"Unser Laden e.V. und Roringer Berg-Café" - Modell- und Demonstrationsprojekt
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„Wie kann ein Dorfladen nachhaltig die Nahversorgung im ländlichen Raum sichern?“ Modell- und Demonstrationsprojekt „Unser Laden e.V. und Roringer Berg-Café“ Göttingen, 28.12.2018 Niklas Hedrich, Diplom Sozialwissenschaftler Erstellt im Auftrag von „Unser Laden e.V. und Roringer Berg-Café“, Mitglieder des Vorstands: Werner Massow, Kerstin Bornemann, Angelika Gerke, Heidemarie Scheffler, Marion Stadlhuber 1
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis ................................................................................. 2 1. Einleitung / Hintergrund ................................................................. 4 1.1 Ziele und Vorgehensweise der Projektdokumentation ...................................... 5 1.2 Aufbau............................................................................................................... 6 2. Begriffsbestimmungen ..................................................................... 7 2.1 Zum Begriff des ‚ländlichen Raumes‘ ................................................................ 7 2.2 Zum Begriff der ‚Nahversorgung‘ ...................................................................... 9 2.3 Unterscheidung der Betriebsformen im stationären Lebensmitteleinzelhandel 10 3. Angebotsseitige Trends und Entwicklungen ................................ 13 3.1 Flächenexpansion und Reduzierung der Verkaufsstellen ............................... 13 3.2 Zentralisierung und Dezentralisierung............................................................. 14 4. Nachfrageseitige Trends und Entwicklungen ............................... 16 4.1 Einkommensklassen und Lebensstilgruppen .................................................. 16 4.2 Einkaufsmotive ................................................................................................ 18 4.3 Mobilität........................................................................................................... 19 4.4 Begrenzungen durch das Zeitbudget .............................................................. 22 4.5 Bewertung der Nahversorgungssituation durch die Verbraucher .................... 23 4.6 Daseinsvorsorge und der Grundsatz der ‚Gleichwertigen Lebensbedingungen‘ .............................................................................................................................. 25 5. Prognosen zur zukünftigen Entwicklung der Nahversorgung .... 26 6. Möglichkeiten und Modelle zur Sicherung der Nahversorgung im ländlichen Raum ................................................................................. 27 6.1 Mobile Nahversorgungseinrichtungen ............................................................. 28 6.1.1 Verkaufswagen ......................................................................................... 28 6.1.2 Lieferservices von stationären Einrichtungen ........................................... 29 6.1.3 Fahrdienste............................................................................................... 30 6.2 Stationäre Nahversorgungseinrichtungen ....................................................... 30 6.2.1 Filialkonzepte (Franchising) ...................................................................... 30 6.2.2 Multifunktionsläden ................................................................................... 31 6.2.3 Integrationsmärkte .................................................................................... 32 6.2.4 Hofläden ................................................................................................... 33 6.2.5 Bürger- und Dorfläden .............................................................................. 33 6.3 Maßnahmen zur Förderung und Unterstützung von alternativen Nahversorgungseinrichtungen im ländlichen Raum .............................................. 34 6.3.1 Raumordnung ........................................................................................... 34 2
6.3.2 Kommunale Planung ................................................................................ 35 6.3.3 Finanzielle Förderung durch EU, Bund und Länder .................................. 35 6.3.4 Weitere finanzielle Fördermöglichkeiten ................................................... 36 7. Roringen und „Unser Laden e.V.“.................................................. 36 7.1 Roringen - Räumliche Einordnung .................................................................. 36 7.2 Zur Einzelhandelssituation in Göttingen aus Roringer Perspektive ................. 38 7.3 Bevölkerungsentwicklung ................................................................................ 39 7.4 Unser Laden e.V. und Roringer Berg-Café - Chronologie ............................... 40 7.4.1 Projektidee und Gründungsphase (1998 - 2001) ..................................... 40 7.4.2 Ernüchterungsphase (2002 - 2006) .......................................................... 42 7.4.3 Neuausrichtungsphase (2007 – 2008)...................................................... 42 7.4.4 Retten oder schließen? (2009 - 2012) ...................................................... 43 7.4.5 Kauf der Immobilie und Ausbau des Dorfladens (2013 – 2015) ............... 44 7.4.6.BULE-Förderung und weiterer Laden-Ausbau (2016 - heute) .................. 45 8. Erfolgsfaktoren von Dorfläden in Theorie und Praxis .................. 46 8.1 Zeitpunkt der Gründung .................................................................................. 47 8.2 Organisationsform ........................................................................................... 48 8.2.1 Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) .................................................. 48 8.2.2 GmbH ....................................................................................................... 49 8.2.3 Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) ....................................... 49 8.2.4 Genossenschaft........................................................................................ 50 8.2.5 Verein ....................................................................................................... 50 8.3 Standort .......................................................................................................... 52 8.4 Räumlichkeiten und Einrichtung ...................................................................... 