Universitas Europa Comment vas-tu ? - Université de Fribourg
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universitas
AVRIL 2016-03 I LE MAGAZINE DE L’UNIVERSITÉ DE FRIBOURG, SUISSE I DAS MAGAZIN DER UNIVERSITÄT FREIBURG, SCHWEIZ
Europa
Comment vas-tu ?Edito Inhalt
Die Flagge der Europäischen Union zeigt
zwölf Sterne auf blauem Grund. Wir zei
gen zwölf Bilder von Ereignissen, die Eu
ropa im Laufe der letzten rund 70 Jahre
geprägt haben. Beim Betrachten der Aus
wahl wird schnell klar: Europa hat gelit
ten. Und Europa hat sich verändert. Die
EU ist entstanden und gewachsen, Län
der wurden geteilt, neue Staaten gegrün
det und die Mauer als Teil des Eisernen
Vorhangs ist gefallen.
Die Zeiten des Umbruchs sind nicht vor
bei; erreicht Geglaubtes steht auf dem
Prüfstand. Die Artikel im Dossier des
vorliegenden Magazins setzen sich, un
ter anderem, mit der Frage auseinander,
wie und ob Europa die aktuelle Krise
meistern kann – und wie es überhaupt
dazu gekommen ist. So wirft Gilbert Ca
sasus im Interview mit universitas die
Frage auf: «Was bringt ein gemeinsames
Europa?» Der Professor für Europastudi
en spielt dabei auf den zunehmenden In
dividualismus der EU-Mitgliedstaaten
an. Auf den Mangel an Solidarität, den Ende des Zweiten Weltkriegs
1945
Verlust des Friedensgedankens, der bei 8. Mai 1945, Tag der Befreiung. Die Menge feiert das Ende des Zweiten
der Entstehung des Projekts Europa eine Weltkriegs in den Strassen von Paris. In verschiedenen europäischen
Zentrale Rolle spielte. Die Rechtsprofes Ländern wird der 8. Mai als Gedenktag gefeiert, an dem der bedingungs
sorin und Migrationsexpertin Sarah Pro losen Kapitulation der Wehrmacht und dem Kriegsende gedacht wird.
gin-Theuerkauf untersucht in ihrem Bei
trag das in den Medien prognostizierte
Ende von «Schengen und Dublin». Sind
die beiden Systeme in ihrer aktuellen
Form in der Lage, die Flüchtlingskrise 8 dossier > Europa
aufzufangen?
In seinem «Libro del Cortegiano» beschreibt 4 fokus
Baldassare Castiglione zu Beginn des 16. Wissenschaftsplattform: Science matters – what else?
Jahrhunderts die ideale höfische Gesell
schaft. Seine Vorstellung des gesellschaft 54 recherche
lichen Ideals hat Europa geprägt, und sei Carrière professionnelle : Travailler sans diplôme, et après ?
nem Appell zum respektvollen Umgang
miteinander, zur Anerkennung und nicht 56 recherche
zur Unterdrückung von Unterschieden, Sociologie : La spirale de la délinquance juvénile
sollte, so der Professor für italienische
Literatur Uberto Motta, gerade heute 58 portrait
wieder mehr Gehör geschenkt werden. Thomas Truttmann, Marketing & Communications Director,
Solidarität – und Sprezzatura. McDonald’s Schweiz
60 lectures
Herzlich,
62 news
Claudia Brülhart
Chefredaktorin
Fotos: www.keystone.ch
UNIVERSITAS / APRIL 2016 3Science matters –
fokus
what else?
Täglich schiessen im Zeichen des digitalen Wandels neue Geschäftsmodelle aus
dem Boden. Nur das wissenschaftliche Publizieren hat sich seit der Aufklärung
nicht verändert. Bringt die Online-Plattform «Matters» die Revolution? Roland Fischer
Man schicke einer geschätzten Zeitschrift scheren – ein interessanter Befund aus dem
einen Brief, in welchem man seine For Labor soll so ohne Umwege rasch veröffent
schungsarbeit schön von A (Anfangsidee) licht werden können. Solche «single obser
bis Z (Zerpflücken der Argumente der Kolle vations» seien viel rascher und unkompli
gen mit anderen Ansichten) schildere, war zierter auf ihre Publikationswürdigkeit hin
te anschliessend auf die mehr oder weniger zu beurteilen – das schlanke Peer-Review-
freundliche Genehmigung und mache sich System von Matters werde dies bestenfalls
dann daran, die nächste interessante Story innert Stunden erledigen, verspricht Ra
zu entwickeln. Alles ziemlich langsam und jendran. Dies weil die Reviewer sich um ein
ziemlich intransparent. Und voller falscher wichtiges Beurteilungskriterium nicht zu
Anreize, findet Lawrence Rajendran. Also kümmern brauchen: um die Relevanz (siehe
hat der Molekularbiologe der Universität auch Interview auf Seite 6). Diese zu beurtei
Zürich in den letzten Jahren über eine zeit len obliegt der Community, die auf Matters
gemässere und vor allem bessere Art des aktiv ist – die Plattform wird nach den drei
Publizierens nachgedacht – und dies hat Schlagworten Open Access, Open Data und
Früchte getragen. Matters. Stories can wait, Open Science funktionieren. Erfährt eine
science can’t. So heisst es im Logo der Web Beobachtung viel Aufmerksamkeit, wird sie
seite, die ein kleines Team um Rajendran geteilt, kommentiert, erweitert oder mit an
Ende Februar aufgeschaltet hat. Ja, er will deren Beobachtungen verlinkt, und dann
mit Matters ein wenig die Welt verbessern. wird sie automatisch sichtbarer. Die Crowd
Aber er will auf keinen Fall ein neuer Reed wird also beurteilen, was interessant ist,
Elsevier oder ein Springer werden. welche Legosteine besonders wertvolle Ei
genschaften haben. Ganz ohne Peer Review
Lego für Forschende wird es aber auch auf Matters nicht gehen:
Rajendran nennt Storytelling «das Para Rajendran hat ein grosses Editorial Board
digma des wissenschaftlichen Publizie versammelt, das beurteilen soll, ob das
rens». Und er glaubt, dass man mit diesem kommunizierte Resultat methodisch in
Paradigma schleunigst aufräumen sollte – Ordnung ist. Wenn die Experten der Ansicht
ja, schon längst hätte aufräumen sollen. Ei sind, dass da seriös gearbeitet worden ist,
nerseits, weil die Möglichkeiten des Digital geben sie grünes Licht und die Beobachtung
zeitalters ganz andere Arten des Teilens und wird aufgeschaltet.
Bewertens von Informationen möglich ma
chen und andererseits, weil er viele der Pro Dreifacher Blindtest
bleme, die das Wissenschaftssystem derzeit Dabei haben die Reviewer keine Ahnung,
plagen, mit dem Geschichtenerzählen in von wem die Beobachtung kommt. Rajen
Zusammenhang bringt. Er möchte die For dran nennt dies «Triple-blind Peer review»:
schergemeinde dazu bringen, einzelne Be weder Reviewer noch Autor noch Editor
obachtungen zu kommunizieren, ein we kennen ihre jeweilige Identität. Rajendran
nig wie Erkenntnis-Legosteine. Und sich selber stammt aus einfachen Verhältnissen,
zunächst einmal nicht um den grösseren aus Indien. Daher auch seine Mission: Nicht
Zusammenhang der Beobachtungen zu der klingende Name einer Hochschule oder
4 UNIVERSITAS / AVRIL 2016eines Journals soll einem Forschungsresul
tat zu Aufmerksamkeit verhelfen, sondern
einzig als wie wertvoll es sich für die For
schergemeinde erweist. Bestenfalls könn
ten so in Zukunft sogar Amateurforschende
(Liebhaber der Wissenschaft) ohne formale
Hochschulanstellung oder gar -ausbildung
zum grossen Gebäude der Wissenschaft bei
tragen. Fast scheint Rajendran ein wenig
enttäuscht, wenn er vom «Best-of-Schau
fenster» auf Matters Select erzählt, in dem
die besten Beobachtungen präsentiert wer
den: Erst eine Publikation hat es in diesen
exklusiven Club geschafft; sie kommt – no
tabene – aus Harvard.
