Universitas Europa Comment vas-tu ? - Université de Fribourg

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Universitas Europa Comment vas-tu ? - Université de Fribourg
universitas
AVRIL 2016-03 I LE MAGAZINE DE L’UNIVERSITÉ DE FRIBOURG, SUISSE I DAS MAGAZIN DER UNIVERSITÄT FREIBURG, SCHWEIZ

                                                  Europa
                                                  Comment vas-tu ?
Universitas Europa Comment vas-tu ? - Université de Fribourg
Edito                                              Inhalt
Die Flagge der Europäischen Union zeigt
zwölf Sterne auf blauem Grund. Wir zei­­
gen zwölf Bilder von Ereignissen, die Eu­
ropa im Laufe der letzten rund 70 Jahre
geprägt haben. Beim Betrachten der Aus­
wahl wird schnell klar: Europa hat gelit­
ten. Und Europa hat sich verändert. Die
EU ist entstanden und gewachsen, Län­
der wurden geteilt, neue Staaten gegrün­
det und die Mauer als Teil des Eisernen
Vorhangs ist gefallen.
Die Zeiten des Umbruchs sind nicht vor­
bei; erreicht Geglaubtes steht auf dem
Prüfstand. Die Artikel im Dossier des
vorliegenden Magazins setzen sich, un­
ter anderem, mit der Frage auseinander,
wie und ob Europa die aktuelle Krise
meistern kann – und wie es überhaupt
dazu gekommen ist. So wirft Gilbert Ca­
sasus im Interview mit universitas die
Frage auf: «Was bringt ein gemeinsames
Europa?» Der Professor für Europastudi­
en spielt dabei auf den zunehmenden In­
dividualismus der EU-Mitgliedstaaten
an. Auf den Mangel an Solidarität, den             Ende des Zweiten Weltkriegs
                                                                                                1945
Verlust des Friedensgedankens, der bei             8. Mai 1945, Tag der Befreiung. Die Menge feiert das Ende des Zweiten
der Entstehung des Projekts Europa eine            Weltkriegs in den Strassen von Paris. In verschiedenen europäischen
Zentrale Rolle spielte. Die Rechtsprofes­          Ländern wird der 8. Mai als Gedenktag gefeiert, an dem der bedingungs­
sorin und Migrationsexpertin Sarah Pro­            losen Kapitulation der Wehrmacht und dem Kriegsende gedacht wird.
gin-Theuerkauf untersucht in ihrem Bei­
trag das in den Medien prognostizierte
Ende von «Schengen und Dublin». Sind
die beiden Systeme in ihrer aktuellen
Form in der Lage, die Flüchtlingskrise        8    dossier > Europa
aufzufangen?
In seinem «Libro del Cortegiano» beschreibt   4    fokus
Baldassare Castiglione zu Beginn des 16.           Wissenschaftsplattform: Science matters – what else?
Jahr­hunderts die ideale höfische Gesell­
schaft. Seine Vorstellung des gesellschaft­   54   recherche
lichen Ideals hat Europa geprägt, und sei­         Carrière professionnelle : Travailler sans diplôme, et après ?
nem Appell zum respektvollen Umgang
miteinander, zur Anerkennung und nicht        56   recherche
zur Unterdrückung von Unterschieden,               Sociologie : La spirale de la délinquance juvénile
sollte, so der Professor für italienische
Literatur Uberto Motta, gerade heute          58   portrait
wieder mehr Gehör geschenkt werden.                Thomas Truttmann, Marketing & Communications Director,
Solidarität – und Sprezzatura.                     McDonald’s Schweiz

                                              60   lectures
Herzlich,
                                              62   news
Claudia Brülhart
Chefredaktorin

                                                   Fotos: www.keystone.ch

                                                                                                          UNIVERSITAS / APRIL 2016   3
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Science matters –
fokus
                                 what else?
                                 Täglich schiessen im Zeichen des digitalen Wandels neue Geschäftsmodelle aus
                                 dem Boden. Nur das wissenschaftliche Publizieren hat sich seit der Aufklärung
                                 nicht verändert. Bringt die Online-Plattform «Matters» die Revolution? Roland Fischer

                                 Man schicke einer geschätzten Zeitschrift       scheren – ein interessanter Befund aus dem
                                 einen Brief, in welchem man seine For­          Labor soll so ohne Umwege rasch veröffent­
                                 schungsarbeit schön von A (Anfangsidee)         licht werden können. Solche «single obser­
                                 bis Z (Zerpflücken der Argumente der Kolle­     vations» seien viel rascher und unkompli­
                                 gen mit anderen Ansichten) schildere, war­      zierter auf ihre Publikationswürdigkeit hin
                                 te anschliessend auf die mehr oder weniger      zu beurteilen – das schlanke Peer-Review­-
                                 freundliche Genehmigung und mache sich          System von Matters werde dies bestenfalls
                                 dann daran, die nächste interessante Story      innert Stunden erledigen, verspricht Ra­
                                 zu entwickeln. Alles ziemlich langsam und       jendran. Dies weil die Reviewer sich um ein
                                 ziemlich intransparent. Und voller falscher     wichtiges Beurteilungskriterium nicht zu
                                 Anreize, findet Lawrence Rajendran. Also        kümmern brauchen: um die Relevanz (siehe
                                 hat der Molekularbiologe der Universität        auch Interview auf Seite 6). Diese zu beurtei­
                                 Zürich in den letzten Jahren über eine zeit­    len obliegt der Community, die auf Matters
                                 gemässere und vor allem bessere Art des         aktiv ist – die Plattform wird nach den drei
                                 Publizierens nachgedacht – und dies hat         Schlagworten Open Access, Open Data und
                                 Früchte getragen. Matters. Stories can wait,    Open Science funktionieren. Erfährt eine
                                 science can’t. So heisst es im Logo der Web­    Beobachtung viel Aufmerksam­keit, wird sie
                                 seite, die ein kleines Team um Rajendran        geteilt, kommentiert, erweitert oder mit an­
                                 Ende Februar aufgeschaltet hat. Ja, er will     deren Beobachtungen verlinkt, und dann
                                 mit Matters ein wenig die Welt verbessern.      wird sie automatisch sichtbarer. Die Crowd
                                 Aber er will auf keinen Fall ein neuer Reed     wird also beurteilen, was interessant ist,
                                 Elsevier oder ein Springer werden.              welche Legosteine besonders wertvolle Ei­
                                                                                 genschaften haben. Ganz ohne Peer Review
                                 Lego für Forschende                             wird es aber auch auf Matters nicht gehen:
                                 Rajendran nennt Storytelling «das Para­         Rajendran hat ein grosses Editorial Board
                                 digma des wissenschaftlichen Publizie­          versammelt, das beurteilen soll, ob das
                                 rens». Und er glaubt, dass man mit diesem       kommunizierte Resultat methodisch in
                                 Paradigma schleunigst aufräumen sollte –        Ordnung ist. Wenn die Experten der Ansicht
                                 ja, schon längst hätte aufräumen sollen. Ei­    sind, dass da seriös gearbeitet worden ist,
                                 nerseits, weil die Möglichkeiten des Digital­   geben sie grünes Licht und die Beobachtung
                                 zeitalters ganz andere Arten des Teilens und    wird aufgeschaltet.
                                 Bewertens von Informationen möglich ma­
                                 chen und andererseits, weil er viele der Pro­   Dreifacher Blindtest
                                 bleme, die das Wissenschaftssystem derzeit      Dabei haben die Reviewer keine Ahnung,
                                 plagen, mit dem Geschichtenerzählen in          von wem die Beobachtung kommt. Rajen­
                                 Zusammenhang bringt. Er möchte die For­         dran nennt dies «Triple-blind Peer review»:
                                 schergemeinde dazu bringen, einzelne Be­        weder Reviewer noch Autor noch Editor
                                 obachtungen zu kommunizieren, ein we­           kennen ihre jeweilige Identität. Rajendran
                                 nig wie Erkenntnis-Legosteine. Und sich         selber stammt aus einfachen Verhältnissen,
                                 zunächst einmal nicht um den grösseren          aus Indien. Daher auch seine Mission: Nicht
                                 Zusammenhang der Beobachtungen zu               der klingende Name einer Hochschule oder

  4   UNIVERSITAS / AVRIL 2016
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eines Journals soll einem Forschungsresul­
tat zu Aufmerksamkeit verhelfen, sondern
einzig als wie wertvoll es sich für die For­
schergemeinde erweist. Bestenfalls könn­
ten so in Zukunft sogar Amateurforschende
(Liebhaber der Wissenschaft) ohne formale
Hochschulanstellung oder gar -ausbildung
zum grossen Gebäude der Wissenschaft bei­
tragen. Fast scheint Rajendran ein wenig
enttäuscht, wenn er vom «Best-of-Schau­
fenster» auf Matters Select erzählt, in dem
die besten Beobachtungen präsentiert wer­
den: Erst eine Publikation hat es in diesen
exklusiven Club geschafft; sie kommt – no­
tabene – aus Harvard.