53 8.5 Sortiment ......................................................................................................... 56 8.6 Lieferanten ...................................................................................................... 58 8.7 Bürger und Kunden ......................................................................................... 59 8.8 Personal .......................................................................................................... 62 8.9 Zusätzliche Dienstleistungen .......................................................................... 64 8.10 Marketing und Aktionen ................................................................................ 67 8.11 Unterstützung durch die Kommune ............................................................... 69 8.12 Förderprogramme ......................................................................................... 70 8.13 Soziale Funktionen........................................................................................ 71 8.14 Abschließende Betrachtung: Das Ehrenamt als entscheidender Erfolgsfaktor .............................................................................................................................. 74 9. Fazit – 5 Säulen der Projektfinanzierung ....................................... 75 11. Literaturverzeichnis ...................................................................... 78 12. Anhang........................................................................................... 84 3
1. Einleitung / Hintergrund Schon seit Jahren veröffentlichen Experten in regelmäßigen Abständen erschreckende Prognosen: In vielen Regionen Deutschlands tritt mit der verstärkten Landflucht ein Phänomen auf, welches man in Zeiten der Industrialisierung zurückgelassen geglaubt hatte.1 Für lange Zeit wurde davon ausgegangen, dass es überwiegend die jungen Menschen sind, welche das Stadtleben dem Leben im ländlichen Raum vorziehen. Häufig genanntes Umzugsmotiv der Jungen ist das Studium in einer größeren Universitätsstadt, und auch der Einstieg ins Berufsleben scheint in den Metropolen leichter zu fallen. Doch in den letzten Jahren zeigt sich, dass auch viele ältere Menschen den ländlichen Raum verlassen, um ihren Lebensabend in der Stadt zu verbringen. Während früher oftmals eines der Kinder das Anwesen der Eltern und damit auch die Pflege der Eltern übernahm, sind Senioren heutzutage häufig auf fremde Hilfe angewiesen. Spätestens dann, wenn der Gesundheitszustand das eigenständige Autofahren nicht mehr zulässt, wird ein Umzug in Erwägung gezogen. Ob jung oder alt – ein gewichtiger Grund für den Wegzug vieler Menschen ist die mangelnde Infrastruktur im ländlichen Raum: Oftmals sind keine oder nicht ausreichende Einrichtungen der Altenpflege, der Kinderbetreuung und der Bildung vorhanden, es mangelt an kulturellen Einrichtungen, es fahren nicht ausreichend Busse, die Internetverbindung ist häufig schlecht, die Dichte des gesundheitlichen Versorgungsnetzes und teilweise auch das Netz des Brand- und Katastrophenschutz lassen zu wünschen übrig. Nicht zuletzt fehlen oftmals auch nahegelegene Geschäfte, die Lebensmittel und andere Waren des täglichen Bedarfs anbieten. Es liegt auf der Hand, dass in den stark von Landflucht betroffenen Regionen diese Probleme noch zunehmen, je weniger Menschen dort leben. Wenn beispielsweise ein Internetanbieter für 20.000 Nutzer keine neuen Leitungen verlegen lässt, wird er dies für 15.000 potentielle Zahler wohl erst recht nicht tun. In ähnlicher Weise müssen gezwungenermaßen die Anbieter von Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs Kosten und Nachfrage abwägen. So dünnt die Infrastruktur weiter aus und die entsprechenden Regionen werden als Wohnort unattraktiver, wodurch weitere Menschen zum Wegzug animiert werden – ein Teufelskreis entsteht. 1 Der hier beschriebene Trend lässt sich in zahlreichen ländlich geprägten Regionen beobachten, allerdings nicht in allen. Vielmehr wandeln sich die ländlichen Lebensverhältnisse auf sehr heterogene Weise. Einige Gemeinden im ländlichen Raum können in den letzten Jahren sogar ein Bevölkerungswachstum verzeichnen (BMEL 2015: 2). 4
Gleichzeitig stellt der vermehrte Zuzug die Städte und Ballungsräume vor Probleme wie Wohnungsmangel, extreme Mietsteigerungen und ein überlastetes Verkehrsnetz. Es gibt also viele gute Gründe dafür, den beschriebenen Teufelskreis zu durchbrechen und die Attraktivität von Gemeinden im ländlichen Raum als Wohnorte zu erhalten oder wiederherzustellen. Die politischen Entscheidungsträger haben dies inzwischen erkannt. Spezielle Kommissionen, die sich mit dem Erhalt der Infrastruktur im ländlichen Raum befassen, wurden eingesetzt und bereits verschiedene Maßnahmen ergriffen. Außerdem werden seit einigen Jahren Projekte von Menschen, welche die beschriebenen Probleme selbst angehen, und zum Erhalt oder dem Aufbau der Infrastruktur im ländlichen Raum beitragen, vom Bund, den Ländern und der EU unterstützt und gefördert. Um ein solches Projekt handelt es sich bei „Unser Laden“ aus Roringen: Die an diesem Projekt Beteiligten haben sich dazu entschlossen, sich selbst um die Sicherung der Nahversorgung in ihrem Ortsteil zu kümmern, indem sie einen Dorfladen gründen. 1.1 Ziele und Vorgehensweise der Projektdokumentation Die Zielsetzung der vorliegenden Projektdokumentation liegt darin, eine Reflektion der Erfahrungen aus der nun bereits achtzehnjährigen Arbeit des Vereins „Unser Laden e.V.“ zu gewährleisten. Erkenntnisse wurden durch eine teilnehmende Beobachtung im Dorfladen und im Café gewonnen – während des laufenden alltäglichen Betriebs, bei den von „Unser Laden e.V.“ angebotenen, wöchentlich stattfindenden und den besonderen, jährlich stattfindenden Aktionen, während der Umbaumaßnahmen sowie auf den Vorstands- und Mitgliederversammlungen des Vereins. Ergänzt werden die im Zuge der teilnehmenden Beobachtung gewonnen Erkenntnisse durch jene aus zahlreichen Gesprächen und Interviews, die mit dem Vereinsvorsitzenden, dem Vereinsvorstand und anderen am Projekt beteiligten Personen sowie nicht zuletzt mit den Kunden des Dorfladens, den Besuchern des Berg-Cafés und den Anwohnern geführt wurden. Außerdem wurde ein Fragebogen erstellt, mit welchem die allgemeinen Einkaufsgewohnheiten der Einwohner Roringens und ihre Einstellungen zum Dorfladen und dem Berg-Café abgefragt werden sollen. Die vollständige Durchführung der Befragung konnte im Rahmen dieser Förderperiode und des 5
