"Unser Laden e.V. und Roringer Berg-Café" - Modell- und Demonstrationsprojekt

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„Wie kann ein Dorfladen nachhaltig die Nahversorgung im

                   ländlichen Raum sichern?“

    Modell- und Demonstrationsprojekt

„Unser Laden e.V. und

   Roringer Berg-Café“

                            Göttingen, 28.12.2018

                Niklas Hedrich, Diplom Sozialwissenschaftler

      Erstellt im Auftrag von „Unser Laden e.V. und Roringer Berg-Café“,

Mitglieder des Vorstands: Werner Massow, Kerstin Bornemann, Angelika Gerke,

                  Heidemarie Scheffler, Marion Stadlhuber

                                                                              1
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis ................................................................................. 2
1. Einleitung / Hintergrund ................................................................. 4
  1.1 Ziele und Vorgehensweise der Projektdokumentation ...................................... 5
  1.2 Aufbau............................................................................................................... 6

2. Begriffsbestimmungen ..................................................................... 7
  2.1 Zum Begriff des ‚ländlichen Raumes‘ ................................................................ 7
  2.2 Zum Begriff der ‚Nahversorgung‘ ...................................................................... 9
  2.3 Unterscheidung der Betriebsformen im stationären Lebensmitteleinzelhandel 10

3. Angebotsseitige Trends und Entwicklungen ................................ 13
  3.1 Flächenexpansion und Reduzierung der Verkaufsstellen ............................... 13
  3.2 Zentralisierung und Dezentralisierung............................................................. 14

4. Nachfrageseitige Trends und Entwicklungen ............................... 16
  4.1 Einkommensklassen und Lebensstilgruppen .................................................. 16
  4.2 Einkaufsmotive ................................................................................................ 18
  4.3 Mobilität........................................................................................................... 19
  4.4 Begrenzungen durch das Zeitbudget .............................................................. 22
  4.5 Bewertung der Nahversorgungssituation durch die Verbraucher .................... 23
  4.6 Daseinsvorsorge und der Grundsatz der ‚Gleichwertigen Lebensbedingungen‘
  .............................................................................................................................. 25

5. Prognosen zur zukünftigen Entwicklung der Nahversorgung .... 26

6. Möglichkeiten und Modelle zur Sicherung der Nahversorgung im
ländlichen Raum ................................................................................. 27
  6.1 Mobile Nahversorgungseinrichtungen ............................................................. 28
    6.1.1 Verkaufswagen ......................................................................................... 28
    6.1.2 Lieferservices von stationären Einrichtungen ........................................... 29
    6.1.3 Fahrdienste............................................................................................... 30
  6.2 Stationäre Nahversorgungseinrichtungen ....................................................... 30
    6.2.1 Filialkonzepte (Franchising) ...................................................................... 30
    6.2.2 Multifunktionsläden ................................................................................... 31
    6.2.3 Integrationsmärkte .................................................................................... 32
    6.2.4 Hofläden ................................................................................................... 33
    6.2.5 Bürger- und Dorfläden .............................................................................. 33
  6.3 Maßnahmen zur Förderung und Unterstützung von alternativen
  Nahversorgungseinrichtungen im ländlichen Raum .............................................. 34
    6.3.1 Raumordnung ........................................................................................... 34

                                                                                                                                 2
6.3.2 Kommunale Planung ................................................................................ 35
     6.3.3 Finanzielle Förderung durch EU, Bund und Länder .................................. 35
     6.3.4 Weitere finanzielle Fördermöglichkeiten ................................................... 36

7. Roringen und „Unser Laden e.V.“.................................................. 36
  7.1 Roringen - Räumliche Einordnung .................................................................. 36
  7.2 Zur Einzelhandelssituation in Göttingen aus Roringer Perspektive ................. 38
  7.3 Bevölkerungsentwicklung ................................................................................ 39
  7.4 Unser Laden e.V. und Roringer Berg-Café - Chronologie ............................... 40
    7.4.1 Projektidee und Gründungsphase (1998 - 2001) ..................................... 40
    7.4.2 Ernüchterungsphase (2002 - 2006) .......................................................... 42
    7.4.3 Neuausrichtungsphase (2007 – 2008)...................................................... 42
    7.4.4 Retten oder schließen? (2009 - 2012) ...................................................... 43
    7.4.5 Kauf der Immobilie und Ausbau des Dorfladens (2013 – 2015) ............... 44
    7.4.6.BULE-Förderung und weiterer Laden-Ausbau (2016 - heute) .................. 45

8. Erfolgsfaktoren von Dorfläden in Theorie und Praxis .................. 46
  8.1 Zeitpunkt der Gründung .................................................................................. 47
  8.2 Organisationsform ........................................................................................... 48
    8.2.1 Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) .................................................. 48
    8.2.2 GmbH ....................................................................................................... 49
    8.2.3 Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) ....................................... 49
    8.2.4 Genossenschaft........................................................................................ 50
    8.2.5 Verein ....................................................................................................... 50
  8.3 Standort .......................................................................................................... 52
  8.4 Räumlichkeiten und Einrichtung ...................................................................... 53
  8.5 Sortiment ......................................................................................................... 56
  8.6 Lieferanten ...................................................................................................... 58
  8.7 Bürger und Kunden ......................................................................................... 59
  8.8 Personal .......................................................................................................... 62
  8.9 Zusätzliche Dienstleistungen .......................................................................... 64
  8.10 Marketing und Aktionen ................................................................................ 67
  8.11 Unterstützung durch die Kommune ............................................................... 69
  8.12 Förderprogramme ......................................................................................... 70
  8.13 Soziale Funktionen........................................................................................ 71
  8.14 Abschließende Betrachtung: Das Ehrenamt als entscheidender Erfolgsfaktor
  .............................................................................................................................. 74

9. Fazit – 5 Säulen der Projektfinanzierung ....................................... 75

11. Literaturverzeichnis ...................................................................... 78

12. Anhang........................................................................................... 84

                                                                                                                                 3
1. Einleitung / Hintergrund
Schon    seit   Jahren   veröffentlichen   Experten   in   regelmäßigen    Abständen
erschreckende Prognosen: In vielen Regionen Deutschlands tritt mit der verstärkten
Landflucht ein Phänomen auf, welches man in Zeiten der Industrialisierung
zurückgelassen geglaubt hatte.1
Für lange Zeit wurde davon ausgegangen, dass es überwiegend die jungen
Menschen sind, welche das Stadtleben dem Leben im ländlichen Raum vorziehen.
Häufig genanntes Umzugsmotiv der Jungen ist das Studium in einer größeren
Universitätsstadt, und auch der Einstieg ins Berufsleben scheint in den Metropolen
leichter zu fallen. Doch in den letzten Jahren zeigt sich, dass auch viele ältere
Menschen den ländlichen Raum verlassen, um ihren Lebensabend in der Stadt zu
verbringen. Während früher oftmals eines der Kinder das Anwesen der Eltern und
damit auch die Pflege der Eltern übernahm, sind Senioren heutzutage häufig auf
fremde Hilfe angewiesen. Spätestens dann, wenn der Gesundheitszustand das
eigenständige Autofahren nicht mehr zulässt, wird ein Umzug in Erwägung gezogen.
Ob jung oder alt – ein gewichtiger Grund für den Wegzug vieler Menschen ist die
mangelnde Infrastruktur im ländlichen Raum: Oftmals sind keine oder nicht
ausreichende Einrichtungen der Altenpflege, der Kinderbetreuung und der Bildung
vorhanden, es mangelt an kulturellen Einrichtungen, es fahren nicht ausreichend
Busse, die Internetverbindung ist häufig schlecht, die Dichte des gesundheitlichen
Versorgungsnetzes und teilweise auch das Netz des Brand- und Katastrophenschutz
lassen zu wünschen übrig. Nicht zuletzt fehlen oftmals auch nahegelegene
Geschäfte, die Lebensmittel und andere Waren des täglichen Bedarfs anbieten.
Es liegt auf der Hand, dass in den stark von Landflucht betroffenen Regionen diese
Probleme noch zunehmen, je weniger Menschen dort leben. Wenn beispielsweise
ein Internetanbieter für 20.000 Nutzer keine neuen Leitungen verlegen lässt, wird er
dies für 15.000 potentielle Zahler wohl erst recht nicht tun. In ähnlicher Weise
müssen gezwungenermaßen die Anbieter von Lebensmitteln und Waren des
täglichen Bedarfs Kosten und Nachfrage abwägen. So dünnt die Infrastruktur weiter
aus und die entsprechenden Regionen werden als Wohnort unattraktiver, wodurch
weitere Menschen zum Wegzug animiert werden – ein Teufelskreis entsteht.