Gefährliche Geschichten
Die Steine zu einem grösseren Ganzen zu­
                                                © University of Zurich

sammenzusetzen, das kommt in der Mat­
ters-Philosophie erst an zweiter Stelle. Der
«Newswert» einer Forschungsarbeit sei das
Fundament des jetzigen Publikations­
systems – und das ist vor allem aus zwei
Gründen problematisch, findet Rajendran:        Matters-Gründer und Forscher Lawrence Rajendran will Publikationshürden abbauen – für alle.
Erstens würden so keine Anreize für For­
scher bestehen, bereits publizierte Resul­      Keime von Ideen in grosser Zahl zu generie­
tate zu überprüfen, also Replikationsstu­       ren und sich dann nicht um ihr weiteres
dien zu machen. Dieser Umstand lässt            Spriessen zu kümmern.» Aber das sei
(zumindest in manchen Forschungsfel­            schwer vorauszusehen – und hänge dann ja
dern) das gesamte Wissenschaftsgebäude          vor allem davon ab, wie die Forschungsar­
wacklig werden, weil die Resultate auf sta­     beit honoriert werde. Es wird tatsächlich
tistisch schwachen Beinen stehen – unter        interessant sein zu verfolgen, wie die Insti­
den Epidemiologen beispielsweise geht           tutionen und Forschungsbehörden auf die­
das Bonmot, dass auch bei Studien prinzi­       se neue Art des Publizierens reagieren –
piell «einmal ist keinmal» gelte. Und zwei­     schliesslich hat man auch da erkannt, dass
tens schaffe dieser Fokus auf der schönen       die Fixation auf Publikationen in Topjour­
und möglichst überraschenden Geschich­          nals in die forschungspolitische Sackgasse
te ungute Anreize, seine Schlussfolgerun­       führt. Rajendran erwartet, dass sich, wenn
gen nach Bedarf ein wenig zurechtzubie­         seine Idee richtig einschlägt, andere Jour­
gen und die Daten entsprechend besser           nals auf das Storytelling spezialisieren: dass
aussehen zu lassen als sie womöglich sind.      es also spezifische Review Journals geben
Das muss nicht mal bis zum offensichtli­        wird, deren Aufgabe es ist, aus den Einzel­
chen Betrug gehen, es gibt viel subtilere       beobachtungen grössere Zusammenhänge
Mittel, die Daten zu «foltern, bis sie geste­   zu schaffen – und sich dabei womöglich auf
hen», wie Statistiker scherzhaft – aber wohl    Beobachtungen aus ganz unterschiedli­
sehr treffend – sagen.                          chen institutionellen Kontexten stützen,
Stichwort Anreize: die lassen sich ja nicht     die von der Crowd schon mal provisorisch
ganz aus der Welt schaffen, sondern höchs­      verwoben worden sind. Auch eine interes­
tens zum besseren verändern. Sieht der Pio­     sante Frage: Wird es im Beruf des Forschers
nier auch problematische Anreize bei sei­       dann eine Auffächerung geben? Wird es die
nem Publikationsmodell? Er zögert mit der       obsessiven Beobachter auf der einen und
Antwort und meint, das sei eine gute Frage.     die assoziierenden Geschichtenerzähler auf
«Womöglich wird es dazu führen, nur noch        der anderen Seite geben?

                                                                                                                    UNIVERSITAS / APRIL 2016   5
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fokus                                Everybody’s Baby                               die Anschubfinanzierung sichergestellt
                                     Egal wie sich die Dinge entwickeln – bis       hat, und nicht an Risikokapitalgeber, die
                                     dahin müssen sie ja auch finanziert wer­       in Matters womöglich so etwas wie das
                                     den können. Das Matters-Modell sieht ei­       Soziale Netzwerk der Zukunft im Wissen­
                                     nen Beitrag der Forschenden für das Auf­       schaftsbereich sehen und es dabei vor al­
                                     schalten ihres Beitrags vor – der allerdings   lem auf die aggregierten Daten abgese­
                                     im Vergleich beispielsweise mit «Nature        hen haben könnten. Die fixe Idee, die
                                     Communications» (wo über 5000 Dollar           Rajendran die letzten Jahre umgetrieben
                                     für eine Publikation fällig sind) durchaus     hat, will er jetzt, da sie Realität zu werden
                                     bescheiden ausfällt: 150 Dollar pro publi­     verspricht, nicht so einfach wieder aus
                                     zierte Beobachtung. Davon geht die Hälfte      der Hand geben. Statt der Goldgräber­
                                     an die Reviewer, die andere Hälfte behält      stimmung im Silicon Valley sucht er lie­
                                     Matters. «Im Moment basiert unser Busi­        ber den Kontakt zu Gleichgesinnten wie
                                     nessmodell auf 75 Dollar» sagt Rajendran       etwa der Open Knowledge Foundation.
                                     mit einem Lachen und vergleicht die Idee       Und wiederholt seine Mission: Matters
                                     mit dem «Swatch-Modell». Man sei auf der       soll allen zugute kommen, und zwar
                                     Suche nach weiteren Inves­     toren, dabei    nicht mehr nur allen ohnehin Privilegier­
                                     denkt er aber eher an Geldgeber wie die        ten, sondern wirklich allen, die sich für
                                     Velux-Stiftung, die auf grosszügige Weise      Forschungbegeistern.

                                     «Um die Relevanz geht es nicht»
                                     Prof. Urs Albrecht ist Mitglied des grossen Editorial Boards von Matters. Im Ge-
                                     spräch mit universitas spricht er über Stärken und Schwächen der neuen Plattform.
                                     Urs Albrecht, worin besteht Ihre Aufgabe?      Resultat muss man interpretieren. Und die­
                                     Wir überprüfen, ob die eingereichten           se Interpretation ist bis zu einem gewissen
                                     Arbeiten methodisch solide sind. Das er­       Grad subjektiv; jemand anderes kann eine
                                     ledigen wir entweder selbst oder suchen        andere Geschichte ableiten – aus denselben
                                     passende Reviewer, wenn wir nicht über         Daten. Dasselbe gilt für die Frage der Rele­
                                     die nötige Expertise verfügen.                 vanz – nicht jedes Resultat muss für jeden
                                                                                    gleich relevant sein. Das zuzulassen könnte
                                     Weisen Sie Arbeiten auch zurück, weil Sie      gerade die Stärke von Matters sein.
                                     sie als zuwenig bedeutsam erachten?
                                     Nein, das ist ja das besondere am Review-­     Sehen Sie auch Schwächen?
                                     Prozess bei Matters; um die Relevanz geht      Ja, es gibt bestimmt Wege, den Bewertungs­
                                     es nicht. Wenn jemand denkt, eine inter­       prozess durch die Community zu mani­
                                     essante Beobachtung gemacht zu haben,          pulieren. Zudem könnte es sein, dass ein
                                     kann er sie bei uns präsentieren, ohne gros­   Modell wie Matters Anreize schafft, alles
                                     sen Kontext. Das reduziert den Stress der      mögliche zu publizieren, dass wir es also
                                     «Geschichtenkonstruktion», wie ich das         mit einer Flut von uninteressanten Beob­
                                     mal nennen möchte.                             achtungen zu tun bekommen.