Gefährliche Geschichten
Die Steine zu einem grösseren Ganzen zu
© University of Zurich
sammenzusetzen, das kommt in der Mat
ters-Philosophie erst an zweiter Stelle. Der
«Newswert» einer Forschungsarbeit sei das
Fundament des jetzigen Publikations
systems – und das ist vor allem aus zwei
Gründen problematisch, findet Rajendran: Matters-Gründer und Forscher Lawrence Rajendran will Publikationshürden abbauen – für alle.
Erstens würden so keine Anreize für For
scher bestehen, bereits publizierte Resul Keime von Ideen in grosser Zahl zu generie
tate zu überprüfen, also Replikationsstu ren und sich dann nicht um ihr weiteres
dien zu machen. Dieser Umstand lässt Spriessen zu kümmern.» Aber das sei
(zumindest in manchen Forschungsfel schwer vorauszusehen – und hänge dann ja
dern) das gesamte Wissenschaftsgebäude vor allem davon ab, wie die Forschungsar
wacklig werden, weil die Resultate auf sta beit honoriert werde. Es wird tatsächlich
tistisch schwachen Beinen stehen – unter interessant sein zu verfolgen, wie die Insti
den Epidemiologen beispielsweise geht tutionen und Forschungsbehörden auf die
das Bonmot, dass auch bei Studien prinzi se neue Art des Publizierens reagieren –
piell «einmal ist keinmal» gelte. Und zwei schliesslich hat man auch da erkannt, dass
tens schaffe dieser Fokus auf der schönen die Fixation auf Publikationen in Topjour
und möglichst überraschenden Geschich nals in die forschungspolitische Sackgasse
te ungute Anreize, seine Schlussfolgerun führt. Rajendran erwartet, dass sich, wenn
gen nach Bedarf ein wenig zurechtzubie seine Idee richtig einschlägt, andere Jour
gen und die Daten entsprechend besser nals auf das Storytelling spezialisieren: dass
aussehen zu lassen als sie womöglich sind. es also spezifische Review Journals geben
Das muss nicht mal bis zum offensichtli wird, deren Aufgabe es ist, aus den Einzel
chen Betrug gehen, es gibt viel subtilere beobachtungen grössere Zusammenhänge
Mittel, die Daten zu «foltern, bis sie geste zu schaffen – und sich dabei womöglich auf
hen», wie Statistiker scherzhaft – aber wohl Beobachtungen aus ganz unterschiedli
sehr treffend – sagen. chen institutionellen Kontexten stützen,
Stichwort Anreize: die lassen sich ja nicht die von der Crowd schon mal provisorisch
ganz aus der Welt schaffen, sondern höchs verwoben worden sind. Auch eine interes
tens zum besseren verändern. Sieht der Pio sante Frage: Wird es im Beruf des Forschers
nier auch problematische Anreize bei sei dann eine Auffächerung geben? Wird es die
nem Publikationsmodell? Er zögert mit der obsessiven Beobachter auf der einen und
Antwort und meint, das sei eine gute Frage. die assoziierenden Geschichtenerzähler auf
«Womöglich wird es dazu führen, nur noch der anderen Seite geben?
UNIVERSITAS / APRIL 2016 5fokus Everybody’s Baby die Anschubfinanzierung sichergestellt
Egal wie sich die Dinge entwickeln – bis hat, und nicht an Risikokapitalgeber, die
dahin müssen sie ja auch finanziert wer in Matters womöglich so etwas wie das
den können. Das Matters-Modell sieht ei Soziale Netzwerk der Zukunft im Wissen
nen Beitrag der Forschenden für das Auf schaftsbereich sehen und es dabei vor al
schalten ihres Beitrags vor – der allerdings lem auf die aggregierten Daten abgese
im Vergleich beispielsweise mit «Nature hen haben könnten. Die fixe Idee, die
Communications» (wo über 5000 Dollar Rajendran die letzten Jahre umgetrieben
für eine Publikation fällig sind) durchaus hat, will er jetzt, da sie Realität zu werden
bescheiden ausfällt: 150 Dollar pro publi verspricht, nicht so einfach wieder aus
zierte Beobachtung. Davon geht die Hälfte der Hand geben. Statt der Goldgräber
an die Reviewer, die andere Hälfte behält stimmung im Silicon Valley sucht er lie
Matters. «Im Moment basiert unser Busi ber den Kontakt zu Gleichgesinnten wie
nessmodell auf 75 Dollar» sagt Rajendran etwa der Open Knowledge Foundation.
mit einem Lachen und vergleicht die Idee Und wiederholt seine Mission: Matters
mit dem «Swatch-Modell». Man sei auf der soll allen zugute kommen, und zwar
Suche nach weiteren Inves toren, dabei nicht mehr nur allen ohnehin Privilegier
denkt er aber eher an Geldgeber wie die ten, sondern wirklich allen, die sich für
Velux-Stiftung, die auf grosszügige Weise Forschungbegeistern.
«Um die Relevanz geht es nicht»
Prof. Urs Albrecht ist Mitglied des grossen Editorial Boards von Matters. Im Ge-
spräch mit universitas spricht er über Stärken und Schwächen der neuen Plattform.
Urs Albrecht, worin besteht Ihre Aufgabe? Resultat muss man interpretieren. Und die
Wir überprüfen, ob die eingereichten se Interpretation ist bis zu einem gewissen
Arbeiten methodisch solide sind. Das er Grad subjektiv; jemand anderes kann eine
ledigen wir entweder selbst oder suchen andere Geschichte ableiten – aus denselben
passende Reviewer, wenn wir nicht über Daten. Dasselbe gilt für die Frage der Rele
die nötige Expertise verfügen. vanz – nicht jedes Resultat muss für jeden
gleich relevant sein. Das zuzulassen könnte
Weisen Sie Arbeiten auch zurück, weil Sie gerade die Stärke von Matters sein.
sie als zuwenig bedeutsam erachten?
Nein, das ist ja das besondere am Review- Sehen Sie auch Schwächen?
Prozess bei Matters; um die Relevanz geht Ja, es gibt bestimmt Wege, den Bewertungs
es nicht. Wenn jemand denkt, eine inter prozess durch die Community zu mani
essante Beobachtung gemacht zu haben, pulieren. Zudem könnte es sein, dass ein
kann er sie bei uns präsentieren, ohne gros Modell wie Matters Anreize schafft, alles
sen Kontext. Das reduziert den Stress der mögliche zu publizieren, dass wir es also
«Geschichtenkonstruktion», wie ich das mit einer Flut von uninteressanten Beob
mal nennen möchte. achtungen zu tun bekommen.