1
  Der hier beschriebene Trend lässt sich in zahlreichen ländlich geprägten Regionen
beobachten, allerdings nicht in allen. Vielmehr wandeln sich die ländlichen
Lebensverhältnisse auf sehr heterogene Weise. Einige Gemeinden im ländlichen Raum
können in den letzten Jahren sogar ein Bevölkerungswachstum verzeichnen (BMEL 2015: 2).
                                                                                     4
Gleichzeitig stellt der vermehrte Zuzug die Städte und Ballungsräume vor Probleme
wie Wohnungsmangel, extreme Mietsteigerungen und ein überlastetes Verkehrsnetz.
Es gibt also viele gute Gründe dafür, den beschriebenen Teufelskreis zu
durchbrechen und die Attraktivität von Gemeinden im ländlichen Raum als Wohnorte
zu erhalten oder wiederherzustellen.
Die politischen Entscheidungsträger haben dies inzwischen erkannt. Spezielle
Kommissionen, die sich mit dem Erhalt der Infrastruktur im ländlichen Raum
befassen, wurden eingesetzt und bereits verschiedene Maßnahmen ergriffen.
Außerdem werden seit einigen Jahren Projekte von Menschen, welche die
beschriebenen Probleme selbst angehen, und zum Erhalt oder dem Aufbau der
Infrastruktur im ländlichen Raum beitragen, vom Bund, den Ländern und der EU
unterstützt und gefördert.
Um ein solches Projekt handelt es sich bei „Unser Laden“ aus Roringen: Die an
diesem Projekt Beteiligten haben sich dazu entschlossen, sich selbst um die
Sicherung der Nahversorgung in ihrem Ortsteil zu kümmern, indem sie einen
Dorfladen gründen.

1.1 Ziele und Vorgehensweise der Projektdokumentation
Die Zielsetzung der vorliegenden Projektdokumentation liegt darin, eine Reflektion
der Erfahrungen aus der nun bereits achtzehnjährigen Arbeit des Vereins „Unser
Laden e.V.“ zu gewährleisten.
Erkenntnisse wurden durch eine teilnehmende Beobachtung im Dorfladen und im
Café gewonnen – während des laufenden alltäglichen Betriebs, bei den von „Unser
Laden e.V.“ angebotenen, wöchentlich stattfindenden und den besonderen, jährlich
stattfindenden Aktionen, während der Umbaumaßnahmen sowie auf den Vorstands-
und Mitgliederversammlungen des Vereins.
Ergänzt werden die im Zuge der teilnehmenden Beobachtung gewonnen
Erkenntnisse durch jene aus zahlreichen Gesprächen und Interviews, die mit dem
Vereinsvorsitzenden, dem Vereinsvorstand und anderen am Projekt beteiligten
Personen sowie nicht zuletzt mit den Kunden des Dorfladens, den Besuchern des
Berg-Cafés und den Anwohnern geführt wurden.
Außerdem     wurde    ein    Fragebogen    erstellt,    mit   welchem     die   allgemeinen
Einkaufsgewohnheiten der Einwohner Roringens und ihre Einstellungen zum
Dorfladen   und   dem       Berg-Café   abgefragt      werden   sollen.   Die   vollständige
Durchführung der Befragung konnte im Rahmen dieser Förderperiode und des
                                                                                          5
entsprechenden Dokumentationsauftrags aufgrund von anderen Prioritäten des
Vereinsvorstands (insbesondere den umfangreichen Umbaumaßnahmen) und
Zeitknappheit nicht in vollem Umfang realisiert werden. Allerdings haben schon die
Pretests des Fragebogens wertvolle Erkenntnisse hervorgebracht, welche bereits in
die Projektdokumentation eingeflossen sind. 2
Schließlich werden die auf den genannten, unterschiedlichen Wegen gewonnen
Eindrücke und Ergebnisse sowie die Erfahrungen der im Projekt Aktiven in Bezug zu
dem aktuellen Stand der Forschung zum Thema Nahversorgung im ländlichen Raum
gesetzt um so die in der Literatur beschriebenen Faktoren für den Erfolg von
Dorfläden mit den Erfahrungen aus der Praxis abzugleichen und die entscheidenden
Erfolgsfaktoren herauszustellen.
Auf diese Weise soll der Frage nachgegangen werden, wie ein Dorfladen nachhaltig
zur Sicherung der Nahversorgung im ländlichen Raum beitragen kann. Gleichzeitig
wird damit anderen Dorfladen-Initiativen ein Leitfaden an die Hand gegeben, der
wichtige Entscheidungen erleichtern und zur Vermeidung von Fehlern bei der
Projektplanung beitragen kann.

