Ursula Kleefisch-Jobst Peter Köddermann Karen Jung (Hg.)
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Vorwort Qualitäten beachten – Polaritäten vermeiden. Warum der soziale Wohnungsbau unersetzlich ist 8 Michael von der Mühlen Einführung ALLE WOLLEN WOHNEN. Gerecht. Sozial. Bezahlbar 10 Ursula Kleefisch-Jobst, Peter Köddermann und Karen Jung Sabine Krafts letzter „Blick zurück nach vorn“ in der Wohnungsfrage 12 Joachim Krausse Blick zurück nach vorn. Einige Überlegungen zur Frage der Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus 14 Sabine Kraft († 2016) Küche. Diele. Bad 22 WOHNEN IM WANDEL 1900–1930 24 WOHNEN IM WANDEL 1945 bis heute 38 Von der Familienwohnung zum Clusterwohnen. Wohngrundrisse im Spiegel des gesellschaftlichen Wandels 46 Gerd Kuhn Gruppenzwang? Von Baugruppen, Genossenschaften und neuen Gemeinschaften 50 Annette Becker, Laura Kienbaum DIE ZUKUNFT PLANEN UND BAUEN. BauAUSSTELLUNGEN UND Ihre MUSTERBAUTEN 54 Die Wohnungsfrage als Thema der Internationalen Bauausstellungen 66 Werner Durth 5
Akteure 70 Wohnen für alle. Eine Aufgabe für alle 88 Alexander Rychter Urbanität und Dichte 90 Ernst Uhing Recht und Gesetz. Zur Entwicklung der Wohnraumförderung 92 Karl Hofmann Recht auf Wohnen 94 POLITISCHE RAHMENBEDINGUNGEN ZUR STEUERUNG DES WOHNUNGSMARKTES 100 GRUND UND BODEN 108 BAUSTANDARDS 118 BAUKOSTEN 122 Das „München Modell“. Wohnungsbauförderung bei Eigentum und Miete 126 Elisabeth Merk Wir wollen wohnen. Wie kommen Baugruppen an ihre Grundstücke? 130 Regina Stottrop 6
Architektur – Das Haus 132 Bezahlbares Wohnen. Zehn gebaute Beispiele 134 VOM BLOCK ZUR ZEILE ZUM PUNKT. TYPOLOGIEN IM WOHNUNGSBAU 174 Neue Standards. Neue Perspektiven 192 Olaf Bahner, Matthias Böttger Wohngebiete 196 TYPOLOGIEN GROSSER WOHNSIEDLUNGEN 200 DAS DENKBARE IST DAS MACHBARE 204 NEUE WAHRNEHMUNGEN 210 WOHIN WÄCHST DIE STADT? 218 Raumkonzepte über Stadtgrenzen hinaus 226 Christoph van Gemmeren Stadt wollen. Aufruf zu Dichte und Urbanität 230 Architektenkammer Nordrhein-Westfalen Ausblick Grundsteine legen. Wie wollen wir wohnen? 234 Ursula Kleefisch-Jobst, Peter Köddermann und Karen Jung Autoren 238 Bildnachweis 242 Impressum 246 7
Vorwort Qualitäten beachten – Polaritäten vermeiden. Warum der soziale Wohnungsbau unersetzlich ist Michael von der Mühlen Ministerium für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr NRW Sieben von zehn Deutschen leben heute in Städ- geteilten Deutschland parallel zwei verschiedene ten. Und die städtische Bevölkerung wächst wei- Wege: einerseits der soziale Miet- und Genossen- ter, die Zahl der Haushalte nimmt ebenfalls zu. schaftsbau und die soziale Wohneigentumsförde- Ursache dieser (Re-)Urbanisierung sind ökonomi- rung in der Bundesrepublik, andererseits der – in sche, technologische und kulturelle Veränderun- unterschiedliche Qualitätsstufen einzuordnende – gen. Städte sind die Zentren von Bildung und Massenwohnungsbau der DDR. Ausbildung, Wertschöpfung und Innovation in ei- ner global vernetzten Informationsgesellschaft. Von funktionalistischen Wohnblöcken zu Eine Konsequenz dieser Entwicklung: Die Immo Problemvierteln bilienpreise in wachsenden urbanen Regionen stei gen immer schneller und bezahlbarer Wohnraum Die gesetzlichen Grundlagen für die Expansivpha- wird dort knapp. se des sozialen Wohnungsbaus in der Bundesrepu- So verwundert es nicht, wenn die Frankfurter All- blik wurden durch das erste und zweite Woh- gemeine Zeitung eine „politische Renaissance“ des nungsbaugesetz zu Beginn der 1950er Jahre sozialen Wohnungsbaus feststellt. Und es stimmt: gelegt. Die in der Folge besonders in den 1970er Der soziale Wohnungsbau in Deutschland hat ei- und 1980er Jahren errichteten Großwohnanlagen ne wechselvolle, von Brüchen gekennzeichnete mit ihren funktionalistischen Wohnblöcken und Geschichte. Und dennoch ist er unersetzlich. -türmen im Westen formten ein – schon damals nicht immer zutreffendes – negatives Bild von Blüte in der Weimarer Republik Großsiedlungen als „Problemquartiere“. Ab den 1990er Jahren galt Ähnliches auch für die Platten- Seine frühesten Vorläufer werden gegen Ende des bausiedlungen der ehemaligen DDR. 15. Jahrhunderts in Nürnberg (Siebenzeilen-Sied- Nach der Jahrtausendwende zog sich der Bund lung) verortet. Ohne schon als „sozial“ gekenn- aus der sozialen Wohnraumförderung zurück und zeichnet zu werden, erlebte der Siedlungsbau in einige Bundesländer, darunter Berlin, stellten (im den Großstädten der Weimarer Republik seine Gegensatz zu Nordrhein-Westfalen) die Förderung erste Blütephase. Es entstanden Siedlungstypen, komplett ein. die einkommensschwächeren Bevölkerungsgrup- pen einen Mindestwohnkomfort in einem gesun- Anspruchsvoller und maßstäblicher: der den Umfeld bieten sollten (Berliner Moderne, soziale Wohnungsbau heute Neues Frankfurt). Im Nationalsozialismus wurde mit Robert Ley ein „Reichkommissar für den sozi- Heute kehrt der soziale Wohnungsbau zurück. alen Wohnungsbau“ ernannt. Der Zweite Welt- Anspruchsvoller, maßstäblicher und gleichzeitig, krieg brachte die entwickelte Programmatik zum so bleibt zu hoffen, neben quantitativen ebenso Erliegen. Nach Kriegsende entwickelten sich im qualitativen Zielen folgend. Nur mit der Auswei- 8
tung des sozialen Wohnungsbaus kann es in den Einrichtungen wie Cafés und (Schnell-)Restau- wachsenden Städten gelingen, eine gemischte rants bestimmen zunehmend die öffentlich sicht- Stadtbevölkerung zu erhalten. Nordrhein-Westfa- bare Infrastruktur innerstädtischer Quartiere. Dies len geht diesen Weg – mit einem Milliardenpro- gilt gleichermaßen für Angebote von Dienstleis- gramm der sozialen Wohnraumförderung. tungen und Kommunikation aller Art. Bezahlbarer Wohnraum gehört zu den Fundamen- Für Stadtentwicklung und die Zukunft des Woh- ten des sozialen Zusammenhalts in einer Gesell- nens ist die zeitliche Entgrenzung von Arbeit be- schaft. Bei den Anforderungen an die Wohnstät- sonders relevant. Veränderungen im Hinblick auf ten von Menschen gilt auch im 21. Jahrhundert: Raumansprüche, Wohnvorstellungen und Haus- Sie haben die Grundbedürfnisse nach Schutz, In- haltstätigkeiten, kurz: veränderte Lebensstile timität und Privatheit zu befriedigen. bedingen Wohnformen jenseits der klassischen ab- Die quantitative Ausweitung des (sozialen) Woh- geschlossenen Kleinwohnung mit Wohn-, Schlaf- nungsbaus muss die qualitativen Aspekte von und Kinderzimmer. Der Variantenreichtum des Stadtentwicklung im Auge behalten. Dazu gehört, Wohnens wird flexiblere Grundrisse notwendig neben Nutzungsmischung und