entsprechenden Dokumentationsauftrags aufgrund von anderen Prioritäten des Vereinsvorstands (insbesondere den umfangreichen Umbaumaßnahmen) und Zeitknappheit nicht in vollem Umfang realisiert werden. Allerdings haben schon die Pretests des Fragebogens wertvolle Erkenntnisse hervorgebracht, welche bereits in die Projektdokumentation eingeflossen sind. 2 Schließlich werden die auf den genannten, unterschiedlichen Wegen gewonnen Eindrücke und Ergebnisse sowie die Erfahrungen der im Projekt Aktiven in Bezug zu dem aktuellen Stand der Forschung zum Thema Nahversorgung im ländlichen Raum gesetzt um so die in der Literatur beschriebenen Faktoren für den Erfolg von Dorfläden mit den Erfahrungen aus der Praxis abzugleichen und die entscheidenden Erfolgsfaktoren herauszustellen. Auf diese Weise soll der Frage nachgegangen werden, wie ein Dorfladen nachhaltig zur Sicherung der Nahversorgung im ländlichen Raum beitragen kann. Gleichzeitig wird damit anderen Dorfladen-Initiativen ein Leitfaden an die Hand gegeben, der wichtige Entscheidungen erleichtern und zur Vermeidung von Fehlern bei der Projektplanung beitragen kann. 1.2 Aufbau In dem sich an diese Einleitung anschließenden Kapitel 2 wird zunächst kurz auf den Begriff des ‚ländlichen Raums‘ eingegangen, um sich anschließend ausführlicher mit dem Begriff der ‚Nahversorgung‘ im Allgemeinen und der Nahversorgung im ländlichen Raum im Speziellen auseinanderzusetzen. Um klare Unterscheidungen vornehmen zu können, werden anschließend kurz die verschiedenen Betriebsformen des stationären Lebensmitteleinzelhandels vorgestellt. Kapitel 3 und 4 beschäftigen sich mit den aktuellen Trends und Entwicklungen auf der Angebots- und der Nachfrageseite. Als bedeutende angebotsseitige Trends lassen sich die Reduzierung der Verkaufsstellen und das Verkaufsflächenwachstum (Kapitel 3.1) sowie eine gleichzeitige Zentralisierung und Dezentralisierung 2 Als ‚Pretest‘ werden der Qualitätsverbesserung dienende Probedurchläufe von Fragebögen vor der Durchführung der eigentlichen Erhebung bezeichnet. Eine möglichst vollständige Befragung der Einwohner Roringens soll zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden. In den Pretests hat sich bereits gezeigt, dass eine solche Befragung wichtige Hinweise bezüglich des Einkaufsverhaltens und der Wünsche der Anwohner liefern kann. Mithilfe der gewonnenen Informationen kann das Angebot des Dorfladens noch besser auf die Einkaufsgewohnheiten und die Wünsche der (potentiellen) Kunden abgestimmt werden. Die Umfrage kann daher einen entscheidenden Beitrag zum erfolgreichen Fortbestand des Projekts liefern. Der Fragebogen kann als Vorlage für Umfragen anderer Dorfladen-Projekte dienen und befindet sich im Anhang der vorliegenden Projektdokumentation. 6
ausmachen (Kapitel 3.2). Auf der Nachfrageseite sind als Ursachen für das veränderte Einkaufsverhalten der Verbraucher der demographische Wandel, das steigende Einkommen, die Ausdifferenzierung der Lebensstilgruppen, der Wandel der Einkaufsmotive, die veränderte Verkehrsmittelwahl und Begrenzungen durch das Zeitbudget von Bedeutung (Kapitel 4.1 – 4.4). Anschließend werden die Bewertung der Nahversorgungssituation durch die Verbraucher (Kapitel 4.5) und der Grundsatz der ‚Gleichwertigen Lebensbedingungen‘ (Kapitel 4.6) thematisiert. Kapitel 5 setzt sich mit Prognosen für die zukünftige Entwicklung des Lebensmitteleinzelhandels und der Frage auseinander, ob die Ausdünnung der Nahversorgung weiter voranschreiten oder es zu einer Trendumkehr kommen wird. Im Kapitel 6 werden Optionen und Modelle zur Sicherung der Nahversorgung diskutiert, wobei zwischen mobilen (Kapitel 6.1) und stationären (Kapitel 6.2) Nahversorgungseinrichtungen unterschieden wird. Kapitel 6.3 beschäftigt sich mit Förderprogrammen und Maßnahmen der Unterstützung zum Erhalt der Nahversorgung im ländlichen Raum. Die Mitglieder des Roringer Vereins „Unser Laden e.V.“ haben sich dazu entschlossen, die Sicherung der Nahversorgung in ihrem Ortsteil selbst in die Hand zu nehmen und einen Dorfladen zu gründen. In Kapitel 7 wird zunächst auf die besondere geographische Lage Roringens am Göttinger Stadtrand (Kapitel 7.1) , auf die Situation des Lebensmitteleinzelhandels in Göttingen aus Roringer Perspektive (Kapitel 7.2) und auf die Bevölkerungsentwicklung in Roringen (Kapitel 7.3) eingegangen. Im darauffolgenden Kapitel 7.4 werden in einer Chronologie des Vereins „Unser Laden e.V.“ die einzelnen Phasen und Entwicklungsstufen des Projekts mit ihren jeweiligen spezifischen Herausforderungen und Problemen und den dafür gefundenen Lösungen beschrieben. Schließlich werden in Kapitel 8 die entscheidenden Erfolgsfaktoren für Dorfläden, die sich der Literatur zum Thema entnehmen lassen, mit den in der Praxis gesammelten Erfahrungen und Erkenntnissen der am Projekt „Unser Laden“ Beteiligten abgeglichen. 2. Begriffsbestimmungen 2.1 Zum Begriff des ‚ländlichen Raumes‘ 7
Der Begriff des ‚ländlichen Raumes‘ ist ein komplexer Begriff, der einem starken Wandel unterliegt und kaum durch eine allgemeingültige Definition zu fassen ist.3 In der Raumordnung wird der ländliche Raum meist als eine „Restgröße“ angesehen, als Gebiet, welches nicht zu einem Verdichtungsraum gehört und im Gegensatz zum städtischen Raum steht (Henkel 2004: 29). Ländliche Räume sind Standorte der Erzeugung von Nahrungsgütern und Rohstoffen sowie des auf dem Land ansässigen Gewerbes, Wohngebiete der (kleineren) landwirtschaftlich tätigen und der (größeren) nicht landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung und gleichzeitig Flächenreserven für Siedlungsausbau, Gewerbe und Verkehrsanlagen, Erholungsräume der städtischen Bevölkerung sowie ökologische Ausgleichsräume. Als Abgrenzungskriterien zum städtischen Raum werden unter anderem die Agrarquote, die Bevölkerungsdichte, die Freiflächenanteile und das Bruttosozialprodukt verwendet (ebd.). Nach Henkel (2004: 33) kann der ländliche Raum „knapp und positiv formuliert“ als naturnaher, von einer noch vorhandenen Land- und Forstwirtschaft geprägter Siedlungs- und Landschaftsraum mit geringer Bevölkerungs- und Bebauungsdichte sowie niedriger Zentralität der Orte, aber hoher Dichte der zwischenmenschlichen Beziehungen beschrieben werden. Küpper (2016: 4ff.) sieht eine geringe Siedlungsdichte, eine überwiegend durch die Land- und Forstwirtschaft bestimmte Flächennutzung (auch wenn beide Sektoren weder für die Bruttowertschöpfung noch für das Arbeitsplatzangebot eine zentrale Bedeutung haben) eine geringe Siedlungsdichte und einen hohen Anteil an Ein- und Zweifamilienhäusern sowie eine vergleichsweise weite Entfernung zu den nächstgelegenen Zentren als charakteristisch für den ländlichen Raum an.4 Im Ergebnis dieser Abgrenzung leben 57,2 % der Einwohner Deutschlands in ländlichen Räumen, welche 91,3 % der Fläche Deutschlands ausmachen. Aufgrund der tiefgreifenden Veränderungen der Erwerbsstruktur und der zunehmenden Mobilität in den letzten Jahrzehnten ist eine trennscharfe Abgrenzung von Stadt und Land jedoch kaum noch möglich (Henkel 2004: 30f.). Der Übergang von der Agrar- zur Industrie- und Städtegesellschaft hat den ländlichen Raum stark verändert. Dörfer und ehemalige Dörfer sind heute zu Wohnstandorten nicht 3 Ausführlich zur Abgrenzung und Typisierung verschiedener Siedlungsformen und zur Definition des ländlichen Raumes: Siehe Henkel (2004); Küpper (2016) und Osigus et al. 2018. Speziell für die Region Göttingen: Siehe LAG Göttinger Land (2015). 4 Außerdem zieht Küpper (2016: 5 ff.) das regionale Bevölkerungspotential heran. Auf diesen komplexen Indikator kann im Rahmen dieser Projektdokumentation nicht näher eingegangen werden. 8