                                     Was ist denn so verkehrt an einer guten        Wie sind Sie zu Matters gekommen? Gibt
                                     Geschichte?                                    es einen Dissidentenclub, der nach We-
                                     Im Prinzip nichts. Aber wenn der Fokus         gen sucht, um das Problem des Story-
                                     zu stark auf ihr liegt, kann sie zur Feh­      tellings zu lösen? Ganz ehrlich: Dass sich
                                     linterpretation von Resultaten führen,         daran etwas ändert – da ist niemand dage­
                                     dazu, dass man die gefundene Beobach­          gen. In der Forschergemeinde ist man sich
  Urs Albrecht ist Professor         tung in eine Theorie hineinpasst. Man          eigentlich einig, dass es um den Content
  am Depar­tement für Biologie der   muss als Forscher immer auf der Hut sein,      und nicht um die Stories geht. Aber indi­
  Universität Freiburg. Der Bio-     damit man seine Resultate nicht über­          rekt sind wir wohl auch ein wenig selber
  chemiker untersucht mit seinem     interpretiert.                                 schuld an dem Missstand: im hektischen
  Team die Mechanismen der inneren                                                  Forschungsbetrieb schauen wir uns bei
  Uhr und deren Auswirkung auf       Wissenschaft besteht also nicht aus Fak-       Bewerbungen die geleistete Arbeit nicht
  das Denken und Verhalten von       ten, sondern aus Interpretationen ?            mehr so genau an, sondern blättern gleich
  Menschen und Mäusen.               Etwas weniger strikt formuliert: Ja. Jedes     zur Publikationsliste. RF
  urs.albrecht@unifr.ch

  6     UNIVERSITAS / AVRIL 2016
Universitas Europa Comment vas-tu ? - Université de Fribourg
Économie, Droits de l’Homme,
Culture et littérature
Wirtschaft, Menschen­rechte,
Kultur und Literatur

 41e Journée de l’Europe
     de l’Université de Fribourg
     Europatag
     der Universität Freiburg
      Mercredi 27 avril
      Mittwoch, 27. April         2016
      Don Quijote reitet über alle Grenzen
      Europa als Raum der Inspiration
      Vortrag von Peter von Matt
      Schriftsteller und emeritierter Professor für Neuere
      Deutsche Literatur an der Universität Zürich
      17h15, Auditorium «Joseph Deiss»,
      Bd de Pérolles 90, PER 22

CENTRE D’ÉTUDES EUROPÉENNES                       ZENTRUM FÜR EUROPASTUDIEN
BOULEVARD DE PÉROLLES 90, 1700 FRIBOURG           BOULEVARD DE PÉROLLES 90, 1700 FREIBURG
Universitas Europa Comment vas-tu ? - Université de Fribourg
Europa
dossier
                                  10   «Die EU ist so nicht praktikabel»
                                       Daniel Ryser

                                  14   Existe-t-il un style de management européen ?
                                       Eric Davoine

                                  16   Europa an seinen Grenzen
                                       Sarah Progin-Theuerkauf

                                  20   Europakompatibler Islam
                                       Hansjörg Schmid

                                  23   Suisse – UE : vers des défis considérables
                                       Philippe G. Nell

                                  26   Grundlegendes zum «Volkswillen»
                                       Astrid Epiney

                                  28   Des chercheurs dans le flou
                                       Christian Doninelli

                                  31   Warum in die Ferne schweifen?
                                       Dirk Morschett

                                  34   Tauwetter in Europa
                                       Christian Hauck

                                  36   Les Etats-Unis d’Europe
                                       Gilbert Casasus

                                  39   Ökumene für ein alternatives Europa
                                       Barbara Hallensleben

                                  42   L’Europe : une question linguistique et sociale
                                       Zorana Sokolovska

                                  44   Keine EU im Mittelalter
                                       Hans-Joachim Schmidt

                                  46   Un livre pour l’Europe
                                       Uberto Motta

                                  49   Europa: Exklusion und Inklusion
                                       Mariano Delgado

                                  51   Une Europe spiri­­tuelle à deux poumons
                                       François-Xavier Amherdt

   8   UNIVERSITAS / AVRIL 2016
Universitas Europa Comment vas-tu ? - Université de Fribourg
1957
Les traités de Rome
Les traités de Rome furent signés le 25 mars 1957 dans la salle des Horaces et des Curiaces du Capitole.
Ces traités ont donné naissance au Marché commun.
Universitas Europa Comment vas-tu ? - Université de Fribourg
«Die EU ist so nicht
dossier
                                   praktikabel»
                                   Die Erweiterung der EU offenbart nicht nur ein Demokratiedefizit, sie hat auch
                                   zum Verlust zentraler Werte wie der Solidarität geführt, sagt Gilbert Casasus,
                                   Professor für Europastudien. Er fordert radikale Reformen. Daniel Ryser

                                   Gilbert Casasus, die aktuelle Krise lässt      wurde, fehlten mobilisierende Themen.
                                   uns gerade in rasantem Tempo gewahr            Die Migration ist eine verpasste Chance,
                                   werden, dass die EU halt doch vor allem        grundsätzliche Fragen neu zu stellen: Was
                                   eines ist: Ein Projekt nationaler Egoismen.    bringt ein gemeinsames Europa? Gerade
                                   Es stimmt: Die mittel- und osteuropä­          auch gegenüber Ländern, in denen Krieg
                                   ischen Länder sind zurzeit eine grosse         herrscht? Stattdessen dominiert politi­
                                   Enttäuschung. Sogar Österreich gehört          scher und wirtschaftlicher Individualis­
                                   mittlerweile dazu. Die polnische oder die      mus. Man hat die EU relativ gedankenlos
                                   ungarische Regierung sind mit ihrem Ver­       erweitert, statt sie zuerst einmal zu vertie­
                                   halten kein Vorbild für Europa, im Gegen­      fen. Ein absehbarer Fehler, der sich jetzt
                                   teil: Viktor Orbán hat sich zum Totengrä­      rächt.
                                   ber der europäischen Idee profiliert. Man
                                   will Subventionen von der EU, kümmert          Sie sagen also, dass die EU zu schnell er-
                                   sich weder um einen intellektuellen Aus­       weitert wurde?
                                   tausch, noch um den zentralen Solidari­        In der Tat. Geopolitische, wirtschaftliche
                                   tätsgedanken. Italiens Premier Matteo          und mainstreampolitische Interessen
                                   Renzi hat recht, wenn er sagt: Europazuge­     sind dafür verantwortlich. Man erwei­
                                   hörigkeit bedeutet nicht bloss Kohäsions­      terte, statt zum Beispiel zuerst einmal
                                   gelder und Subventionen zu kassieren.          über demokratische Defizite zu disku­
                                                                                  tieren. Defizite, die zum Beispiel der Lis­
                                   War die europäische Idee also bloss ein        sabon-Vertrag zum Vorschein gebracht
                                   Schönwetterprojekt?                            hatte: Warum wohl haben ihn die meisten
                                   Natürlich stellt sich die Frage, was los       Länder bloss durch die Parlamente abseg­
                                   ist, wenn sich in der Flüchtlingskrise das     nen lassen?
                                   konservativ regierte Deutschland vorbild­
                                   licher verhält als das links regierte Frank­   Was schlagen Sie vor?
                                   reich. Trotzdem: Die europäische Idee ist      Europa ist in der heutigen institutionellen
                                   nicht tot, man muss sie bloss wieder inten­    Verfassung nicht in der Lage, sich richtig
                                   siver kultivieren.                             zu steuern. Deshalb wäre eine Fokussie­
                                                                                  rung auf ein Kerneuropa der richtige Weg.
                                   Wie meinen Sie das?
                                   Als das Projekt Europa 1950 entstand, hat­     Wie bitte soll ein solches Kerneuropa
                                   te der Gedanke des Friedens Priorität. Die­    aussehen?
                                   ser Gedanke und die damit verbundene           Die Idee ist nicht neu. Schon 1994 waren
                                   Wertedebatte haben auch die Wirtschaft         Vorschläge in diese Richtung präsen­
                                   eingeschlossen, weil sie verbunden wa­         tiert worden. Das sogenannte Schäuble-­
                                   ren mit der Frage, wie stark Deutschland       Lamers-Papier wollte statt auf schnelle
                                   werden darf. Europa befand sich in einem       Expansion auf ein Kern-Europa setzen, um
                                   Auf bauprozess, der auch ein Prozess ge­       die Integration voranzutreiben. Den Kern
                                   genseitiger Verständigung war. Als Frie­       bilden die sechs Gründerstaaten Deutsch­
                                   den irgendwann als gegeben empfunden           land, Frankreich, Belgien, Luxemburg, die