einem angemesse- machen. Letztlich: „Schlichtwohnen“, Luxuswoh- nen Verhältnis von Dichte und Grünflächen, auch nen, Alleinwohnen oder Mehrgenerationenwoh- die Gestaltung des öffentlichen Raums in den nen sind nur einige der derzeitigen Varianten und neuen Wohnquartieren. Nicht selten in den ver- – wahrscheinlich – gleichzeitig neue Polaritäten gangenen Jahrzehnten war dieser öffentliche des Wohnens. Raum (im eigentlichen Sinne also erweiterter Je mehr sozialer und bezahlbarer Wohnraum in Wohnraum) ein Stiefkind der Planung. Das sollte den nächsten Jahren entsteht, desto schwacher sich nicht wiederholen. werden diese Polaritäten ausfallen. Das wäre zu wünschen. Aufgaben für die Siedlungsentwicklung Wohnungsbau und Siedlungsentwicklung stehen heute vor mannigfaltigen Aufgaben. Für das Woh- nen relevant ist dabei vor allem die Singularisie- rung als freiwillige oder unfreiwillige Form des Al- leinwohnens und damit die Schrumpfung der Zahl von Haushaltsangehörigen. Die Entwicklung zum Ein- und Zweipersonenhaushalt bedingt neue haushaltsbezogene Verhaltensweisen und Be- dürfnisse, diese verändern wiederum die Infra- struktur in den Innenstädten: Außerhäusliche 9
Einführung ALLE WOLLEN WOHNEN. Gerecht. Sozial. Bezahlbar Ursula Kleefisch-Jobst, Peter Köddermann und Karen Jung Das Recht eines jeden auf eine „menschenwürdige einen Beitrag zu einer gerechteren Gesellschaft zu Wohnung“ ist im Artikel 25 der UN-Menschen- leisten. Die Bauherren waren vor allem Woh- rechtscharta von 1948 verankert. Doch bezahlba- nungsbaugesellschaften und Baugenossenschaften. ren und sozialen Wohnungsbau zu schaffen, ist in Letztere erleben derzeit eine Renaissance. Genos- den vergangenen Jahren wieder zu einer großen senschaften und Baugruppen ermöglichen vielen Herausforderung für die Gesellschaft geworden. Menschen bezahlbaren Wohnraum – bis weit in Und das nicht erst, seitdem mehr Menschen Zu- die Mittelschicht hinein. Vor allem im genossen- flucht in Deutschland suchen. Wir müssen woh- schaftlichen Wohnungsbau wird momentan mit nen – und wollen wohnen. Jedoch wohnen nur neuen Formen des gemeinschaftlichen Wohnens die wenigsten Menschen so, wie sie wollen. War- experimentiert. Die tradierte Kleinfamilie, an der um ist das so? Einfache Antworten gibt es nicht. sich die Wohnungskonzepte des 20. Jahrhunderts Um bezahlbaren, lebenswerten Wohnraum für alle orientiert haben, ist heute nicht mehr das Leitbild. zu ermöglichen, sind viele Aspekte zu bedenken Die immer stärker individualisierte Gesellschaft und viele Akteure involviert. sucht neue Wohnformen, die sowohl Privatheit als Derzeit ist in Deutschland die Förderung des sozi- auch Gemeinschaft ermöglichen. alen Wohnungsbaus Ländersache. Die Bestände des geförderten Wohnungsbaus sind seit den Wohnen – eine soziale Frage 1980er Jahren erheblich geschrumpft. Die Ab erkennung der Gemeinnützigkeit der Wohnungs- Politiker, Stadtplaner, Architekten und Bauherren baugesellschaften Ende der 80er Jahre und der haben heute dieselben Ziele wie in den 1920er Umstand, dass viele Wohnungen mittlerweile aus Jahren. Wie kann der soziale und bezahlbare der Mietbindung herausgefallen sind, führten da- Wohnungsbau einen Beitrag zu einer gerechteren zu, dass große Teile des sozialen Wohnungsbestan- Gesellschaft leisten? So gedacht, wird der Woh- des in den freien Markt übergegangen sind. In der nungsbau zu einem Schlüssel für soziale Vielfalt, Folge haben sich die Wohnungsunternehmen neu Chancen auf Integration, für selbstbestimmtes Le- am Markt positioniert. Angesichts des aktuellen ben bis ins hohe Alter, die Vereinbarkeit von Bedarfs an bezahlbarem Wohnraum ist dies eine Wohnen und Arbeiten, aber auch für den Zugang schwere Hypothek. Hinzu kommt: viele Kommu- zu Bildung und Freizeitangeboten. Unsere Städte nen verfügen nur noch über wenige Flächen. und das Umland werden sich mit dem neuen Massenwohnungsbau wieder einmal verändern. Wohnungsbau der 1920er Jahre als Vorbild Alle wollen wohnen – das Buch Die Weimarer Republik hat durch staatliche För- derprogramme in der kurzen Zeitspanne zwischen Das Museum für Architektur und Ingenieurkunst 1919 und der Weltwirtschaftskrise 1929/30 einen NRW entwickelte gemeinsam mit vielen Partnern vorbildlichen Massenwohnungsbau realisiert. im Jahr 2016 die Ausstellung „Alle wollen woh- Architekten und Stadtplaner entwickelten neue nen. Gerecht. Sozial. Bezahlbar“1, die sich mit den Siedlungs- und Wohnkonzepte in der Zuversicht, vielen Facetten und Herausforderungen des be- 10
zahlbaren und geförderten Wohnungsbaus be- Veränderungen der Wohngrundrisse vom 20. zum schäftigt. Das vorliegende Buch spiegelt die fünf 21. Jahrhundert, die stets ein Spiegel des gesell- Ausstellungsbereiche, die sich den gesellschaftli- schaftlichen Wandels sind. Viele Kommunen ver- chen Anforderungen an das Wohnen widmen, fügen nicht mehr über ausreichend Baugrund für den Akteuren, den rechtlichen Grundlagen und den geförderten Wohnungsbau. Um dennoch neuen Wohntypologien sowie den Siedlungsgebie- Menschen mit mittleren und kleinen Einkommen ten in den Stadtzentren und -rändern. das Wohnen in der Stadt zu ermöglichen, gehen Die Ausstellungstexte wurden ins Buch übernom- Städte wie Wien, München und Zürich sehr unter- men und bestehen aus verschiedenen Elementen: schiedlich mit ihren Flächenreserven um. Elisabeth Einführungen, Erläuterungen und Vertiefungen. Merk, Stadtbaurätin in München, erklärt das dor- Dabei setzen sich Texte und Bilder wie ein Puzzle tige „München Modell“. zusammen, das es den Lesern ermöglicht, sich ei- Die hohen Baustandards in Deutschland treiben nen Überblick zu verschaffen und sich dort zu die Baukosten in die Höhe. In der Debatte um vertiefen, wo sie besonderes Interesse haben. Zu- bezahlbares Wohnen geraten daher die Normen sätzlich erweitern und ergänzen Autoren unter- und Richtlinien zunehmend auf den Prüfstand. schiedlicher Fachrichtungen, aber auch Politiker, Olaf Bahner und Matthias Böttger haben für eine Vertreter der Wohnungswirtschaft, der Architek- Ausstellung im Deutschen Architektur Zentrum tenkammer und von Förderinstitutionen einzelne in Berlin zehn Architekten aufgefordert, sich den thematische Aspekte in begleitenden Beiträgen. Fragen der Standards zu stellen; in ihrem Beitrag Sabine Kraft, langjährige Mitherausgeberin der fassen sie die Ansätze zusammen. Zeitschrift Arch+, die leider im Mai 2016 ver- storben ist, hatte zur Vorbereitung der Ausstellung Das M:AI NRW bedankt sich an dieser Stelle im Rahmen eines Workshops einen Vortrag