Was ist denn so verkehrt an einer guten Wie sind Sie zu Matters gekommen? Gibt
Geschichte? es einen Dissidentenclub, der nach We-
Im Prinzip nichts. Aber wenn der Fokus gen sucht, um das Problem des Story-
zu stark auf ihr liegt, kann sie zur Feh tellings zu lösen? Ganz ehrlich: Dass sich
linterpretation von Resultaten führen, daran etwas ändert – da ist niemand dage
dazu, dass man die gefundene Beobach gen. In der Forschergemeinde ist man sich
Urs Albrecht ist Professor tung in eine Theorie hineinpasst. Man eigentlich einig, dass es um den Content
am Departement für Biologie der muss als Forscher immer auf der Hut sein, und nicht um die Stories geht. Aber indi
Universität Freiburg. Der Bio- damit man seine Resultate nicht über rekt sind wir wohl auch ein wenig selber
chemiker untersucht mit seinem interpretiert. schuld an dem Missstand: im hektischen
Team die Mechanismen der inneren Forschungsbetrieb schauen wir uns bei
Uhr und deren Auswirkung auf Wissenschaft besteht also nicht aus Fak- Bewerbungen die geleistete Arbeit nicht
das Denken und Verhalten von ten, sondern aus Interpretationen ? mehr so genau an, sondern blättern gleich
Menschen und Mäusen. Etwas weniger strikt formuliert: Ja. Jedes zur Publikationsliste. RF
urs.albrecht@unifr.ch
6 UNIVERSITAS / AVRIL 2016Économie, Droits de l’Homme,
Culture et littérature
Wirtschaft, Menschenrechte,
Kultur und Literatur
41e Journée de l’Europe
de l’Université de Fribourg
Europatag
der Universität Freiburg
Mercredi 27 avril
Mittwoch, 27. April 2016
Don Quijote reitet über alle Grenzen
Europa als Raum der Inspiration
Vortrag von Peter von Matt
Schriftsteller und emeritierter Professor für Neuere
Deutsche Literatur an der Universität Zürich
17h15, Auditorium «Joseph Deiss»,
Bd de Pérolles 90, PER 22
CENTRE D’ÉTUDES EUROPÉENNES ZENTRUM FÜR EUROPASTUDIEN
BOULEVARD DE PÉROLLES 90, 1700 FRIBOURG BOULEVARD DE PÉROLLES 90, 1700 FREIBURGEuropa
dossier
10 «Die EU ist so nicht praktikabel»
Daniel Ryser
14 Existe-t-il un style de management européen ?
Eric Davoine
16 Europa an seinen Grenzen
Sarah Progin-Theuerkauf
20 Europakompatibler Islam
Hansjörg Schmid
23 Suisse – UE : vers des défis considérables
Philippe G. Nell
26 Grundlegendes zum «Volkswillen»
Astrid Epiney
28 Des chercheurs dans le flou
Christian Doninelli
31 Warum in die Ferne schweifen?
Dirk Morschett
34 Tauwetter in Europa
Christian Hauck
36 Les Etats-Unis d’Europe
Gilbert Casasus
39 Ökumene für ein alternatives Europa
Barbara Hallensleben
42 L’Europe : une question linguistique et sociale
Zorana Sokolovska
44 Keine EU im Mittelalter
Hans-Joachim Schmidt
46 Un livre pour l’Europe
Uberto Motta
49 Europa: Exklusion und Inklusion
Mariano Delgado
51 Une Europe spirituelle à deux poumons
François-Xavier Amherdt
8 UNIVERSITAS / AVRIL 20161957 Les traités de Rome Les traités de Rome furent signés le 25 mars 1957 dans la salle des Horaces et des Curiaces du Capitole. Ces traités ont donné naissance au Marché commun.
«Die EU ist so nicht
dossier
praktikabel»
Die Erweiterung der EU offenbart nicht nur ein Demokratiedefizit, sie hat auch
zum Verlust zentraler Werte wie der Solidarität geführt, sagt Gilbert Casasus,
Professor für Europastudien. Er fordert radikale Reformen. Daniel Ryser
Gilbert Casasus, die aktuelle Krise lässt wurde, fehlten mobilisierende Themen.
uns gerade in rasantem Tempo gewahr Die Migration ist eine verpasste Chance,
werden, dass die EU halt doch vor allem grundsätzliche Fragen neu zu stellen: Was
eines ist: Ein Projekt nationaler Egoismen. bringt ein gemeinsames Europa? Gerade
Es stimmt: Die mittel- und osteuropä auch gegenüber Ländern, in denen Krieg
ischen Länder sind zurzeit eine grosse herrscht? Stattdessen dominiert politi
Enttäuschung. Sogar Österreich gehört scher und wirtschaftlicher Individualis
mittlerweile dazu. Die polnische oder die mus. Man hat die EU relativ gedankenlos
ungarische Regierung sind mit ihrem Ver erweitert, statt sie zuerst einmal zu vertie
halten kein Vorbild für Europa, im Gegen fen. Ein absehbarer Fehler, der sich jetzt
teil: Viktor Orbán hat sich zum Totengrä rächt.
ber der europäischen Idee profiliert. Man
will Subventionen von der EU, kümmert Sie sagen also, dass die EU zu schnell er-
sich weder um einen intellektuellen Aus weitert wurde?
tausch, noch um den zentralen Solidari In der Tat. Geopolitische, wirtschaftliche
tätsgedanken. Italiens Premier Matteo und mainstreampolitische Interessen
Renzi hat recht, wenn er sagt: Europazuge sind dafür verantwortlich. Man erwei
hörigkeit bedeutet nicht bloss Kohäsions terte, statt zum Beispiel zuerst einmal
gelder und Subventionen zu kassieren. über demokratische Defizite zu disku
tieren. Defizite, die zum Beispiel der Lis
War die europäische Idee also bloss ein sabon-Vertrag zum Vorschein gebracht
Schönwetterprojekt? hatte: Warum wohl haben ihn die meisten
Natürlich stellt sich die Frage, was los Länder bloss durch die Parlamente abseg
ist, wenn sich in der Flüchtlingskrise das nen lassen?
konservativ regierte Deutschland vorbild
licher verhält als das links regierte Frank Was schlagen Sie vor?
reich. Trotzdem: Die europäische Idee ist Europa ist in der heutigen institutionellen
nicht tot, man muss sie bloss wieder inten Verfassung nicht in der Lage, sich richtig
siver kultivieren. zu steuern. Deshalb wäre eine Fokussie
rung auf ein Kerneuropa der richtige Weg.
Wie meinen Sie das?