   10   UNIVERSITAS / AVRIL 2016
Universitas Europa Comment vas-tu ? - Université de Fribourg
Niederlande, Italien. Man könnte zudem        Angesichts der heutigen politischen Lage
über Anrainerstaaten wie Spanien und          getraut sich einfach fast niemand, das zu
Portugal nachdenken. Die Schwachstel­         sagen. Ist es denn nicht positiv, wenn ei­
le liegt darin, dass kein skandinavisches     ner in Deutschland den Bachelor macht
Land vertreten ist. Darüber müsste man        und damit in Italien ein Masterstudium
nachdenken.                                   beginnen kann? Zu viel Subsidiarität wird
                                              Europa viel härter treffen als Angriffe auf
Aber die mittel- und osteuropäischen          die nationale Souveränität einzelner Län­
Länder wären raus?                            der. Der polnische Aussenminister will
Nicht raus aus der EU, aber sie wären         wirtschaftlichen Profit aus der EU schla­
kein Teil von Kerneuropa. Nicht, dass ich     gen, gleichzeitig sagt er, die EU dürfe sich
grundsätzlich dagegen wäre, aber im Mo­       aufgrund der Subsidiarität nicht in die
ment ist das unvorstellbar. Und daran sind    innenpolitischen Belange seines Landes
© C. Doninelli

sie selbst schuld. Sie könnten also nicht     einmischen, soll also die Verletzung von
gleich stark profitieren wie die Kernländer   Menschenrechten und Pressefreiheit ak­
und hätten auch weniger Kompetenzen.          zeptieren. Diesen Widerspruch darf die EU
Ich habe kein Problem damit zu sagen,         nicht dulden.
dass Europa unterschiedliche Geschwin­
digkeiten hat. Ich stelle mir eine funktio­   Bald kommt der nächste Hammer: Das
nierende EU als ein Haus mit Lift vor: Man    britische Stimmvolk wird im Juni den
kann vom ersten in den zweiten Stock fah­     Brexit beschliessen.
ren und vom zweiten in den dritten. Aber      Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dazu
dazu muss man etwas leisten und gewisse       kommt. Aber gut, gehen wir einmal davon
Kriterien erfüllen. Der wichtigste Punkt      aus: Ein Brexit wäre eine Katastrophe für
ist der Euro. Die gemeinsame Währung          die EU, ein fatales Signal, abgesehen da­
verbindet wirtschaftlich. Ich könnte mir      von, dass England ein wichtiger Partner
deshalb auch eine Art Euroland vorstellen     ist. Länder wie Dänemark könnten mit
mit den neunzehn Eurostaaten, welche          einem Exit flirten, während andere Län­
die Wirtschaftspolitik steuern, während       der noch fester an die Beitrittstür klopfen
das Kerneuropa Ideen entwickelt für die       würden. Positiv an einem Brexit wäre ein­
EU, so, wie damals Schengen entstanden        zig, dass er die Idee einer von einem har­
ist. An der grundsätzlichen Aussage än­       ten Kern geführten EU befeuern würde,
dert sich nichts: Wer von der EU profitie­    einem Kern, der die EU neu definiert in
ren will, muss auch den Solidaritätsgedan­    Bezug auf Aussen- und Wirtschaftspolitik.
ken teilen.
                                              Gibt es eigentlich ein Europa ohne EU?
Ich kann Ihnen sagen, wie die Antwort         Eine Rückkehr zu einer Nationalisierung
lautet.                                       Europas wäre fatal. Damit hat man in Eu­
Bitte.                                        ropa immer die schlimmsten Erfahrun­
                                              gen gemacht. Aber in der Tat gibt es Leute,    Gilbert Casasus wurde 1956 in Lyon,
«Brüssel will diktieren, was wir zu tun       die gerne mit dem Feuer spielen.               Frankreich geboren. Der franko-­
haben.»                                                                                      schweizerische Staatsbürger hat in
Und was ist daran schlecht?                   Wenn man die Zeitungen liest, könnte           Deutschland und Frankreich Politik­-
                                              man meinen, dass man zum Beispiel in           wissenschaften studiert und sowohl
Fragen Sie mal den CVP-Präsidenten            den neuen Bundesländern nicht allzu            in der Schweiz, in der Bunderepublik
Christoph Darbellay. Die neuen EU-Waf-        traurig wäre über einen Abschied von           als auch in Frankreich unterrichtet.
fengesetze seien mit der «schweizeri-         Europa. Offenbar gibt es eine steigende        Er gilt als Spezialist deutsch-französi-
schen DNA» nicht vereinbar, hat er kürz-      Anzahl von Menschen, die Angst haben,          scher Beziehungen und ist als Kenner
lich ausgerufen. Und Darbellay ist nicht      ihre Identität zu verlieren.                   der Europapolitik bekannt.
gerade der klassische EU-Gegner.              Ich kann nachvollziehen, dass der ak­          Seit 2008 ist Gilbert Casasus als
Natürlich stellt die EU im Kern ein An­       tuelle Flüchtlingsschub Ängste auslöst.        Professor für Europa­studien an
griff auf die nationale Souveränität dar.     Gleichzeitig ist es aber auch ein Märchen      der Universität Freiburg tätig.
Nur was ist daran eigentlich schlecht?        so zu tun, als sei nur Europa betroffen. Am    gilbert.casasus@unifr.ch