zur noch einmal herzlich für die großzügige Unter- Geschichte des sozialen Wohnungsbaus gehalten. stützung des Ministeriums für Bauen, Wohnen, Sie schöpfte dabei aus ihrer jahrzehntelangen Aus- Stadtentwicklung und Verkehr des Landes Nord- einandersetzung mit dem Thema. Wir haben uns rhein-Westfalen, der NRW.BANK, der Architek- entschieden, diesen komprimierten Überblick pos- tenkammer NRW, des Verbands der Wohnungs- tum zu veröffentlichen. und Immobilienwirtschaft Rheinland Westfalen Für die Internationalen Bauausstellungen des 20. sowie vieler Partner vor Ort. Jahrhunderts waren Lösungen für den Massen wohnungsbau stets eine besondere Herausforde 1 Das M:AI zeigte die Ausstellung bisher in rung. Werner Durth geht diesem Thema nach und Köln auf dem Clouth-Gelände vom 14. Sep- ergänzt die Zeitleiste zu den Internationalen Bau- tember bis zum 30. Oktober 2016 und in Düs- ausstellungen. Annette Becker und Laura Kien seldorf im Landtag NRW vom 29. März bis baum, Kuratorinnen der Ausstellung „Bauen und zum 9. April 2017. Wohnen in Gemeinschaft“ im Deutschen Archi- tekturmuseum analysieren das neue Phänomen der Baugruppen. Gerd Kuhn wirft einen Blick auf die 11
Blick zurück nach vorn. Einige Überlegungen zur Frage der Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus Sabine Kraft († 2016) Es gibt, was das Wohnen betrifft, trotz aller demo- mietet. Was ebenfalls Tradition hat, sind die Er- grafischen und sozialstrukturellen Veränderungen, fahrungen mit einem freien Wohnungsmarkt, wie die die Gesellschaft über die Jahrhunderte hinweg ein zeitgenössisches Zitat von Martin Luther transformiert haben, eine historische Konstante: (1483–1546) verdeutlicht: „Aber an jhenem tage Es war nie möglich, dass die Schichten am unte- werden sie den mund auftun und sagen: ‚Jhener ren Rand der Gesellschaft, die Armen und/oder ist mein Haussherr gewest, hat mich von jar zu jar Diskriminierten, sich aus eigener Kraft mit Wohn mit den zinss gesteigert.’“ raum versorgen konnten. Das ist ein auch heute In dieser Zeit lassen sich die Anfänge der kommu- noch gültiges Faktum. nalen Wohnungsversorgung anhand der Mietein- Die eigentliche Geschichte des sozialen Woh- nahmen der Städte ausmachen. So wurden die un- nungsbaus beginnt erst zwischen den beiden Welt- terschiedlichen Einnahmen für die Wohnungen kriegen. Aber die unterschiedlichen Wurzeln rei- der Stadtbediensteten wie Nachtwächter, Stadt- chen weit in die Geschichte zurück. Sie zeigen, schreiber, Medicus et cetera zusammen mit den wie die Gesellschaft in den verschiedenen Epo- „Gehältern“ in den städtischen Haushaltsbüchern chen mit dem Problem des Armenwohnens umge- festgehalten. Bei der jeweiligen Festlegung der gangen ist. Miethöhe wurde offensichtlich der Anteil des Es lassen sich vier Wurzeln nach der jeweils unter- Mietzinses am Einkommen bereits berücksichtigt. schiedlichen Trägerschaft der Wohnungsvorsorge Ein herausragendes Beispiel für frühen kommuna- bzw. des Wohnungsbaus benennen: len Wohnungsbau ist Venedig. 1. Die kommunale Wohnungsversorgung bzw. Der Höhepunkt des kommunalen Wohnungsbaus der kommunale Wohnungsbau liegt in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhun- 2. Der Stiftungswohnungsbau derts mit den berühmten Siedlungen in Wien, 3. Der Werkswohnungsbau Stuttgart, Berlin oder Frankfurt (die teilweise zum 4. Wohnungsbau in Regie der Landesherren Weltkulturerbe ernannt worden sind). Aber es gibt 5. Alternative Modelle in diesem Zeitraum nicht nur die Highlights der Moderne, sondern es finden sich in fast jeder Der kommunale Wohnungsbau Stadt mittlerer Größe expressionistische und kon- servative Ensembles aus den 1930er Jahren in Die kommunale Wohnungsversorgung ist eng mit kommunalem Besitz. dem Wohnen zur Miete verbunden, das eine lan- Nach dem Subsidiaritätsprinzip entstehen die ge- ge Tradition hat. Es war bereits im 13. Jahrhun- meinnützigen kommunalen Wohnungsbauunter- dert aufgrund der Konzentration des Haus- und nehmen, die als Vorläufer der gemeinwirtschaftli- Grundbesitzes weit verbreitet. Es gibt für einige chen Trägerschaft des sozialen Wohnungsbaus Städte Zahlen über das Verhältnis des Wohnens nach dem Zweiten Weltkrieg fungieren. Das be- zur Miete und im Eigentum, zum Beispiel die kannteste Beispiel ist die Gemeinnützige Heim- Kölner Pfarrei St. Columba. Dort wurden 161 stätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft, kurz Häuser von Eigentümern bewohnt und 661 ver- GEHAG. 14
Der Stiftungswohnungsbau chungen (zum Beispiel englische Surveys, Woh- nungs-Enquête der Ortskrankenkassen) oder den Im 16. Jahrhundert beginnt der Stiftungswoh- staatlichen Regulierungen sowie zum Unterneh- nungsbau reicher Patrizier. Am bekanntesten ist merdiskurs (Bonner Konferenzen). Aber auch zu davon die Fuggerei aus dem Jahr 1521 – eine den Werkssiedlungen, die zuerst an Standorten Reihenhaussiedlung für bedürftige Augsburger des Bergbaus und der Stahlverhüttung in Eng- Handwerker und Tagelöhner, die aus eigener land, Deutschland, Belgien und Frankeich ent- Kraft keinen eigenen Haushalt führen konnten. standen, sowie zu den Lebensbedingungen und Weniger bekannt, aber wahrscheinlich für Jakob der Entwicklung einer eigenen Arbeiterwohnkul- Fugger ein Vorbild sind die niederländischen tur in restriktiven Verhältnissen gibt es reichlich Hofjes, um einen Hof gruppierte, meist zweige- aufgearbeitetes Material. schossige Reihenhäuser, häufig mit einem pracht- vollen Eingangsportal ausgestattet. Hofjes wur- Wohnungsbau durch Landesherren den auch als „Seelgerät“ bezeichnet, da sie durch die Gebete der Nutznießer die Aufnahme des Unter der Regie der Landesfürsten beginnt der Stifters im Jenseits freundlicher gestalten sollten. Wohnungsbau „auf Vorrat“. Beispiele dafür sind Sie dienten aber auch pragmatischen Zwecken wie unter anderem die neu errichteten Residenzstädte der Unterbringung der alten Bediensteten. Heute mit den Wohnungen für das Beamtentum oder gibt es noch Hunderte davon. das Nyboder Viertel in Kopenhagen für Seeleute Auch die Kleinhäuser der Gängeviertel in den (in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Bau- Hansestädten, häufig für die Unterbringung alter herr war Christian IV.). Seeleute bzw. deren Witwen geplant, orientieren Besonders interessant sind auch die Alberghi dei sich am niederländischen Beispiel. Poveri, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts in den Seestädten Neapel, Palermo und Genua gebaut Der Werkswohnungsbau werden. In ihrer Größe übertreffen diese Anlagen das Schloss von Versailles. Die landesfürstlichen Wo sich eine Hausindustrie entwickelte, entstan- Initiativen im zersplitterten deutschen Feudalstaat den auch frühe Formen des Werkswohnungsbaus, sind Vorläufer des staatlichen Engagements im wie zum Beispiel die um das Jahr 1500 gebauten Wohnungssektor. Weberhäuser in Nürnberg. Ein anderer Beleg sind die ersten Nebenerwerbssiedlungen für die Arbei- Alternative Modelle ter der Manufakturen und des an Bedeutung ge- winnenden Bergbaus. Dabei ist zu beachten, dass Die Geschichte anderer Formen des Wohnungs- der Werkswohnungsbau zwar überwiegend, aber baus speist sich im Wesentlichen aus zwei Moti- nicht nur aus Unternehmerhand erfolgte. ven: erstens der Lösung der Wohnungsfrage im Viele Quellen und Beispiele gibt es zum Woh- Kontext eines neuen Verhältnisses von Arbeiten nungselend des 19. Jahrhunderts, zu den Untersu- und Wohnen und noch weitergehender: der Ent- 15
