Visual History - Bilder machen Geschichte - Nadja BrauN

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Visual History – Bilder machen Geschichte

N adja B raun

„Geschichte tritt uns entgegen als ein auf Überrest                 schaftlichen Realität, sondern dass sie eine Vielfalt
und Tradition gestützter Vorstellungskomplex von                    an Positionen zwischen diesen Extremen besetzen.
Vergangenheit, der durch das gegenwärtige Selbst-                   Sie legen Zeugnis ab von den stereotypisierten, aber
verständnis und durch Zukunftserwartungen struk-                    graduell sich wandelnden Sichtweisen, die Individu-
turiert und gedeutet wird. Nur in dieser Form haben                 en oder Gruppen auf die soziale Welt haben, inklusi-
wir Geschichte in unserer Vorstellung; sie ist eben                 ve der Welt ihrer eigenen Imagination.“
nicht die reale Vergangenheit selbst oder ihr Abbild,                  Die Deutung der Vergangenheit wird also wesent-
sondern ein Bewusstseinskonstrukt“, heißt es bei                    lich beeinflusst durch diese Standortgebundenheit,
Karl-Ernst Jeismann. Der emeritierte Professor für                 was zur Folge hat, dass den Ereignissen aus der
Neuere Geschichte und Didaktik an der Universität                   Retrospektive nicht selten ein ganz anderer Sinn
Münster geht davon aus, „dass Geschichte nur in                     zukommen kann. Außerdem darf nicht vergessen
dieser Form existiert, nicht als Abbild vergangener                 werden, dass sich das Konstrukt Geschichte nicht
Realität, sondern als ihre aus Zeugnissen erstellte,                nur in Abhängigkeit von der jeweiligen Gesellschaft
auswählende und deutende          Rekonstruktion.“                 entwickelt, sondern sich auch stetig verändert. Laut
   Dabei ist Geschichte natürlich immer gebunden                    Jan Assmann wird die Geschichte „fortwährend von
an eine bestimmte Kultur, Zeit, Wertevorstellung                    den sich wandelnden Bezugsrahmen der fortschrei-
etc., so dass ein Historiker nie in der Lage sein wird,             tenden Gegenwart her reorganisiert.“ Auf die Bedeu-
vergangene Ereignisse aus der Perspektive der Han-                  tung von Bezugsrahmen hat bereits der französische
delnden heraus zu beschreiben, sondern immer nur                    Soziologe Maurice Halbwachs hingewiesen, der sich
aus seinem eigenen Erfahrungshorizont: „Geschich-                   in seinen Arbeiten mit dem kollektiven Gedächtnis
te ist auf eine bestimmte Weise Teil des gegenwär-                  (mémoire collective) beschäftigte und dabei immer
tigen Selbstverständnisses sowohl des einzelnen                     wieder die soziale Bedingtheit des menschlichen
wie von Gruppen und der gesamten Gesellschaft,                      Gedächtnisses, das die Basis für die Konstruktion
in dem ihre Werte, Interessen, Erwartungen und                      von Geschichte liefert, betonte. So wenig wie seiner
schließlich auch Handlungen gründen.“                              Ansicht nach das Gedächtnis außerhalb des sozi-
   Das Konstrukt ‚Geschichte‘ stützt sich nun auf                   alen Bezugsrahmens (cadres sociaux) funktionieren
ganz unterschiedliche Quellen und deren Interpreta-                 kann, dessen „sich die in einer Gesellschaft leben-
tion, wobei m. E. die Bildquellen eine ganz besondere               den Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu
Rolle spielen. Von diesen sagt Karl-Ernst Jeismann                  fixieren und wiederzufinden“, so wenig ist auch
ähnlich wie Peter Burke, „dass Bilder weder eine                    Geschichte unabhängig von diesen Komponenten.
Widerspiegelung gesellschaftlicher Realität sind                    Doch auch das kollektive Gedächtnis ist nicht gleich-
noch ein Zeichensystem ohne Bezug zur gesell-                       bedeutend mit ‚Geschichte‘, da seine Träger jeweils
                                                                    zeitlich und räumlich begrenzte Gruppen sind, dem-
 Karl-Ernst Jeismann, Geschichtsbewusstsein als zentrale
                                                                    zufolge kann man „die Totalität der vergangenen
  Kategorie des Geschichtsunterrichts, in: G. Niemitz (Hg.),
  Aktuelle Probleme der Geschichtsdidaktik, Stuttgart 1990,         Ereignisse nur unter der Voraussetzung zu einem
  S. 49.                                                            einzigen Bild zusammenstellen, daß man sie vom
 Karl-Ernst Jeismann, Geschichtsbewußtsein, in: K. Berg-
  mann et al. (Hgg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, Seelze
  41992, S. 40-43, 40.                                              	 Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische
 Karl-Ernst Jeismann, „Geschichtsbewußtsein“ als zentrale             Quelle, Berlin 2003, S. 211.
  Kategorie der Didaktik des Geschichtsunterrichts, in: ders.,       Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinne-
  Geschichte und Bildung. Beiträge zur Geschichtsdidaktik              rung und politische Identität in frühen Hochkulturen, Mün-
  und zur Historischen Bildungsforschung, hg. u. eingeleitet v.        chen 1992, S. 41f.
  W. Jacobmeyer u. B. Schönemann, Paderborn 2000, S. 46-            	 Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen
  72, 48.                                                              Bedingungen, Frankfurt/M. 1985, S. 121.