                                                                                                       UNIVERSITAS / APRIL 2016    11
dossier
                                   stärksten betroffen von der aktuellen Kri­     kalismus. Und ja, ich halte dies für ext­
                                   se sind Länder wie Libanon oder Jordani­       rem gefährlich, wenn etablierte Parteien
                                   en. Es ist ein Phänomen der Krise ist, dass    rechtsradikalen Jargon übernehmen, wie
                                   nicht mehr differenziert wird. Das ist aber    etwa die FPÖ in Österreich, die im übri­
                                   dringend nötig. Die Menschen tun so, als       gen, das darf man nie vergessen, von Na­
                                   hätte es Migration nie gegeben. Und vor        zis gegründet wurde. Diese Parteien sind
                                   allem tun sie so, als wäre Migration etwas     nicht hundertprozentig rechtsradikal,
                                   Negatives.                                     aber eben auch nicht hundertprozentig
                                                                                  demokratisch. Aber all diese Parteien ha­
                                   Im sächsischen Clausnitz würden das            ben einen gemeinsamen Nenner, einen ge­
                                   viele Menschen unterschreiben.                 meinsamen Feind. Und dieser Feind heisst
                                   Die Fakten sprechen eine andere Sprache        Europa.
                                   als die Emotionen: In Sachsen leben drei
                                   Prozent Ausländer. Das Bundesland hat          Der Feind Europa als Identitätsmerkmal
                                   doch das gegenteilige Problem: Es ist ein      – auch in der Schweiz kriegen wir die Fol-
                                   Auswanderungsland mit fünfzehn Pro­            gen solcher Politik zu spüren: Sie dozie-
                                   zent weniger Einwohnern als 1990. In den       ren Europastudien, aber wir haben noch
                                   neuen Bundesländern ist die Bevölkerung        nicht einmal mehr Erasmus.
                                   seit dem Mauerfall um fast vier Millionen      Ich muss etwas zurückhaltend sein an die­
                                   geschrumpft, von 16 auf 12,5 Millionen.        ser Stelle, denn ich ärgere mich hier nicht
                                   Man kämpft mit existentiellen Problemen        nur über die Kurzsichtigkeit des Schweizer
                                   wie einer massiven Überalterung der Ge­        Stimmvolks. Die Reaktion der EU hat mich
                                   sellschaft, und klar, jetzt kommen Flücht­     genauso empört: Dass sie ausgerechnet
                                   linge, und die krachen in ein Vakuum, in       die Studenten, die so auf die EU angewie­
                                   eine Gesellschaft, in der grundlegende         sen sind, den Preis bezahlen lässt. Aber Eu­
                                   Dinge nicht mehr funktionieren. Und das        ropas Reaktion war legitim. Die Schweiz
                                   befeuert Probleme. Gegenbeispiel: Das Ein­     trägt für den Ausschluss der schweizeri­
                                   wanderungsland Bayern stellt die acht­         schen Studierenden aus den EU-Program­
                                   stärkste Wirtschaftsmacht Europas dar.         men die Hauptschuld. Gleichzeitig fehlt es
                                   Oder nehmen Sie die Schweiz, sie ist das       in der Schweiz an der Bereitschaft, einen
                                   allerbeste Beispiel: Sie ist reich geworden,   Dialog zu führen. Fährt eine Bundesdele­
                                   als die Italiener kamen. Ein Land ist dann     gation nach Brüssel, präsentiert sie ein
                                   erfolgreich, wenn es ein Einwanderungs­        Paket, in dem Vokabular, Agenda und In­
                                   land ist. Ansonsten überaltern wir und         halt schon vorgegeben sind. Wie soll so
                                   sterben aus.                                   ein Austausch funktionieren? Man will,
                                                                                  wie andere Länder auch, den Fünfer und
                                   Vor Ort klingt das in einem erheblichen        das Weggli. So funktioniert Europa nicht.
                                   Teil der Gesellschaft anders: Der Feind        Schlimm ist, dass viele Leute hierzulande
                                   heisst Flüchtling, Merkel, EU. Fürchten Sie    gar nicht sehen, was sie zum Beispiel der
                                   sich eigentlich vor dem langsamen, aber        eigenen Jugend antun. Gerade kürzlich
                                   stetigen Aufstieg des Rechtspopulismus         habe ich versucht, einen Zuschuss für
                                   in zahlreichen europäischen Ländern?           ein geplantes Studententreffen in Frei­
                                   Ich würde das nicht als Populismus be­         burg bei einer europäischen Institution
                                   zeichnen. Von diesem Begriff halte ich         zu beantragen.
                                   nichts. Ich bin nicht der Meinung, dass
                                   Volk per se etwas Schlechtes ist. Ich erin­    Wie lautete die Antwort?
                                   nere an den Front populaire in Frankreich,     Sie sind aus der Schweiz? Ernsthaft? Von
                                   der sich als Gegner der Nationalsozialis­      uns kriegen Sie nichts.
                                   ten verstand. Wenn wir von Rechtspo­
                                   pulismus reden, meinen wir eigentlich
                                   rechte Parteien, die eine Scharnierfunk­
                                   tion übernommen haben zwischen dem
                                   Konservativismus und dem Rechtsradi­

   12   UNIVERSITAS / AVRIL 2016
1968
Das Ende des Prager Frühlings
Junge Demonstrantinnen und Demonstranten tragen am 21. August 1968 eine mit Blut getränkte CSSR-Fahne durch Prag. Einen Tag
zuvor hatten Truppen des Warschauer Paktes die Tschechoslowakei besetzt. Damit fand der im April 1968 eingeleitete «Prager Frühling»,
das Experiment einer Demokratisierung von Partei, Staat und Wirtschaft, ein gewaltsames Ende.
Existe-t-il un style de
dossier
                                           management européen ?
                                           L’Europe a-t-elle su développer une approche manageriale au-delà de ses fron­
                                           tières politiques ? Existe-t-il une manière européenne de diriger une entreprise ?
                                           Petit tour d’horizon, des années 1990 à aujourd’hui. Eric Davoine

   Der europäische Manager                 La question du style de management euro­    et les processus pouvaient être plus forma­
   Was definiert den «europäischen»        péen était récurrente au début des années   lisés en Grande-Bretagne et en France qu’en
   Manager? Gibt es überhaupt eine         1990, l’époque de l’Union Européenne à 9    Allemagne, mais semblaient respectés plus
   «europäische» Art, ein Unternehmen                                                  fidèlement dans les pratiques managériales
                                           puis à 12, celle où il s’agissait de façonner
   zu führen? Fragen wie diese wurden
                                           un projet ensemble et de se définir une     allemandes que dans les pratiques managé­
   zu Beginn der 1990er-Jahre gerne
                                           identité commune, au-delà de la seule am­   riales françaises ou britanniques.
   er­örtert, als es darum ging, zusam-
   men ein Projekt zu entwerfen, eine      bition de construire un marché unique.      La communication des managers était, par
   ge­mein­same Identität zu definieren    Cette question était essentielle, puisqu’un contre, plus formalisée dans les organisa­
   – weit über den Anspruch hin­aus, ei-   style de management, c’est la manière dont  tions allemandes. Le vouvoiement profes­
   nen gemeinsamen Markt zu schaf­         le pouvoir est exercé dans les organisa­    sionnel était de rigueur, alors que le tutoie­
   fen. Die Frage war grundlegend:         tions, entreprises, administrations ou      ment était plus courant dans les pays latins
   Schliesslich umfasst ein Manage-        même associations ; pouvoir en principe     et scandinaves, avec cependant des codes
   ment-Stil auch die Art und Weise,       incarné par des managers à différents       hiérarchiques parfois complexes dans les
   wie Macht ausgeübt wird in einer Or-
                                           échelons hiérarchiques.                     pays latins. Les Britanniques, quant à eux, se
   ganisation, einem Unternehmen, in
                                           Or, dans les années 1990, chercher à définirposaient moins de problèmes en disant You
   der Verwaltung. Die Palette an ver-
   schiedenen Managementformen war         ce qu’était l’euromanager, c’était découvrirà tous. On doit rappeler ici que la diversité
   gross und es zeigte sich, dass zwi-     une grande diversité de pratiques natio­    des langues européennes a aussi une in­
   schen Süd- und Nordeuropa eine          nales de management. Globalement, dans      fluence sur la diversité des styles de mana­
   Art Grenze verlief. So gab es Studien   les recherches en management, on distin­    gement. En effet, c’est dans cette diversité
   die beispielsweise aufzeigten, dass     guait une frontière poreuse entre l’Europe  linguistique que s’inscrivent la communi­
   die nordischen Länder und Gross­        du Sud et l’Europe du Nord, comme on dis­   cation quotidienne et les catégories avec
   bri­tannien partizipativen Führungs-    tinguait, dans les études de consomma­      lesquelles le manager décrit son organisa­
   strukturen offen gegenüberstehen
                                           tion, une frontière entre l’Europe du vin ettion et son environnement. Ainsi, un Vor­
   und eine weniger ausgeprägte Be-
                                                                                       standsvorsitzender ou -sprecher n’est pas un
                                           de l’huile d’olive et celle de la bière et du
   ziehung zu Macht und Hierarchie
   aufweisen als die Länder des Sü-        beurre ; les Iles Britanniques étant souventPrésident Directeur Général. Le premier est
   dens. Eine klare Antwort auf die Ein-   considérées comme un monde à part, en       un primus inter pares, qui parle au nom des
   gangsfrage gibt es auch 20 Jahre        cuisine comme en management.                autres membres du comité, tandis que le se­
   später nicht – weder die Globalisie-                                                cond est plutôt un chef suprême, pointe
   rung, noch die Öffnung Europas ge-      Tu, vous, you                               d’une pyramide souvent effilée. Manager, le
   gen Osten haben diesbezüglich zu        Par exemple, plusieurs recherches mon­ terme anglo-saxon d’origine latine, est une
   mehr Klarheit beigetragen.              traient que les pays du Nord et la Grande-­ notion floue et protéiforme, qui se révèle
                                           Bretagne avaient une relation au pouvoir par ailleurs extraordinairement pratique
                                           et à la hiérarchie moins marquée, plus fa­ pour définir la catégorie supra-nationale de
                                           vorable à certaines pratiques participa­ ceux qui ont à exercer du pouvoir ou une
                                           tives que les pays du Sud. D’autres re­ responsabilité dans une organisation.
                                           cherches montraient que, dans les pays
                                           méditerranéens ou la Grande-Bretagne, Cadres nationaux
                                           le management était plus personnalisé, Les styles de management nationaux sont
                                           plus lié au charisme, au dynamisme ou aussi influencés par différents éléments
                                           aux compétences personnelles du chef. institutionnels nationaux, comme le cadre
                                           La structure organisationnelle, les règles légal de représentation des intérêts des