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Küche. Diele. Bad Wohnbautypologien und -grundrisse sind stets ein Spiegel der Gesellschaft. Im 20. Jahrhundert war der Massenwoh- nungsbau eine der zentralen Herausforderungen in ganz Europa. Die Wohnungsfrage war nicht nur ein Thema der Quantität, sondern auch ein gesellschaftliches Problem. Die Weimarer Verfassung von 1919 verbürgte zum ersten Mal „allen“ das Recht auf eine menschenwürdige Wohnung. Damit übernahm der Staat die Verpflichtung, ein gemein wirtschaftliches System der Wohnungsversorgung aufzu- bauen. Nur im großen Maßstab und in neuen Siedlungsan- lagen konnte die Wohnungsfrage beantwortet werden. Die abgeschlossene Familienwohnung wurde zum Ideal des Wohnens – und sie ist es bis heute. Die derzeit paradoxe Situation einer zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft und eines neu erwachenden Bedürfnisses nach Gemeinschaft stellt dieses Wohnmodell jedoch infrage. Zurzeit wird mit sogenannten Clusterwohnungen vor allem im genossen schaftlichen Wohnungsbau experimentiert. Eine Kombi- nation aus Privaträumen und gemeinschaftlich zu nutzenden Flächen ist eine neue Antwort auf veränderte soziale Strukturen über die klassische Familie hinaus. 23
DIE MINDESTSTANDARDS Für viele Menschen, die in die Städte drängten, reichte der vorhandene Wohnraum nicht aus. Die Wohnungen waren überfüllt und viele Familien teilten sich zwei und immer öfter sogar nur ein Zimmer. Meist waren die Zimmer unbeheizt und selbst ein eigenes Bett besaß kaum jemand. Wenn das Einkommen nicht ausreichte, wurden Untermieter und vor allem in den Arbeiterfamilien sogenannte „Schlafgänger“ aufgenommen. Das waren Menschen, denen nur ein Bett vermietet wurde, das der Schlafgänger sich manchmal sogar mit einer anderen Person teilen musste. Besonders betrof fen waren Haushalte mit Kindern, die ihre Betten für die Schlafgänger aufgeben mussten. In Essen betraf dies um 1900 drei Viertel aller Haushalte. Das Ideal der abgeschlos senen Familienwohnung – sei es im Siedlungsbau oder als Etagenwohnung – schien vielen bürgerlichen Sozialrefor mern daher ein wichtiger Ansatz nicht nur zur Lösung der Wohnungsfrage, sondern auch zur Stabilisierung der Gesell schaft insgesamt. Eine überbelegte Wohnung in Glasgow, Schottland, 1848 Diese Wohnungen waren oftmals nicht mehr als Schlafstellen und Depots für die wenigen Habseligkei- ten. Privatsphäre gab es in diesem „Durcheinanderwohnen“ nicht. 26 Küche. Diele. Bad
Arbeiterwohnhäuser, Berlin-Prenzlauer Berg, Grundrisse 1. und 2. OG, Architekten: Alfred Messel und Paul Kolb, 1899 Der Reformwohnungsbau Alfred Messels um 1900 wies eine der fort schrittlichsten Wohnungslösungen auf. Die Wohnungen bestanden aus ein oder zwei Stuben, einer Küche mit kleiner Speisekammer und hatten jeweils eine eigene Toilette. Die Familienwohnung Das als sittlich verwerflich empfundene „Durchei- und Wohnen und die Kleinfamilie als disziplinie- nanderwohnen“ wie auch die extreme Mobilität render Bezugsrahmen. Die Kleinfamilie basiert auf der Zuwanderer sollten beschränkt und eine bes- einer klaren Rollenverteilung: Während der Mann sere Integration in die Stadtgesellschaft ermöglicht die außerhäusliche Erwerbsarbeit übernimmt, ar- werden. Die abgeschlossene Familienwohnung beitet die Frau als Mutter und versorgt als Haus- sollte dazu einen wichtigen Beitrag leisten. In den frau das „traute Heim“. Diese Vorstellung vom neuen Kleinwohnung zu leben, bedeutete für die Wohnen und der ihr zugrunde liegende Woh- vom Land zugewanderten Menschen jedoch eine nungsgrundriss „Diele – Zimmer – Küche – Bad“ völlig neue Lebensweise: die Trennung von Arbeit ist bis heute vorherrschend. 27
DIE ZWECKMÄSSIGE WOHNUNG Die abgeschlossene Familienwohnung blieb auch für die Architekten des „Neuen Bauens“ in ihren Siedlungsanlagen der Maßstab. Jedoch betrachteten sie die Wohnung und ihre Grundrisslösungen nicht von den individuellen Bedürfnissen ihrer Bewohner her, sondern als gebrauchstüchtige Funk tionseinheiten. Erstmals wurden Bewegungsabläufe in Woh nungen analysiert, um daraus die drei Hauptvorgänge des Wohnens – Kochen/Essen, Wohnen/Ruhen und Schlafen/ Waschen – funktional mit wenigen Wegstrecken anzuordnen. „Zu gutem Wohnen gehört unter anderem die ganze Summe von Bedingungen, die den Ablauf unseres täglichen Lebens reibungslos gestalten, die die Abwicklung der Alltäglichkeit zusammen Max Laeuger, Skizzen, drängen auf ein Minimum Sichtbarkeit des Men- an Kraft- und Zeitaufwand.“ schen im Raum, abhän- gig von den Formen der Erna Meyer, 1928. Umgebung, o.J. Sie entwickelte die „Münchner Küche“ Der Keramiker und als Kombination aus Arbeits- und Architekt Max Laeuger Wohnküche. (1864–1952) hatte ab 1898 an der Technischen Hochschule Karlsruhe eine Professur für Figurenzeichnen inne, später für Innenarchi- tektur und Gartenkunst. Architektur und Mobiliar Der funktionalen Anordnung der Räume folgten tung erschwinglich machen. Diese Notwendigkeit Überlegungen und Entwürfe für zweckmäßige wurde von den Architekten aber nicht als pragma- Möbel. Die Kargheit der Wohnungen sollte zur tische Lösungen dargestellt, sondern als Ausdruck „Vermeidung ständigen und unproduktiven Ver- für eine neue Zeit, veränderte Lebensweisen und lustes an Nervenkraft“ beitragen. Vielfach wurden als Sinnbild einer neuen, demokratischen Gesell- für die Kleinwohnungen gleich Typenmöbel mit schaft überhöht. Die Bewohner jedoch konnten entworfen. Denn nur mit diesen neuen Möbeln diese Askese meist nicht genießen und zwängten waren die minimalistischen Grundrisse überhaupt ihre schweren, überbordenden Möbel der Kaiser- zu nutzen. So wie sich die Baukosten durch stan- zeit in die Kleinwohnungen. Oft sicherlich auch, dardisierte Elemente verringern sollten, so wollte weil sie sich keine neuen Möbel leisten konnten. man mit Typenmöbeln auch die neue Einrich- 30 Küche. Diele. Bad