Als das Projekt Europa 1950 entstand, hat Wie bitte soll ein solches Kerneuropa
te der Gedanke des Friedens Priorität. Die aussehen?
ser Gedanke und die damit verbundene Die Idee ist nicht neu. Schon 1994 waren
Wertedebatte haben auch die Wirtschaft Vorschläge in diese Richtung präsen
eingeschlossen, weil sie verbunden wa tiert worden. Das sogenannte Schäuble-
ren mit der Frage, wie stark Deutschland Lamers-Papier wollte statt auf schnelle
werden darf. Europa befand sich in einem Expansion auf ein Kern-Europa setzen, um
Auf bauprozess, der auch ein Prozess ge die Integration voranzutreiben. Den Kern
genseitiger Verständigung war. Als Frie bilden die sechs Gründerstaaten Deutsch
den irgendwann als gegeben empfunden land, Frankreich, Belgien, Luxemburg, die
10 UNIVERSITAS / AVRIL 2016Niederlande, Italien. Man könnte zudem Angesichts der heutigen politischen Lage
über Anrainerstaaten wie Spanien und getraut sich einfach fast niemand, das zu
Portugal nachdenken. Die Schwachstel sagen. Ist es denn nicht positiv, wenn ei
le liegt darin, dass kein skandinavisches ner in Deutschland den Bachelor macht
Land vertreten ist. Darüber müsste man und damit in Italien ein Masterstudium
nachdenken. beginnen kann? Zu viel Subsidiarität wird
Europa viel härter treffen als Angriffe auf
Aber die mittel- und osteuropäischen die nationale Souveränität einzelner Län
Länder wären raus? der. Der polnische Aussenminister will
Nicht raus aus der EU, aber sie wären wirtschaftlichen Profit aus der EU schla
kein Teil von Kerneuropa. Nicht, dass ich gen, gleichzeitig sagt er, die EU dürfe sich
grundsätzlich dagegen wäre, aber im Mo aufgrund der Subsidiarität nicht in die
ment ist das unvorstellbar. Und daran sind innenpolitischen Belange seines Landes
© C. Doninelli
sie selbst schuld. Sie könnten also nicht einmischen, soll also die Verletzung von
gleich stark profitieren wie die Kernländer Menschenrechten und Pressefreiheit ak
und hätten auch weniger Kompetenzen. zeptieren. Diesen Widerspruch darf die EU
Ich habe kein Problem damit zu sagen, nicht dulden.
dass Europa unterschiedliche Geschwin
digkeiten hat. Ich stelle mir eine funktio Bald kommt der nächste Hammer: Das
nierende EU als ein Haus mit Lift vor: Man britische Stimmvolk wird im Juni den
kann vom ersten in den zweiten Stock fah Brexit beschliessen.
ren und vom zweiten in den dritten. Aber Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dazu
dazu muss man etwas leisten und gewisse kommt. Aber gut, gehen wir einmal davon
Kriterien erfüllen. Der wichtigste Punkt aus: Ein Brexit wäre eine Katastrophe für
ist der Euro. Die gemeinsame Währung die EU, ein fatales Signal, abgesehen da
verbindet wirtschaftlich. Ich könnte mir von, dass England ein wichtiger Partner
deshalb auch eine Art Euroland vorstellen ist. Länder wie Dänemark könnten mit
mit den neunzehn Eurostaaten, welche einem Exit flirten, während andere Län
die Wirtschaftspolitik steuern, während der noch fester an die Beitrittstür klopfen
das Kerneuropa Ideen entwickelt für die würden. Positiv an einem Brexit wäre ein
EU, so, wie damals Schengen entstanden zig, dass er die Idee einer von einem har
ist. An der grundsätzlichen Aussage än ten Kern geführten EU befeuern würde,
dert sich nichts: Wer von der EU profitie einem Kern, der die EU neu definiert in
ren will, muss auch den Solidaritätsgedan Bezug auf Aussen- und Wirtschaftspolitik.
ken teilen.
Gibt es eigentlich ein Europa ohne EU?
Ich kann Ihnen sagen, wie die Antwort Eine Rückkehr zu einer Nationalisierung
lautet. Europas wäre fatal. Damit hat man in Eu
Bitte. ropa immer die schlimmsten Erfahrun
gen gemacht. Aber in der Tat gibt es Leute, Gilbert Casasus wurde 1956 in Lyon,
«Brüssel will diktieren, was wir zu tun die gerne mit dem Feuer spielen. Frankreich geboren. Der franko-
haben.» schweizerische Staatsbürger hat in
Und was ist daran schlecht? Wenn man die Zeitungen liest, könnte Deutschland und Frankreich Politik-
man meinen, dass man zum Beispiel in wissenschaften studiert und sowohl
Fragen Sie mal den CVP-Präsidenten den neuen Bundesländern nicht allzu in der Schweiz, in der Bunderepublik
Christoph Darbellay. Die neuen EU-Waf- traurig wäre über einen Abschied von als auch in Frankreich unterrichtet.
fengesetze seien mit der «schweizeri- Europa. Offenbar gibt es eine steigende Er gilt als Spezialist deutsch-französi-
schen DNA» nicht vereinbar, hat er kürz- Anzahl von Menschen, die Angst haben, scher Beziehungen und ist als Kenner
lich ausgerufen. Und Darbellay ist nicht ihre Identität zu verlieren. der Europapolitik bekannt.
gerade der klassische EU-Gegner. Ich kann nachvollziehen, dass der ak Seit 2008 ist Gilbert Casasus als
Natürlich stellt die EU im Kern ein An tuelle Flüchtlingsschub Ängste auslöst. Professor für Europastudien an
griff auf die nationale Souveränität dar. Gleichzeitig ist es aber auch ein Märchen der Universität Freiburg tätig.
Nur was ist daran eigentlich schlecht? so zu tun, als sei nur Europa betroffen. Am gilbert.casasus@unifr.ch
UNIVERSITAS / APRIL 2016 11dossier
stärksten betroffen von der aktuellen Kri kalismus. Und ja, ich halte dies für ext
se sind Länder wie Libanon oder Jordani rem gefährlich, wenn etablierte Parteien
en. Es ist ein Phänomen der Krise ist, dass rechtsradikalen Jargon übernehmen, wie
nicht mehr differenziert wird. Das ist aber etwa die FPÖ in Österreich, die im übri
dringend nötig. Die Menschen tun so, als gen, das darf man nie vergessen, von Na
hätte es Migration nie gegeben. Und vor zis gegründet wurde. Diese Parteien sind
allem tun sie so, als wäre Migration etwas nicht hundertprozentig rechtsradikal,
Negatives. aber eben auch nicht hundertprozentig
demokratisch. Aber all diese Parteien ha
Im sächsischen Clausnitz würden das ben einen gemeinsamen Nenner, einen ge
viele Menschen unterschreiben. meinsamen Feind. Und dieser Feind heisst
Die Fakten sprechen eine andere Sprache Europa.
als die Emotionen: In Sachsen leben drei
Prozent Ausländer. Das Bundesland hat Der Feind Europa als Identitätsmerkmal
doch das gegenteilige Problem: Es ist ein – auch in der Schweiz kriegen wir die Fol-
Auswanderungsland mit fünfzehn Pro gen solcher Politik zu spüren: Sie dozie-
zent weniger Einwohnern als 1990. In den ren Europastudien, aber wir haben noch
neuen Bundesländern ist die Bevölkerung nicht einmal mehr Erasmus.
seit dem Mauerfall um fast vier Millionen Ich muss etwas zurückhaltend sein an die
geschrumpft, von 16 auf 12,5 Millionen. ser Stelle, denn ich ärgere mich hier nicht
Man kämpft mit existentiellen Problemen nur über die Kurzsichtigkeit des Schweizer
wie einer massiven Überalterung der Ge Stimmvolks. Die Reaktion der EU hat mich
sellschaft, und klar, jetzt kommen Flücht genauso empört: Dass sie ausgerechnet
linge, und die krachen in ein Vakuum, in die Studenten, die so auf die EU angewie
eine Gesellschaft, in der grundlegende sen sind, den Preis bezahlen lässt. Aber Eu
Dinge nicht mehr funktionieren. Und das ropas Reaktion war legitim. Die Schweiz
befeuert Probleme. Gegenbeispiel: Das Ein trägt für den Ausschluss der schweizeri
wanderungsland Bayern stellt die acht schen Studierenden aus den EU-Program
stärkste Wirtschaftsmacht Europas dar. men die Hauptschuld. Gleichzeitig fehlt es
Oder nehmen Sie die Schweiz, sie ist das in der Schweiz an der Bereitschaft, einen
allerbeste Beispiel: Sie ist reich geworden, Dialog zu führen. Fährt eine Bundesdele
als die Italiener kamen. Ein Land ist dann gation nach Brüssel, präsentiert sie ein
erfolgreich, wenn es ein Einwanderungs Paket, in dem Vokabular, Agenda und In
land ist. Ansonsten überaltern wir und halt schon vorgegeben sind. Wie soll so
sterben aus. ein Austausch funktionieren? Man will,
wie andere Länder auch, den Fünfer und
Vor Ort klingt das in einem erheblichen das Weggli. So funktioniert Europa nicht.