                                                                  IBAES X • Das Ereignis                                      35
Gedächtnis jener Gruppen löst, die sie in Erinnerung                  allgemein längst nicht mehr gezweifelt und es konnte
behielten, daß man die Bande durchtrennt, durch                       darüber hinaus festgestellt werden, dass sie nicht
die sie mit dem psychologischen Leben jener sozi-                     etwa das Abbild vergangener Realität sind, son-
alen Milieus verbunden waren, innerhalb derer sie                     dern mehr: Bilder konditionieren Sehweisen, prägen
sich ereignet haben, und daß man nur ihr chrono-                      Wahrnehmungsmuster, transportieren historische
logisches und räumliches Schema zurückbehält. Es                      Deutungsweisen und organisieren die ästhetische
handelt sich nicht mehr darum, sie in ihrer Realität                  Beziehung historischer Subjekte zu ihrer sozialen
wiederzuerleben, sondern sie in jene Rahmen einzu-                    und politischen Wirklichkeit. Aus der Gedächtnis-
fügen, in die die Geschichte die Ereignisse einordnet                 und Lernpsychologie ist außerdem bekannt, dass
– Rahmen, die den Gruppen selbst fremd bleiben –,                     Bilder affektiv-motivationale und kognitive Funktion
und sie durch gegenseitige Gegenüberstellung zu                       erfüllen, d.h., sie wecken Interesse, fokussieren Auf-
definieren. Dies will besagen, daß die Geschichte                     merksamkeit und bewegen emotional mehr als Texte.
sich vor allem für die Unterschiede interessiert und                  Daher werden gerade im Geschichtsunterricht, wo
von Ähnlichkeiten absieht, ohne die es indessen kein                  den nachfolgenden Generationen die Vergangen-
Gedächtnis gäbe, da man sich nur an Geschehnisse                      heit nähergebracht werden soll, Bilder eingesetzt.
erinnert, deren gemeinsamer Zug die Zugehörigkeit                     Neben dem Lehrbuch und der Tafel zählen sie zu den
zu ein und demselben Bewußtsein ist.“ Demzufol-                      ältesten und wichtigsten Hilfsmitteln der Vermittlung
ge beginnt für Maurice Halbwachs Geschichte erst,                     von Geschichte. Schon Comenius war sich über die
wenn die Traditionen, die ihren Sitz in den kollektiven               Bedeutung von Abbildung im Klaren; wie kein ande-
Gedächtnissen haben, wegfallen.                                       res Medium können sie zur „Vergegenwärtigung und
     Diese Definition von Geschichte im Hinterkopf                    Verlebendigung abstrakter oder unbekannter Sach-
bewahrend soll nun im Folgenden die Quellengat-                       verhalte beitragen, Betroffenheit bei den Betrachtern
tung ‚Bilder‘ genauer betrachtet werden. Dabei geht                   auslösen und den Lernerfolg sichern.“10 Gerade die
es insbesondere darum aufzuzeigen, dass gerade sie                    Bilder, die in den Schulbüchern immer wieder auf-
als essentieller Bestandteil der Geschichte betrach-                  tauchen, haben dabei das Potential, zu Signal- oder
tet werden können, und zu erläutern, inwiefern Bild-                  Leitbildern zu werden – sogar zum historischen Argu-
quellen sogar in der Lage sind, selbst Geschichte zu                  ment.11 Dazu zählen aus der neueren Geschichte
machen.                                                               beispielsweise das Foto des NVA-Soldaten, der in
     Zunächst soll jedoch kurz die Forschungsrichtung                 Berlin über den Stacheldraht in den Westen flieht,
der Visual History vorgestellt werden, die es sich in                 oder der Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für
den letzten Jahrzehnten zur besonderen Aufgabe                        die Ermordeten des Warschauer Ghettoaufstandes
gemacht hat, die Bildquellen stärker in geschichts-                   in Warschau am 7. Dezember 1970 (Abb. 1), der in
wissenschaftliche Untersuchungen einzubeziehen.                       unserem kulturellen Gedächtnis besonders lebendig
Parallel zur Oral History hat sich für diese Richtung                 ist. Wenngleich umstritten ist, ob der damalige Bun-
der Begriff ‚Visual History‘ etabliert, der mehr umfasst              deskanzler die Geste spontan oder geplant vollzog,12
als allein die Historische Bildkunde und zurückgeht                   wurde die Fotografie, die diesen Moment festhielt,
auf den Wiener Zeithistoriker und Bildwissenschaft-                   zu einer Bildikone des 20. Jahrhunderts und macht
ler Gerhard Jagschitz, der zu Beginn der 90er Jahre                  überdies deutlich, wie Symbole sich verselbstän-
des 20. Jahrhunderts verstärkt um eine ganzheit-                      digen können. Die Wirkung dieser Geste war nur
liche, sozialwissenschaftliche Erfassung und Aus-                     deshalb so groß, weil Brandt damit auf eine im christ-
wertung von Bildquellen bemüht war. Inzwischen                        lichen Bereich weit verbreitete und bildlich häufig
befinden wir uns bereits mitten im so genannten                       reproduzierte Unterwerfungsgeste zurückgriff. Und
visual turn. So wird am Potential der Bildquellen
                                                                         len Kultur, Berlin 1997, S. 15-40.
                                                                      10 Klaus Bergmann/ Gerhard Schneider, Das Bild, in: H.-J. Pan-
	 Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt/M.            del/ G. Schneider (Hgg.), Handbuch Medien im Geschichts-
   1991, S. 73.                                                          unterricht, Schwalbach/Ts. 1999, S. 211-254, 212f.
	 Gerhard Jagschitz, Visual History, in: Das audiovisuelle           11 Bergmann/Schneider, Das Bild, S. 215.
   Archiv Nr. 29/30, 1991, S. 23-51.                                  12 Klaus Dieter Hein-Mooren, Spontan oder geplant? Bemer-
	 Vgl. dazu ausführlicher William T. Mitchell, Der Pictorial            kungen zu Willy Brandts Kniefall in Warschau, in: Geschichte
   Turn, in: Ch. Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuel-      in Wissenschaft und Unterricht 55, 2004, S. 744-753.

36                                        Braun • Visual History
die polnische Regierung ist mittlerweile jedoch weit-
                                                                      gehend vergessen, die Geste Brandts wird lediglich
                                                                      als Symbol für die Wende in den deutsch-polnischen
                                                                      Beziehungen nach Unterzeichnung der Ostverträge
                                                                      und damit als wichtiger Schritt zur Beendigung des
                                                                      Kalten Krieges gedeutet.15
                                                                         Das Beispiel führt vor Augen, wie sich die Bedeu-
                                                                      tungen, die mit solchen Schlüsselbildern verbunden
                                                                      sind, im Laufe der Zeit verändern können. Aus der
                                                                      neueren Geschichte gibt es zudem ein Beispiel für
                                                                      eine Bildikone, das zeigt, wie ein und dasselbe Bild
                                                                      sogar zur gleichen Zeit in unterschiedlichen Län-
Abb. 1: Kniefall (nach: www.bundestag.de/blickpunkt/
bilderInhalte/0501/500px/0501025.jpg; 10.11.2008)                     dern vollkommen andere Assoziationen hervorrufen
                                                                      kann. Es handelt sich hierbei um die so genannte
wenngleich Brandt der katholischen Religion fern                      Mushroom-Cloud, die atomare Wolke, die am 6.
stand und vermutlich keinesfalls an Devotion im                       August 1945 über Hiroshima von George Caron, dem
konfessionellen Sinn dachte, so wirkte sein Kniefall                  Heckschützen des Trägerflugzeugs „Enola Gay“, mit
auf die Menschen damals wie heute wie ein Zeichen                     einer Handkamera fotografiert wurde (Abb. 2). In
von Schuldbekenntnis und der Bitte um Vergebung,                      Europa ist der Atompilz bis heute das Symbol für
derer er selbst als emigrierter Widerstandskämpfer                    den totalen Krieg, die unermessliche Zerstörungs-
des NS-Regimes im Grunde gar nicht bedurfte.13                        kraft von Atomwaffen und die Ikone einer neuen
Was heutzutage jedoch fast vergessen scheint, ist,                    Bedrohung in Gestalt einer stets drohenden atoma-
dass Brand mit diesem Kniefall nicht allein seine
Ergriffenheit angesichts der Taten der Nationalso-
zialisten ausdrücken wollte, sondern gleichsam auf
die Ereignisse in Polen nur einige Jahre zuvor auf-
merksam machen wollte. So machten der polnische
Staats- und Parteichef Wladyslaw Gomulka und sein
politischer Gegner, Innenminister General Mieczys-
law Moczar, für die beginnende Wirtschaftskrise im
Land die Juden verantwortlich – und waren sich in
diesem Punkt ausnahmsweise sogar einig. Diese
Anschuldigungen wurden rasch von der breiten
Masse der polnischen Bevölkerung aufgegriffen, so
dass im März desselben Jahres eine antizionistische
Regierungskampagne dazu führte, dass mehr als
18.000 polnische Juden das Land verlassen muss-
ten.14 Die Bedeutung des Kniefalls als Mahnung an

13 Astrid Wenger-Deilmann/Frank Kämpfer, Handschlag –
   Zeigegestus – Kniefall. Körpersprache und Pathosformel in
   der visuellen politischen Kommunikation, in: G. Paul (Hg.),        Abb. 2: Mushroom-Cloud (nach: de.wikipedia.org/wiki/Atom-
   Visual History, S. 188-205, 202; vgl. dazu auch die vielzi-        bombenabwürfe_auf_Hiroshima_und_Nagasaki; 10.11.2008)
   tierten Worte aus dem Spiegel, Nr. 51, 14.12.1970, S. 29:
   „Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es          tisches Kalkül, Berlin 2000.
   nötig haben, aber nicht da knien – weil sie es nicht wagen         15 Vgl. dazu Astrid Wenger-Deilmann/Frank Kämpfer, Hand-
   oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt               schlag – Zeigegestus – Kniefall. Körpersprache und Pathos-
   er sich zu einer Schuld, an der er selbst nicht zu tragen hat,        formel in der visuellen politischen Kommunikation, in:
   und bittet um eine Vergebung, derer er selbst nicht bedarf.           G. Paul (Hg.), Visual History, S. 188-205, 200f.; sowie Valen-
   Dann kniet er da für Deutschland.“                                    tin Rauer, Geste der Schuld, in: B. Giesen/Ch. Schneider
14 Vgl. dazu ausführlicher Beate Kosmala (Hg.), Die Vertrei-             (Hgg.), Tätertrauma. Nationale Erinnerung im öffentlichen
   bung der Juden aus Polen 1968. Antisemitismus und poli-               Diskurs, Konstanz 2004, S. 133-155.