Musterwohnung, Köln, um 1920, Bauherr: GAG, Köln In Musterwohnungen zeigte die GAG ihren Mietern die neue funktionale Einrichtung. Alexander Klein, Ganglinien in negativen und positiven Wohnbeispielen, um 1928 Der ab 1920 in Berlin als Architekt tätige Alexander Klein (1879–1961) beschäftigte sich systematisch mit der Funktionalisierung von Grundrissen. 31
DIE KÜCHE An keinem anderen Raum lässt sich so deutlich zeigen, welchen Einfluss der gesellschaftliche Wandel auf die Wohnkultur hatte wie an der Küche. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bestand die Küche lediglich aus einer Kochgelegenheit in der Diele, die sich mehrere Familien teilten. Mit dem Wandel der Wohnungen zu einer abge schlossenen Einheit wurde die Küche zu einem festen Bestandteil des Raumprogramms. Die Küche, die die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky für die Frankfurter Siedlungen der 1920er entwarf, spiegelt deutlich auch das neue Verständnis der Hausarbeit. Im Sinne einer gleichberechtigteren Arbeitsteilung von Mann und Frau wurde die Hausarbeit nun als Arbeit verstanden und die Küche als Arbeitsstätte der Frau angesehen. In der Küche hantierte die Frau mit Maschinen wie der Mann in der Fabrik. Die Küche wurde Zeit- und Arbeitsstudien und ergonomischen Untersuchungen unterworfen. Das Buch Die rationelle Haushaltsführung von Christine Frederick, das 1922 erschien, avancierte zum Standardwerk für die Architekten. „Jeden Handgriff sollte man abmessen, jeden Schritt sollte man zählen und sozusagen auf Die Frankfurter Küche die Waagschale legen.“ Margarete Schütte-Lihotzky Die Frankfurter Küche misst nur 1,90 mal 3,44 Meter. Einbauschränke, Arbeitsplatte, Spüle, Herd und die berühmte Kochkiste, in der das Essen nachgaren kann, sind so angeordnet, dass sie einen Wege und Zeit sparenden Arbeitsablauf ermögli- chen. Aber es gab nicht nur die Frankfurter Kü- che, sondern für alle Großsiedlungen wurden ei- gens entworfene Einbauküchen geschaffen. Neben dem separaten Raum waren es vor allem zwei technische Neuerungen, die die Küche und damit die Hausarbeit revolutionierten: fließendes Wasser und ein Anschluss an die Kanalisation. Im Grundriss des städtischen Mietshauses erhielt die Küche jedoch meist einen zum Hof gewandten Platz mit wenig Licht und schlechter Belüftung. 32 Küche. Diele. Bad
Frankfurter Küche, Architektin: Margarete Schütte-Lihotzky, 1926 33
Hufeisensiedlung, Berlin-Britz, Masterplan: Bruno Taut, 1925–1933 Die Hufeisensiedlung war Berlins erste Groß- siedlung. Bauherr war die gewerkschaftsnahe Baugesellschaft GEHAG (Gemeinnützige Heimstätten Aktiengesellschaft). Die Siedlung auf dem Gel ände des ehemaligen Rittergutes Britz entstand in sieben Bauabschnitten. Es wurden 21.374 Wohneinheiten gebaut, davon 679 Einfamilienhäuser. Das Kernstück der Anlage ist die hufeisenförmig gekrümmte Zeile um eine historische Teichanlage. Nach den Vorschriften der Wohnungsfürsorgege- sellschaft musste eines der Zimmer mindestens 20 Quadratmeter groß sein. Taut lehnte eine Ver- kleinerung der Schlafräume auf ein Mindestmaß ab: „Die Wohnung hat heute längst ihren reinen Wert als Schlafgelegenheit verloren, sie muss heu- te noch weit wichtigere Funktionen erfüllen, sie muss so angelegt sein, dass sie wirklich zu einer Ruhe- und Erholungsstätte für alle Mitglieder der Familie wird.“ Bruno Taut im Berliner Stadtblatt vom 5.9.1926 36 Küche. Diele. Bad
Grundrissvarianten, Hufeisensiedlung, Berlin-Britz, Masterplan: Bruno Taut, 1925–1933 Für die 1000 Wohnungen im Kernbereich der Hufeisensied- lung in Berlin-Britz entwarf Bruno Taut nur vier Grund- risstypen, alle nach den gleichen Grundsätzen: Ein kurzer Flur erschließt alle Räume, so werden Durchgangszimmer vermieden. Die Zimmer werden möglichst gleich groß be- messen. Die Britzer Grundrisse wurden in den nachfolgenden Sied- lungen der GEHAG „technisch und ökonomisch schrittwei- se verbessert“, blieben aber in den Grundsätzen gleich. Sie wurden in vielen Siedlungen der 1920er Jahre in ganz Deutschland übernommen. 37
Von der Familienwohnung zum Clusterwohnen. Wohngrundrisse im Spiegel des gesellschaftlichen Wandels Gerd Kuhn Das Postulat der Weimarer Verfassung, jeder deut- der neuen Wissenschaft, Gustav Wolf, nicht mehr schen Familie eine gesunde Wohn- und Heimstät- nur Hohlräume und das Knochengerüst des Hau- te zu sichern, war ein Meilenstein der sozialstaatli- ses zu entwerfen; der Architekt dürfe auch nicht chen Wohnungspolitik und führte zur Form des mehr nur in Zimmern und Fluren denken und abgeschlossenen Wohnens in der Kernfamilie, die planen, vielmehr solle er „das Wohnen, die Le- uns noch heute so vertraut erscheint. Erstmals war bensform selbst“ entwerfen.2 Es ging in dem sozial es in der Weimarer Republik für Arbeiterhaushalte orientierten Wohnungsbau der Zwischenkriegszeit nicht mehr notwendig, familienfremde Menschen um eine Verwissenschaftlichung der Grundrissbil- in die kleinen Wohnungen aufzunehmen. Da- dung, die auf einer Objektivierung der Grundriss- durch konnte die Wohnung zum intimen Ort der eigenschaften beruhte. Die funktionale Wohnung Familie werden. Arbeit und Konsum fanden außer im sozialen Wohnungsbau wurde jetzt zum wissen- häuslich statt. schaftlichen Laboratorium der Architekten. Sie Der in der Weimarer Verfassung formulierte Vor- führten Bewegungsstudien durch, um möglichst rang für abgeschlossene Familien-Kleinwohnun- kurze Wegstrecken zu ermitteln. Dies hatte zur gen war keineswegs nur durch die Notwendigkeit Folge, dass die für vielfältige Nutzungen offenen zum kostengünstigen Bauen begründet, sondern Wohnküchen häufig durch funktionale Küchen er- auch aus der Struktur der städtischen Bevölke- setzt wurden. Während heute Wohnküchen oder rung. Bereits Mitte der 1920er Jahre lebten über offene Wohnsphären eine neue Wertschätzung er- 60 Prozent der Menschen in Kleinfamilien mit bis fahren und von den exklusiven Küchenherstellern zu vier Personen.1 Die Suche nach angemessenen als Orte des Erlebnisses und der Kommunikation Grundrissen für die Kleinwohnungen spiegelte so- ästhetisiert werden, blieben die funktionalen Kü- mit den gesellschaftlichen Wandel in der Indust- chen ausschließlich Orte der Nahrungszuberei- riegesellschaft. tung. Die Haushaltswissenschaftlerin Erna Meyer, die eng mit Bruno Taut zusammengearbeitet hatte, Die funktionale Wohnung forderte eine „innere Umstellung der Hausführung durch Erziehungsarbeit an uns selbst“3. Wichtige Impulse für die Entwicklung der moder- All diese Bestrebungen der Architekten wurden nen Kleinwohnung gingen in den 1920er Jahren- durch Wohngesetze und Förderrichtlinien ge- von der neuen Grundrisswissenschaft aus. Der Ar- stützt. Die Standardwohnung hatte nun eine In chitekt habe, so einer der profiliertesten Vertreter nentoilette und ein kleines Bad zur Körperrei 46 Küche. Diele. Bad