landwirtschaftlicher Erwerbspersonen und zum Migrationsraum von pendelnden ‚Städtern‘ geworden. Außerdem sind die Unterschiede innerhalb der Gebietskategorie ‚ländlicher Raum‘ sehr groß – dies zeigt sich, wenn man beispielsweise den ländliche Raum im bevölkerungsarmen Mecklenburg-Vorpommern mit dem im zuzugsstarken Bodenseegebiet vergleicht. Selbst kleinräumige Vergleiche zwischen benachbarten Regionen lassen oft sehr große Kontraste bezüglich des Siedlungsbildes, des Wirtschafts- und Sozialgefüges sowie der Entwicklungsdynamik erkennen. Eine starke Zuwanderung von Pendlern, die ihr Auskommen außerhalb des (ehemaligen) Dorfes finden, neue, oft baulich vom alten Ortskern abgesetzte Wohngebiete, Verschönerungsmaßnahmen, ein reges kulturelles Leben und Tourismus prägen landschaftlich attraktive, verkehrsgünstig gelegene und nahe an Verdichtungsräumen gelegene Orte, während sich oft nur wenige Kilometer entfernt verkehrsungünstig gelegene, stagnierende Orte befinden, in denen der Rückgang an land- und forstwirtschaftlichen sowie handwerklichen Arbeitsplätzen nicht aufgefangen werden konnte, Infrastruktur- und Nahversorgungseinrichtungen aufgegeben werden und ein Großteil der jungen Bevölkerung abwandert. 2.2 Zum Begriff der ‚Nahversorgung‘ Eine allgemeingültige Definition des Begriffs ‚Nahversorgung‘ gibt es nicht (Pezzei: 18). In der Regel ist damit aber „die orts- und zeitnahe Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs“ gemeint (Adamovicz et al. 2009: 8). Unter der orts- und zeitnahen Versorgung wiederum wird meist die fußläufige Erreichbarkeit verstanden, wobei ca. 1.000 Meter Entfernung oder zehn Gehminuten in der Literatur und den Nahversorgungskonzepten der Kommunen als Richtwert angesehen werden (Beckmann et al. 2007: 11f; Muschwitz et al 2011: 22; Schrader/Paasche 2010: 2, BMVBS 2011: 8)5 „Aufgrund der spezifischen Situation und Siedlungsstruktur“ definieren Junker und Kruse (2013: 12) speziell für Göttingen „eine Distanz von ca. 600 m als kritische Zeit-Weg-Schwelle für 5 Ob Menschen eine Distanz als nah wahrnehmen, ist von mehreren Faktoren abhängig, unter anderem von der individuellen Mobilität und der Verfügbarkeit von Verkehrsmitteln. Einige Autoren legen den Fokus auf die fußläufige Erreichbarkeit und betonen, dass diese nicht nur von der Distanz, sondern auch von weiteren Faktoren (z.B. Hindernissen wie stark befahrenen Straßen) abhängig ist (Steffen/Weeber (2001: 2), für andere Autoren zählen auch Ziele, die innerhalb von 10 Minuten mit dem Fahrrad erreicht werden können, zur Nahversorgung (BMVBS 2011: 8). 9
Fußgängerdistanzen“. Kein Konsens besteht hingegen darüber, was zum täglichen Bedarf gezählt werden kann. Dies liegt darin begründet, dass für jeden einzelnen Verbraucher andere Güter dazugehören. In der Literatur und den politischen Konzepten zum Thema wird teilweise nochmals unterschieden zwischen der Nahversorgung im engeren Sinne, welche nur Lebensmittel, Getränke, Genusswaren und Drogerieartikel umfasst, und der Nahversorgung im weiteren Sinne, die auch private und öffentliche Dienstleistungsangebote wie Gastronomie, Post, Banken, Ärzte, Apotheken und Verwaltungsstellen sowie Handwerksleistungen wie Friseure und Schuster einschließt (Küpper/ Eberhardt 2013: 3f.; BMVBS 2011: 8). Auf den ebenfalls eng mit dem Begriff der Nahversorgung verbundenen Begriff der ‚Daseinsvorsorge‘ wird in Kapitel 4.6 eingegangen. Der nun folgende Abschnitt behandelt zunächst die unterschiedlichen Betriebsformen im Lebensmitteleinzelhandel, um hier begriffliche Abgrenzungen vornehmen zu können. 2.3 Unterscheidung der Betriebsformen im stationären Lebensmitteleinzelhandel Die Betriebsformen des stationären Lebensmitteleinzelhandels bzw. des Handels mit Gütern des täglichen Bedarfs lassen sich unter anderem anhand ihres Sortiments und der Warenpräsentation, der Größe der Verkaufsflächen6 sowie der Standortwahl unterscheiden (Benzel 2006: 17f.). Kleine Lebensmittelgeschäfte7 oder SB-Märkte zeichnen sich durch eine Verkaufsfläche aus, die weniger als 400 Quadratmeter umfasst. Geschäfte dieser Kategorie führen ein begrenztes Sortiment an Lebensmitteln und Non-Food-I- Artikeln8. Es handelt sich also um sogenannte Vollsortimenter mit einer geringen 6 Als Verkaufsfläche wird die Fläche bezeichnet, auf welcher der Verkauf abgewickelt wird. Unterschieden werden kann dabei zwischen der Nettoverkaufsfläche, welche mit Waren belegt ist, und der Bruttoverkaufsfläche, zu der auch die angrenzenden Gang- und Funktionsflächen wie Kassenzone, Leergutannahme etc. gerechnet werden. Wenn nur von der Verkaufsfläche die Rede ist, ist i.d.R. die Bruttoverkaufsfläche gemeint (EHI 2010: 383). 7 Teilweise werden dieser Kategorie auch Dorf-, Bürger und Nachbarschaftsläden zugerechnet. Hier soll es aber gerade darum gehen, diese Betriebsformen voneinander zu unterscheiden. 8 Non-Food bezeichnet nicht zum Verzehr geeignete Waren aus den Bereichen Drogerie, Reinigungsmittel und Tiernahrung (Non-Food-I) sowie Gebrauchs- und Verbrauchsgüter wie z.B. Bücher, Elektrogeräte, Gartenbedarf, Textilien und Schuhe (Non-Food-II) (EHI 2010: 383). 10