                                                                    IBAES X • Das Ereignis                                          37
ren Apokalypse. In den USA hingegen galt die Mus-                 dezu von den Bildbeschaffungsstellen der deutschen
hroom-Cloud lange Zeit als Zeichen des Sieges und                 Schulbuchverlage hergestellt.“20
der militärischen und technologisch-wissenschaft-                    Bei diesen Bildern handelt sich auch um jene
lichen Überlegenheit der eigenen Nation, was damit                Wiedergebrauchsbilder, die laut Jan Assmann jede
zusammenhängen mag, dass die Veröffentlichung                     Gesellschaft besitzt – und jede Epoche. Sie werden
der Aufnahme erst nach der Kapitulation Japans                    gepflegt, um das Selbstbild zu stabilisieren und ein
erfolgte.16 Der Atompilz wurde geradezu zu einem                  kollektiv geteiltes Wissen über die Vergangenheit zu
Werbeträger für ganz unterschiedliche          Zwecke.17          vermitteln, auf das die Gruppe ihr Bewusstsein von
     Dass solche Bilder zu Schlüsselbildern und von               Einheit und Eigenart stützt. Aus diesem Grund erfül-
Generation zu Generation weiter transportiert wer-                len sie eine normative und formative Funktion: Als
den, ist zum einen auf den großen Einfluss der Print-             Medien des kulturellen Gedächtnisses einer Gesell-
medien und des Fernsehens zurückzuführen, zum                     schaft wirken sie einheitsstiftend und handlungsori-
anderen kommt Schulbuchverlagen eine nicht zu                     entierend, sie erzeugen und stabilisieren kollektive
unterschätzende Verantwortung zu, denn gerade                     Identität und sind in der Lage, die individuelle Iden-
in den Standardlehrwerken wird auf kanonisierte                   tität daraufhin zu orientieren.21 Dabei wird bewusst
Bilder zurückgegriffen bzw. tragen die Schulbücher                auf präexistente Werte, Normen, Überzeugungen
ihrerseits wieder zur Kanonisierung dieser Bilder bei.            und Einstellungen einer Gesellschaft zurückgegrif-
Dies geschieht nicht einmal bewusst, sondern die                  fen, um insbesondere in Krisenzeiten für die Stabili-
Verlage lassen die Bücher aus Kostengründen häufig                tät der bestehenden Ordnung zu garantieren – oder
redaktionell nur leicht verändern. Hans-Jürgen Pan-               auch eine neue zu legitimieren.
del verweist darauf, dass die Leitung des Bildarchivs                Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass
Preußischer Kulturbesitz (bpk) davon ausgeht, dass                gerade Bilder, die historische Ereignisse dar-
sich 80% der von Schulbuchverlagen angeforderten                  stellen, gezielt inszeniert und eingesetzt werden.
Bildquellen auf einen kleinen Bestand beziehen, so                Über ihre Wirkungsmöglichkeiten sagt der Flens-
dass die Zahl an Bildern, die für diese Zwecke genutzt            burger Zeithistoriker Gerhard Paul: „Gemeinsam
werden, seit Jahren konstant geblieben ist, weshalb               mit bereits abgespeicherten historischen und kultu-
er feststellt: „Wir erblicken meist gute Bekannte.“18             rellen Erfahrungen werden diese mentalen Bilder zu
Es liegt daher nahe anzunehmen, dass sich das                     Bildmustern und Klischees geordnet, die als mono-
visuelle Gedächtnis über mehrere Schülergenera-                   chrome Filter die Wahrnehmung präformieren und
tionen hinweg reproduziert. Da Schulbücher noch                   gegebenenfalls als Bildarchiv die Erinnerung prä-
dazu einen halbamtlichen Charakter haben, weil sie                gen. Erlebtes übersetzt sich in Bilder, wird in Bildern
zumindest der Genehmigung der Bildungsbehör-                      in unserem Gedächtnis gespeichert, die sich wie-
den bedürfen, erscheint das in ihnen verwendete                   derum wie Brillengläser vor unsere Wahrnehmung
Quellenmaterial besonders autorisiert, was dazu bei-              schieben und unser Verhalten in neuen Situationen
trägt, dass Fotos aus Lehrwerken im individuellen                 mitbestimmen können.“
und im kollektiven Bildergedächtnis besonders fest                   Äußere Bilder generieren demnach innere, men-
verankert werden.19 Hans-Jürgen Pandel zufolge                    tale Bilder, die aus vielen Quellen gespeist werden,
wird „das visuelle deutsche Gedächtnis also gera-                 und diese Bilder im Kopf leiten dann ihrerseits wie-
                                                                  der die Rezeption äußerer.22 Die stereotypen inneren

16 Gerhard Paul, Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die
   Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004,           20 Pandel, Bild und Film, S. 164.
   S. 251.                                                        21 Jan Assmann/ Tonio Hölscher (Hgg.), Kultur und Gedächt-
17 Vgl. dazu Christoph Hamann, Bilderwelten und Weltbilder.          nis, Frankfurt/M. 1988, S. 15; sowie ders., Das kulturelle
   Fotos, die Geschichte(n) mach(t)en, Berlin 2002, S. 66ff.         Gedächtnis, S. 56 u. 75ff.
18 Hans-Jürgen Pandel, Bild und Film. Ansätze zu einer Didak-     22 Vgl. zur Dialektik von äußeren und inneren Bildern Michael
   tik der „Bildgeschichte“, in: B. Schönemann et al. (Hgg.),        Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps
   Geschichtsbewusstsein und Methoden historischen Ler-              des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002; sowie
   nens, Weinheim 1998, S. 157-168, 163.                             Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bild-
19 Vgl. dazu Christoph Hamann, Visual History und Geschichts-        wissenschaft, München 2001; und Thomas Kleinspehn,
   didaktik. Beiträge zur Bildkompetenz in der historisch-poli-      Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der
   tischen Bildung, Berlin 2007, S. 50f.                             Neuzeit, Reinbek 1989.