   14     UNIVERSITAS / AVRIL 2016
employés ou les particularités du système       les anciens diplômes d’institutions d’élite
éducatif local, qui forge les qualifications.   nationales, qui suffisaient auparavant à
Ainsi, les banquiers américains travaillant     donner une autorité légitime aux mana­
pour le Crédit Suisse à Zurich s’étonnaient     gers. De nombreuses institutions natio­
du nombre de leurs collègues managers is­       nales européennes ont d’ailleurs elles-
sus d’une formation professionnelle ban­        mêmes lancé des programmes de MBA ou
caire et pas d’une college education comme      des programmes master en langue an­
eux. Les banquiers suisses s’interrogeaient     glaise. Ces phénomènes de standardisa­
devant le nombre d’anciens hauts fonc­          tion des organisations et des formations
tionnaires parmi les cadres dirigeants des      entraînent un nombre toujours plus grand
banques françaises. Tandis que les ban­         d’éléments communs dans les styles de
quiers d’affaires allemands, qui ont sou­       management en Europe : l’euromanager
vent une qualification bancaire complète        d’aujourd’hui parle plus anglais que celui         Pour aller plus loin
et hyperspécialisée de la Banklehre au Doc­     d’hier, évolue dans des organisations            > A. Bergmann, Le Swiss way of
tor rerum politicum se montraient troublés      moins dissemblables et utilise plus sou­           management, ou les évidences
que leurs homologues britanniques aient         vent des concepts et des cadres de réfé­           cachées des entreprises suisses,
                                                                                                   Eska, 2000
suivi des études universitaires d’histoire      rence qui sont des standards globaux.
                                                                                                 > D. Cazal, E. Davoine, P. Louart, F.
médéviale ou de langues classiques, avant
                                                                                                   Chevalier, GRH et mondialisation:
d’exercer le même métier qu’eux.                Préparer les étudiants                             nouveaux contextes, nouveaux
                                                Pourtant, les styles de management sont            enjeux, collection AGRH, Vuibert,
Globalisation anglo-saxonne                     encore loin d’être uniformisés. Les réalités       2011
Deux décennies plus tard, le manager eu­        nationales restent complexes et spéci­           > E. Davoine, S. Ginalski, A. Mach, Cl.
ropéen est d’autant plus difficile à caracté­   fiques. Même dans les entreprises les plus         Ravasi, «Impacts of globalization
riser que les économies nationales se sont      globales, les langues nationales conti­            processes on the Swiss business
globalisées et que l’Europe, celle de l’UE,     nuent à co-exister avec l’anglais dans les         elite community – A diachronic
                                                                                                   analysis of Swiss large corporations
s’est ouverte et agrandie à l’Est, à des pays   interactions quotidiennes et des pratiques
                                                                                                   (1980–2010)», Special issue: Elites
aux cultures nationales et régionales tout      nationales voisinent avec les pratiques glo­
                                                                                                   on trial, Research in the Sociology of
aussi diverses, mais que leur situation         bales officielles. Ces phénomènes d’hybri­         Organizations, G. Morgan, S. Quack,
historique de rupture rendait encore plus       dation représentent un véritable défi pour         P. Hirsch (eds.), Volume 43, 131–163,
ouverts aux standards occidentaux, c’est-à-     les chercheurs, qui veulent les décrire et les     2015
dire principalement anglo-saxons, du ma­        analyser, mais aussi pour les enseignants        > E. Davoine, Cl. Ravasi, «The relative
nagement. Ainsi, on observe, dans les mé­       européens en management. Il s’agit de pré­         stability of national top manage-
canismes de globalisation contemporains,        parer des étudiants à assumer des respon­          ment career profiles in the age of
des processus de standardisation non seu­       sabilités dans un environnement de travail         globalization : a comparison of
                                                                                                   France, Germany, Great Britain and
lement des formes organisationnelles, des       à la fois national, multinational et globali­
                                                                                                   Switzerland », European Manage-
outils et des instruments de management,        sé. La meilleure approche est, sans doute,
                                                                                                   ment Journal, 31, pp. 152–163, 2013
mais aussi des contenus de formation. Elé­      d’offrir des cours de portée internationale
ment important de cette standardisation :       et comparative avec des références natio­
toujours plus de managers européens ont         nales, de renforcer le multilinguisme, de
acquis une formation initiale ou com­           favoriser les interactions avec des étu­
plémentaire en management. Enfin, on            diants étrangers, d’Europe et d’ailleurs,
constate un accroissement de l’influence        ainsi que des séjours à l’étranger dans les
anglo-saxonne, plus américaine que bri­         programmes de type Erasmus. Les mana­
tannique, sur ces formations supérieures        gers européens d’aujourd’hui sont ainsi de
en management, au travers de concepts et        plus en plus nombreux à développer une
de « bonnes pratiques » d’entreprises, diffu­   sensibilité aux différences culturelles, un
sés en modèle dans le monde entier, via des     domaine où certains pays, comme la Suisse
revues scientifiques et professionnelles et     ou la Belgique, avaient traditionnellement
le poids de sociétés de conseil et d’entre­     quelques longueurs d’avance. C’est sans au­
prises multinationales, qui occupent des        cun doute un avantage compétitif qu’il
positions symboliques dominantes sur le         s’agit de conserver.                             Eric Davoine est professeur au
marché européen. A titre d’exemple, les di­                                                      Département de gestion d’entreprise.
plômes de MBA concurrencent aujourd’hui                                                          eric.davoine@unifr.ch

                                                                                                           UNIVERSITAS / APRIL 2016   15
Europa an seinen
dossier
                                              Grenzen
                                              Grexit und Brexit waren noch nicht abgewendet, als die EU bereits mit einer wei-
                                              teren Herausforderung konfrontiert wurde: Der Flüchtlingskrise. Diese stellt,
                                              neben der EU, auch Schengen und Dublin auf den Prüfstand. Sarah Progin-Theuerkauf