Römerstadt, Frankfurt am Main, Masterplan: Ernst May, Umzeichnung Gerd Kuhn nigung, eine funktionale Küche zur Nahrungs Neue Haushaltstypen – vielfältige Grund- zubereitung und für die Geschwister kleine, nach risslösungen Geschlecht getrennte Schlafräume. Alle Räume waren funktional durchdrungen und hierarchisch Seit den 1980er Jahren ist es Allgemeingut gewor- gegliedert. Die Erwerbsarbeit fand außerhäuslich den, dass an die Stelle der früheren abgeschlosse- statt. nen Kleinfamilie eine Vielzahl unterschiedlicher sogenannter neuer Haushaltstypen getreten ist. In- Die Normalwohnung sofern stellt der standardisierte Grundriss-Normal- typ inzwischen zunehmend einen Anachronismus Die Wohnexperimente der 1920er Jahre führten dar. schließlich zu den Grundrissen, die auch nach Es entstanden deshalb besonders in den vergange- dem Zweiten Weltkrieg im sozialen Wohnungsbau nen Jahren neue Wohnquartiere, die der sozialen massenhaft umgesetzt wurden. Dabei sahen diese und lebensweltlichen städtischen Vielfalt in unse- stets die Beachtung gewisser Normen in Größe, ren Stadtregionen entsprechen wollen. Statt einer Schnitt und Ausstattung der Wohnungen vor. Die homogenen Siedlungsgemeinschaft werden nun Akzeptanz der Normalwohnung als standardisierte leb end ige Quartiere errichtet, die eine breite und konfektionierte Massenware für „nivellierte“, Durchmischung der Bewohnerschaft nach Alter, breite Mittelschichten der 1950er und 1960er Geschlecht, Bildung, Herkunft, Einkommen, Jahre wird verständlich vor dem Hintergrund des speziellen Bedürfnissen und Lebensformen anstre- nur langsam abgebauten Wohnungselends der ben. Die soziale Vielfalt verlangt auch nach einer Aufbaujahre einerseits und einer sozialen Realität baulichen Vielfalt. Die Grundrisswissenschaft er- andererseits, in der beispielsweise 95 Prozent der lebt daher eine neue Blüte. einschlägigen Jahrgänge verheiratet waren und In dem generationsübergreifenden Wohnprojekt mehr als 90 Prozent dieser Eheleute Kinder hat- Giesserei in Winterthur entstanden auf der Basis ten. Jedoch verlor die standardisierte Normalwoh- einer modularen Bauweise 155 Wohnungen mit nung ihre normative Kraft durch anwachsenden 43 verschiedenen Wohnungstypen in den unter- Wohlstand und die damit einhergehende zuneh- schiedlichsten Wohnungsgrößen von Ein- bis mende Individualisierung und Ausdifferenzierung Zehnzimmerwohnungen. der Gesellschaft nach unterschiedlichen Milieus Die Grundrissvielfalt in den neuen Wohnprojek- und selbstdefinierten Lebensstilen. ten, wie in der Kalkbreite oder im Hunziker-Areal 47
1871–1918: 1918–1933: Deutsches Kaiserreich Weimarer Republik 1901 1913 1914 1924 „Ein Dokument Internationale Deutsche Bauausstellung, Deutscher Kunst“, Bauausstellung, Werkbund Stuttgart Mathildenhöhe, Gartenstadt ausstellung, Darmstadt Marienbrunn, Köln Leipzig 1927 Werkbundausstellung „Die Wohnung“, Siedlung Weißenhof, Stuttgart Auf städtischem Areal unter der künstlerischen Leitung von Ludwig Mies van der Rohe und mit Richard Döcker als Bauleiter entstanden 21 Musterhäuser von 17 europäi- schen Architekten. Sie vertraten überwiegend die Ideale des Neuen Bauens. Ursprünglich war beabsichtigt, Häuser „für die dringenden Wohnbedürfnisse“ zu errichten. Am Stuttgarter Killesberg aber entstanden größtenteils frei- stehende Häuser für den bürgerlichen Anspruch. Mies zeigte mit seinem Wohnblock, dass die Stahlskelettbau- weise variable Grundrisse auch im Geschosswohnungsbau ermöglicht. Die Reihenhäuser des Holländers Pieter Oud fanden Anerkennung wegen ihrer durchdachten Grund risse und der Rhythmisierung der Zeilen durch einge- schnittene kleine Wirtschaftshöfe. Die Resonanz auf den Weißenhof war jedoch sehr verhalten. Paul Bonatz be zeichnete sie als „Vorstadt Jerusalems“, die Nationalsozia- listen verunglimpften die Siedlung später als „Araberdorf“ – vor allem wegen der flachen Dächer und des weißen Putzes der Häuser. Heute ist die Weißenhof-Siedlung eine Inkunabel der Architekturgeschichte. 56 Küche. Diele. Bad
1927 1928 1929 Werkbundausstellung Ausstellung Ausstellung „Die Wohnung“, „Bauen und Wohnen“, „Wohnung und Werkraum“, Siedlung Weißenhof, Siedlung Fischtalgrund, Versuchssiedlung Grüneich, Stuttgart Berlin-Zehlendorf Breslau 1928 1929 Ausstellung „Bauen und Wohnen“, Ausstellung „Wohnung und Werkraum“, Siedlung Fischtalgrund, Zehlendorf, Berlin Versuchssiedlung Grüneich, Breslau Die Siedlung Fischtalgrund unter der Federführung von Die Ausstellung „Wohnung und Werkraum“ wurde ver Heinrich Tessenow wurde anlässlich des zehnjährigen anstaltet vom Deutschen Werkbund und der Breslauer Bestehens der Gagfah (Gemeinnützige Aktiengesellschaft Messe- und Ausstellungsgesellschaft. Die zeitgenössi- für Angestellten-Heimstätten) errichtet. Die Siedlung sollte schen Kommentatoren verglichen die Ausstellung mit dem einen Beitrag im Kampf gegen die Wohnungsmisere leis- Stuttgarter Weißenhof, jedoch bauten in Breslau nur deut- ten, angepasst an die wirtschaftlichen Bedingungen des sche Architekten. Besondere Beachtung fanden das Wohn- Mittelstandes. Daher waren den Architekten Grenzen für hochhaus von Adolf Rading und das Ledigenwohnheim von Kosten und Größe der Häuser vorgegeben. Die Sattel Hans Scharoun. Bei diesem Projekt erweiterten Gemein- dächer – wohl eine Forderung der Gagfah –, die glatt schaftsräume, eine Großküche, ein Speisesaal sowie geputzten Fassaden sowie die Klappläden und Pergolen Sonnenterrassen und Loggien das knappe persönliche wurden von den Kritikern als rückwärtsgewandt verhöhnt. Raumangebot der nur 27 bis 34 Quadratmeter großen Apartments. 57