Sortimentstiefe9. Aufgrund des geringeren Umsatzes ist das Preisniveau höher als in Supermärkten. Diese bieten auf 400 bis 2.500 Quadratmetern Verkaufsfläche durchschnittlich ca. 10.500 Artikel an. Typische Merkmale von Supermärkten sind die breite Angebotsdifferenzierung, das relativ große Angebot an Frischwaren (etwa 20 % der Artikel) die Kombination von Selbstbedienung und Theken mit Bedienung sowie Standorte in verkehrsgünstigen Lagen mit Wohngebietsorientierung (Küpper 2013: 4f.; BBE 2017: 42). Große Supermärkte, die auch als ‚Verbrauchermärkte‘ bezeichnet werden, verfügen über eine Verkaufsfläche von etwa 1.500 bis 5.000 Quadratmetern auf der durchschnittlich etwa 25.000 Artikel angeboten werden. Charakteristisch für diese Betriebsform ist ein breites und tiefes Lebensmittelvollsortiment, aber auch ein relativ großes Sortiment an Non-Food- Artikeln. Der Non-Food-Bereich nimmt in diesen Geschäften bis zu 50 % der Fläche ein (ebd.). SB-Warenhäuser haben eine Verkaufsfläche von mehr als 5.000 Quadratmetern und sind, wie schon der Name sagt, konzentriert auf Selbstbedienung, verfügen aber meist auch über einige (Frische-) Theken mit Bedienung. Mit durchschnittlich fast 51.000 Artikeln ist ihr Angebot fast doppelt so groß wie das der großen Supermärkte. Ein weiteres Merkmal dieses Geschäftstyps sind demnach die großen Non-Food-Abteilungen, die bis zu 70 % der Artikel ausmachen und bis zu 60 % der Verkaufsfläche einnehmen. Allerdings machen in der Regel trotzdem Lebensmittel mehr als 50 % des Umsatzes von SB- Warenhäusern aus (ebd.). Kleinere Supermärkte sind nach Kuhlicke et al. (2006: 137) auf städtische Zentren angewiesen, um rentabel wirtschaften zu können. Im Gegensatz dazu können große Verbrauchermärkte und SB-Warenhäuser aufgrund ihrer „Sortimentsbreite und interner Kopplungspotenziale10 [...] zu einem gewissen Grad selbst Zentrumsfunktionen übernehmen“ (ebd.). Häufig befinden sie sich in verkehrsgünstigen städtischen Randlagen und stellen selbst den Mittelpunkt einer größeren Agglomeration von Fachmärkten dar (BBE 2017: 42). Lebensmittel-Discounter bieten auf einer Verkaufsfläche von bis zu 1.700 Quadratmetern ein flaches, schnelldrehendes Sortiment an. Das Sortiment der 9 Die Sortimentstiefe bezeichnet die Anzahl verschiedener Artikel innerhalb einer Warengruppe, während die Sortimentsbreite das Angebot an unterschiedlichen Warengruppen beschreibt. 10 Mit der ‚Kopplung‘ von Einkäufen ist der Erwerb mehrerer Güter an einem Ort gemeint. Ein ‚internes Kopplungspotenzial’ ist gegeben, wenn verschiedenartige Güter sogar innerhalb desselben Geschäfts erworben werden können. 11
sogenannten Harddiscounter (z.B. Aldi) umfasst etwa 1.000 Artikel, bei den sogenannten Soft- oder Markendiscountern (wie z.B. Lidl) ca. 1.700 Artikel und bei den als ‚Supermarkt-Discounter-Hybriden’ bezeichneten Geschäften (wie z.B. Netto) sogar bis zu 3.500 Artikel. Aktuell wird in vielen Discountern das Frischesortiment ausgeweitet. Typisch für Discounter ist die meist sehr einfache Warenpräsentation ohne Bedienung und weitere Dienstleistungen, preisaggressive Verkaufsstrategien und das relativ häufige und stark beworbene Anbieten von Aktionsware (BBE 2017: 41). Die oben dargestellten Angebotsformen bilden das Grundgerüst der Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs. Dieses Angebot wird durch einige Angebotsformen ergänzt, die zwar alle nur einen Teil eines Vollsortiments abdecken, nichtsdestotrotz aber ein Baustein der Nahversorgung sein können (Beckmann et al. 2007: 39 ff.). So können temporäre Angebote wie Wochenmärkte das stationäre Sortiment der anderen Anbieter ergänzen oder zeitlich begrenzt ein umfangreiches Nahversorgungssortiment bereitstellen. Außerdem führen Wochenmärkte zu einer Belebung des Zentrums und dienen als Frequenzbringer für stationäre Läden. Sie sind oft besser fußläufig erreichbar als die großflächigen Anbieter, die sich meist am Ortsrand befinden. Nach Beckmann et al. (2007: 49 ff.) ist ein Wochenmarkt bereits ab 5.000 Einwohnern im Ort wirtschaftlich möglich. Auch mobile Formen wie „rollende Supermärkte“ (einzelne Verkaufswagen) können einen Baustein der Nahversorgung bilden. Bei einer koordinierten und zeitgleichen Versorgung durch mobile Verkaufswagen an einem Ort entstehen Minimärkte, die ähnlich wie Wochenmärkte die Ortskerne beleben können. Lebensmittelfachgeschäfte (wie Bäcker, Metzger, Obst- und Gemüseladen und Ähnliche) sind zwar auch in kleineren ländlichen Orten vertreten, verfügen jedoch nur über ein schmales und dafür tiefes Sortiment, mit dem sie jeweils nur einen kleinen Teil des täglichen Bedarfs abdecken. Die sogenannten „Convenience-Geschäfte“ wie Kioske und Tankstellenshops machen ihren Umsatz hauptsächlich mit Tabakwaren, Getränken, Süß- und Backwaren. Sie haben für die Nahversorgung nur eine begrenzte Bedeutung, da ihr Sortiment sehr beschränkt ist und sie sich meist in größeren Orten (Kioske) oder am Ortsrand (Tankstellen) befinden. Auch Drogeriemärkte, meist Selbstbedienungsgeschäfte von mittlerer Größe, leisten 12
einen Beitrag zur Nahversorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs, da sie neben freiverkäuflichen Medikamenten sowie einem breiten und tiefen Sortiment an Kosmetik-Körperpflege- und Reinigungsartikeln häufig auch Lebensmittel (oft biologisch erzeugte Waren) führen. Die Charakteristika von Hof-, Bürger- und Dorfläden und der Beitrag, welchen diese zur Nahversorgung leisten können, werden ab Kapitel 6.2.5 ausführlich behandelt. Angebots- und Nachfrageseitige Trends im Einzelhandel bedingen sich oftmals gegenseitig und lassen sich daher kaum unabhängig voneinander beschreiben. Zur besseren Übersichtlichkeit soll trotz dessen im Folgenden zunächst auf die angebotsseitigen und anschließend auf die nachfrageseitigen Trends und Entwicklungen eingegangen werden. 3. Angebotsseitige Trends und Entwicklungen 3.1 Flächenexpansion und Reduzierung der Verkaufsstellen Da das Umsatzwachstum im Lebensmitteleinzelhandel stagniert, können größere Marktanteile nur durch die Verdrängung der Konkurrenz gewonnen werden. Der wohl entscheidendste Trend auf der Anbieter- bzw. Angebotsseite sind daher die starken Konzentrationsprozesse. Heute haben die sechs größten Anbieter (Edeka, Rewe, Aldi, Lidl, Kaufland, Metro/Real) einen Marktanteil von mehr als 90 % erlangt (BMVBS 2011: 13). Die gewonnene Marktmacht wird dazu genutzt, die Lieferanten und produzierenden Unternehmen der Lebensmittelwirtschaft unter Druck zu setzen und Konkurrenten zu übernehmen oder aus dem Markt zu drängen (Adamovicz et al. 2009: 12ff). Als weiterer wichtiger Trend der letzten Jahrzehnte ist das starke Verkaufsflächenwachstum zu nennen: Um der steigenden Nachfrage nach Frischwaren, Bio- und Convenience-Produkten zu entsprechen und kleinere Verpackungsgrößen für die stetig wachsende Zahl von Einpersonenhaushalten zusätzlich anbieten zu können, werden die Sortimente ausgeweitet und die Verkaufsflächen vergrößert (Küpper/ Eberhardt 2013: 13). Im Zuge der Entwicklung hin zu immer größeren Verkaufsflächen steigt auch der Bedarf an Grundstücksflächen, um genügend Stellplätze für die Fahrzeuge der Kundschaft zur Verfügung stellen zu können. Der steigende Flächenbedarf ist in innerörtlichen 13