38                                      Braun • Visual History
Deutungsmuster des jeweiligen Betrachters, die sich                und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender
aufgrund seiner lebensgeschichtlichen Erfahrungen                  Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche
und des kulturellen Einflusses seiner Umwelt ausge-                Menschenkörper.“ Nach dieser Zerstörung der ver-
bildet haben, lenken also in entscheidendem Maße                   trauten inneren Bilder setzte der Kampf um sie mit
die Wahrnehmung und machen eine vorurteilsfreie                    einer Flut perfekter äußerer Bilder ein – in Gestalt
Betrachtung so gut wie unmöglich; der Rezipient                    von Fotos, Plakaten und vor allem Filmen26 –, denn
eines Bildes greift fast zwangsläufig auf historisch               es war klar, dass Bilder das Verhalten der Menschen
und kulturell geprägte Sehkonventionen sowie                       entscheidend beeinflussen können.27
eigene Seherfahrungen und das eigene Vorwissen                        Walter Benjamin behauptet sogar: „Geschichte
zurück. Demzufolge ist die Deutung des Gesehenen                   zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten“,28 Harald
immer auch Erinnern. Alle Bilder, die wir wahrneh-                 Welzer geht davon aus, dass es überhaupt keine bild-
men, werden im Kontext zu schon einmal Gese-                       lose Erinnerung gibt: „Das Gedächtnis braucht die
henem erfasst: „Unsere Wahrnehmungen sind keine                    Bilder, an die sich die Geschichte als erinnerte und
isomorphen Abbildungen einer wie auch immer                        erzählbare anknüpft, und es gibt zwar Bilder ohne
gearteten Wirklichkeit. Sie sind vielmehr das Ergeb-               Geschichte, aber keine Geschichte ohne Bilder“29
nis hochkomplexer Konstruktionen und Interpreta-                   und laut Gottfried Korff ist das „soziale Gedächtnis
tionsprozesse, die sich sehr stark auf gespeichertes               […] immer ein ‚Bildgedächtnis‘.“30
Vorwissen    stützen.“23   Darüber hinaus prägen sich                 Eben aus diesen Gründen wurden und werden Bil-
Ereignisse durch Bilder auch nachweislich leichter                 der bewusst eingesetzt, um Sinn zu generieren und
und nachhaltiger im Gedächtnis ein.24 Die mensch-                  politische Wirkungsmacht zu entfalten. Bilder sind
liche Erinnerung wird also entscheidend über Bilder                nicht einfach historische Dokumente, sondern kön-
gesteuert: Bilder sind Quelle für Erinnerungskons-                 nen selbst Realität und damit Geschichte machen,
truktion und Geschichtspolitik.                                    anstatt nur über historische Ereignisse zu berich-
   In diesem Zusammenhang ist auch beachtens-                      ten. Sie sind nicht nur Reflexe der Realität, sondern
wert, dass Bilder häufig vorbewusst gespeichert                    können ihrerseits historische Prozesse beeinflussen,
werden; gerade die Wirksamkeit der vorbewuss-                      indem sie Meinungen bilden, Ängste schüren oder
ten Bildwahrnehmung ist von Bedeutung, wenn es                     gezielte Gegenbilder zur herrschenden gesellschaft-
darum geht, dass Bilder gezielt eingesetzt werden,                 lichen Wirklichkeit liefern.31
um den Betrachter zu manipulieren,25 indem ver-
                                                                   26 Irmgard Wilharm, Geschichte, Bilder und die Bilder im Kopf,
sucht wird, die inneren Bilder zu verändern, durch                     in: dies. (Hg.), Geschichte in Bildern. Von der Miniatur bis
eine Flut äußerer, die auf sie einwirkt. Walter Ben-                   zum Film als historische Quelle (= Geschichtsdidaktik. Studi-
jamin hat diesen Prozess am Beispiel des Ersten                        en, Materialien. Neue Folge 10), Pfaffenweiler 1995, S. 7-24,
                                                                       19f.
Weltkrieges verdeutlicht, wo versucht wurde, die
                                                                   27 Vgl. dazu Jacques Le Goff, L’imaginaire medieval. Essais,
Grauen des Krieges durch emphatische Apotheo-                          Paris 1985, S. VI: „Mais nous savons de mieux en mieux avec
se desselben zu ersetzen. Er schreibt dazu: „[N]ie                     la psychoanalyse, avec la sociologie, avec l’anthropologie,
                                                                       avec la réflexion sur les media, que la vie et de l’homme et
sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden
                                                                       des societies est autant liée à des images qu’à des réalités
als die strategischen durch den Stellungskrieg, die                    plus palpable. Ces images ne se limitent pas à celles qui
wirtschaftlichen durch die Inflation, die sittlichen                   s’incarnent dans la production iconographique et artistique,
durch die Machthaber. Eine Generation, die noch                        elles s’étendent à l’univers des images mentales.”
                                                                   28 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk. Bd. 1, hg. V. R. Tie-
mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand
                                                                       demann, Frankfurt/M. 1983, S. 596.
unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der                    29 Harald Welzer, Das Gedächtnis der Bilder. Eine Einleitung, in:
nichts unverändert geblieben war als die Wolken                        ders. (Hg.), Die Erinnerung hat ein Gesicht. Fotografien und
                                                                       Dokumente zur nationalsozialistischen Judenverfolgung in
23 Wolf Singer, Das Bild in uns – Vom Bild zur Wahrnehmung,            Dresden 1933-1945, Leipzig 1998, S. 8.
   in: Ch. Maar/ H. Burda (Hgg.), Iconic Turn: Die neue Macht      30 Gottfried Korff, Kulturelle Überlieferung und mémoire
   der Bilder, Köln 2004, S. 56-76, 65.                                collective. Bemerkungen zum Rüsenschen Konzept der
24 Vgl. dazu ausführlicher Johannes Engelkamp, Gedächtnis              Geschichtskultur, in: K. Fröhlich (Hg.), Geschichtskultur
   für Bilder, in: K. Sachs-Hombach/ K. Rehkämper (Hgg.), Bild         (= Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 3), Pfaffenweiler 1992,
   – Bildwahrnehmung – Bildverarbeitung. Interdisziplinäre             S. 51-61, 52.
   Beiträge zur Bildwissenschaft, Wiesbaden 1998, S. 31-47.        31	 Heike Talkenberg, Von der Illustration zur Interpretation:
25 Hamann, Visual History, S. 36.                                      Das Bild als historische Quelle. Methodische Überlegungen

                                                                 IBAES X • Das Ereignis                                         39
Aufgrund dieser konstruktiven Leistung sind Bilder                     Symbol für die Macht und Überlegenheit Pharaos,
nicht zu unterschätzende Waffen in politischen und                     das einen Zustand der Dauerhaftigkeit repräsentie-
militärischen Auseinandersetzungen. Gerade Kriegs-                     ren und garantieren sollte. Laut Sylvia Schoske wird
darstellungen wurden daher schon in vorchristlicher                    die „Bestimmung des ägyptischen Königs, als ‚Herr
Zeit von Machteliten eingesetzt, um die Vorstellung                    der Welt‘ den Zustand der Maat, der Weltordnung, zu
von der Überlegenheit des Herrschers zum Ausdruck                      garantieren […] in Bezug auf die Außenpolitik auf der
zu bringen und im kulturellen Gedächtnis der Zeitge-                   bildlichen Ebene im Motiv des ‚Erschlagens der Fein-
nossen lebendig zu halten. Zu den frühen Belegen                       de‘ komprimiert“ und die großformatige Darstel-
zählen Darstellungen aus dem alten Ägypten; das                        lung „verkündet so weithin sichtbar den Anspruch
bekannteste und am weitesten verbreitete Motiv ist                     des Pharao auf die Herrschaft über die Welt.“35 Im
hier mit Sicherheit das so genannte Erschlagen der                     Zusammenhang mit vergleichbaren griechischen
Feinde. Zu den ersten Belegen zählen eine Wandma-                      Darstellungen hat Klaus Stähler festgestellt, dass
lerei im Herrschergrab 100 von Hierakonpolis (Abb.                     die „Dokumentation des Sieges in größtmöglicher
3)32 und ein Relief auf der Palette des Königs Narmer                  Öffentlichkeit […] eine zusätzliche Bewertung des
aus der O. Dyn. (JE 14716) (Abb. 5).33 Sie sind Vor-                   angesprochenen Ereignisses (gibt). Es geht neben
läufer der überlebensgroßen Darstellungen Pharaos                      dem Verbindlichen des Erfolges um die Ankündi-
auf den Wänden der Tempel des Neuen Reiches und                        gung eines wiederholbaren Götterschutzes.“36
der Spätzeit (Abb.      7).34
                                            Abb. 3: Grab 100 in
                                            Hierakonpolis (nach:
                                            Quibell/Green, Hiera-
                                            konpolis II, Tf. 76)

                                            Abb. 4: Skarabäen-
                                            unterseite     (nach:
                                            Petschel/von     Falk,
                                            Pharao siegt immer,
                                            S. 65, Nr. 61)

Bei diesen Abbildungen ging es anfangs vielleicht
tatsächlich noch darum, einmalige historische Ereig-
nisse festzuhalten, schon sehr bald wurde das Motiv
des Erschlagens der Feinde aber zu einem wichtigen

   zur Historischen Bildkunde, in: Zeitschrift für Historische
   Forschung 21, 1994, S. 289-313, 312.
32 James E. Quibell/Frederick W. Green, Hierakonpolis II
                                                                       Abb. 5: Narmer Palette (nach: Davis, Masking the Blow, S.
   (= BSAE 5), London 1902, Tf. LXXVI.
                                                                       163)
33 Krzysztof M. Cialowicz, Symbolika Przedstawien Wladcy
   Egipskiego w Okresie Predynastycznym, Krakau 1993, S. 51,           35 Sylvia Schoske, Grenzstele Ramses‘ II., in: S. Petschel/ M.
   Abb. 16; vgl. zur Narmer-Palette auch Whitney Davis, Mas-              von Falck (Hgg.), Pharao siegt immer, S. 59-60, 59; vgl. zum
   king the Blow. The Scene of Representation in Late Prehisto-           Motiv des Niederschlagens der Feinde auch ausführlich
   ric Art (= California Studies in the History of Art 30), Berkeley      dies., Das Erschlagen der Feinde: Ikonographie und Stilistik
   u.a. 1992, bes. S. 161ff.                                              der Feindvernichtung im alten Ägypten, Ann Arbor 1994.
34 Zur Entwicklung dieses Motivs vgl. Regine Schulz, Das               36 Klaus Stähler, Griechische Geschichtsbilder klassischer Zeit
   Abbild vom Kampf und Sieg, in: S. Petschel/ M. von Falck               (= Eikon. Beiträge zur antiken Bildersprache 1), Münster
   (Hgg.), Pharao siegt immer, S. 68-71.                                  1992, S. 10.