1.2 Aufbau
In dem sich an diese Einleitung anschließenden Kapitel 2 wird zunächst kurz auf den
Begriff des ‚ländlichen Raums‘ eingegangen, um sich anschließend ausführlicher mit
dem Begriff der ‚Nahversorgung‘ im Allgemeinen und der Nahversorgung im
ländlichen Raum im Speziellen auseinanderzusetzen. Um klare Unterscheidungen
vornehmen zu können, werden anschließend kurz die verschiedenen Betriebsformen
des stationären Lebensmitteleinzelhandels vorgestellt.
Kapitel 3 und 4 beschäftigen sich mit den aktuellen Trends und Entwicklungen auf
der Angebots- und der Nachfrageseite. Als bedeutende angebotsseitige Trends
lassen sich die Reduzierung der Verkaufsstellen und das Verkaufsflächenwachstum
(Kapitel 3.1) sowie eine gleichzeitige Zentralisierung und Dezentralisierung
2
  Als ‚Pretest‘ werden der Qualitätsverbesserung dienende Probedurchläufe von Fragebögen
vor der Durchführung der eigentlichen Erhebung bezeichnet. Eine möglichst vollständige
Befragung der Einwohner Roringens soll zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden.
In den Pretests hat sich bereits gezeigt, dass eine solche Befragung wichtige Hinweise
bezüglich des Einkaufsverhaltens und der Wünsche der Anwohner liefern kann. Mithilfe der
gewonnenen Informationen kann das Angebot des Dorfladens noch besser auf die
Einkaufsgewohnheiten und die Wünsche der (potentiellen) Kunden abgestimmt werden. Die
Umfrage kann daher einen entscheidenden Beitrag zum erfolgreichen Fortbestand des
Projekts liefern. Der Fragebogen kann als Vorlage für Umfragen anderer Dorfladen-Projekte
dienen und befindet sich im Anhang der vorliegenden Projektdokumentation.
                                                                                       6
ausmachen (Kapitel 3.2). Auf der Nachfrageseite sind als Ursachen für das
veränderte Einkaufsverhalten der Verbraucher der demographische Wandel, das
steigende Einkommen, die Ausdifferenzierung der Lebensstilgruppen, der Wandel
der Einkaufsmotive, die veränderte Verkehrsmittelwahl und Begrenzungen durch das
Zeitbudget von Bedeutung (Kapitel 4.1 – 4.4). Anschließend werden die Bewertung
der Nahversorgungssituation durch die Verbraucher (Kapitel 4.5) und der Grundsatz
der ‚Gleichwertigen Lebensbedingungen‘ (Kapitel 4.6) thematisiert.
Kapitel 5   setzt   sich    mit   Prognosen für   die   zukünftige   Entwicklung    des
Lebensmitteleinzelhandels und der Frage auseinander, ob die Ausdünnung der
Nahversorgung weiter voranschreiten oder es zu einer Trendumkehr kommen wird.
Im Kapitel 6 werden Optionen und Modelle zur Sicherung der Nahversorgung
diskutiert, wobei zwischen mobilen (Kapitel 6.1) und stationären (Kapitel 6.2)
Nahversorgungseinrichtungen unterschieden wird. Kapitel 6.3 beschäftigt sich mit
Förderprogrammen      und     Maßnahmen     der   Unterstützung      zum   Erhalt   der
Nahversorgung im ländlichen Raum.
Die Mitglieder des Roringer Vereins „Unser Laden e.V.“               haben sich dazu
entschlossen, die Sicherung der Nahversorgung in ihrem Ortsteil selbst in die Hand
zu nehmen und einen Dorfladen zu gründen. In Kapitel 7 wird zunächst auf die
besondere geographische Lage Roringens am Göttinger Stadtrand (Kapitel 7.1) , auf
die Situation des Lebensmitteleinzelhandels in Göttingen aus Roringer Perspektive
(Kapitel 7.2)   und auf die Bevölkerungsentwicklung in Roringen (Kapitel 7.3)
eingegangen. Im darauffolgenden Kapitel 7.4 werden in einer Chronologie des
Vereins „Unser Laden e.V.“ die einzelnen Phasen und Entwicklungsstufen des
Projekts mit ihren jeweiligen spezifischen Herausforderungen und Problemen und
den dafür gefundenen Lösungen beschrieben.
Schließlich werden in Kapitel 8 die entscheidenden Erfolgsfaktoren für Dorfläden, die
sich der Literatur zum Thema entnehmen lassen, mit den in der Praxis gesammelten
Erfahrungen und Erkenntnissen der am Projekt „Unser Laden“ Beteiligten
abgeglichen.

2. Begriffsbestimmungen

2.1 Zum Begriff des ‚ländlichen Raumes‘

                                                                                      7
Der Begriff des ‚ländlichen Raumes‘ ist ein komplexer Begriff, der einem starken
Wandel unterliegt und kaum durch eine allgemeingültige Definition zu fassen ist.3
In der Raumordnung wird der ländliche Raum meist als eine „Restgröße“ angesehen,
als Gebiet, welches nicht zu einem Verdichtungsraum gehört und im Gegensatz zum
städtischen Raum steht (Henkel 2004: 29). Ländliche Räume sind Standorte der
Erzeugung von Nahrungsgütern und Rohstoffen sowie des auf dem Land ansässigen
Gewerbes, Wohngebiete der (kleineren) landwirtschaftlich tätigen und der (größeren)
nicht landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung und gleichzeitig Flächenreserven für
Siedlungsausbau, Gewerbe und Verkehrsanlagen, Erholungsräume der städtischen
Bevölkerung sowie ökologische Ausgleichsräume. Als Abgrenzungskriterien zum
städtischen Raum werden unter anderem die Agrarquote, die Bevölkerungsdichte,
die Freiflächenanteile und das Bruttosozialprodukt verwendet (ebd.). Nach Henkel
(2004: 33) kann der ländliche Raum „knapp und positiv formuliert“ als naturnaher,
von einer noch vorhandenen Land- und Forstwirtschaft geprägter Siedlungs- und
Landschaftsraum mit geringer Bevölkerungs- und Bebauungsdichte sowie niedriger
Zentralität der Orte, aber hoher Dichte der zwischenmenschlichen Beziehungen
beschrieben werden. Küpper (2016: 4ff.) sieht eine geringe Siedlungsdichte, eine
überwiegend durch die Land- und Forstwirtschaft bestimmte Flächennutzung (auch
wenn    beide     Sektoren   weder    für   die   Bruttowertschöpfung    noch    für   das
Arbeitsplatzangebot eine zentrale Bedeutung haben) eine geringe Siedlungsdichte
und einen hohen Anteil an Ein- und Zweifamilienhäusern sowie eine vergleichsweise
weite Entfernung zu den nächstgelegenen Zentren als charakteristisch für den
ländlichen Raum an.4 Im Ergebnis dieser Abgrenzung leben 57,2 % der Einwohner
Deutschlands in ländlichen Räumen, welche 91,3 % der Fläche Deutschlands
ausmachen.
Aufgrund    der    tiefgreifenden    Veränderungen     der   Erwerbsstruktur    und    der
zunehmenden Mobilität in den letzten Jahrzehnten ist eine trennscharfe Abgrenzung
von Stadt und Land jedoch kaum noch möglich (Henkel 2004: 30f.). Der Übergang
von der Agrar- zur Industrie- und Städtegesellschaft hat den ländlichen Raum stark
verändert. Dörfer und ehemalige Dörfer sind heute zu Wohnstandorten nicht

3
   Ausführlich zur Abgrenzung und Typisierung verschiedener Siedlungsformen und zur
Definition des ländlichen Raumes: Siehe Henkel (2004); Küpper (2016) und Osigus et al.
2018. Speziell für die Region Göttingen: Siehe LAG Göttinger Land (2015).
4
  Außerdem zieht Küpper (2016: 5 ff.) das regionale Bevölkerungspotential heran. Auf diesen
komplexen Indikator kann im Rahmen dieser Projektdokumentation nicht näher
eingegangen werden.
                                                                                         8
landwirtschaftlicher Erwerbspersonen und zum Migrationsraum von pendelnden
‚Städtern‘ geworden.
Außerdem sind die Unterschiede innerhalb der Gebietskategorie ‚ländlicher Raum‘
sehr groß – dies zeigt sich, wenn man beispielsweise den ländliche Raum im
bevölkerungsarmen        Mecklenburg-Vorpommern        mit     dem   im   zuzugsstarken
Bodenseegebiet vergleicht. Selbst kleinräumige Vergleiche zwischen benachbarten
Regionen lassen oft sehr große Kontraste bezüglich des Siedlungsbildes, des
Wirtschafts- und Sozialgefüges sowie der Entwicklungsdynamik erkennen. Eine
starke Zuwanderung von Pendlern, die ihr Auskommen außerhalb des (ehemaligen)
Dorfes finden, neue, oft baulich vom alten Ortskern abgesetzte Wohngebiete,
Verschönerungsmaßnahmen, ein reges kulturelles Leben und Tourismus prägen
landschaftlich attraktive, verkehrsgünstig gelegene und nahe an Verdichtungsräumen
gelegene Orte, während sich oft nur wenige Kilometer entfernt verkehrsungünstig
gelegene, stagnierende Orte befinden, in denen der Rückgang an land- und
forstwirtschaftlichen sowie handwerklichen Arbeitsplätzen nicht aufgefangen werden
konnte, Infrastruktur- und Nahversorgungseinrichtungen aufgegeben werden und ein
Großteil der jungen Bevölkerung abwandert.