Lagen oftmals nicht mehr zu decken, so dass sich der Einzelhandel zunehmend in der Peripherie ‚auf der grünen Wiese‘ ansiedelt. Diese Standorte sind fast ausschließlich auf die Erreichbarkeit mit dem Auto ausgerichtet (Steffen/ Weeber 2001: 6). Mit dem Verkaufsflächenwachstum geht eine Ausweitung der Einzugsgebiete der Lebensmittelgeschäfte einher: Während die Anbieter im Jahr 2000 noch etwa 3.500 Einwohner im unmittelbaren Einzugsbereich eines Supermarktes oder Discounters als ausreichendes Kundenpotential ansahen, sind es heute 5.000 Einwohner oder mehr (Beckmann et al. 2007: 6; Junker/ Kruse 2013: 68). Betrachtet man die Entwicklung seit Anfang der 1990er Jahre, so lässt sich feststellen, dass die Discounter und großflächigen Anbieter zulasten von Supermärkten und kleineren Lebensmittelgeschäften Marktanteile gewonnen haben. Dies kann unter anderem auf die ungünstigere Kostenstruktur der kleinflächigeren Anbieter zurückgeführt werden. Außerdem haben die großflächigen Anbieter deutlich mehr Kunden, die wiederum pro Einkauf mehr Geld ausgeben (Kuhlicke et al. 2006: 130ff.; Küpper/ Eberhardt 2013: 13). Der zunehmende Preiskampf und die gleichzeitige Flächenexpansion der Geschäfte haben eine deutliche, fortschreitende Verringerung der Verkaufsstellen in Deutschland zur Folge – von etwa 150.000 in den 1960er Jahren auf ca. 72.500 im Jahr 1998 auf weniger als 50.000 im Jahr 2008 und schließlich auf ca. 35.000 im Jahr 2017 .11 Parallel dazu reduziert sich die Anzahl der selbstständigen Einzelhändler und die Zahl der Filialen steigt kontinuierlich (Kuhlicke et al. 2006: 130). 3.2 Zentralisierung und Dezentralisierung Wie in verschiedenen Regionen Deutschlands durchgeführte Studien zeigen, führen die dargestellten Prozesse im ländlichen Raum zu einer Konzentration der Verkaufsstellen in den zentraleren Orten und größeren Gemeinden. Infolgedessen nimmt die durchschnittliche Entfernung eines Verbrauchers zum nächstgelegenen Lebensmittelladen zu. In kleineren Orten mit weniger als 5.000 Einwohnern verbleiben oft nur Discounter, die nur in geringem Maße soziale Funktionen12 erfüllen, und kleine Lebensmittelgeschäfte, die Schwierigkeiten haben, rentabel zu 11 Daten 1960 – 2007: Adamovicz et al. 2009: 13f, ähnliche Daten bei Kuhlicke et al. (2006); Daten 2007 – 2017: Statista 12 Ausführlich zu den sozialen Funktionen siehe Kap 8.13 14
wirtschaften. Gemeinden im ländlichen Raum, die weniger als 500-700 Einwohner haben oder im Umfeld größerer Städte liegen, verfügen oftmals über gar keine fußläufig erreichbaren Verkaufsstellen mehr (Küpper/ Eberhardt 2013: 15). Insbesondere für weniger mobile Gruppen, deren Kaufkraft bei den Standortentscheidungen der Anbieter kaum eine Rolle spielt, verschlechtert sich so die Versorgungsqualität. Durch die oftmals schlechte Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr wird dieses Problem noch verstärkt (ebd.). Während also die weniger mobilen Konsumenten eine geringere Auswahl und höhere Preise hinnehmen müssen, müssen mobile Konsumenten zwar die anfallenden Kosten der Mobilität – vor allem die in den letzten Jahren gestiegenen Kraftstoffpreise – tragen, haben im Gegenzug jedoch die Auswahl zwischen verschiedenen Anbietern (Kuhlicke et al. 2006: 22). Bei den Supermärkten lässt sich in den letzten Jahren ein gegenläufiger Trend zu den oben beschriebenen, langfristigen Entwicklungen beobachten: Als strategische Maßnahme im Wettbewerb mit den Discountern setzen einige Anbieter auf preiswerte Eigenmarken, eine attraktive Architektur und Ladengestaltung, aber auch wieder verstärkt auf kleinflächigere, wohnortnahe Geschäfte (Adamovicz et al. 2009: 16). So werden mit neuen Konzepten nun wieder Flächen von 500 bis 1000 Quadratmetern bewirtschaftet, die noch bis vor Kurzem als zu klein galten, meist mit einem im Verhältnis zu den großflächigeren Geschäften kleineren Sortiment an Non- food-Artikeln und einem größeren Frischwarensortiment (Küpper/ Eberhardt 2013: 12). Da es sich bei diesen neuen Konzepten aber um solche für besonders zentrale Lagen und Innenstädte handelt (z.B. „REWE City“) kommt diese Entwicklung nicht der Nahversorgung im ländlichen Raum zugute. Stattdessen übernehmen in struktur- und kaufkraftschwachen Gebieten – wenn die Anbieter sich nicht sogar vollständig von dort zurückziehen – zunehmend die Discounter die Nahversorgungsfunktion (Adamovicz et al. 2009: 14). Abschließend lässt sich festhalten, dass die oben beschriebenen Trends, welche für die Standortentscheidungen der Handelsunternehmen maßgeblich sind, zu einer geringeren Anzahl von dafür größeren Geschäften in größeren Orten und in Einkaufszentren ‚auf der grünen Wiese’ (nicht zu verwechseln mit dem ländlichen Raum) führen. 15
Zu beobachten sind derzeitig also mit der Konzentration der Angebote in höherrangigen Zentren (Zentralisierung) auf der einen Seite und mit der Randwanderung insbesondere der großen Verbrauchermärkte und SB-Warenhäuser (Dezentralisierung) auf der anderen Seite zwei parallele Entwicklungen, die beide zu „einem Rückzug aus der Fläche und zur Verschlechterung der Nahversorgung“ (BMVBS 2011: 15) beitragen. 4. Nachfrageseitige Trends und Entwicklungen Auch die sich auf der Nachfrageseite vollziehenden Entwicklungen haben zu starken Veränderungen der Nahversorgungssituation geführt. Insbesondere die in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende Ausdifferenzierung der Konsummuster der Verbraucher bringt eine Veränderung des räumlichen Einkaufsverhaltens mit sich. In diesem Zusammenhang ist von zentraler Bedeutung, dass sich die Nearest- Centre-Bindung, wie sie in der klassischen Standorttheorie nach Christaller13 angenommen wird, immer mehr abschwächt (Kulke 2005: 12; Deiters 2006: 303). Die Ursachen für das veränderte Einkaufsverhalten der Verbraucher sind – neben dem demographischen Wandel14 – nach Kulke (2005: 9ff.) das steigende Einkommen, die Ausdifferenzierung der Lebensstilgruppen, der Wandel der Einkaufsmotive, die veränderte Verkehrsmittelwahl und Begrenzungen durch das Zeitbudget. Auf diese Einflussfaktoren wird im Folgenden näher eingegangen. 4.1 Einkommensklassen und Lebensstilgruppen Das Einkommen der Haushalte in Deutschland ist über die vergangenen Jahrzehnte gestiegen, der Anteil des Einkommens, der für die Grundversorgung ausgegeben wurde, ist jedoch gesunken. Zu erklären ist dies mit dem Engel‘schen Gesetz (Grings 2007), welches besagt, dass Güter der Grundversorgung eine geringere Einkommenselastizität haben als höherwertige Güter. Mit steigendem Einkommen wächst demnach die Nachfrage nach Gütern der Grundversorgung kaum, während höherwertige Waren und Dienstleistungen verstärkt nachgefragt werden. So sind 13 Diese Theorie geht vereinfachend davon aus, dass Konsumenten auf einer Einkaufsfahrt nur ein Gut erwerben und dafür den nächstgelegenen Standort aufsuchen. 14 Auf die komplexen Zusammenhänge zwischen demographischem Wandel und Veränderungen des Einkaufsverhaltens der Verbraucher kann im Rahmen dieser Projektdokumentation nicht ausführlich eingegangen werden. Unter besonderer Berücksichtigung des ländlichen Raums setzen sich eine Publikation des BMEL (2016: insbesondere Seite 10ff.) und Warburg (2011) mit dieser Thematik auseinander. 16