40                                         Braun • Visual History
Abb. 7: Ramses III. beim Erschlagen der Feinde, Medinet Habu
                                                                  (Foto: Braun)

                                                                  Herrschaftsanspruch Pharaos vor Augen führen
                                                                  und gleichzeitig auf magische Weise die Grenzen
                                                                  des ägyptischen Reiches sichern sollte.38 Abge-
                                                                  sehen davon haben sich sogar Privatleute dieser
                                                                  Darstellung bedient und auf ihren Stelen das wir-
                                                                  kungsmächtige Bild des regierenden Herrschers
Abb. 6: Privatstele (Louvre E16373) (nach: Schulman, Ceremo-      beim Erschlagen der Feinde übernommen (Abb. 6).
nial Execution, Abb. 6)
                                                                  Wenngleich Alan R. Schulmann davon ausgeht, dass
Selbst wenn daher im Sockelbereich der ägypti-                    es sich dabei um zeremonielle Hinrichtungen nach
schen Pylone im Kontext dieses Motivs die besiegten               militärischen Siegen handelt,39 die in Anwesenheit
Völker namentlich aufgezeichnet sind, ist dies kein               des Stifters im ersten Hof des Tempels vollzogen
Hinweis für die Wiedergabe realer Geschehnisse,                   wurden, erscheint mir diese Interpretation doch
vielmehr konnte inzwischen nachgewiesen werden,                   zu abwegig; es ist stattdessen davon auszugehen,
dass derartige Namenslisten lediglich von älteren                 dass das Motiv aufgrund seiner apotropäischen Wir-
Monumenten kopiert wurden. Das führte mitunter                    kungsmacht adaptiert wurde.40
dazu, dass selbst Namen von Völkern verwendet                        Aus dem gleichen Grund findet sich die Abbildung
wurden, die zur Zeit der Anbringung längst nicht                  des Herrschers beim Erschlagen der Feinde auf Ska-
mehr existierten. Gleiches gilt für die abgebildeten              rabäenunterflächen (Abb. 4)41 und Waffen. Es gibt
Herrscher; nur weil sie in der Pose des siegreichen               sogar einen Beleg für den Versuch einer rundplasti-
Feldherrn dargestellt werden, ist dies noch kein Beleg            schen Umsetzung dieser Szene. Die Rede ist hier von
für tatsächlich stattgefundene militärische Aktionen,             einer kleinen, unvollendete Elfenbein-Statuette, die
sondern selbst Pharaonen, die nachweislich niemals                sich ursprünglich in der Berliner Sammlung befand,
in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt
waren, wurden auf diese Weise abgebildet.37                       38 Susanne Petschel/ Martin von Falck (Hgg.), Pharao siegt
   Das Motiv des Niederschlagens der Feinde findet                   immer, S. 59.
                                                                  39 Alan R. Schulman, Ceremonial Execution and Public
man nicht nur auf den Tempel-Pylonen, sondern
                                                                     Rewards. Some Historical Scenes on New Kingdom Private
auch auf Statuen und Stelen sowie auf Grenzstelen                    Stelea (= OBO 75), Göttingen 1988.
und Felswänden an den Zugängen zum Niltal, wo                     40 Vgl. Martin von Falk, Stele eine Privatmannes mit Fein-
es den Vorüberziehenden unmissverständlich den                       derschlagungsszene, in: S. Petschel/ M. von Falck (Hgg.),
                                                                     Pharao siegt immer, S. 61.
37 Erhart Graefe, „Propagandaritual“ oder Realität? Abschrec-     41 Vgl. z.B. Martin von Falk, Skarabäus mit dem König beim
   kung durch Bild und Wort, in: S. Petschel/ M. von Falck           Erschlagen eines Feindes, in: S. Petschel/ M. von Falck
   (Hgg.), Pharao siegt immer, S. 54-55, 54.                         (Hgg.), Pharao siegt immer, S. 65.

                                                                IBAES X • Das Ereignis                                     41
heute allerdings zu den Kriegsverlusten zählt, wes-             Flagge auf Iwo Jima „aus medialen Gründen von
halb keine zuverlässigen Angaben hinsichtlich einer             vornherein vorgesehen.“44
Datierung und der Echtheit des Stückes gemacht                     Wie man inzwischen weiß, ist dieses Foto vom 23.
werden   können.42                                              Februar 1945 allerdings eine nachträgliche Inszenie-
     Heutzutage bezeichnet man derartige Bilder auf-            rung, denn offenbar erschien die Aufnahme der Ori-
grund ihrer Häufigkeit, Dauer, Streuung und dem                 ginalszene von Bob Campbell als zu unspektakulär,
damit erreichten kontinuierlich hohen Bekanntheits-             weshalb Colonel Chandler Johnsons einige Stunden
grad als Medienikone oder patriotisches Schlüssel-              nach dem ersten Foto die Szene mit einer größeren
bild. Sie zeichnen sich durch deutliche Präsenz im              Flagge wiederholen ließ.45 Das dabei entstande-
kollektiven Gedächtnis aus und können gezielt als               ne, schon kurze Zeit später mit dem Pulitzer-Preis
Träger für identitätsrelevanten Sinn mit geschichts-            gekrönte Foto wurde zu dem patriotischen Schlüs-
politischer Intention genutzt werden. Mit Jan Ass-              selbild der USA schlechthin. Ein Grund für diese Wir-
mann könnte man auch von einer Erinnerungsfigur                 kung dürfte gewesen sein, dass Rosenthal mit seiner
sprechen; d.h. einem kulturell geformten, gesell-               Aufnahme sicherlich bewusst an frühere Visualisie-
schaftlich verbindlichen Erinnerungsbild, das Träger            rungen des Sieges in der Historienmalerei anknüpfte,
mnemischer Energie ist. Er geht sogar davon aus,                was begünstigte, dass seine Fotografie zum festen
dass Erinnerung nur über den Prozess einer solchen              Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der US-
Versinnlichung überhaupt möglich          ist.43   Durch die    Amerikaner wurde.46 Dem AP-Kriegsfotografen ist
Pflege dieser Bilder wird das Selbstbild einer Gesell-          es dann gerade mit dieser Aufnahme gelungen, eine
schaft stabilisiert und aufgrund dessen eignen sich             für den Durchschnittsamerikaner einfache Botschaft
Schlüsselbilder zur gezielten Nutzung für geschichts-           und ein damit verbundenes Zukunftsversprechen
politische Intentionen.                                         dauerhaft im kollektiven Gedächtnis der US-Ameri-
     Damit die Bilder diesen Erwartungen jedoch                 kaner zu verankern und damit letztlich dem verlus-
gerecht werden, muss der Betrachter in der Lage                 treichen, weit entfernten Krieg einen verständlichen
sein, sie zu verstehen, was gerade dann schwierig               Sinn zu geben: „As the marines on Mt. Suribachi
ist, wenn der Rezipient aus einer anderen Kultur                demonstrated, the United States was still raising its
oder Zeit stammt als der Verfasser. Deshalb soll                flag around the world.“47
zur Verdeutlichung das Beispiel einer Bildikone aus                Kein anderes Foto aus dem Zweiten Weltkrieg
dem 20. Jahrhundert herangezogen werden (Abb. 8).               wurde derart häufig zitiert oder nachgebildet wie
Es handelt sich dabei um die berühmte Aufnahme                  Rosenthals Bildikone und durch Bezugnahme auf
Joe Rosenthals aus dem Jahre 1945, das meistge-
druckte Kriegsfoto allerzeiten, auf dem man eine                44 Jost Dülffer, Über-Helden – Das Bild von Iwo Jima in der
                                                                   Repräsentation des Sieges. Ein Beitrag zur US-amerikani-
Gruppe US-amerikanische Soldaten beim Hissen
                                                                   schen Erinnerungskultur seit 1945, in: Zeithistorische For-
des Sternenbanners auf dem erloschenen Vulkan                      schungen / Studies in Contemporary History 3, 2006.
Mount Suribachi sieht nach der Eroberung der klei-              45 Vgl. dazu auch das Foto vom Hissen der Sowjetfahne auf
                                                                   dem Berliner Reichstag vom 2. Mai 1945, bei dem es sich
nen Pazifikinsel Iwo Jima – eine der opferreichsten
                                                                   ebenfalls um eine nachträgliche Inszenierung handelt, da
Schlachten des Zweiten Weltkriegs (ca. 26000 ver-                  während der Erstürmung kein Fotograf dabei war. Außer-
wundete und tote US-Soldaten). Der Handlung des                    dem musste das Foto nachträglich retuschiert werden,
Hissens einer Fahne kommt in unserer Kultur eine                   nachdem der Fotograf Jewgeni Chaldej beim Entwickeln
                                                                   entdeckte, dass Militon Kantarija, einer der drei Soldaten,
unmissverständliche symbolische Funktion zu, sie
                                                                   mit denen er das Bild nachgestellt hatte, an jeder Hand
ist Ausdruck des Sieges und sollte damit Besitzer-                 jeweils eine – vermutlich geplünderte – Armbanduhr trug.
greifung demonstrieren; daher war das Hissen einer                 Um die Siegesikone „clean“ zu halten, musste die zweite
                                                                   Uhr daher wegretuschiert werden. In dieser Form wurde die
                                                                   Aufnahme dann zu einer der wichtigsten und am häufigsten
                                                                   publizierten sowjetischen Siegesikonen; vgl. dazu Gerhard
                                                                   Paul, Bilder des Krieges, S. 266 u. 308, Abb. 37.
42 Vgl. dazu Schoske, Erschlagen der Feinde, S. 41 m. Abb.      46 Gerhard Paul, Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die
   a226.                                                           Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004,
43 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinne-        S. 301, Abb. 25.
   rung und politische Identität in frühen Hochkulturen, Mün-   47 Susan D. Moeller, Shooting War. Photography and the Ame-
   chen 42002, S. 38.                                              rican Experience of Combat, New York 1989, S. 246.