2.2 Zum Begriff der ‚Nahversorgung‘
Eine allgemeingültige Definition des Begriffs ‚Nahversorgung‘ gibt es nicht (Pezzei:
18). In der Regel ist damit aber „die orts- und zeitnahe Versorgung mit Gütern und
Dienstleistungen des täglichen Bedarfs“ gemeint (Adamovicz et al. 2009: 8). Unter
der orts- und zeitnahen Versorgung wiederum wird                 meist die fußläufige
Erreichbarkeit verstanden, wobei ca. 1.000 Meter Entfernung oder zehn Gehminuten
in der Literatur und den Nahversorgungskonzepten der Kommunen als Richtwert
angesehen werden         (Beckmann et al. 2007: 11f; Muschwitz et al 2011: 22;
Schrader/Paasche 2010: 2, BMVBS 2011: 8)5 „Aufgrund der spezifischen Situation
und Siedlungsstruktur“ definieren Junker und Kruse (2013: 12) speziell für Göttingen
„eine   Distanz    von     ca.   600    m    als   kritische    Zeit-Weg-Schwelle      für

5
  Ob Menschen eine Distanz als nah wahrnehmen, ist von mehreren Faktoren abhängig,
unter anderem von der individuellen Mobilität und der Verfügbarkeit von Verkehrsmitteln.
Einige Autoren legen den Fokus auf die fußläufige Erreichbarkeit und betonen, dass diese
nicht nur von der Distanz, sondern auch von weiteren Faktoren (z.B. Hindernissen wie stark
befahrenen Straßen) abhängig ist (Steffen/Weeber (2001: 2), für andere Autoren zählen
auch Ziele, die innerhalb von 10 Minuten mit dem Fahrrad erreicht werden können, zur
Nahversorgung (BMVBS 2011: 8).
                                                                                        9
Fußgängerdistanzen“.
Kein Konsens besteht hingegen darüber, was zum täglichen Bedarf gezählt werden
kann. Dies liegt darin begründet, dass für jeden einzelnen Verbraucher andere Güter
dazugehören. In der Literatur und den politischen Konzepten zum Thema wird
teilweise nochmals unterschieden zwischen der Nahversorgung im engeren Sinne,
welche nur Lebensmittel, Getränke, Genusswaren und Drogerieartikel umfasst, und
der   Nahversorgung      im weiteren      Sinne,   die   auch    private   und    öffentliche
Dienstleistungsangebote wie Gastronomie, Post, Banken, Ärzte, Apotheken und
Verwaltungsstellen     sowie    Handwerksleistungen       wie   Friseure    und     Schuster
einschließt (Küpper/ Eberhardt 2013: 3f.; BMVBS 2011: 8).
Auf den ebenfalls eng mit dem Begriff der Nahversorgung verbundenen Begriff der
‚Daseinsvorsorge‘ wird in Kapitel 4.6 eingegangen. Der nun folgende Abschnitt
behandelt       zunächst        die       unterschiedlichen        Betriebsformen         im
Lebensmitteleinzelhandel, um hier begriffliche Abgrenzungen vornehmen zu können.

2.3 Unterscheidung der Betriebsformen im stationären Lebensmitteleinzelhandel
Die Betriebsformen des stationären Lebensmitteleinzelhandels bzw. des Handels mit
Gütern des täglichen Bedarfs lassen sich unter anderem anhand ihres Sortiments
und der Warenpräsentation, der Größe der Verkaufsflächen6 sowie der Standortwahl
unterscheiden (Benzel 2006: 17f.).

Kleine   Lebensmittelgeschäfte7       oder   SB-Märkte     zeichnen     sich     durch   eine
Verkaufsfläche aus, die weniger als 400 Quadratmeter umfasst. Geschäfte dieser
Kategorie führen ein begrenztes Sortiment an Lebensmitteln und Non-Food-I-
Artikeln8. Es handelt sich also um sogenannte Vollsortimenter mit einer geringen

6
  Als Verkaufsfläche wird die Fläche bezeichnet, auf welcher der Verkauf abgewickelt wird.
Unterschieden werden kann dabei zwischen der Nettoverkaufsfläche, welche mit Waren
belegt ist, und der Bruttoverkaufsfläche, zu der auch die angrenzenden Gang- und
Funktionsflächen wie Kassenzone, Leergutannahme etc. gerechnet werden. Wenn nur von
der Verkaufsfläche die Rede ist, ist i.d.R. die Bruttoverkaufsfläche gemeint (EHI 2010: 383).
7
   Teilweise werden dieser Kategorie auch Dorf-, Bürger und Nachbarschaftsläden
zugerechnet. Hier soll es aber gerade darum gehen, diese Betriebsformen voneinander zu
unterscheiden.
8
  Non-Food bezeichnet nicht zum Verzehr geeignete Waren aus den Bereichen Drogerie,
Reinigungsmittel und Tiernahrung (Non-Food-I) sowie Gebrauchs- und Verbrauchsgüter wie
z.B. Bücher, Elektrogeräte, Gartenbedarf, Textilien und Schuhe (Non-Food-II) (EHI 2010:
383).
                                                                                          10
Sortimentstiefe9. Aufgrund des geringeren Umsatzes ist das Preisniveau höher als in
Supermärkten. Diese bieten auf 400 bis 2.500 Quadratmetern Verkaufsfläche
durchschnittlich ca. 10.500 Artikel an. Typische Merkmale von Supermärkten sind die
breite Angebotsdifferenzierung, das relativ große Angebot an Frischwaren (etwa 20
% der Artikel) die Kombination von Selbstbedienung und Theken mit Bedienung
sowie Standorte in verkehrsgünstigen Lagen mit Wohngebietsorientierung (Küpper
2013: 4f.; BBE 2017: 42). Große Supermärkte, die auch als ‚Verbrauchermärkte‘
bezeichnet werden, verfügen über eine Verkaufsfläche von etwa 1.500 bis 5.000
Quadratmetern auf der durchschnittlich etwa 25.000 Artikel angeboten werden.
Charakteristisch    für     diese     Betriebsform           ist   ein     breites     und      tiefes
Lebensmittelvollsortiment, aber auch ein relativ großes Sortiment an Non-Food-
Artikeln. Der Non-Food-Bereich nimmt in diesen Geschäften bis zu 50 % der Fläche
ein (ebd.). SB-Warenhäuser haben eine Verkaufsfläche von mehr als 5.000
Quadratmetern      und    sind,     wie   schon        der    Name       sagt,   konzentriert      auf
Selbstbedienung, verfügen aber meist auch über einige (Frische-) Theken mit
Bedienung. Mit durchschnittlich fast 51.000 Artikeln ist ihr Angebot fast doppelt so
groß wie das der großen Supermärkte. Ein weiteres Merkmal dieses Geschäftstyps
sind demnach die großen Non-Food-Abteilungen, die bis zu 70 % der Artikel
ausmachen und bis zu 60 % der Verkaufsfläche einnehmen. Allerdings machen in
der Regel trotzdem Lebensmittel mehr als 50 % des Umsatzes von SB-
Warenhäusern aus (ebd.).
Kleinere Supermärkte sind nach Kuhlicke et al. (2006: 137) auf städtische Zentren
angewiesen, um rentabel wirtschaften zu können. Im Gegensatz dazu können große
Verbrauchermärkte und SB-Warenhäuser aufgrund ihrer „Sortimentsbreite und
interner   Kopplungspotenziale10          [...]   zu     einem       gewissen        Grad     selbst
Zentrumsfunktionen        übernehmen“         (ebd.).    Häufig      befinden        sie    sich    in
verkehrsgünstigen städtischen Randlagen und stellen selbst den Mittelpunkt einer
größeren Agglomeration von Fachmärkten dar (BBE 2017: 42).
Lebensmittel-Discounter bieten auf einer Verkaufsfläche von bis zu 1.700
Quadratmetern ein flaches, schnelldrehendes Sortiment an. Das Sortiment der