Die Wohnungsfrage als Thema der Internationalen Bauausstellungen Werner Durth „Eine Stadt müssen wir erbauen, eine ganze Stadt! Eine neue Idee vom Haus Alles andere ist nichts!“ Mit diesen Worten for- derte der junge Architekt Josef Olbrich 1898 im Unter dem Titel Ein Dokument deutscher Kunst Künstlerkreis der Wiener Sezession den Entwurf wurde die Siedlung auf der Mathildenhöhe vor einer neuen Welt, in der künftiges Wohnen zu- Darmstadt ab Mai 1901 mit vollständig ausge- gleich das Erleben eines Gesamtkunstwerks er- statteten Wohnungen als Ausstellung präsentiert. möglichen würde. „Die Regierung soll uns ein Begeistert beschrieb der damals berühmte Kunst- Feld geben, und da wollen wir dann eine Welt schriftsteller Alfred Lichtwark die „Stimmung schaffen. Das heißt doch nichts, wenn Einer bloß freudigen Staunens“, in der die Besucher die neu- ein Haus baut. Wie kann das schön sein, wenn en Häuser bewunderten: „Was sie nun mitneh- daneben ein hässliches ist? Was nützen drei, fünf, men, ist eine neue Idee vom Haus. Kommen sie in zehn schöne Häuser, wenn die Anlage der Straße ihre alte Wohnung, so werden sie den ungeheuren keine schöne ist? Was nützt die schöne Straße mit Abstand fühlen, werden sehen, werden fragen und schönen Häusern, wenn darin die Sessel nicht werden hören, daß diese neuen Häuser mit all ih- schön sind oder die Teller nicht schön sind? Nein rer Traulichkeit, all ihrem Komfort und ihrem – ein Feld; anders ist es nicht zu machen. Ein lee- Behagen sogar billiger sind als die haarsträubende res weites Feld; und da wollen wir dann zeigen, Banalität, in der sie sich bisher wohlgefühlt ha- was wir können; in der ganzen Anlage und bis ins ben. So wird diese Ausstellung auch in meiner Er- letzte Detail. Alles von demselben Geist be- innerung als erster Versuch stehen bleiben, den herrscht, die Straßen und die Gärten und die Pa- Deutschen an einem praktischen Beispiel zu zei- läste und die Hütten und die Tische und die Ses- gen, was ein Wohnhaus leisten kann.“2 sel und die Leuchter und die Löffel Ausdrücke 1908 wurden in einer nächsten Ausstellung auf derselben Empfindung.“1 der Mathildenhöhe gleich neben der Künstlerko- Diese Vision einer Vereinigung von Stadt und lonie Musterhäuser für Arbeiterfamilien gezeigt, Landschaft, Kunst und Natur sollte Wirklichkeit 1914 waren es Mietwohnungen in Geschoss- werden. 1899 wurde Olbrich vom Großherzog wohnbauten, großzügig mit Loggien und Vorgär- Ernst Ludwig in die Hessische Residenzstadt ten ausgestattet – als Alternative zum Elend in den Darmstadt berufen, um mit den Häusern für die Mietskasernen. Der Anspruch auf Baukultur sollte neu gegründete Künstlerkolonie die weltweit erste für alle Schichten der Gesellschaft gelten. Internationale Bauausstellung auf Dauer zu schaf- fen. Tatsächlich gelang es, in Abkehr von den Karge Sachlichkeit auf dem neuesten Stand Bautraditionen der Kaiserzeit ein Ensemble von der Technik Wohnhäusern mit funktionalen Grundrissen und vergleichsweise schlichter Gestaltung im Sinne Der Erste Weltkrieg beendete die Entwicklung des gerade aktuellen Jugendstils zu errichten. der Bauausstellung in Darmstadt, die internatio- 66 Küche. Diele. Bad
nal neue Maßstäbe für künftiges Wohnen gesetzt Bauausstellungen der Nachkriegsmoderne hatte. Als im Jahr 1925 die Stadt Stuttgart ent- schied, in einer Siedlung neueste Tendenzen des Die Constructa in Hannover 1951 war eine Bau- Wohnens durch gebaute Beispiele zu demonstrie- fachmesse, zu der bereits moderne Siedlungsbau- ren, bezog sich der beauftragte Architekt Ludwig ten im Umfeld gezeigt werden konnten. Im selben Mies van der Rohe ausdrücklich auf das Vorbild Jahr präsentierte Darmstadt zum 50-jährigen in Darmstadt bei seinem Versuch, trotz deutlicher Jubiläum der Ausstellung 1901 eine Reihe von Unterschiede zwischen den einzelnen Häusern Meisterbauten als Anregung für die kommende durch Vorgaben für schlichte Kubaturen und fla- Nachkriegsmoderne. Beide Ausstellungen gaben che Dächer ein einheitliches Bild der Versuchs- Impulse für die inzwischen dritte Internationale siedlung Am Weissenhof zu erzielen. Nun war es Bauausstellung, nun im Westen Berlins, kurz In- nicht mehr der schwungvolle Jugendstil, sondern terbau Berlin 1957 genannt. Auf den Trümmern karge Sachlichkeit, mit der unter dem Titel Die eines im Luftkrieg zerstörten Quartiers der Grün- Wohnung moderne Architektur 1927 in Stuttgart derzeit sollte als Alternative zur baulich verdichte- vorgestellt wurde, in Materialien und Konstrukti- ten Steinernen Stadt durch Erweiterung des Tier- onen auf neuestem Stand der Technik, entworfen gartens eine Stadtlandschaft mit aufgelockerter von prominenten Architekten aus verschiedenen Bebauung im Grünen angelegt werden. Durch ei- Ländern Europas. Hier war nach dem Grauen des ne große Gestaltungsvielfalt im Entwurf von Ersten Weltkriegs und dem wirtschaftlichen Haustypen und Grundrissen im breiten Spek Elend der folgenden Jahre die erste Zwischenbi- trum zwischen flachen Reihenhäusern, Geschoss- lanz eines international Neuen Bauens zu sehen, wohnungsbau und schlanken Hochhäusern soll- das durch Normen, Typen und rationelle Bauwei- ten zugleich Zeichen gesetzt werden gegen den sen für die Entwicklung eines sozialen Woh- Rückgriff auf nationale Bautraditionen. Diese nungsbaus neue Maßstäbe setzte, die bis heute nahmen im Osten der Stadt nach Weisung Stalins Gültigkeit haben. beispielsweise in der großen Magistrale der Stalin Die Herrschaft des Nationalsozialismus setzte dem allee Gestalt an. Als kulturelles Gegenmodell Aufbruch der Moderne ein jähes Ende. Anstelle wurde im Kalten Krieg durch das neue Hansa- eines Internationalen Stils wurde nun die Wieder- viertel im Westen mit weltweiter Anerkennung belebung nationaler Bautraditionen propagiert, unter Leitung von Otto Bartning die Pluralität statt Industrialisierung waren wieder Handwerk- der Lebensformen und die Freiheit der Gestaltung lichkeit und regionale Bindung gefragt. Die Prota- demonstriert, doch waren damit zugleich auch die gonisten der Moderne emigrierten oder überlebten Grenzen des Leitbilds einer weiträumig aufgelo- ärmlich in der sogenannten inneren Emigration. ckerten Stadtstruktur sichtbar geworden. Erst 1950 konnten erneut Bauausstellungen vor- So war es kein Zufall, dass einige der jungen Ar- bereitet werden. chitekten aus Berlin, die an der Interbau 1957 67
Weiße Stadt, Köln, 1929–1932, Architekt: Wilhelm Riphahn, Bauherr: GAG, Köln Wie kein anderer personifizierte der Kölner Architekt Wilhelm Riphahn die Siedlungsbaupolitik der Domstadt in den 1920er und frühen 1930er Jahren. Als „Hausarchitekt“ war Riphahn mit der Konzeption, Planung und Realisierung der meisten wichtigen und vor allem heraus- ragenden Siedlungen der Gemeinnützigen Wohnungsgesellschaft AG (GAG) befasst. 80 Akteure