Teil der Gesellschaft anders: Der Feind Schlimm ist, dass viele Leute hierzulande
heisst Flüchtling, Merkel, EU. Fürchten Sie gar nicht sehen, was sie zum Beispiel der
sich eigentlich vor dem langsamen, aber eigenen Jugend antun. Gerade kürzlich
stetigen Aufstieg des Rechtspopulismus habe ich versucht, einen Zuschuss für
in zahlreichen europäischen Ländern? ein geplantes Studententreffen in Frei
Ich würde das nicht als Populismus be burg bei einer europäischen Institution
zeichnen. Von diesem Begriff halte ich zu beantragen.
nichts. Ich bin nicht der Meinung, dass
Volk per se etwas Schlechtes ist. Ich erin Wie lautete die Antwort?
nere an den Front populaire in Frankreich, Sie sind aus der Schweiz? Ernsthaft? Von
der sich als Gegner der Nationalsozialis uns kriegen Sie nichts.
ten verstand. Wenn wir von Rechtspo
pulismus reden, meinen wir eigentlich
rechte Parteien, die eine Scharnierfunk
tion übernommen haben zwischen dem
Konservativismus und dem Rechtsradi
12 UNIVERSITAS / AVRIL 20161968 Das Ende des Prager Frühlings Junge Demonstrantinnen und Demonstranten tragen am 21. August 1968 eine mit Blut getränkte CSSR-Fahne durch Prag. Einen Tag zuvor hatten Truppen des Warschauer Paktes die Tschechoslowakei besetzt. Damit fand der im April 1968 eingeleitete «Prager Frühling», das Experiment einer Demokratisierung von Partei, Staat und Wirtschaft, ein gewaltsames Ende.
Existe-t-il un style de
dossier
management européen ?
L’Europe a-t-elle su développer une approche manageriale au-delà de ses fron
tières politiques ? Existe-t-il une manière européenne de diriger une entreprise ?
Petit tour d’horizon, des années 1990 à aujourd’hui. Eric Davoine
Der europäische Manager La question du style de management euro et les processus pouvaient être plus forma
Was definiert den «europäischen» péen était récurrente au début des années lisés en Grande-Bretagne et en France qu’en
Manager? Gibt es überhaupt eine 1990, l’époque de l’Union Européenne à 9 Allemagne, mais semblaient respectés plus
«europäische» Art, ein Unternehmen fidèlement dans les pratiques managériales
puis à 12, celle où il s’agissait de façonner
zu führen? Fragen wie diese wurden
un projet ensemble et de se définir une allemandes que dans les pratiques managé
zu Beginn der 1990er-Jahre gerne
identité commune, au-delà de la seule am riales françaises ou britanniques.
erörtert, als es darum ging, zusam-
men ein Projekt zu entwerfen, eine bition de construire un marché unique. La communication des managers était, par
gemeinsame Identität zu definieren Cette question était essentielle, puisqu’un contre, plus formalisée dans les organisa
– weit über den Anspruch hinaus, ei- style de management, c’est la manière dont tions allemandes. Le vouvoiement profes
nen gemeinsamen Markt zu schaf le pouvoir est exercé dans les organisa sionnel était de rigueur, alors que le tutoie
fen. Die Frage war grundlegend: tions, entreprises, administrations ou ment était plus courant dans les pays latins
Schliesslich umfasst ein Manage- même associations ; pouvoir en principe et scandinaves, avec cependant des codes
ment-Stil auch die Art und Weise, incarné par des managers à différents hiérarchiques parfois complexes dans les
wie Macht ausgeübt wird in einer Or-
échelons hiérarchiques. pays latins. Les Britanniques, quant à eux, se
ganisation, einem Unternehmen, in
Or, dans les années 1990, chercher à définirposaient moins de problèmes en disant You
der Verwaltung. Die Palette an ver-
schiedenen Managementformen war ce qu’était l’euromanager, c’était découvrirà tous. On doit rappeler ici que la diversité
gross und es zeigte sich, dass zwi- une grande diversité de pratiques natio des langues européennes a aussi une in
schen Süd- und Nordeuropa eine nales de management. Globalement, dans fluence sur la diversité des styles de mana
Art Grenze verlief. So gab es Studien les recherches en management, on distin gement. En effet, c’est dans cette diversité
die beispielsweise aufzeigten, dass guait une frontière poreuse entre l’Europe linguistique que s’inscrivent la communi
die nordischen Länder und Gross du Sud et l’Europe du Nord, comme on dis cation quotidienne et les catégories avec
britannien partizipativen Führungs- tinguait, dans les études de consomma lesquelles le manager décrit son organisa
strukturen offen gegenüberstehen
tion, une frontière entre l’Europe du vin ettion et son environnement. Ainsi, un Vor
und eine weniger ausgeprägte Be-
standsvorsitzender ou -sprecher n’est pas un
de l’huile d’olive et celle de la bière et du
ziehung zu Macht und Hierarchie
aufweisen als die Länder des Sü- beurre ; les Iles Britanniques étant souventPrésident Directeur Général. Le premier est
dens. Eine klare Antwort auf die Ein- considérées comme un monde à part, en un primus inter pares, qui parle au nom des
gangsfrage gibt es auch 20 Jahre cuisine comme en management. autres membres du comité, tandis que le se
später nicht – weder die Globalisie- cond est plutôt un chef suprême, pointe
rung, noch die Öffnung Europas ge- Tu, vous, you d’une pyramide souvent effilée. Manager, le
gen Osten haben diesbezüglich zu Par exemple, plusieurs recherches mon terme anglo-saxon d’origine latine, est une
mehr Klarheit beigetragen. traient que les pays du Nord et la Grande- notion floue et protéiforme, qui se révèle
Bretagne avaient une relation au pouvoir par ailleurs extraordinairement pratique
et à la hiérarchie moins marquée, plus fa pour définir la catégorie supra-nationale de
vorable à certaines pratiques participa ceux qui ont à exercer du pouvoir ou une
tives que les pays du Sud. D’autres re responsabilité dans une organisation.
