ren können: Der erste Schritt ist,          fen. Wir haben auch einen Lohnzet-
enstreik?                             sprich mit deiner Umgebung, sprich          tel für Hausfrauen erstellt, der aus-
Der Frauenstreik ist dezentral an-    mit anderen Frauen um dich herum            gefüllt zum Beispiel über Social-Me-
gelegt. Es gibt einen gemeinsamen     und frage sie, was sie davon halten,        dia-Kanäle verbreitet werden kann.
Aufruf, der auf dem ersten bundes-    warum sie gerne streiken würden             Und wir rufen wie jedes Jahr zur
weiten Frauenstreik-Treffen ent-      oder eben nicht. Tausch dich aus.           Frauenkampftagsdemo auf.
schieden wurde. Interessierte kön-    Dazu braucht es meist aber erstmal          Du hast erwähnt, dass der
nen sich entweder einer schon be-     einen persönlichen Kontakt. Auf der         Frauenstreik ein politischer
stehenden Ortsgruppe anschließen,     Webseite haben wir eine Liste von           Streik ist. Wie unterscheidet
selbst eine gründen oder ganz indi-   Ortsgruppen, aber auch wenn kei-            sich denn ein politischer Streik
viduell bei dem Streik mitmachen.     ne nahestehende Ortsgruppe aufge-           von herkömmlichen Streiks?

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