Die gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften In der Weimarer Republik leisteten die gemein- stände in den freien Wohnungsmarkt über. Die nützigen Wohnungsbaugesellschaften neben den erste Welle der auslaufenden Sozialbindungen Baugenossenschaften einen wichtigen Beitrag zum führte in den 1980er Jahren zu einem Einbruch in sozialen Wohnungsbau. Mit bescheidenem Eigen- der staatlich geförderten Wohnungsvorsorge. 1982 kapital ausgestattet, mussten sich die Gesellschaf- erschütterte ein Skandal um die gewerkschaftsei- ter Investitionskapital auf dem privaten Geld- gene Wohnungsbaugesellschaft Neue Heimat die markt leihen. Den entscheidenden Teil der Wohnungswirtschaft. Die Neue Heimat war mit Finanzierung aber machten die staatlichen Zu- etwa 400.000 Wohnungen damals die größte schüsse aus der Hauszinssteuer aus. Diese Unter- Wohnungsbesitzerin in der Bundesrepublik. Ver- stützung erhielten die Baugesellschaften aufgrund untreuung und Missmanagement machten die ihrer Gemeinnützigkeit. Neue Heimat zu einem Sanierungsfall. Aus dieser Nach dem Zweiten Weltkrieg wandelte sich die Erfahrung heraus wurde 1988 die Gemeinnützig- staatliche Förderung der Gesellschaften hin zu ei- keit der Wohnungsbaugesellschaften abgeschafft ner Förderung der Bauprojekte. Die Mietbindung und die direkten staatlichen Subventionen im so- und die Belegungsvorgaben wurden für einzelne zialen Wohnungsbau wurden eingestellt. Das hat- Gebäude festgelegt und zwar für die Länge der te den Verkauf von großen Beständen des sozialen Laufzeit der öffentlichen Darlehen. Dies sind in Wohnungsbaus an private Investoren zur Folge. der Regel 15 oder 25 Jahre, danach gehen die Be- Die Gemeinnützigkeit Die Hauszinssteuer In der Weimarer Republik basierte die Gemein- Diese Sondersteuer geht auf einen Vorschlag des nützigkeit der Wohnungsbaugesellschaften auf Berliner Stadtbaurats Martin Wagner aus dem Jahr vier Grundlagen. Diese hatten bis zur Abschaf- 1916 zurück. Nach dem Ersten Weltkrieg waren fung der Gemeinnützigkeit der Wohnungsbauge- die Mieten als Friedensmiete auf das Niveau vor sellschaften 1988 in der Bundesrepublik weitge- dem Krieg eingefroren worden. Aus Solidarität mit hend Bestand: den Wohnungssuchenden sollten die Mieter einen • Bauverpflichtung – in der Weimarer Republik zweckgebundenen Mietzuschlag leisten, einkom- war es der Kleinwohnungsbau. mensschwächere Mieter wurden befreit. Ab dem • Gewinnbegrenzung – sie wurde in der Wei- 1. Juli 1921 betrug diese Mietsteuer zunächst fünf marer Republik auf maximal vier Prozent des Prozent der Friedensmiete. 1924 erfolgte aufgrund Gesellschaftskapitals begrenzt. der Inflation eine Neuregelung, bei der die Länder • Vermögensbindung – ausscheidende Gesell- und Kommunen das Recht erhielten, den Satz schafter erhielten nur den Nominaleinsatz zu- selbst zu bestimmen – in der Regel 20 bis 25 Pro- rück. Die Wertsteigerung der Wohnungsbe- zent der Friedensmiete. Diese Hauszinssteuer bil- stände wurde nicht kapitalisiert. dete die grundlegende Basis für die staatliche Un- • Kostenmiete – die Miete orientierte sich nicht terstützung des Wohnungsbaus. 1926 betrug die am Markt, sondern diente der Kostendeckung. Gesamtinvestition in den Wohnungsbau 1,9 Mil lionen Reichsmark (entspricht heute 6,84 Millio- nen Euro). 35 Prozent davon wurden aus der Hauszinssteuer aufgebracht. Ab den 1930er Jahren allerdings wurde die Steuer immer häufiger für an- dere staatliche Belange eingesetzt. 81
Recht und Gesetz. Zur Entwicklung der Wohnraumförderung Karl Hofmann In den Jahren nach 1945 herrschte wegen der von der Bundesregierung die gesetzliche Grundlage Kriegszerstörungen wirkliche Wohnungsnot. Nur für die Wohnraumförderung geschaffen geworden noch etwa 1,3 Millionen Wohnungen waren in war, wurde im Jahr 1958 für eine effizientere Orga- Nordrhein-Westfalen bewohnbar; eine weitere nisation der Darlehensverwaltung und zum Aufbau knappe Million konnte zwar bewohnt werden, eines revolvierenden Fonds eine Vollbank gegrün- war jedoch stark beschädigt. Gleichzeitig wuchs det – die Wohnungsbauförderungsanstalt Nord- die Bevölkerung unter anderem durch Rückkehrer rhein-Westfalen. Heute ist dies die NRW.BANK. und Vertriebene deutlich an, was unter anderem Bis zu diesem Zeitpunkt wurden Fördermittel in die Bewirtschaftung des verfügbaren Wohnraums Nordrhein-Westfalen durch 180 Städte und Land- erforderlich machte. Durch Bereitstellung erhebli- kreise vergeben und verwaltet. Die bei den Kom- cher finanzieller Mittel und die Konzentration der munen verwalteten Darlehen wurden auf die Baukapazitäten wurden bis 1948 etwa 1,2 Millio- NRW.BANK übertragen und bilden zusammen nen Wohnungen in Nordrhein-Westfalen wieder- mit den bis jetzt vergebenen Mitteln ein revolvie- aufgebaut und bewohnbar gemacht. rendes Vermögen, aus dem die Wohnraumförde- Im Jahr 1948 erfolgt auf Drängen der Alliierten rung finanziert wird. die Gründung der Kreditanstalt für Wiederauf- Bis heute sind kommunale Behörden als Bewilli- bau, heute KfW Bankengruppe. Mit Hilfe auslän- gungsstellen für die Mittelvergabe zuständig, die discher Gelder wurde bundesweit über die KfW NRW.BANK zahlt die Fördermittel aus und ver- unter anderem der Wiederaufbau von Wohnraum einnahmt die Rückflüsse in das Wohnungsbau- gefördert. Ein Teil dieser Hilfsgelder wurde fünf vermögen, das gleichzeitig Stammkapital der Jahre später, 1953, in einen revolvierenden Fonds1 NRW.BANK ist. Die Finanzierung der meist um- (ERP-Sondervermögen) zur Finanzierung der fangreichen jährlichen Förderprogramme erfolgte deutschen Wirtschaft übertragen. Mehrere westli- bis Anfang der 2000er Jahre aus Haushaltsmitteln che Bundesländer haben in den 1950er Jahren un- von Land und Bund. Danach kam der hauptsäch- selbstständige sogenannte Treuhandstellen für die liche Finanzierungsanteil aus dem Vermögen der Wohnraumförderung gegründet und erst später NRW.BANK; für 2016 und 2017 stehen so etwa die aufgelaufenen Kapitalien als revolvierende 1,1 Milliarden Euro bereit. Fonds eingesetzt. Aktuelle Maßnahmen der Wohnungspolitik Von der Wohnbauförderungsanstalt zur NRW.BANK Wohnungspolitisch wurde festgestellten Problemen mit entsprechenden Maßnahmen begegnet, aktuell Aus diesen Erfahrungen heraus hat die nordrhein- auch mit einem Wohnungsbauprogramm für westfälische Politik der Wohnraumförderung stets Flüchtlinge. Im Lauf der Jahre wurden verschie besondere Beachtung geschenkt. Nachdem die dene Finanzierungsmodelle ausprobiert, die aller- Wohnungsnot deutlich abgenommen hatte und dings nicht immer nachhaltigen Erfolg h atten: 92 Akteure
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