cherches montraient que, dans les pays
méditerranéens ou la Grande-Bretagne, Cadres nationaux
le management était plus personnalisé, Les styles de management nationaux sont
plus lié au charisme, au dynamisme ou aussi influencés par différents éléments
aux compétences personnelles du chef. institutionnels nationaux, comme le cadre
La structure organisationnelle, les règles légal de représentation des intérêts des
14 UNIVERSITAS / AVRIL 2016employés ou les particularités du système les anciens diplômes d’institutions d’élite
éducatif local, qui forge les qualifications. nationales, qui suffisaient auparavant à
Ainsi, les banquiers américains travaillant donner une autorité légitime aux mana
pour le Crédit Suisse à Zurich s’étonnaient gers. De nombreuses institutions natio
du nombre de leurs collègues managers is nales européennes ont d’ailleurs elles-
sus d’une formation professionnelle ban mêmes lancé des programmes de MBA ou
caire et pas d’une college education comme des programmes master en langue an
eux. Les banquiers suisses s’interrogeaient glaise. Ces phénomènes de standardisa
devant le nombre d’anciens hauts fonc tion des organisations et des formations
tionnaires parmi les cadres dirigeants des entraînent un nombre toujours plus grand
banques françaises. Tandis que les ban d’éléments communs dans les styles de
quiers d’affaires allemands, qui ont sou management en Europe : l’euromanager
vent une qualification bancaire complète d’aujourd’hui parle plus anglais que celui Pour aller plus loin
et hyperspécialisée de la Banklehre au Doc d’hier, évolue dans des organisations > A. Bergmann, Le Swiss way of
tor rerum politicum se montraient troublés moins dissemblables et utilise plus sou management, ou les évidences
que leurs homologues britanniques aient vent des concepts et des cadres de réfé cachées des entreprises suisses,
Eska, 2000
suivi des études universitaires d’histoire rence qui sont des standards globaux.
> D. Cazal, E. Davoine, P. Louart, F.
médéviale ou de langues classiques, avant
Chevalier, GRH et mondialisation:
d’exercer le même métier qu’eux. Préparer les étudiants nouveaux contextes, nouveaux
Pourtant, les styles de management sont enjeux, collection AGRH, Vuibert,
Globalisation anglo-saxonne encore loin d’être uniformisés. Les réalités 2011
Deux décennies plus tard, le manager eu nationales restent complexes et spéci > E. Davoine, S. Ginalski, A. Mach, Cl.
ropéen est d’autant plus difficile à caracté fiques. Même dans les entreprises les plus Ravasi, «Impacts of globalization
riser que les économies nationales se sont globales, les langues nationales conti processes on the Swiss business
globalisées et que l’Europe, celle de l’UE, nuent à co-exister avec l’anglais dans les elite community – A diachronic
analysis of Swiss large corporations
s’est ouverte et agrandie à l’Est, à des pays interactions quotidiennes et des pratiques
(1980–2010)», Special issue: Elites
aux cultures nationales et régionales tout nationales voisinent avec les pratiques glo
on trial, Research in the Sociology of
aussi diverses, mais que leur situation bales officielles. Ces phénomènes d’hybri Organizations, G. Morgan, S. Quack,
historique de rupture rendait encore plus dation représentent un véritable défi pour P. Hirsch (eds.), Volume 43, 131–163,
ouverts aux standards occidentaux, c’est-à- les chercheurs, qui veulent les décrire et les 2015
dire principalement anglo-saxons, du ma analyser, mais aussi pour les enseignants > E. Davoine, Cl. Ravasi, «The relative
nagement. Ainsi, on observe, dans les mé européens en management. Il s’agit de pré stability of national top manage-
canismes de globalisation contemporains, parer des étudiants à assumer des respon ment career profiles in the age of
des processus de standardisation non seu sabilités dans un environnement de travail globalization : a comparison of
France, Germany, Great Britain and
lement des formes organisationnelles, des à la fois national, multinational et globali
Switzerland », European Manage-
outils et des instruments de management, sé. La meilleure approche est, sans doute,
ment Journal, 31, pp. 152–163, 2013
mais aussi des contenus de formation. Elé d’offrir des cours de portée internationale
ment important de cette standardisation : et comparative avec des références natio
toujours plus de managers européens ont nales, de renforcer le multilinguisme, de
acquis une formation initiale ou com favoriser les interactions avec des étu
plémentaire en management. Enfin, on diants étrangers, d’Europe et d’ailleurs,
constate un accroissement de l’influence ainsi que des séjours à l’étranger dans les
anglo-saxonne, plus américaine que bri programmes de type Erasmus. Les mana
tannique, sur ces formations supérieures gers européens d’aujourd’hui sont ainsi de
en management, au travers de concepts et plus en plus nombreux à développer une
de « bonnes pratiques » d’entreprises, diffu sensibilité aux différences culturelles, un
sés en modèle dans le monde entier, via des domaine où certains pays, comme la Suisse
revues scientifiques et professionnelles et ou la Belgique, avaient traditionnellement
le poids de sociétés de conseil et d’entre quelques longueurs d’avance. C’est sans au
prises multinationales, qui occupent des cun doute un avantage compétitif qu’il
positions symboliques dominantes sur le s’agit de conserver. Eric Davoine est professeur au
marché européen. A titre d’exemple, les di Département de gestion d’entreprise.
plômes de MBA concurrencent aujourd’hui eric.davoine@unifr.ch
UNIVERSITAS / APRIL 2016 15Europa an seinen
dossier
Grenzen
Grexit und Brexit waren noch nicht abgewendet, als die EU bereits mit einer wei-
teren Herausforderung konfrontiert wurde: Der Flüchtlingskrise. Diese stellt,
neben der EU, auch Schengen und Dublin auf den Prüfstand. Sarah Progin-Theuerkauf
La solidarité contre la crise ? Die «Flüchtlingskrise» wird als Begriff von zugespitzt und der Leidensdruck der einhei
La « crise des réfugiés » signe-t-elle den Organen der EU selbst in offiziellen Do mischen Bevölkerung ist derart hoch, dass
la « fin des accords de Schengen / kumenten verwendet. Eine gemeinsame eu sich inzwischen auch immer mehr Frauen
Dublin » ? La convention de Schen- ropäische Antwort auf die Flüchtlingskrise und Kinder auf den gefährlichen Weg nach
gen et la convention d’application
jedoch konnte noch nicht gefunden werden Europa machen, den in den vergangenen
des accords de Schengen avaient
– zu verschieden sind im Moment die Aus Jahren vor allem junge Männer wagten. Aus
pour principal objectif de supprimer
le contrôle des personnes à l’inté- gangslagen und politischen Standpunkte sicht auf eine rasche Besserung der Lage in
rieur de l’espace Schengen, tout en der EU-Mitgliedstaaten. Einige bevorzugen Syrien, dem Irak oder Afghanistan besteht
renforçant les contrôles aux fron- nationale Wege ohne europäische Solidari aktuell nicht, so dass mit einem Anhalten des
tières extérieures. Le code frontière tät zur Bewältigung der Krise und haben Zustroms an Menschen zu rechnen ist.