42                                    Braun • Visual History
Abb. 8: Flaggehissen auf dem Mount Suribachi (großes Foto
nach: www.iwojima.com/raising/lflage2.gif; 10.11.2008; kleines
Foto nach: www.de.wikipedia.org/wiki/Iwo_Jima; 10.11.2008)

dieses historische Ereignis wurde der Mythos von
                                                                   Abb. 9: Flaggehissen am Ground Zero (nach: www.en.wikipedia.
der stets siegreichen US-amerikanischen Nation                     org/wiki/Raising_the_Flag_at_Ground_Zero; 10.11.2008)
seitdem immer wieder reaktiviert.48 Mit der Ver-
öffentlichung verselbständigte sich das Foto aller-                Aufstellen der amerikanischen Flagge am Ground
dings, es diente nicht nur zur Dokumentation eines                 Zero inmitten der noch rauchenden Trümmer. Die
angeblich entscheidenden Sieges und wurde damit                    Wirkungskraft von Franklins Foto beruht gerade dar-
zum „Wunschbild des Sieges“ schlechthin stilisiert,                auf, dass das bekannte Siegesbild von Iwo Jima
sondern es wurde auch als Propaganda-Foto ver-                     zitiert wird, denn der amerikanischen Öffentlichkeit
wendet, das an der Front zum Ansporn der Soldaten                  dürfte diese Assoziation sofort deutlich geworden
dienen sollte und in der Heimat zur Legitimation der               sein – und so fungierte Franklins Aufnahme wie
Fortführung des Krieges. In diesem Zusammenhang                    einst Rosenthals Vorgängerbild dazu, der US-ame-
wurden mehrere Versuche unternommen, aus dem                       rikanischen Bevölkerung im Moment der Niederlage
Bild ein offizielles Denkmal zu machen, das auch                   mittels der vertrauten und Mut machenden Bildsym-
tatsächlich errichtet wurde, und es ging sogar so                  bole über die gerade erlebte Katastrophe hinweg zu
weit, dass man die Aufnahme „als Kunstwerk mit                     helfen. Das verwendete Siegessymbols sollte dem
Leonardo da Vincis ‚Abendmahl‘“ verglich.49                        erlebten Terror den noch zu erringenden Sieg ent-
   Als dann am 11. September 2001 der Terroran-                    gegenhalten und diente im Angesicht der Notlage
schlag auf das Word Trade Center in New York ver-                  der Identitätsvergewisserung und dem Ausdruck der
übt wurde und Hunderte von Feuerwehrleuten den                     Selbstbehauptung der amerikanischen Nation.50
Kampf gegen den Terror aufnahmen, entstand das                        Gerade in Krisenzeiten wurde und wird also ver-
berühmte Foto von Thomas E. Franklin (Abb. 9), das                 mehrt auf kanonisierte Bilder zurückgegriffen, um
unübersehbar das Bild von Rosenthals zitiert: Gezeigt              sich des daran gebundenen kollektiven, verbind-
werden hier drei New Yorker Feuerwehrmänner beim                   lichen, normativen Kanons zur Stabilisierung einer

48 Vgl. dazu ausführlich Jost Dülffer, Über-Helden.                50 Gerhard Paul, Bilder des Krieges, S. 448; Christoph Hamann,
49 Vgl. dazu Dülffer, Über-Helden.                                    Bilderwelten und Weltbilder, S. 12ff.

                                                                 IBAES X • Das Ereignis                                       43
instabil gewordenen Ordnung zu bedienen.51 Man                      te königlicher Propaganda vorwerfen. Wenngleich
nutzt die bekannte Wirkung der bewussten Insze-                     auch die ägyptischen Herrscher die Vergangen-
nierung von Situationen, um Einstellungen, Mentali-                 heit für sich zu usurpieren pflegten, um sich und
täten, Geschichtsbilder und Ähnliches zu generieren.                ihre ‚Taten‘ zu verewigen,56 so wurde doch nie der
Die dabei entstehenden Bilder sollten daher nicht                   Anspruch einer bildlichen Wiedergabe tatsächlicher
historische Ereignisse passiv wiedergeben, son-                     Ereignisse erhoben, sondern im Vordergrund stand
dern selbst Geschichte prägen; sie fungieren als so                 die permanente magische Reifikation, die unab-
genannte „Traditionsmotoren“, sind Sinn produzie-                   hängig war von den wirklichen Geschehnissen. Die
rende und reproduzierende Medien des kulturellen                    Abwehr innerer und äußerer Feinde zählte zu den
Gedächtnisses einer       Gesellschaft.52                           wichtigsten Aufgaben eines ägyptischen Herrschers
     Die Darstellungen geschichtlicher Ereignisse                   und diesbezügliche Darstellungen waren daher fes-
dienen demzufolge in den meisten Fällen nicht                       ter Bestandteil des Bildprogramms insbesondere
der getreuen Wiedergabe tatsächlicher Ereignisse,                   von Monumentalbauten. Die apotropäischen Bilder
sondern sie sind vielmehr ein wichtiges Dokument,                   dienten außerdem dazu, das Haus des Gottes vor
das Auskunft gibt über das zur Zeit der Entstehung                  Feinden zu schützen, indem sie eine „Bastion des
dieser Bilder herrschende Geschichtsbewusstsein,                    geordneten Lebens“ (Dieter Arnold) darstellten, auf
auf welches sie stabilisierend wie auch verändernd                  die permanent die Kräfte des Chaos einwirkten. Der
einwirken,53    denn der Prozess der Kanonisierung                  Herrscher repräsentierte in diesem Kontext die struk-
solcher Bilder ist das Ergebnis der Übereinstimmung                 turierenden Kräfte der Ordnung, die über das durch
von gesellschaftlichen Rezeptionsbedürfnissen und                   die Besiegten personifizierte Chaos siegten. Dem-
Sinnangeboten, die auf Basis dieser Bilder gewonnen                 entsprechend wurde nur dargestellt, was der Ideal-
werden können. Dementsprechend sind die Darstel-                    vorstellung, d.h. der Maat, entsprach, denn wie bei
lungen mit kollektiven Deutungen verbunden und                      Ritualdarstellungen handelt es sich in Ägypten auch
werden deshalb Bestandteil der Geschichtskultur                     bei historischen Bildquellen um rituelles Gesche-
einer Gesellschaft sowie des kollektiven Geschichts-                hen, das nach festen Regeln ablaufen musste. Im
bewusstseins.54                                                     Zweifelsfall wurden daher im Bild auch militärische
     Gerade in Kulturen wie dem alten Ägypten, in                   Aktionen und Siege aufgezeichnet, die in der Reali-
denen nur ein geringer Teil der Bevölkerung lesen                   tät gar nicht oder zumindest nicht auf diese Weise
konnte, wurden verstärkt Bilder eingesetzt, um etwa                 stattgefunden haben.
die Wahrnehmung eines Krieges und die Einstellung                      Schon Erik Hornung hat darauf aufmerksam
dazu nachhaltig zu prägen und den Glauben an die                    gemacht, dass die Ägypter Geschichte als ein Fest
bestehende Ordnung und deren Sieghaftigkeit auf-                    verstanden haben, welches so ablaufen musste,
recht zu erhalten. Offenbar hat dabei gerade das                    dass es ihrer Wirklichkeitsvorstellung entsprach
Thema ‚Kriegsführung‘ in allen Zeiten und Räumen                    – und diese konnte eben mitunter weit von den so
dominiert, so dass sich trotz aller Wandlungen und                  genannten historischen Tatsachen abweichen. Regi-
unterschiedlichen Ausprägungen m. E. Parallelen                     ne Schulz hat dies auf den Punk gebracht, indem sie
vom alten Ägypten bis in die Gegenwart ziehen                       darauf hinweist, dass die „göttliche Schöpfungsga-
lassen.55                                                           be […] immer wieder neu erkämpft und gesichert
     Allerdings darf man den Ägyptern nicht etwa                    werden (muss).“57
die Manipulation historischer Ereignisse im Diens-                     Aus diesem Grund muss man bei aller Detail-
                                                                    genauigkeit der Darstellungen vorsichtig sein, zu
51 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 125f.                     schnell falsche Schlüsse zu ziehen hinsichtlich tat-
52 Gerhard Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual
                                                                    sächlicher Ereignisse. Das macht gerade das Beispiel
   History. Eine Einführung, in: ders. (Hg.), Visual History. Ein
   Studienbuch, Göttingen 2006, S. 7-36, 13.
                                                                    der Kadesch-Schlacht-Darstellungen deutlich (Abb.
53 Bergmann/Schneider, Das Bild, S. 223.                            10): Die Ereignisse im Umfeld der Schlacht sind detail-
54 Hamann, Visual History, S. 31 u. 33.
55 Vgl. Manfred Bietak/ Mario Schwarz, Einführung zu den            56 Vgl. dazu Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 71.
   narrativen Schlachtenbildern, in: dies. (Hgg.), Krieg und        57 Regine Schulz, Das Abbild vom Kampf und Sieg, in: S. Pet-
   Sieg. Narrative Wanddarstellungen von Altägypten bis ins            schel/ M. von Falck (Hgg.), Pharao siegt immer, S. 68-71,
   Mittelalter (= DÖAW 20), Wien 2002, S. 11-18, 11.                   71.