beispielsweise die Ausgaben der deutschen Haushalte für Urlaubsreisen, Gastronomie- und Freizeitangebote in den letzten Jahren angestiegen (Kulke 2005: 10ff.). Während Angehörige niedrigerer Einkommensklassen tendenziell eher im Nahbereich ihres Wohnortes und möglichst preiswert einkaufen, sind die Angehörigen höherer Einkommensklassen eher bereit, für eine größere Auswahl und eine höhere Qualität der Waren weitere Wege zurückzulegen (Kulke 2005: 11). Allerdings „lässt sich heute nur noch teilweise ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Einkommenshöhe und Nachfrageverhalten herstellen“, denn „Angehörige der gleichen Einkommenskategorie zeigen ganz unterschiedliche persönliche Verhaltensweisen sowohl hinsichtlich der Art der erworbenen Güter (z. B. Billiglebensmittel versus Ökoprodukte) als auch der Orientierung auf verschiedene Einkaufsstandorte (z. B. Discounter und Verbrauchermärkte versus Zentren mit Erlebniswert)“ (Kulke 2005: 12). Wenn man aber nicht das Einkommen als einzigen Einflussfaktor betrachtet, sondern die Haushalte anhand ihrer Größe, des Lebenszyklus und des sozialen Status differenziert, lassen sich empirisch für bestimmte Gruppen typische Konsummuster identifizieren. So ist z. B. für junge Singles und Familien mit Kindern beim Einkaufen der Preis von überdurchschnittlich hoher Bedeutung, während für ältere Haushalte eher die Qualität der Waren wichtig ist. Singles und alleinstehende Senioren sind Haushaltstypen, die Wert auf einen geringen Aufwand bei der Haushaltsführung und auf einen bequemen Einkauf legen (Kulke 2005: 15f). Wie Deiters (2006: 297) zeigt, kam es in den letzten Jahrzehnten zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung innerhalb dieser klassischen Haushaltstypen15, da diese von nur teilweise mit ihnen übereinstimmenden Lebensstilgruppen überlagert werden (die Zuordnung von Individuen oder Haushalten zu bestimmten Lebensstilgruppen erfolgt, indem Merkmale der sozialen Lage und Merkmale der Wertorientierung miteinander kombiniert werden). So richtet beispielsweise die Lebensstil-Gruppe der sogenannten LOHAS (‚Lifestyle of Health and Sustainability‘) ihre Nachfrage auf möglichst nachhaltige, gesundheitlich, wirtschaftlich und ökologisch sinnvolle Produkte und Dienstleistungen aus (BMVBS 2011: 18). 15 Klassische Haushaltstypen sind z.B. Singles, Senioren, junge Familien etc. 17
4.2 Einkaufsmotive Analog zur Ausdifferenzierung und Heterogenisierung der Haushaltstypen bzw. der Lebensstile differenzieren sich auch die Konsummuster aus und werden heterogener. Wie oben bereits erwähnt, haben durch diese mit dem soziokulturellen Wandel einhergehenden Ausdifferenzierungen traditionelle Zuordnungen (wie etwa die, dass Menschen mit höherem Einkommen in ‚besseren’ Läden einkaufen) an Bedeutung verloren (Steffen/ Weeber 2001: 14). Bei den heutigen Konsumenten lassen sich drei grundsätzliche Einkaufsmotive unterscheiden (Kulke 2005: 16f): Beim Bequemlichkeitseinkauf werden Läden mit passenden Öffnungszeiten aufgesucht, die möglichst leicht zu erreichen sind, also sich entweder in der Nähe des Wohnorts oder des Arbeitsplatzes oder auf dem Weg dazwischen befinden. Typische Bequemlichkeitseinkäufe sind auch Einkäufe bei Läden in Transiträumen (wie z.B. Bahnhöfen) oder in Tankstellenshops. Beim Erlebniseinkauf wird der Versorgungsvorgang als Teil der Freizeitgestaltung angesehen und oft mit Freizeitaktivitäten wie Kino- oder Restaurantbesuchen verbunden. Dazu werden meist größere Agglomerationen von Geschäften mit einem attraktiven Umfeld und ergänzenden Dienstleistungen aufgesucht. Beim Preiskauf wiederum werden Läden mit besonders günstigen Angeboten (z. B. Discounter) bevorzugt. In Deutschland achten die Verbraucher so sehr auf den Preis von Lebensmitteln wie in keinem anderen europäischen Land. Heute gelten knapp zwei Drittel der deutschen Verbraucher als stark preisorientiert und geben in Befragungen an, dass ihnen der Preis wichtiger als die Qualität ist (Kuhlicke et al. 2005: 60, BMVBS, 2011: 17). Mehr als die Hälfte der Verbraucher kaufen den Großteil ihrer Lebensmittel mittlerweile im Discounter ein (Küpper/ Eberhardt 2013: 8). Die starke Preisorientierung der deutschen Verbraucher und der Preiskampf zwischen den Anbietern führen dazu, dass die Lebensmittelpreise in Deutschland im europäischen Vergleich im unteren Drittel liegen (BMVBS, 2011: 17) . Eine Sonderform des Preiskaufs ist das ‚Smart Shopping’, bei dem günstige Angebote – oft von hochwertigen Markenartikeln – gezielt aufgesucht werden, so dass die Einkaufsstätten je nach verfügbarem Angebot wechseln. „Der smart shopper kauft seinen Champagner, Prosecco oder PC auch gern bei Aldi […] frisches Gemüse auf dem Markt oder ‚beim Griechen’, das Besondere im teuren Feinkostgeschäft. Er oder sie ernährt sich vielleicht die ganze Woche über ‚auf die Schnelle’ und kocht dann am Wochenende ein kompliziertes mehrgängiges Menu 18