permet cependant de réintroduire le Grenzkontrollen an den Schengen-Binnen Die Migrationsrouten haben sich dabei auf
contrôle aux frontières en cas de grenzen wieder eingeführt. Auch das Dub grund der am schlimmsten betroffenen
menaces graves pour l’ordre public lin-System, das seit Jahren in der Kritik Krisengebiete geändert: Statt von Libyen
ou la sécurité intérieure. Le but du
stand, geriet immer mehr unter Druck. In ausgehend Richtung Italien oder Malta ver
système de Dublin est de combattre
den Medien war bereits von einem «Ende lief 2015 die Haupteinreiseroute über die
deux phénomènes : l’« asylum shop-
ping » et les « réfugiés en orbite ». Il von Schengen und Dublin» zu lesen. Ob dies Türkei, von wo aus die Betroffenen in der
s’agit simplement d’un système de wirklich zutrifft, soll im Folgenden unter Regel per Boot nach Griechenland über
répartition entre les Etats. La crise sucht werden. Wichtig dabei ist, die beiden setzten. Danach ging es über die Balkanrou
des réfugiés s’est muée en crise Systeme, die insbesondere in der öffentli te nach Mitteleuropa weiter. Da Griechen
surtout parce qu’on a sous-estimé chen Wahrnehmung in der Schweiz oft als land mit den ankommenden Flüchtlingen
le potentiel des sources de conflits eins empfunden werden, zu unterscheiden. seit Jahren überfordert ist, was mehrere Ge
comme déclencheur de migration. richtsurteile des Europäischen Gerichts
En définitive, les Etats membres du
Fass ohne Boden hofs (EuGH) und des Europäischen Ge
système de Dublin luttent depuis
Fakt ist, dass in der EU im Jahr 2015 laut Eu richtshofs für Menschenrechte (EGMR)
des années pour une répartition plus
« équitable » des requérants d’asile. rostat weit über eine Million erste Asylanträ bestätigt haben, reisen die Betroffenen wei
Aussi longtemps que chaque pays ge gestellt wurden. Diese Zahl ist allerdings ter. Sie verlassen damit die EU für die
suivra sa propre stratégie, la crise nicht sehr aussagekräftig, da in einigen Mit Durchreise von Mazedonien und Serbien.
continuera et pourrait bien s’avérer gliedstaaten wegen der Überlastung der Be Ungarn war bis zu seiner Grenzschliessung
être une véritable pierre de touche hörden viele Menschen offiziell noch gar im Oktober 2015 der erste EU- und Dub
pour l’Union Européenne. keinen Asylantrag stellen konnten, sondern lin-Staat nach Griechenland, in den die
nur registriert wurden und einen Termin Flüchtlinge einreisten. Inzwischen verläuft
für die Stellung des Asylantrags erhalten ha die Route über Kroatien und Slowenien
ben. Im Jahr 2014 kamen die meisten Asylsu nach Österreich und Deutschland. Kroatien
chenden in der EU aus Syrien, gefolgt von ist zwar seit 2013 EU-Mitglied, allerdings
Afghanistan, Kosovo, Eritrea und Serbien. nicht Mitglied von Schengen und Dublin.
Die Erhebungen zu 2015 liegen noch nicht
vor, dürften aber ähnlich ausfallen. Wieviel ist viel?
Eine Überraschung waren die stark gestie Auch in der Schweiz ist die Zahl der Asyl
genen Flüchtlingszahlen in der EU für Ex anträge zuletzt stark angestiegen. Im Jahr
perten nicht – die Krisen in vielen Regionen 2015 wurden laut Staatssekretariat für
der Welt, allen voran in Syrien, haben sich Migration 39’523 Asylgesuche gestellt. Im
16 UNIVERSITAS / AVRIL 20161973 Bloody Sunday Im Dezember 1973 explodiert im Zentrum von London eine Autobombe. Dieses Attentat gehörte zu einer Reihe von Terroranschlägen, mit welchen sich die irisch-republikanische Armee für den Bloody Sunday in Derry rächte, bei dem im Januar 1972 durch die britische Armee über ein Dutzend unbewaffnete Katholiken getötet wurden.
dossier Vergleich zur EU verlief der Anstieg der EU-Bürgern eine Mindestkontrolle, bei
Asylgesuche im vergangenen Jahr in der Nicht-EU-Bürgern eine eingehende Kontrol
Schweiz allerdings moderat, ihr Anteil an le). Ausserhalb dieser Grenzübergangsstel
allen Asylgesuchen in Europa betrug nur len findet eine Grenzüberwachung statt.
gerade drei Prozent – der niedrigste Wert Art. 23 und Art. 23a des Schengener Grenzko
seit 1998. dex (erst 2013 neu gefasst) erlauben die Wie
Weltweit befinden sich nach Angaben des dereinführung von Grenzkontrollen an den
UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge Binnengrenzen für bestimmte Zeit, im Falle
(UNHCR) nach wie vor über 80 Prozent der einer schwerwiegenden Bedrohung der öf
Flüchtlinge in Entwicklungsländern. Die fentlichen Ordnung oder inneren Sicher
Hauptaufnahmestaaten für Flüchtlinge heit. Grenzkontrollen dürfen maximal für
sind dabei die Nachbarstaaten von Kon sechs Monate, bei aussergewöhnlichen Um
fliktgebieten: Die Türkei, Pakistan und der ständen für maximal zwei Jahre wieder ein
Libanon. Die Auffassung, Europa sei am geführt werden. Für die Wiedereinführung
stärksten von einem Zustrom an Flüchtlin von Grenzkontrollen an den Binnengren
gen betroffen, ist also klar unzutreffend. zen ist ein spezielles Verfahren vorgesehen.
Von diesen Ausnahmebestimmungen ha
Grenzenlos ben im Zusammenhang mit der Flücht
Grundlage des Schengen-Raums bilden das lingskrise Deutschland, Österreich, Un
1985 zwischen Frankreich, Deutschland und garn, Slowenien, Schweden, Norwegen und
den Benelux-Staaten geschlossene Schenge Frankreich (nach den Attentaten von Paris)
ner Abkommen sowie das 1990 abgeschlosse Gebrauch gemacht. Bei einer ernsthaften
ne Schengener Durchführungsübereinkom Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder
men. Die Abkommen hatten insbesondere der inneren Sicherheit in einem Mitglied
das Ziel, die Personenkontrollen an den Bin staat, die sofortiges Handeln erforderlich
nengrenzen des Schengen-Raumes abzu macht, können auch für einen Zeitraum
schaffen, bei gleichzeitiger Verstärkung der von zehn Tagen, insgesamt aber maximal
Kontrollen an den Aussengrenzen sowie wei zwei Monaten, sofort wieder Kontrollen an
terer Massnahmen zur Eindämmung des Si den Binnengrenzen eingeführt werden
cherheitsdefizits (z.B. der Errichtung des (Art. 25). Auf diesen Fall hat sich bislang nur
Schengener Informationssystems, Einfüh Dänemark berufen. Schliesslich erlaubt
rung eines Schengen-Visums, Regelungen auch Art. 26 des Schengener Grenzkodex im
zur Bekämpfung grenzüberschreitender Kri Falle aussergewöhnlicher Umstände, unter
minalität). Mit dem Amsterdamer Vertrag denen das Funktionieren des Raums ohne
wurde der Schengen-Besitzstand in den Kontrollen an den Binnengrenzen insge
rechtlichen und institutionellen Rahmen samt gefährdet ist, die Wiedereinführung
der EU überführt. Grosse Teile des Schen von Grenzkontrollen für sechs Monate
gen-Rechts wurden dabei «vergemeinschaf (höchstens dreimal verlängerbar um je wei
tet», d.h. in die (damalige) Europäische Ge tere sechs Monate). Auf diese Ausnahme hat
meinschaft überführt. Die übrigen Teile sich bisher kein Mitgliedstaat berufen.