44                                       Braun • Visual History
Orontes

                                                                                        Kadesch

Abb. 10: Ausschnitt aus dem Kadesch-Schlacht-Relief (nach: Wreszinski, Kulturgeschichte II, Tf. 170)

liert in Bild und Text wiedergegeben. Dadurch kann                Dies macht wieder deutlich, dass im alten Ägypten
die Szene nicht nur geographisch genau eingeordnet                auch bei (vermeidlich) historischen Quellen ein Nütz-
werden, sondern durch entsprechende Beischriften                  lichkeitsdenken im Vordergrund stand, während fak-
lassen sich sogar einzelne Personen identifizieren.               tizistische Korrektheit, die conditio sine qua non, der
Dennoch weiß man mittlerweile vor allem durch                     sich viele zeitgenössische Historiker rühmen, den
nicht-ägyptische Quellen, dass Ramses II. keines-                 Ägyptern wie vielen anderen Zeiten und Kulturen
wegs diesen großen Sieg errungen hat, den die                     fremd war. Es ging demzufolge nicht darum aufzu-
ägyptischen Quellen aufgezeichnet haben.                          zeichnen, wie sich ein Ereignis tatsächlich abgespielt
   Regine Schulz weist aber auch darauf hin, dass                 hatte, sondern man hielt fest, was irgendwann ein-
„[e]ntscheidende Ereignisse in der ägyptischen                    mal geschehen sein musste, damit die Gegenwart
Geschichte […] auf die Vorstellungen und damit                    sein konnte, wie sie sein sollte.
auf ihre bildliche Umsetzung eingewirkt (haben).                      Diese aktive, gestaltende Handlungs-, Deutungs-
So lassen sich konzeptionelle und kompositorische                 und Erinnerungskraft von Bildern haben auch die
Veränderungen z.B. nach der 1. Zwischenzeit, nach                 Vertreter der Visual History erkannt. Horst Brede-
der Vertreibung der Hyksos und nach der Amarnazeit                kamp beispielsweise verwies darauf, dass „Bilder
nachweisen. Das Vertrauen in den König als realer                 […] zur Welt der Ereignisse in einem gleichermaßen
und mythischer Verteidiger des Landes scheint aber                reagierenden wie gestaltenden Verhältnis stehen,
nach dem Neuen Reich soweit erschüttert worden zu                 Geschichte nicht nur passivisch widerspiegeln, son-
sein, dass eine weitere bildmagische Sicherung der                dern als Bildakte selbst zu prägen vermögen.“59
Chaosabwehr nicht mehr gegeben schien und sich                    Um dies zu erklären, beruft man sich auf die so
somit ihre bildliche Umsetzung auf königliche Sie-                genannte Bildakttheorie. Mit dem Begriff ‚Bildakt‘
gesikone und göttliche Kampfdarstellungen redu-                   soll gerade der die Wahrnehmung strukturierende
zierte.“58                                                        und handlungsorientierende Charakter von Bildern

58 Schulz, Das Abbild vom Kampf und Sieg, S. 71.                  59 Zitiert nach Paul, Visual History, S. 18.

                                                                IBAES X • Das Ereignis                                45
betont werden, wodurch der Bild-Begriff dahinge-              Volk Kaiser Trajan
hend erweitert wird, dass Bilder selbst politische            nach seinem Sieg
Handlungen steuern. Auch Christoph Hamann geht                über die Daker im
davon aus, dass das Bild nicht nur Ausdruck oder              Jahre 113 widme-
Stellvertreter einer kollektiven Deutung von Vergan-          ten und die er selbst
genheit sein kann und diese Deutungen wiederum                eingeweiht        hatte,
stabilisiert, sondern es auch das politische Bewusst-         bevor er gegen die
sein von Individuen oder Gruppen der Gegenwart                Parther     zog    und
beeinflusst und dadurch politische Entscheidungen             fiel. Die Säule war
herbeigeführt werden können.60                                ursprünglich        Teil
     Bilder sind nie Ab-Bild historischer Wirklichkeit,       des vom Kaiser in
sondern geben immer nur einen kleinen Ausschnitt              Auftrag gegebenen
vergangener Ereignisse wieder und zwar so, wie der            Forums in der Senke
Hersteller des Bildes diese wahrgenommen hat bzw.             zwischen      Quirinal
wie er sie akzentuierend, verzerrend, verfälschend,           und     Kapitol    und
idealisierend vermitteln möchte. Demzufolge ist Per-          von Portiken umge-
spektivität ein entscheidendes Wesensmerkmal von              ben. Dem Archäolo-
Bildern. Dies gilt gleichermaßen für Bilder wie für           gen Tonio Hölscher
Fotografien, denn wenngleich gerade letzteren meist           zufolge handelt es
eine höhere Glaubwürdigkeit nachgesagt wird, so               sich beim Inhalt der
geben auch sie immer nur einen Ausschnitt wieder              Szenen keineswegs
– gezeigt aus der Perspektive des        Fotographen.61       um die naturalisti-
Bilder und Bilddokumente sind daher nichts ande-              sche      Wiedergabe
res als das Produkt einer absichtsvollen Auswahl              der       historischen
bestimmter Ausschnitte der Wirklichkeit, die in visu-         Ereignisse, sondern
eller Form festgehalten werden, und das Bild als              sie dienten vielmehr
Medium ist in höchstem Maße „von der Subjektivität            der Affirmation der
seines Autors oder bzw. und der seines Auftrag-               kaiserlichen Macht-
gebers bestimmt.“62 Deshalb verstehen Klaus                   stellung    und     der
Bergmann und Gerhard Schneider Bilder als „per-               Vorbereitung        der
spektivische     visuelle   Vergegenwärtigung         von     späteren Divinisie-
Geschehenem“ und weisen darauf hin, dass ein                  rung Trajans; nicht
Bild immer nur eine Interpretation von Wirklich-              einmal die Reihen-
keit beinhaltet, die abhängig ist vom gesellschaft-           folge   der    Szenen      Abb. 11: Trajansäule (Ausschnitt)
lichen Standort, dem Interesse und den Absichten              entspricht daher der       (nach: de.wikipedia.org/wiki Tra-
des Herstellers bzw. Auftraggebers. Wie andere                tatsächlichen chro-        janssäule; 10.11.2008)