9
   Die Sortimentstiefe bezeichnet die Anzahl verschiedener Artikel innerhalb einer
Warengruppe, während die Sortimentsbreite das Angebot an unterschiedlichen
Warengruppen beschreibt.
10
   Mit der ‚Kopplung‘ von Einkäufen ist der Erwerb mehrerer Güter an einem Ort gemeint.
Ein ‚internes Kopplungspotenzial’ ist gegeben, wenn verschiedenartige Güter sogar
innerhalb desselben Geschäfts erworben werden können.
                                                                                                   11
sogenannten Harddiscounter (z.B. Aldi) umfasst etwa 1.000 Artikel, bei den
sogenannten Soft- oder Markendiscountern (wie z.B. Lidl) ca. 1.700 Artikel und bei
den als ‚Supermarkt-Discounter-Hybriden’ bezeichneten Geschäften (wie z.B. Netto)
sogar bis zu 3.500 Artikel. Aktuell wird in vielen Discountern das Frischesortiment
ausgeweitet. Typisch für Discounter ist die meist sehr einfache Warenpräsentation
ohne Bedienung und weitere Dienstleistungen, preisaggressive Verkaufsstrategien
und das relativ häufige und stark beworbene Anbieten von Aktionsware (BBE 2017:
41).

Die oben dargestellten Angebotsformen bilden das Grundgerüst der Versorgung mit
Waren des täglichen Bedarfs. Dieses Angebot wird durch einige Angebotsformen
ergänzt, die zwar alle nur einen Teil eines Vollsortiments abdecken, nichtsdestotrotz
aber ein Baustein der Nahversorgung sein können (Beckmann et al. 2007: 39 ff.).
So können temporäre Angebote wie Wochenmärkte das stationäre Sortiment der
anderen    Anbieter   ergänzen     oder    zeitlich   begrenzt   ein   umfangreiches
Nahversorgungssortiment bereitstellen. Außerdem führen Wochenmärkte zu einer
Belebung des Zentrums und dienen als Frequenzbringer für stationäre Läden. Sie
sind oft besser fußläufig erreichbar als die großflächigen Anbieter, die sich meist am
Ortsrand befinden. Nach Beckmann et al. (2007: 49 ff.) ist ein Wochenmarkt bereits
ab 5.000 Einwohnern im Ort wirtschaftlich möglich. Auch mobile Formen wie
„rollende Supermärkte“ (einzelne Verkaufswagen) können einen Baustein der
Nahversorgung bilden. Bei einer koordinierten und zeitgleichen Versorgung durch
mobile Verkaufswagen an einem Ort entstehen Minimärkte, die ähnlich wie
Wochenmärkte die Ortskerne beleben können.
Lebensmittelfachgeschäfte (wie Bäcker, Metzger, Obst- und Gemüseladen und
Ähnliche) sind zwar auch in kleineren ländlichen Orten vertreten, verfügen jedoch nur
über ein schmales und dafür tiefes Sortiment, mit dem sie jeweils nur einen kleinen
Teil des täglichen Bedarfs abdecken.
Die sogenannten „Convenience-Geschäfte“ wie Kioske und Tankstellenshops
machen ihren Umsatz hauptsächlich mit Tabakwaren, Getränken, Süß- und
Backwaren. Sie haben für die Nahversorgung nur eine begrenzte Bedeutung, da ihr
Sortiment sehr beschränkt ist und sie sich meist in größeren Orten (Kioske) oder am
Ortsrand (Tankstellen) befinden.
Auch Drogeriemärkte, meist Selbstbedienungsgeschäfte von mittlerer Größe, leisten

                                                                                   12
einen Beitrag zur Nahversorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs, da sie neben
freiverkäuflichen Medikamenten sowie einem breiten und tiefen Sortiment an
Kosmetik-Körperpflege- und Reinigungsartikeln häufig auch Lebensmittel (oft
biologisch erzeugte Waren) führen.
Die Charakteristika von Hof-, Bürger- und Dorfläden und der Beitrag, welchen diese
zur Nahversorgung leisten können, werden ab Kapitel 6.2.5 ausführlich behandelt.

Angebots- und Nachfrageseitige Trends im Einzelhandel bedingen sich oftmals
gegenseitig und lassen sich daher kaum unabhängig voneinander beschreiben. Zur
besseren Übersichtlichkeit soll trotz dessen im Folgenden zunächst auf die
angebotsseitigen   und   anschließend   auf   die   nachfrageseitigen     Trends   und
Entwicklungen eingegangen werden.

3. Angebotsseitige Trends und Entwicklungen

3.1 Flächenexpansion und Reduzierung der Verkaufsstellen
Da das Umsatzwachstum im Lebensmitteleinzelhandel stagniert, können größere
Marktanteile nur durch die Verdrängung der Konkurrenz gewonnen werden. Der wohl
entscheidendste Trend auf der Anbieter- bzw. Angebotsseite sind daher die starken
Konzentrationsprozesse. Heute haben die sechs größten Anbieter (Edeka, Rewe,
Aldi, Lidl, Kaufland, Metro/Real) einen Marktanteil von mehr als 90 % erlangt
(BMVBS 2011: 13). Die gewonnene Marktmacht wird dazu genutzt, die Lieferanten
und produzierenden Unternehmen der Lebensmittelwirtschaft unter Druck zu setzen
und Konkurrenten zu übernehmen oder aus dem Markt zu drängen (Adamovicz et al.
2009: 12ff). Als weiterer wichtiger Trend der letzten Jahrzehnte ist das starke
Verkaufsflächenwachstum zu nennen: Um der steigenden Nachfrage nach
Frischwaren, Bio- und Convenience-Produkten zu entsprechen und kleinere
Verpackungsgrößen für die stetig wachsende Zahl von Einpersonenhaushalten
zusätzlich anbieten zu können, werden die Sortimente ausgeweitet und die
Verkaufsflächen vergrößert (Küpper/ Eberhardt 2013: 13). Im Zuge der Entwicklung
hin   zu   immer   größeren    Verkaufsflächen      steigt   auch   der   Bedarf    an
Grundstücksflächen, um genügend Stellplätze für die Fahrzeuge der Kundschaft zur
Verfügung stellen zu können. Der steigende Flächenbedarf ist in innerörtlichen

                                                                                    13
Lagen oftmals nicht mehr zu decken, so dass sich der Einzelhandel zunehmend in
der Peripherie ‚auf der grünen Wiese‘ ansiedelt. Diese Standorte sind fast
ausschließlich auf die Erreichbarkeit mit dem Auto ausgerichtet (Steffen/ Weeber
2001: 6).
Mit dem Verkaufsflächenwachstum geht eine Ausweitung der Einzugsgebiete der
Lebensmittelgeschäfte einher: Während die Anbieter im Jahr 2000 noch etwa 3.500
Einwohner im unmittelbaren Einzugsbereich eines Supermarktes oder Discounters
als ausreichendes Kundenpotential ansahen, sind es heute 5.000 Einwohner oder
mehr (Beckmann et al. 2007: 6; Junker/ Kruse 2013: 68).
Betrachtet man die Entwicklung seit Anfang der 1990er Jahre, so lässt sich
feststellen, dass die Discounter und           großflächigen     Anbieter zulasten      von
Supermärkten und kleineren Lebensmittelgeschäften Marktanteile gewonnen haben.
Dies kann unter anderem auf die ungünstigere Kostenstruktur der kleinflächigeren
Anbieter zurückgeführt werden. Außerdem haben die großflächigen Anbieter deutlich
mehr Kunden, die wiederum pro Einkauf mehr Geld ausgeben (Kuhlicke et al. 2006:
130ff.; Küpper/ Eberhardt 2013: 13).
Der zunehmende Preiskampf und die gleichzeitige Flächenexpansion der Geschäfte
haben    eine   deutliche,   fortschreitende    Verringerung    der   Verkaufsstellen     in
Deutschland zur Folge – von etwa 150.000 in den 1960er Jahren auf ca. 72.500 im
Jahr 1998 auf weniger als 50.000 im Jahr 2008 und schließlich auf ca. 35.000 im
Jahr 2017 .11 Parallel dazu reduziert sich die Anzahl der selbstständigen
Einzelhändler und die Zahl der Filialen steigt kontinuierlich (Kuhlicke et al. 2006:
130).