wurden in den Rahmen der polizeilichen
und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsa Einmalige Gelegenheit
chen integriert, eine rein völkerrechtliche
Das Dublin-System wurde 1990 von den
Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten. damals zwölf Mitgliedstaaten der Euro
Die Schweiz ist seit 2008 (Bilaterale Verträge
päischen Gemeinschaft errichtet. Seine
II) an den Schengen-Raum assoziiert. Rechtsgrundlage war zunächst ein völker
rechtlicher Vertrag, das Dubliner Überein
Mit Netz und doppeltem Boden kommen. Es wurde 2003 mit wenigen Ände
Die operativen Regeln des Schengen- rungen zu einer Verordnung im Rahmen
Systems enthält seit 2006 der Schengener der Europäischen Gemeinschaft (Dublin-II-
Grenzkodex. Danach dürfen Binnengren Verordnung). Seit 2008 ist die Schweiz auch
zen des Schengen-Raumes unabhängig von an das Dublin-System assoziiert. Erst 2013
der Staatsangehörigkeit der betreffenden wurde das Dublin-System angepasst, nun
Person an jeder Stelle ohne Personen mehr gilt die Dublin-III-Verordnung. Das
kontrollen überschritten werden. Die Aus Dublin-System möchte zwei Phänomene
sengrenzen des Schengen-Raums dürfen bekämpfen: Zum einen das sogenannte
hingegen nur über zugelassene Grenzüber «asylum shopping», d.h. das Aussuchen des
gangsstellen überschritten werden. An den besten Asylstaates und das Stellen mehrerer
Grenzübergangsstellen erfolgt eine Kont paralleler oder sukzessiver Asylgesuche.
rolle der Einreisevoraussetzungen (bei Zum anderen aber auch das Phänomen der
18 UNIVERSITAS / AVRIL 2016«refugees in orbit», für deren Asylgesuch Kompliziert und teuer
sich kein Staat für zuständig erachtet. Es ist Das Dublin-System wird also nicht ver
immer nur ein Staat für die Prüfung des letzt, wenn ein nicht zuständiger Staat
Asylgesuchs zuständig («one chance only»). Asylgesuche selbst prüft, für die eigentlich
Das Dublin-System ist ein reines Verteil ein anderer Staat zuständig wäre. In der
ungssystem zwischen Staaten (unabhängig Realität werden schliesslich viele Asylge
von den Wünschen der betroffenen Person), suchsteller nicht in den eigentlich zustän
das auf einem (modifizierten) Verantwor digen Dublin-Staat überstellt, weil sich die
tungsgrundsatz beruht: Derjenige Staat, Überstellung nicht innerhalb eines Zeit
der die Einreise des Asylgesuchstellers zu raums von sechs Monaten realisieren lässt,
verantworten hat, ist auch für die Prüfung wie es die Dublin-Verordnung vorschreibt.
seines Asylgesuchs zuständig. Achtung: Der In diesem Fall geht die Zuständigkeit auf
Asylantrag ist nur in den seltensten Fällen den Staat über, in dem sich der Asylgesuch
der Anknüpfungspunkt für die Zuständig steller befindet. De facto ist der Verwal
keit eines Staates für die Prüfung. tungsaufwand (und damit die Kosten) im
Eine materielle Harmonisierung der Asylge Dublin-System sehr hoch, der Nutzen aber
setze in den Mitgliedstaaten verlangt das eher gering. Die Schweiz allerdings gehört
Dublin-System nicht (hierzu hat die EU im zu den «Netto-Gewinnern» des Dublin-Sys
Laufe der Zeit Richtlinien erlassen, die aber tems; sie überstellt mehr Personen, als sie
die Schweiz nicht binden), es beruht aber auf erhält. Idealerweise würde das Dublin-Sys
der Prämisse, dass alle Mitgliedstaaten des tem durch einen – wie auch immer ausge
Systems «sicher» und ihre nationalen Asylre stalteten – Verteilschlüssel oder ein System
gelungen «gleichwertig» sind. Nach einer von finanziellen Anreizen für die Aufnah
festgelegten Rangfolge von Kriterien wird me von Flüchtlingen ersetzt. Hierauf konn
die Zuständigkeit eines Dublin-Staates für ten sich die EU-Mitgliedstaaten aber bis
die Prüfung eines Asylgesuchs ermittelt. So lang nicht einigen.
wird (in dieser Reihenfolge) der Aufenthalt
von Familienangehörigen, bei Minderjähri Das Ende von Schengen und Dublin?
gen das Stellen eines Asylantrags, die Einrei Das Empfinden, man befinde sich in einer
se mit Visa oder das Vorliegen eines Auf kaum zu bewältigenden Krise, wird stark
enthaltstitels, die illegale Einreise oder ein von Politik und Berichterstattung in den
mindestens 5-monatiger illegaler Auf Medien beeinflusst. Eine «Krise» wurde die
enthalt, eine visafreie Einreise und ein Asyl Flüchtlingskrise aber vor allem dadurch,
antrag im Transitbereich eines Flughafens dass weltweit Konflikte und Krisenherde
geprüft. In der Realität ist in über 80 Prozent als Auslöser für die Migration von Men
der Fälle derjenige Staat zuständig, in dem schen, auch Richtung Europa, unterschätzt
der Asylgesuchsteller erstmalig illegal über wurden, reguläre Möglichkeiten zur Migra
eine Dublin-Aussengrenze in den Dub tion kaum bestehen und in Bezug auf die
lin-Raum eingereist ist. Damit sind es die Aufnahmestrukturen für Asylgesuchsteller
Länder an den Aussengrenzen der EU, die für in der EU schlicht zu wenig antizipiert wur
die Prüfung der meisten Asylgesuche zu de. Zudem ringen die Mitgliedstaaten des
ständig sind, in erster Linie Griechenland Dublin-Systems seit Jahren um eine «ge
und Italien. Das «Durchwinken» von Flücht rechtere» Verteilung von Asylgesuchstel
lingen ist kein Kriterium, aus dem eine Zu lern. Solange hier eine – wie auch immer
ständigkeit erwächst. Das System ist somit geartete – europäische Lösung, die den
sehr unausgewogen. Eine «Lastenverteilung» Grundsatz der Solidarität beachtet, nicht
innerhalb der EU ist nicht vorgesehen. gefunden wird und jeder Staat seine eigene
Der Asylgesuchsteller wird nach Ermittlung Strategie verfolgt, wird es sicher auch eine
des zuständigen Staates in diesen überstellt Krise bleiben, die ein Prüfstein für die ge
und erhält dort sein Asylverfahren. Nur bei samte EU sein könnte. Schengen und Dub
«systemischen Schwachstellen» im eigent lin sind jedoch nach wie vor in Kraft und
lich zuständigen Staat kann von der Über lassen rein rechtlich betrachtet Ausnahme Sarah Progin-Theuerkauf ist
stellung abgesehen und ein anderer zustän bestimmungen zu. Wenn die Ausnahme die Professorin für Europarecht und
diger Staat ermittelt werden. Jeder Staat Regel wird, macht das System allerdings Europäisches Migrationsrecht
kann aber unabhängig vom nach den Dub langfristig wenig Sinn. De facto müssten am Departement für Internationales
lin-Kriterien für die Prüfung des Asylge also bald andere Regelungen gefunden wer Recht und Handelsrecht, Co-
suchs zuständigen Staat sein Ermessen aus den, die der Realität besser Rechnung tra Direktorin des Zentrums für
üben und das Asylgesuch selbst prüfen. gen. Wie diese genau aussehen sollten, das Migrationsrecht und Projektleiterin
Dies macht Deutschland aktuell bei syri hat schon so manchen kreativen Juristen im Rahmen des NCCR-On the move.
schen Asylgesuchstellern. ein graues Haar gekostet. sarah.progin-theuerkauf@unifr.ch
UNIVERSITAS / APRIL 2016 19Sie können auch lesen