nach neuen Rezepten für Familie oder Freunde“ (Steffen und Weeber 2001: 14). In diesem Zusammenhang wird auch von einer Polarisierung des Einkaufsverhaltens gesprochen: Individuen oder Haushalte mit höherem Einkommen können bei ihrer Grundversorgung stark preisorientiert sein, gleichzeitig aber eine hohe Ausgabebereitschaft für Luxusgüter aufweisen (Kulke 2005: 17). Insgesamt lässt sich eine fortschreitende Differenzierung der Nachfrage nach günstigen Angeboten einerseits und Premium-Produkten andererseits beobachten – es „hat sich auf der einen Seite ein Markt für Güter herausgebildet, die der Kunde rationell, schnell und preiswert einkaufen will. Auf der anderen Seite ist ein Markt für Güter mit Erlebnisqualität entstanden, wo der Konsument das Einkaufen als Teil seiner Persönlichkeit wahrnimmt“ (BMVBS 2011: 18). Unterdessen verliert das mittlere Preissegment konstant an Marktanteilen (ebd.). Während für lange Zeit der Bequemlichkeitseinkauf mit einer räumlichen Orientierung auf den Nahbereich das dominierende Einkaufsmotiv war, haben seit den 1990er Jahren der Preis- und der Erlebniskauf stark an Bedeutung gewonnen (Kulke 2005: 17). Die räumliche Konsequenz dieses Wandels der Einkaufsmotive ist eine Verringerung der Bindung an nahe gelegene Standorte. Zum einen begünstigt die starke Preisorientierung der Verbraucher das Wachstum der Discounter und der großflächigen Angebote auch in nicht integrierten Lagen an den Rändern der Städte. Zum anderen führt die wachsende Bedeutung des Erlebniseinkaufs ebenfalls zur Auflösung der Bindung an das nächstgelegene Geschäft, da dafür große Einkaufsagglomerationen und Shoppingcenter mit entsprechenden Dienstleistungen in attraktiven Innenstädten oder am Stadtrand bevorzugt werden (Küpper/ Eberhardt 2013: 8). Im Zuge dieser Entwicklung werden die kleineren Nahversorgungsläden verdrängt oder nur noch als „Lückenbüßer“ für vergessene Einkäufe genutzt (Benzel 2006: 8) . 4.3 Mobilität Ein weiterer wichtiger Faktor, welcher das Einkaufsverhalten beeinflusst, ist die Verfügbarkeit von Verkehrsmitteln bzw. die Mobilität der Verbraucher. Durch die zunehmende Verfügbarkeit von PKW erlangen die Verbraucher eine große räumliche Nachfrageflexibilität, womit die Suburbanisierung des Einzelhandels, also die 19
Ansiedlung von Geschäften in städtischen Randlagen, erst ermöglicht wurde.16 Geschäfte an nicht integrierten Standorten ‚auf der grünen Wiese‘ können fast ausschließlich mit dem Auto erreicht werden. Während in Großstädten relativ häufig zu Fuß eingekauft wird oder der dort gut ausgebaute öffentliche Nahverkehr und auch das Fahrrad zur Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs genutzt werden, dominiert im ländlichen Raum das Auto als Verkehrsmittel zum Einkauf. Dabei kann ein direkter Zusammenhang zwischen der Wahl des Verkehrsmittels, der Einwohnerzahl und der Siedlungsdichte festgestellt werden: Größere Städte und Gemeinden verfügen in der Regel über leistungsfähigere öffentliche Verkehrssysteme mit höheren Netzdichten und Frequenzen, zudem treten mit zunehmender Einwohnerzahl für den PKW-Verkehr vermehrt limitierende Faktoren wie Staus und Parkplatzknappheit auf (Kulke 2005: 18f.). Daher lassen in Großstädten auch PKW-Besitzer des Öfteren das Auto stehen, wenn der Weg zum Einkauf nicht zu lang ist, während in kleineren Gemeinden schon die kürzesten Einkaufswege (unter 400 Metern) zu 17 % als ‚MIV-Fahrer‘17 unternommen werden (BMVBS 2011: 22). Insgesamt werden ‚auf dem Land‘18 fast 80 % aller Einkaufswege mit dem PKW zurückgelegt. Dies stellt verglichen mit anderen Wohnlagen den mit Abstand höchsten Wert dar (Infas 2017; Freudenau/ Reutter 2007: 5). Was zu einer gewissen Unempfindlichkeit der in ländlichen Gebieten lebenden Verbraucher gegenüber den mitunter sehr weiten Distanzen zu den Einkaufsstätten führt, ist die hohe PKW-Verfügbarkeit (Klein 2007: 56). So haben in ländlichen Gemeinden nur etwa 10 % der Personen über 18 Jahren gar keine Möglichkeit, ein Auto zum Einkaufen zu nutzen, weil sie entweder keinen Führerschein besitzen oder keinen PKW zur Verfügung haben. Demgegenüber haben fast 90 % der im ländlichen Raum Lebenden jederzeit oder zumindest gelegentlich die Möglichkeit, ein Auto zu nutzen (Infas 2017). Wenn ein Auto vorhanden ist, wird dieses in ländlichen Räumen bis ins hohe Alter zum Einkaufen genutzt (Popowski 2012: 37f). 16 In geringer entwickelten Ländern hingegen, wo die Nachfrager die Geschäfte oft nur zu Fuß erreichen können, findet sich typischerweise ein dichtes Netz kleiner Ladengeschäfte in unmittelbarer Nähe der Wohnstandorte (Kulke 2005: 18). 17 MIV = Motorisierter Individualverkehr 18 Die Kategorie ‚auf dem Land‘ wird in der von Freudenau und Reutter (2007) herangezogenen Erhebung (‚Mobilität in Deutschland 2002 MiD‘, im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr-, Bau- und Wohnungswesen) von fünf anderen städtischen Kategorien unterschieden und bezeichnet Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern. 20
Wie bereits angesprochen, verfügen bestimmte Personengruppen wie Alleinerziehende, Jugendliche, Menschen mit Behinderung, Familien mit geringem Einkommen und ältere Menschen seltener über einen PKW als andere. Sie sind daher in besonderem Maße auf Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe angewiesen und durch die Ausdünnung des Versorgungsnetzes in ihrer Selbstständigkeit beschränkt (Freudenau/ Reutter 2007: 42). Von dieser Ausdünnung sind ländliche und suburbane Räume besonders stark betroffen. Dies sind gleichzeitig die Gebiete mit den höchsten Alterungsraten. Deren Bewohner erleben einen Verlust an Lebensqualität, wenn die wohnortnahe Versorgung wegbricht, denn Nahversorgungsgeschäfte dienen oftmals nicht nur als Einkaufsmöglichkeiten, sondern auch als einen Ort oder Ortsteil prägende Stätten sozialer Begegnung. So lange es vorhanden ist, stellt ein Geschäft im Dorf – ähnlich wie ein Dorfgasthaus – einen „Umschlagplatz für lokale Nachrichten, der wesentlich zur dörflichen Lebensqualität beiträgt“ dar (Henkel 2012: 102). Besonders für ältere Menschen ist der tägliche Einkauf ein wichtiges, den Alltag strukturierendes Element, welches dazu beiträgt, selbstständig bleiben zu können und sozial eingebunden zu sein (BMVBS, 2011a).19 Wie bereits erwähnt, hängen auch das verfügbare Einkommen und die Mobilität zusammen. Bei einem Haushaltsnettoeinkommen von weniger als 2.000 Euro verfügen Haushalte „überdurchschnittlich oft über kein eigenes Auto“ (Kuhlicke et al. 2006: 213). Daher sind Haushalte mit niedrigerem Einkommen deutlich weniger mobil als einkommensstärkere Haushalte und dementsprechend in höherem Maße auf die Nahversorgung angewiesen. Auch zwischen den Geschlechtern lassen sich Unterschiede bezüglich der Mobilität ausmachen: Frauen verfügen statistisch gesehen seltener über ein Auto als Männer. Zudem gilt die Mehrfachbelastung von Frauen durch Beruf und Familie in ländlichen Räumen als besonders hoch. Um Zeit zu sparen wird daher zum Beispiel das Pendeln zum Arbeitsplatz oft mit anderen Erledigungen kombiniert, so dass komplexe Wegeketten entstehen (Benzel 2006). Die begrenzte Zeit stellt eine weitere wichtige Einflussgröße auf das Einkaufsverhalten dar, auf die im Folgenden näher eingegangen wird. 19 Auf die hier angesprochenen sozialen Funktion von Nahversorgern wird in Kapitel 8.13 ausführlich eingegangen. 21
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