   La solidarité contre la crise ?            Die «Flüchtlingskrise» wird als Begriff von      zugespitzt und der Leidensdruck der einhei­
   La « crise des réfugiés » signe-t-elle     den Organen der EU selbst in offiziellen Do­     mischen Bevölkerung ist derart hoch, dass
   la « fin des accords de Schengen /         kumenten verwendet. Eine gemeinsame eu­          sich inzwischen auch immer mehr Frauen
   Dublin » ? La convention de Schen-         ropäische Antwort auf die Flüchtlingskrise       und Kinder auf den gefährlichen Weg nach
   gen et la convention d’application
                                              jedoch konnte noch nicht gefunden werden         Europa machen, den in den vergangenen
   des accords de Schengen avaient
                                              – zu verschieden sind im Moment die Aus­         Jahren vor allem junge Männer wagten. Aus­
   pour principal objectif de supprimer
   le contrôle des personnes à l’inté-        gangslagen und politischen Standpunkte           sicht auf eine rasche Besserung der Lage in
   rieur de l’espace Schengen, tout en        der EU-Mitgliedstaaten. Einige bevorzugen        Syrien, dem Irak oder Afghanistan besteht
   renforçant les contrôles aux fron-         nationale Wege ohne europäische Solidari­        aktuell nicht, so dass mit einem Anhalten des
   tières extérieures. Le code frontière      tät zur Bewältigung der Krise und haben          Zustroms an Menschen zu rechnen ist.
   permet cependant de réintroduire le        Grenzkontrollen an den Schengen-Binnen­          Die Migrationsrouten haben sich dabei auf­
   contrôle aux frontières en cas de          grenzen wieder eingeführt. Auch das Dub­         grund der am schlimmsten betroffenen
   menaces graves pour l’ordre public         lin-System, das seit Jahren in der Kritik        Krisengebiete geändert: Statt von Libyen
   ou la sécurité intérieure. Le but du
                                              stand, geriet immer mehr unter Druck. In         ausgehend Richtung Italien oder Malta ver­
   système de Dublin est de combattre
                                              den Medien war bereits von einem «Ende           lief 2015 die Haupteinreiseroute über die
   deux phénomènes : l’« asylum shop-
   ping » et les « réfugiés en orbite ». Il   von Schengen und Dublin» zu lesen. Ob dies       Türkei, von wo aus die Betroffenen in der
   s’agit simplement d’un système de          wirklich zutrifft, soll im Folgenden unter­      Regel per Boot nach Griechenland über­
   répartition entre les Etats. La crise      sucht werden. Wichtig dabei ist, die beiden      setzten. Danach ging es über die Balkanrou­
   des réfugiés s’est muée en crise           Systeme, die insbesondere in der öffentli­       te nach Mitteleuropa weiter. Da Griechen­
   surtout parce qu’on a sous-estimé          chen Wahrnehmung in der Schweiz oft als          land mit den ankommenden Flüchtlingen
   le potentiel des sources de conflits       eins empfunden werden, zu unterscheiden.         seit Jahren überfordert ist, was mehrere Ge­
   comme déclencheur de migration.                                                             richtsurteile des Europäischen Gerichts­
   En définitive, les Etats membres du
                                              Fass ohne Boden                                  hofs (EuGH) und des Europäischen Ge­
   système de Dublin luttent depuis
                                              Fakt ist, dass in der EU im Jahr 2015 laut Eu­   richtshofs für Menschenrechte (EGMR)
   des années pour une répartition plus
   « équitable » des requérants d’asile.      rostat weit über eine Million erste Asylanträ­   bestätigt haben, reisen die Betroffenen wei­
   Aussi longtemps que chaque pays            ge gestellt wurden. Diese Zahl ist allerdings    ter. Sie verlassen damit die EU für die
   suivra sa propre stratégie, la crise       nicht sehr aussagekräftig, da in einigen Mit­    Durchreise von Mazedonien und Serbien.
   continuera et pourrait bien s’avérer       gliedstaaten wegen der Überlastung der Be­       Ungarn war bis zu seiner Grenzschliessung
   être une véritable pierre de touche        hörden viele Menschen offiziell noch gar         im Oktober 2015 der erste EU- und Dub­
   pour l’Union Européenne.                   keinen Asylantrag stellen konnten, sondern       lin-Staat nach Griechenland, in den die
                                              nur registriert wurden und einen Termin          Flüchtlinge einreisten. Inzwischen verläuft
                                              für die Stellung des Asylantrags erhalten ha­    die Route über Kroatien und Slowenien
                                              ben. Im Jahr 2014 kamen die meisten Asylsu­      nach Österreich und Deutschland. Kroatien
                                              chenden in der EU aus Syrien, gefolgt von        ist zwar seit 2013 EU-Mitglied, allerdings
                                              Afghanistan, Kosovo, Eritrea und Serbien.        nicht Mitglied von Schengen und Dublin.
                                              Die Erhebungen zu 2015 liegen noch nicht
                                              vor, dürften aber ähnlich ausfallen.             Wieviel ist viel?
                                              Eine Überraschung waren die stark gestie­        Auch in der Schweiz ist die Zahl der Asyl­
                                              genen Flüchtlingszahlen in der EU für Ex­        anträge zuletzt stark angestiegen. Im Jahr
                                              perten nicht – die Krisen in vielen Regionen     2015 wurden laut Staatssekretariat für
                                              der Welt, allen voran in Syrien, haben sich      Migra­tion 39’523 Asylgesuche gestellt. Im

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1973
Bloody Sunday
Im Dezember 1973 explodiert im Zentrum von London eine Autobombe. Dieses Attentat gehörte zu einer Reihe von Terroranschlägen,
mit welchen sich die irisch-republikanische Armee für den Bloody Sunday in Derry rächte, bei dem im Januar 1972 durch die britische
Armee über ein Dutzend unbewaffnete Katholiken getötet wurden.
dossier                            Vergleich zur EU verlief der Anstieg der         EU-Bürgern eine Mindestkontrolle, bei
                                   Asylgesuche im vergangenen Jahr in der           Nicht-EU-Bürgern eine eingehende Kontrol­
                                   Schweiz allerdings moderat, ihr Anteil an        le). Ausserhalb dieser Grenzübergangsstel­
                                   allen Asylgesuchen in Europa betrug nur          len findet eine Grenzüberwachung statt.
                                   gerade drei Prozent – der niedrigste Wert        Art. 23 und Art. 23a des Schengener Grenzko­
                                   seit 1998.                                       dex (erst 2013 neu gefasst) erlauben die Wie­
                                   Weltweit befinden sich nach Angaben des          dereinführung von Grenzkontrollen an den
                                   UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge             Binnengrenzen für bestimmte Zeit, im Falle
                                   (UNHCR) nach wie vor über 80 Prozent der         einer schwerwiegenden Bedrohung der öf­
                                   Flüchtlinge in Entwicklungsländern. Die          fentlichen Ordnung oder inneren Sicher­
                                   Hauptaufnahmestaaten für Flüchtlinge             heit. Grenzkontrollen dürfen maximal für
                                   sind dabei die Nachbarstaaten von Kon­           sechs Monate, bei aussergewöhnlichen Um­
                                   fliktgebieten: Die Türkei, Pakistan und der      ständen für maximal zwei Jahre wieder ein­
                                   Libanon. Die Auffassung, Europa sei am           geführt werden. Für die Wiedereinführung
                                   stärksten von einem Zustrom an Flüchtlin­        von Grenzkontrollen an den Binnengren­
                                   gen betroffen, ist also klar unzutreffend.       zen ist ein spezielles Verfahren vorgesehen.
                                                                                    Von diesen Ausnahmebestimmungen ha­
                                   Grenzenlos                                       ben im Zusammenhang mit der Flücht­
                                   Grundlage des Schengen-Raums bilden das          lingskrise Deutschland, Österreich, Un­
                                   1985 zwischen Frankreich, Deutschland und        garn, Slowenien, Schweden, Norwegen und
                                   den Benelux-Staaten geschlossene Schenge­        Frankreich (nach den Attentaten von Paris)
                                   ner Abkommen sowie das 1990 abgeschlosse­        Gebrauch gemacht. Bei einer ernsthaften
                                   ne Schengener Durchführungsübereinkom­           Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder
                                   men. Die Abkommen hatten insbesondere            der inneren Sicherheit in einem Mitglied­
                                   das Ziel, die Personenkontrollen an den Bin­     staat, die sofortiges Handeln erforderlich
                                   nengrenzen des Schengen-Raumes abzu­             macht, können auch für einen Zeitraum
                                   schaffen, bei gleichzeitiger Verstärkung der     von zehn Tagen, insgesamt aber maximal
                                   Kontrollen an den Aussengrenzen sowie wei­       zwei Monaten, sofort wieder Kontrollen an
                                   terer Massnahmen zur Eindämmung des Si­          den Binnengrenzen eingeführt werden
                                   cherheitsdefizits (z.B. der Errichtung des       (Art. 25). Auf diesen Fall hat sich bislang nur
                                   Schengener Informationssystems, Einfüh­          Dänemark berufen. Schliesslich erlaubt
                                   rung eines Schengen-Visums, Regelungen           auch Art. 26 des Schengener Grenzkodex im
                                   zur Bekämpfung grenzüberschreitender Kri­        Falle aussergewöhnlicher Umstände, unter
                                   minalität). Mit dem Amsterdamer Vertrag          denen das Funktionieren des Raums ohne
                                   wurde der Schengen-Besitzstand in den            Kontrollen an den Binnengrenzen insge­
                                   rechtlichen und institutionellen Rahmen          samt gefährdet ist, die Wiedereinführung
                                   der EU überführt. Grosse Teile des Schen­        von Grenzkontrollen für sechs Monate
                                   gen-Rechts wurden dabei «vergemeinschaf­         (höchstens dreimal verlängerbar um je wei­
                                   tet», d.h. in die (damalige) Europäische Ge­     tere sechs Monate). Auf diese Ausnahme hat
                                   meinschaft überführt. Die übrigen Teile          sich bisher kein Mitgliedstaat berufen.
                                   wurden in den Rahmen der polizeilichen
                                   und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsa­      Einmalige Gelegenheit
                                   chen integriert, eine rein völkerrechtliche
                                                                             Das Dublin-System wurde 1990 von den
                                   Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten.   damals zwölf Mitgliedstaaten der Euro­
                                   Die Schweiz ist seit 2008 (Bilaterale Verträge
                                                                             päischen Gemeinschaft errichtet. Seine
                                   II) an den Schengen-Raum assoziiert.      Rechtsgrundlage war zunächst ein völker­
                                                                             recht­licher Vertrag, das Dubliner Überein­
                                   Mit Netz und doppeltem Boden              kommen. Es wurde 2003 mit wenigen Ände­
                                   Die operativen Regeln des Schengen-­ rungen zu einer Verordnung im Rahmen
                                   Systems enthält seit 2006 der Schengener der Europäischen Gemeinschaft (Dublin-II­-
                                   Grenzkodex. Danach dürfen Binnengren­ Verordnung). Seit 2008 ist die Schweiz auch
                                   zen des Schengen-Raumes unabhängig von an das Dublin-System assoziiert. Erst 2013
                                   der Staatsangehörigkeit der betreffenden wurde das Dublin-System angepasst, nun­
                                   Person an jeder Stelle ohne Personen­ mehr gilt die Dublin-III-Verordnung. Das
                                   kontrollen überschritten werden. Die Aus­ Dublin-System möchte zwei Phänomene
                                   sengrenzen des Schengen-Raums dürfen bekämpfen: Zum einen das sogenannte
                                   hingegen nur über zugelassene Grenzüber­ «asylum shopping», d.h. das Aussuchen des
                                   gangsstellen überschritten werden. An den besten Asylstaates und das Stellen mehrerer
                                   Grenzübergangsstellen erfolgt eine Kont­ paralleler oder sukzessiver Asylgesuche.
                                   rolle der Einreisevoraussetzungen (bei Zum anderen aber auch das Phänomen der