3.2 Zentralisierung und Dezentralisierung
Wie in verschiedenen Regionen Deutschlands durchgeführte Studien zeigen, führen
die dargestellten Prozesse im ländlichen Raum zu einer Konzentration der
Verkaufsstellen in den zentraleren Orten und größeren Gemeinden. Infolgedessen
nimmt die durchschnittliche Entfernung eines Verbrauchers zum nächstgelegenen
Lebensmittelladen zu. In kleineren Orten mit weniger als 5.000 Einwohnern
verbleiben oft nur Discounter, die nur in geringem Maße soziale Funktionen12
erfüllen, und kleine Lebensmittelgeschäfte, die Schwierigkeiten haben, rentabel zu

11
   Daten 1960 – 2007: Adamovicz et al. 2009: 13f, ähnliche Daten bei Kuhlicke et al. (2006);
Daten 2007 – 2017: Statista
12
   Ausführlich zu den sozialen Funktionen siehe Kap 8.13
                                                                                         14
wirtschaften. Gemeinden im ländlichen Raum, die weniger als 500-700 Einwohner
haben oder im Umfeld größerer Städte liegen, verfügen oftmals über gar keine
fußläufig erreichbaren Verkaufsstellen mehr (Küpper/ Eberhardt 2013: 15).
Insbesondere    für   weniger   mobile    Gruppen,      deren   Kaufkraft   bei   den
Standortentscheidungen der Anbieter kaum eine Rolle spielt, verschlechtert sich so
die Versorgungsqualität. Durch die oftmals schlechte Anbindung an den öffentlichen
Nahverkehr wird dieses Problem noch verstärkt (ebd.).
Während also die weniger mobilen Konsumenten eine geringere Auswahl und
höhere Preise hinnehmen müssen, müssen mobile Konsumenten zwar die
anfallenden Kosten der Mobilität – vor allem die in den letzten Jahren gestiegenen
Kraftstoffpreise – tragen, haben im Gegenzug jedoch die Auswahl zwischen
verschiedenen Anbietern (Kuhlicke et al. 2006: 22).

Bei den Supermärkten lässt sich in den letzten Jahren ein gegenläufiger Trend zu
den oben beschriebenen, langfristigen Entwicklungen beobachten: Als strategische
Maßnahme im Wettbewerb mit den Discountern setzen einige Anbieter auf
preiswerte Eigenmarken, eine attraktive Architektur und Ladengestaltung, aber auch
wieder verstärkt auf kleinflächigere, wohnortnahe Geschäfte (Adamovicz et al. 2009:
16). So werden mit neuen Konzepten nun wieder Flächen von 500 bis 1000
Quadratmetern bewirtschaftet, die noch bis vor Kurzem als zu klein galten, meist mit
einem im Verhältnis zu den großflächigeren Geschäften kleineren Sortiment an Non-
food-Artikeln und einem größeren Frischwarensortiment (Küpper/ Eberhardt 2013:
12). Da es sich bei diesen neuen Konzepten aber um solche für besonders zentrale
Lagen und Innenstädte handelt (z.B. „REWE City“) kommt diese Entwicklung nicht
der Nahversorgung im ländlichen Raum zugute. Stattdessen übernehmen in struktur-
und kaufkraftschwachen Gebieten – wenn die Anbieter sich nicht sogar vollständig
von dort zurückziehen – zunehmend die Discounter die Nahversorgungsfunktion
(Adamovicz et al. 2009: 14).

Abschließend lässt sich festhalten, dass die oben beschriebenen Trends, welche für
die Standortentscheidungen der Handelsunternehmen maßgeblich sind, zu einer
geringeren Anzahl von dafür größeren Geschäften in größeren Orten und in
Einkaufszentren ‚auf der grünen Wiese’ (nicht zu verwechseln mit dem ländlichen
Raum) führen.

                                                                                   15
Zu beobachten sind derzeitig also mit der Konzentration der Angebote in
höherrangigen Zentren (Zentralisierung) auf der einen Seite und mit der
Randwanderung insbesondere der großen Verbrauchermärkte und SB-Warenhäuser
(Dezentralisierung) auf der anderen Seite zwei parallele Entwicklungen, die beide zu
„einem Rückzug aus der Fläche und zur Verschlechterung der Nahversorgung“
(BMVBS 2011: 15) beitragen.

4. Nachfrageseitige Trends und Entwicklungen
Auch die sich auf der Nachfrageseite vollziehenden Entwicklungen haben zu starken
Veränderungen der Nahversorgungssituation geführt. Insbesondere die in den
letzten Jahrzehnten zu beobachtende Ausdifferenzierung der Konsummuster der
Verbraucher bringt eine Veränderung des räumlichen Einkaufsverhaltens mit sich.
In diesem Zusammenhang ist von zentraler Bedeutung, dass sich die Nearest-
Centre-Bindung, wie sie in der klassischen Standorttheorie nach Christaller13
angenommen wird, immer mehr abschwächt (Kulke 2005: 12; Deiters 2006: 303).
Die Ursachen für das veränderte Einkaufsverhalten der Verbraucher sind – neben
dem demographischen Wandel14 – nach Kulke (2005: 9ff.) das steigende
Einkommen, die Ausdifferenzierung der Lebensstilgruppen, der Wandel der
Einkaufsmotive, die veränderte Verkehrsmittelwahl und Begrenzungen durch das
Zeitbudget. Auf diese Einflussfaktoren wird im Folgenden näher eingegangen.

4.1 Einkommensklassen und Lebensstilgruppen
Das Einkommen der Haushalte in Deutschland ist über die vergangenen Jahrzehnte
gestiegen, der Anteil des Einkommens, der für die Grundversorgung ausgegeben
wurde, ist jedoch gesunken. Zu erklären ist dies mit dem Engel‘schen Gesetz (Grings
2007),   welches   besagt,   dass   Güter   der   Grundversorgung     eine   geringere
Einkommenselastizität haben als höherwertige Güter. Mit steigendem Einkommen
wächst demnach die Nachfrage nach Gütern der Grundversorgung kaum, während
höherwertige Waren und Dienstleistungen verstärkt nachgefragt werden. So sind