Quellen bieten sie immer nur eine Sichtweise auf              nologischen Abfol-
die Vergangenheit und unterliegen willkürlichen               ge im Dakerkrieg.64
oder unwillkürlichen, absichtsvollen oder zufälligen             Die Nachfolger solcher Reliefdarstellungen sind
Beeinflussungen und      Interessen.63                        in der Moderne die Kriegsfotografien, die erstmals
     Ein älteres Beispiel für eine solche Bildquelle ist      im Umfeld des Krimkrieges und des amerikanischen
die Trajansäule (Abb. 11), die Senat und römisches            Bürgerkrieges aufkamen. Klaus Kreimeier betrachtet
                                                              diese Aufnahmen als eine Form der „Selbstdarstel-

60 Hamann, Visual History, S. 31.
                                                              lung einer politisch-militärischen Elite“, die die Bilder
61 Bergmann/Schneider, Das Bild, S. 212.                      dazu nutzt, „dem Bewusstsein ihrer Überlegenheit
62 Hellmut Rademacher, Historische Bildkunde im Geschichts-   den Gestus der Selbstverständlichkeit zu verleihen.“
   museum, in: Beiträge und Mitteilungen, hg. vom Museum
   für Deutsche Geschichte (Ost-)Berlin 16, 1988, S. 24-28,   64 Tonio Hölscher, Geschichtsauffassung in römischer Reprä-
   26.                                                           sentationskunst, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologi-
63 Bergmann/Schneider, Das Bild, S. 223f. u. 226.                schen Instituts, Bd. 95, 1980, S. 265-321, 295f.

46                                   Braun • Visual History
Genauso wenig wie in früheren Zeiten dienen die                     ifikation. Die Regeln dieses Dekorationsprogramms
Fotos dazu, vergangenes Geschehen möglichst                         waren von denen der Literatur abgeleitet, d.h., die
realitätsnah festzuhalten, sondern „indirekt ‚doku-                 Darstellungen sind weniger als Buch, sondern viel-
mentieren‘ (sie) […] Herrschaftsverhältnisse, ihre                  mehr als Bild zu verstehen – oder auch als „großfor-
gewünschten und inszenierten Außenansichten, die                    matige Schriftzeichen“ (Erhart Graefe).69
Ästhetiken eines politischen Systems.“65                               Die ägyptischen (Relief-)Darstellungen erheben
   In der Ägyptologie reicht die Bedeutung eines                    dementsprechend nicht den Anspruch abzubilden,
Bildaktes aufgrund der Vorstellung von einer                        was tatsächlich geschah, sondern bringen dem
magischen Wirklichkeitsmacht der Bilder allerdings                  Dekorum folgend nur zum Ausdruck, was sein soll-
noch weiter. Nach Ansicht der Ägypter leisteten                     te: eine Realität, die der Idealvorstellung entsprach.
die Bilder das Gleiche wie die Sprache – beim so                    Dies galt im Kleinen wie auch im Großen. Schon Alan
genannten performativen Sprechakt. So wie der                       H. Gardiner hat darauf hingewiesen, dass es sich bei
Sprechakttheorie zufolge durch eine performative                    den Darstellungen auf Grab- und Tempelwänden
Äußerung Wirklichkeit geschaffen werden kann, war                   nicht zwingend um authentische Aufzeichnungen
das, was auf den Bildern dargestellt ist, für die Ägyp-             dessen handelt, was in den entsprechenden Räumen
ter wirklich wahr – im Sinne von real, vorhanden,                   tatsächlich geschah, sondern sie der Vorstellungs-
tatsächlich.66 Sprechakttheoretisch besitzen die auf                welt angehören.70 Die historischen (Bild-)Quellen
den ägyptischen Tempeln verewigten Darstellungen                    stellen dabei keine Ausnahme dar, auch hierbei
ebenfalls den Status von „Performativen“.67                         handelt es sich um rituelles Geschehen, das nach
   Die Bilder können aber sogar noch mehr als                       festen Regeln ablaufen musste. „So entspringen
gesprochene Worte; sie machen es möglich, die                       die Schlacht- und Belagerungsbilder in den Tempeln
Wirkung des performativen Sprechakts von der                        des Neuen Reiches einer ähnlichen Geisteshaltung
aktuellen Wirksamkeit in eine dauerhafte zu trans-                  wie die Pyramidentexte des Alten Reiches: wenn
formieren – also aus der Zeitlichkeit in die Ewigkeit.              der Glaube an die sofortige Wirkung der kultischen
Damit wird das, was die Bilder zeigen, permanent                    Handlung und des gesprochenen Wortes ins Wanken
wirksam; sie überschreiten die Grenzen der kon-                     gerät, stützt er sich auf die bleibende Bewahrung
kreten raumzeitlichen Situation und das Geschehen                   im gemeißelten Bild. An den Tempelwänden siegt
wird in der Zeitdimension entgrenzt und bis ins                     Pharao noch heute über Völker, die längst unter-
virtuell Unendliche zerdehnt. Durch die schriftliche                gegangen sind, und feiert Feste für Götter, an die
Fixierung einer performativen Äußerung kann die                     niemand mehr glaubt.“71
(Heils-)Wirkung des Dargestellten verewigt werden                      Selbst wenn die Ägypter darüber reflektiert haben
und man erhält ein „auf Dauer gestelltes Zauberbild“                sollten, dass die Ereignisse nicht wirklich so abgelau-
– ein „Heilsbild“.68                                                fen sind, wie es die Darstellungen der Tempelwände
   Dabei ist es irrelevant, dass sich das abgebildete               zeigten, so versuchte doch jeder Pharao, diesem
Geschehen in der Realität nicht so abgespielt hat, wie              Idealzustand zumindest möglichst nahe zu kommen,
es im Relief wiedergegeben wird, es ging schließlich                und das konnte eben mitunter bedeuten, militärische
nicht um eine bildliche Wiedergabe tatsächlicher                    Erfolge zu verewigen, die in der Realität niemals
Ereignisse, sondern stattdessen um eine davon                       stattgefunden hatten. Prinzipiell ist bei historischen
unabhängige direkte und permanente magische Re-                     Aufzeichnungen also immer davon auszugehen,
                                                                    dass sie dem gültigen Kanon verpflichtet waren und
65 Klaus Kreimeier, Kriegsfotografie, in: W. W. Wende (Hg.),
   Krieg und Gedächtnis. Ein Ausnahmezustand im Span-               69 Vgl. dazu Erhard Graefe, Die Deutung der sogenannten
   nungsfeld kultureller Sinnkonstruktion, Würzburg 2005,              „Opfergaben“ der Ritualszenen ägyptischer Tempel als
   S. 285-305, 291.                                                    „Schriftzeichen“, in: J. Quaegebeur (Hg.), Ritual and Sac-
66 Sabine Köthen-Welpot, Theogonie und Genealogie im Pan-              rifice in the ancient Near East (= OLA 55), Löwen 1993,
   theon der Pyramidentexte, Bonn 2003, S. 47.                         S. 143-156.
67 Jan Assmann, Die Macht der Bilder. Rahmenbedingungen             70 Alan H. Gardiner, The Baptism of Pharaoh, in: JEA 36, 1950,
   ikonischen Handelns im Alten Ägypten, in: Genres in Visual          S. 3-12, 7.
   Representations (= Visible Religion VII), Leiden 1990, S. 1-     71 Erick Hornung, Geschichte als Fest. Zwei Vorträge zum
   20, 10.                                                             Geschichtsbild der frühen Menschheit, Darmstadt 1966,
68 Jan Assmann, Die Macht der Bilder, S. 3 u. 9f.                      S. 19.

                                                                  IBAES X • Das Ereignis                                       47
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