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«refugees in orbit», für deren Asylgesuch         Kompliziert und teuer
sich kein Staat für zuständig erachtet. Es ist    Das Dublin-System wird also nicht ver­
immer nur ein Staat für die Prüfung des           letzt, wenn ein nicht zuständiger Staat
Asylgesuchs zuständig («one chance only»).        Asylgesuche selbst prüft, für die eigentlich
Das Dublin-System ist ein reines Verteil­         ein anderer Staat zuständig wäre. In der
ungssystem zwischen Staaten (unabhängig           Realität werden schliesslich viele Asylge­
von den Wünschen der betroffenen Person),         suchsteller nicht in den eigentlich zustän­
das auf einem (modifizierten) Verantwor­          digen Dublin-Staat überstellt, weil sich die
tungsgrundsatz beruht: Derjenige Staat,           Überstellung nicht innerhalb eines Zeit­
der die Einreise des Asylgesuchstellers zu        raums von sechs Monaten realisieren lässt,
verantworten hat, ist auch für die Prüfung        wie es die Dublin-Verordnung vorschreibt.
seines Asylgesuchs zuständig. Achtung: Der        In diesem Fall geht die Zuständigkeit auf
Asylantrag ist nur in den seltensten Fällen       den Staat über, in dem sich der Asylgesuch­
der Anknüpfungspunkt für die Zuständig­           steller befindet. De facto ist der Verwal­
keit eines Staates für die Prüfung.               tungsaufwand (und damit die Kosten) im
Eine materielle Harmonisierung der Asylge­        Dublin-System sehr hoch, der Nutzen aber
setze in den Mitgliedstaaten verlangt das         eher gering. Die Schweiz allerdings gehört
Dublin-System nicht (hierzu hat die EU im         zu den «Netto-Gewinnern» des Dublin-Sys­
Laufe der Zeit Richtlinien erlassen, die aber     tems; sie überstellt mehr Personen, als sie
die Schweiz nicht binden), es beruht aber auf     erhält. Idealerweise würde das Dublin-Sys­
der Prämisse, dass alle Mitgliedstaaten des       tem durch einen – wie auch immer ausge­
Systems «sicher» und ihre nationalen Asylre­      stalteten – Verteilschlüssel oder ein System
gelungen «gleichwertig» sind. Nach einer          von finanziellen Anreizen für die Aufnah­
festgelegten Rangfolge von Kriterien wird         me von Flüchtlingen ersetzt. Hierauf konn­
die Zuständigkeit eines Dublin-Staates für        ten sich die EU-Mitgliedstaaten aber bis­
die Prüfung eines Asylgesuchs ermittelt. So       lang nicht einigen.
wird (in dieser Reihenfolge) der Aufenthalt
von Familienangehörigen, bei Minderjähri­         Das Ende von Schengen und Dublin?
gen das Stellen eines Asylantrags, die Einrei­    Das Empfinden, man befinde sich in einer
se mit Visa oder das Vorliegen eines Auf­         kaum zu bewältigenden Krise, wird stark
enthaltstitels, die illegale Einreise oder ein    von Politik und Berichterstattung in den
mindestens 5-monatiger illegaler Auf­             Medien beeinflusst. Eine «Krise» wurde die
enthalt, eine visafreie Einreise und ein Asyl­    Flüchtlingskrise aber vor allem dadurch,
antrag im Transitbereich eines Flughafens         dass weltweit Konflikte und Krisenherde
geprüft. In der Realität ist in über 80 Prozent   als Auslöser für die Migration von Men­
der Fälle derjenige Staat zuständig, in dem       schen, auch Richtung Europa, unterschätzt
der Asylgesuchsteller erstmalig illegal über      wurden, reguläre Möglichkeiten zur Migra­
eine Dublin-Aussengrenze in den Dub­              tion kaum bestehen und in Bezug auf die
lin-Raum eingereist ist. Damit sind es die        Aufnahmestrukturen für Asylgesuchsteller
Länder an den Aussengrenzen der EU, die für       in der EU schlicht zu wenig antizipiert wur­
die Prüfung der meisten Asylgesuche zu­           de. Zudem ringen die Mitgliedstaaten des
ständig sind, in erster Linie Griechenland        Dublin-Systems seit Jahren um eine «ge­
und Italien. Das «Durchwinken» von Flücht­        rechtere» Verteilung von Asylgesuchstel­
lingen ist kein Kriterium, aus dem eine Zu­       lern. Solange hier eine – wie auch immer
ständigkeit erwächst. Das System ist somit        geartete – europäische Lösung, die den
sehr unausgewogen. Eine «Lastenverteilung»        Grundsatz der Solidarität beachtet, nicht
innerhalb der EU ist nicht vorgesehen.            gefunden wird und jeder Staat seine eigene
Der Asylgesuchsteller wird nach Ermittlung        Strategie verfolgt, wird es sicher auch eine
des zuständigen Staates in diesen überstellt      Krise bleiben, die ein Prüfstein für die ge­
und erhält dort sein Asylverfahren. Nur bei       samte EU sein könnte. Schengen und Dub­
«systemischen Schwachstellen» im eigent­          lin sind jedoch nach wie vor in Kraft und
lich zuständigen Staat kann von der Über­         lassen rein rechtlich betrachtet Ausnahme­     Sarah Progin-Theuerkauf ist
stellung abgesehen und ein anderer zustän­        bestimmungen zu. Wenn die Ausnahme die         Professorin für Europarecht und
diger Staat ermittelt werden. Jeder Staat         Regel wird, macht das System allerdings        Europäisches Migrationsrecht
kann aber unabhängig vom nach den Dub­            langfristig wenig Sinn. De facto müssten       am Departement für Internationales
lin-Kriterien für die Prüfung des Asylge­         also bald andere Regelungen gefunden wer­      Recht und Handelsrecht, Co-
suchs zuständigen Staat sein Ermessen aus­        den, die der Realität besser Rechnung tra­     Direktorin des Zentrums für
üben und das Asylgesuch selbst prüfen.            gen. Wie diese genau aussehen sollten, das     Migrationsrecht und Projektleiterin
Dies macht Deutschland aktuell bei syri­          hat schon so manchen kreativen Juristen        im Rahmen des NCCR-On the move.
schen Asylgesuchstellern.                         ein graues Haar gekostet.                      sarah.progin-theuerkauf@unifr.ch

                                                                                                          UNIVERSITAS / APRIL 2016   19
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