13
   Diese Theorie geht vereinfachend davon aus, dass Konsumenten auf einer Einkaufsfahrt
nur ein Gut erwerben und dafür den nächstgelegenen Standort aufsuchen.
14
    Auf die komplexen Zusammenhänge zwischen demographischem Wandel und
Veränderungen des Einkaufsverhaltens der Verbraucher kann im Rahmen dieser
Projektdokumentation nicht ausführlich eingegangen werden. Unter besonderer
Berücksichtigung des ländlichen Raums setzen sich eine Publikation des BMEL (2016:
insbesondere Seite 10ff.) und Warburg (2011) mit dieser Thematik auseinander.
                                                                                    16
beispielsweise       die   Ausgaben        der     deutschen    Haushalte   für     Urlaubsreisen,
Gastronomie- und Freizeitangebote in den letzten Jahren angestiegen (Kulke 2005:
10ff.).
Während         Angehörige     niedrigerer       Einkommensklassen       tendenziell     eher   im
Nahbereich ihres Wohnortes und möglichst preiswert einkaufen, sind die
Angehörigen höherer Einkommensklassen eher bereit, für eine größere Auswahl und
eine höhere Qualität der Waren weitere Wege zurückzulegen (Kulke 2005: 11).
Allerdings „lässt sich heute nur noch teilweise ein unmittelbarer Zusammenhang
zwischen Einkommenshöhe und Nachfrageverhalten herstellen“, denn „Angehörige
der gleichen Einkommenskategorie zeigen ganz unterschiedliche persönliche
Verhaltensweisen sowohl hinsichtlich der Art der erworbenen Güter (z. B.
Billiglebensmittel versus Ökoprodukte) als auch der Orientierung auf verschiedene
Einkaufsstandorte (z. B. Discounter und Verbrauchermärkte versus Zentren mit
Erlebniswert)“ (Kulke 2005: 12).
Wenn man aber nicht das Einkommen als einzigen Einflussfaktor betrachtet, sondern
die Haushalte anhand ihrer Größe, des Lebenszyklus und des sozialen Status
differenziert, lassen sich empirisch für bestimmte Gruppen typische Konsummuster
identifizieren. So ist z. B. für junge Singles und Familien mit Kindern beim Einkaufen
der Preis von überdurchschnittlich hoher Bedeutung, während für ältere Haushalte
eher die Qualität der Waren wichtig ist. Singles und alleinstehende Senioren sind
Haushaltstypen, die Wert auf einen geringen Aufwand bei der Haushaltsführung und
auf einen bequemen Einkauf legen (Kulke 2005: 15f).
Wie Deiters (2006: 297) zeigt, kam es in den letzten Jahrzehnten zu einer
zunehmenden Ausdifferenzierung innerhalb dieser klassischen Haushaltstypen15, da
diese von nur teilweise mit ihnen übereinstimmenden Lebensstilgruppen überlagert
werden       (die   Zuordnung      von     Individuen    oder    Haushalten       zu   bestimmten
Lebensstilgruppen erfolgt, indem Merkmale der sozialen Lage und Merkmale der
Wertorientierung miteinander kombiniert werden).
So richtet beispielsweise die Lebensstil-Gruppe der sogenannten LOHAS (‚Lifestyle
of     Health    and    Sustainability‘)    ihre    Nachfrage     auf   möglichst      nachhaltige,
gesundheitlich, wirtschaftlich und ökologisch sinnvolle Produkte und Dienstleistungen
aus (BMVBS 2011: 18).

15
     Klassische Haushaltstypen sind z.B. Singles, Senioren, junge Familien etc.
                                                                                                17
4.2 Einkaufsmotive
Analog zur Ausdifferenzierung und Heterogenisierung der Haushaltstypen bzw. der
Lebensstile   differenzieren   sich   auch   die   Konsummuster   aus   und   werden
heterogener. Wie oben bereits erwähnt, haben durch diese mit dem soziokulturellen
Wandel einhergehenden Ausdifferenzierungen traditionelle Zuordnungen (wie etwa
die, dass Menschen mit höherem Einkommen in ‚besseren’ Läden einkaufen) an
Bedeutung verloren (Steffen/ Weeber 2001: 14).
Bei den heutigen Konsumenten lassen sich drei grundsätzliche Einkaufsmotive
unterscheiden (Kulke 2005: 16f): Beim Bequemlichkeitseinkauf werden Läden mit
passenden Öffnungszeiten aufgesucht, die möglichst leicht zu erreichen sind, also
sich entweder in der Nähe des Wohnorts oder des Arbeitsplatzes oder auf dem Weg
dazwischen befinden. Typische Bequemlichkeitseinkäufe sind auch Einkäufe bei
Läden in Transiträumen (wie z.B. Bahnhöfen) oder in Tankstellenshops. Beim
Erlebniseinkauf wird der Versorgungsvorgang als Teil der Freizeitgestaltung
angesehen und oft mit Freizeitaktivitäten wie Kino- oder Restaurantbesuchen
verbunden. Dazu werden meist größere Agglomerationen von Geschäften mit einem
attraktiven Umfeld und ergänzenden Dienstleistungen aufgesucht. Beim Preiskauf
wiederum werden Läden mit besonders günstigen Angeboten (z. B. Discounter)
bevorzugt. In Deutschland achten die Verbraucher so sehr auf den Preis von
Lebensmitteln wie in keinem anderen europäischen Land. Heute gelten knapp zwei
Drittel der deutschen Verbraucher als stark preisorientiert und geben in Befragungen
an, dass ihnen der Preis wichtiger als die Qualität ist (Kuhlicke et al. 2005: 60,
BMVBS, 2011: 17). Mehr als die Hälfte der Verbraucher kaufen den Großteil ihrer
Lebensmittel mittlerweile im Discounter ein (Küpper/ Eberhardt 2013: 8). Die starke
Preisorientierung der deutschen Verbraucher und der Preiskampf zwischen den
Anbietern führen dazu, dass die Lebensmittelpreise in Deutschland im europäischen
Vergleich im unteren Drittel liegen (BMVBS, 2011: 17) .
Eine Sonderform des Preiskaufs ist das ‚Smart Shopping’, bei dem günstige
Angebote – oft von hochwertigen Markenartikeln – gezielt aufgesucht werden, so
dass die Einkaufsstätten je nach verfügbarem Angebot wechseln. „Der smart
shopper kauft seinen Champagner, Prosecco oder PC auch gern bei Aldi […]
frisches Gemüse auf dem Markt oder ‚beim Griechen’, das Besondere im teuren
Feinkostgeschäft. Er oder sie ernährt sich vielleicht die ganze Woche über ‚auf die
Schnelle’ und kocht dann am Wochenende ein kompliziertes mehrgängiges Menu

                                                                                  18
nach neuen Rezepten für Familie oder Freunde“ (Steffen und Weeber 2001: 14).
In diesem Zusammenhang wird auch von einer Polarisierung des Einkaufsverhaltens
gesprochen: Individuen oder Haushalte mit höherem Einkommen können bei ihrer
Grundversorgung     stark   preisorientiert   sein,   gleichzeitig   aber   eine   hohe
Ausgabebereitschaft für Luxusgüter aufweisen (Kulke 2005: 17). Insgesamt lässt sich
eine fortschreitende Differenzierung der Nachfrage nach günstigen Angeboten
einerseits und Premium-Produkten andererseits beobachten – es „hat sich auf der
einen Seite ein Markt für Güter herausgebildet, die der Kunde rationell, schnell und
preiswert einkaufen will. Auf der anderen Seite ist ein Markt für Güter mit
Erlebnisqualität entstanden, wo der Konsument das Einkaufen als Teil seiner
Persönlichkeit wahrnimmt“ (BMVBS 2011: 18). Unterdessen verliert das mittlere
Preissegment konstant an Marktanteilen (ebd.).

Während für lange Zeit der Bequemlichkeitseinkauf mit einer räumlichen Orientierung
auf den Nahbereich das dominierende Einkaufsmotiv war, haben seit den 1990er
Jahren der Preis- und der Erlebniskauf stark an Bedeutung gewonnen (Kulke 2005:
17). Die räumliche Konsequenz dieses Wandels der Einkaufsmotive ist eine
Verringerung der Bindung an nahe gelegene Standorte. Zum einen begünstigt die
starke Preisorientierung der Verbraucher das Wachstum der Discounter und der
großflächigen Angebote auch in nicht integrierten Lagen an den Rändern der Städte.
Zum anderen führt die wachsende Bedeutung des Erlebniseinkaufs ebenfalls zur
Auflösung der Bindung an das nächstgelegene Geschäft, da dafür große
Einkaufsagglomerationen und Shoppingcenter mit entsprechenden Dienstleistungen
in attraktiven Innenstädten oder am Stadtrand bevorzugt werden (Küpper/ Eberhardt
2013: 8). Im Zuge dieser Entwicklung werden die kleineren Nahversorgungsläden
verdrängt oder nur noch als „Lückenbüßer“ für vergessene Einkäufe genutzt (Benzel
2006: 8) .

4.3 Mobilität
Ein weiterer wichtiger Faktor, welcher das Einkaufsverhalten beeinflusst, ist die
Verfügbarkeit von Verkehrsmitteln bzw. die Mobilität der Verbraucher. Durch die
zunehmende Verfügbarkeit von PKW erlangen die Verbraucher eine große räumliche
Nachfrageflexibilität, womit die Suburbanisierung des Einzelhandels, also die

                                                                                     19
Ansiedlung von Geschäften in städtischen Randlagen, erst ermöglicht wurde.16
Geschäfte an nicht integrierten Standorten ‚auf der grünen Wiese‘ können fast
ausschließlich mit dem Auto erreicht werden.
Während in Großstädten relativ häufig zu Fuß eingekauft wird oder der dort gut
ausgebaute öffentliche Nahverkehr und auch das Fahrrad zur Versorgung mit Gütern
des täglichen Bedarfs genutzt werden, dominiert im ländlichen Raum das Auto als
Verkehrsmittel zum Einkauf. Dabei kann ein direkter Zusammenhang zwischen der
Wahl des Verkehrsmittels, der Einwohnerzahl und der Siedlungsdichte festgestellt
werden:    Größere    Städte    und    Gemeinden      verfügen    in   der   Regel    über
leistungsfähigere öffentliche Verkehrssysteme mit           höheren    Netzdichten und
Frequenzen, zudem treten mit zunehmender Einwohnerzahl für den PKW-Verkehr
vermehrt limitierende Faktoren wie Staus und Parkplatzknappheit auf (Kulke 2005:
18f.). Daher lassen in Großstädten auch PKW-Besitzer des Öfteren das Auto stehen,
wenn der Weg zum Einkauf nicht zu lang ist, während in kleineren Gemeinden schon
die kürzesten Einkaufswege (unter 400 Metern) zu 17 % als ‚MIV-Fahrer‘17
unternommen werden (BMVBS 2011: 22). Insgesamt werden ‚auf dem Land‘18 fast
80 % aller Einkaufswege mit dem PKW zurückgelegt. Dies stellt verglichen mit
anderen Wohnlagen den mit Abstand höchsten Wert dar (Infas 2017; Freudenau/
Reutter 2007: 5).
Was zu einer gewissen Unempfindlichkeit der in ländlichen Gebieten lebenden
Verbraucher gegenüber den mitunter sehr weiten Distanzen zu den Einkaufsstätten
führt, ist die hohe PKW-Verfügbarkeit (Klein 2007: 56). So haben in ländlichen
Gemeinden nur etwa 10 % der Personen über 18 Jahren gar keine Möglichkeit, ein
Auto zum Einkaufen zu nutzen, weil sie entweder keinen Führerschein besitzen oder
keinen PKW zur Verfügung haben. Demgegenüber haben fast 90 % der im
ländlichen Raum Lebenden jederzeit oder zumindest gelegentlich die Möglichkeit, ein
Auto zu nutzen (Infas 2017). Wenn ein Auto vorhanden ist, wird dieses in ländlichen
Räumen bis ins hohe Alter zum Einkaufen genutzt (Popowski 2012: 37f).

16
   In geringer entwickelten Ländern hingegen, wo die Nachfrager die Geschäfte oft nur zu
Fuß erreichen können, findet sich typischerweise ein dichtes Netz kleiner Ladengeschäfte in
unmittelbarer Nähe der Wohnstandorte (Kulke 2005: 18).
17
   MIV = Motorisierter Individualverkehr
18
    Die Kategorie ‚auf dem Land‘ wird in der von Freudenau und Reutter (2007)
herangezogenen Erhebung (‚Mobilität in Deutschland 2002 MiD‘, im Auftrag des
Bundesministeriums für Verkehr-, Bau- und Wohnungswesen) von fünf anderen städtischen
Kategorien unterschieden und bezeichnet Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern.
                                                                                        20
Wie    bereits    angesprochen,       verfügen       bestimmte    Personengruppen          wie
Alleinerziehende, Jugendliche, Menschen mit Behinderung, Familien mit geringem
Einkommen und ältere Menschen seltener über einen PKW als andere. Sie sind
daher in besonderem Maße auf Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe angewiesen und
durch die Ausdünnung des Versorgungsnetzes in ihrer Selbstständigkeit beschränkt
(Freudenau/ Reutter 2007: 42). Von dieser Ausdünnung sind ländliche und
suburbane Räume besonders stark betroffen. Dies sind gleichzeitig die Gebiete mit
den   höchsten    Alterungsraten.     Deren    Bewohner erleben       einen      Verlust   an
Lebensqualität,     wenn      die     wohnortnahe       Versorgung     wegbricht,        denn
Nahversorgungsgeschäfte dienen oftmals nicht nur als Einkaufsmöglichkeiten,
sondern auch als einen Ort oder Ortsteil prägende Stätten sozialer Begegnung. So
lange es vorhanden ist, stellt ein Geschäft im Dorf – ähnlich wie ein Dorfgasthaus –
einen „Umschlagplatz für lokale Nachrichten, der wesentlich zur dörflichen
Lebensqualität beiträgt“ dar (Henkel 2012: 102).
Besonders für ältere Menschen ist der tägliche Einkauf ein wichtiges, den Alltag
strukturierendes Element, welches dazu beiträgt, selbstständig bleiben zu können
und sozial eingebunden zu sein (BMVBS, 2011a).19
Wie bereits erwähnt, hängen auch das verfügbare Einkommen und die Mobilität
zusammen. Bei einem Haushaltsnettoeinkommen von weniger als 2.000 Euro
verfügen Haushalte „überdurchschnittlich oft über kein eigenes Auto“ (Kuhlicke et al.
2006: 213). Daher sind Haushalte mit niedrigerem Einkommen deutlich weniger
mobil als einkommensstärkere Haushalte und dementsprechend in höherem Maße
auf die Nahversorgung angewiesen. Auch zwischen den Geschlechtern lassen sich
Unterschiede bezüglich der Mobilität ausmachen: Frauen verfügen statistisch
gesehen seltener über ein Auto als Männer. Zudem gilt die Mehrfachbelastung von
Frauen durch Beruf und Familie in ländlichen Räumen als besonders hoch. Um Zeit
zu sparen wird daher zum Beispiel das Pendeln zum Arbeitsplatz oft mit anderen
Erledigungen kombiniert, so dass komplexe Wegeketten entstehen (Benzel 2006).
Die   begrenzte    Zeit    stellt   eine   weitere    wichtige   Einflussgröße     auf     das
Einkaufsverhalten dar, auf die im Folgenden näher eingegangen wird.

19
  Auf die hier angesprochenen sozialen Funktion von Nahversorgern wird in Kapitel 8.13
ausführlich eingegangen.
                                                                                            21
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