Ursula Kleefisch-Jobst Peter Köddermann Karen Jung (Hg.)

Die Seite wird erstellt Susanne Richter
 
WEITER LESEN
Ursula Kleefisch-Jobst Peter Köddermann Karen Jung (Hg.)
Ursula Kleefisch-Jobst
Peter Köddermann
Karen Jung (Hg.)
Ursula Kleefisch-Jobst Peter Köddermann Karen Jung (Hg.)

Ursula Kleefisch-Jobst Peter Köddermann Karen Jung (Hg.)
Vorwort
Qualitäten beachten – Polaritäten vermeiden.
Warum der soziale Wohnungsbau unersetzlich ist   8
Michael von der Mühlen

Einführung
ALLE WOLLEN WOHNEN.
Gerecht. Sozial. Bezahlbar  10
Ursula Kleefisch-Jobst, Peter Köddermann und Karen Jung

Sabine Krafts letzter
„Blick zurück nach vorn“ in der Wohnungsfrage   12
Joachim Krausse

Blick zurück nach vorn.
Einige Überlegungen zur Frage der
Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus   14
Sabine Kraft († 2016)

Küche. Diele. Bad  22
WOHNEN IM WANDEL
1900–1930  24

WOHNEN IM WANDEL
1945 bis heute   38

Von der Familienwohnung zum Clusterwohnen.
Wohngrundrisse im Spiegel des
gesellschaftlichen Wandels  46
Gerd Kuhn

Gruppenzwang?
Von Baugruppen, Genossenschaften und
neuen Gemeinschaften  50
Annette Becker, Laura Kienbaum

DIE ZUKUNFT PLANEN UND BAUEN.
BauAUSSTELLUNGEN UND Ihre MUSTERBAUTEN   54

Die Wohnungsfrage als Thema der
Internationalen Bauausstellungen  66
Werner Durth

                                                          5
Ursula Kleefisch-Jobst Peter Köddermann Karen Jung (Hg.)
Akteure 70
Wohnen für alle.
Eine Aufgabe für alle   88
Alexander Rychter

Urbanität und Dichte   90
Ernst Uhing

Recht und Gesetz.
Zur Entwicklung der Wohnraumförderung   92
Karl Hofmann

Recht
auf Wohnen  94
POLITISCHE RAHMEN­BEDINGUNGEN ZUR
STEUERUNG DES WOHNUNGSMARKTES   100

GRUND UND BODEN   108

BAUSTANDARDS  118

BAUKOSTEN  122

Das „München Modell“.
Wohnungsbauförderung bei Eigentum und Miete   126
Elisabeth Merk

Wir wollen wohnen.
Wie kommen Baugruppen an ihre Grundstücke?   130
Regina Stottrop

6               
Ursula Kleefisch-Jobst Peter Köddermann Karen Jung (Hg.)
Architektur –
Das Haus  132
Bezahlbares Wohnen.
Zehn gebaute Beispiele   134

VOM BLOCK ZUR ZEILE ZUM PUNKT.
TYPOLOGIEN IM WOHNUNGSBAU   174

Neue Standards.
Neue Perspektiven  192
Olaf Bahner, Matthias Böttger

Wohngebiete 196
TYPOLOGIEN GROSSER WOHNSIEDLUNGEN   200

DAS DENKBARE IST DAS MACHBARE   204

NEUE WAHRNEHMUNGEN  210

WOHIN WÄCHST DIE STADT?         218

Raumkonzepte über Stadtgrenzen hinaus   226
Christoph van Gemmeren

Stadt wollen.
Aufruf zu Dichte und Urbanität   230
Architektenkammer Nordrhein-Westfalen

Ausblick  
Grundsteine legen. Wie wollen wir wohnen?  234
Ursula Kleefisch-Jobst, Peter Köddermann und Karen Jung  

Autoren  238

Bildnachweis  242

Impressum  246

                                                            7
Ursula Kleefisch-Jobst Peter Köddermann Karen Jung (Hg.)
Vorwort

Qualitäten beachten –
Polaritäten vermeiden.
Warum der soziale
Wohnungsbau unersetzlich ist

Michael von der Mühlen
Ministerium für Bauen, Wohnen,
Stadtentwicklung und Verkehr NRW

Sieben von zehn Deutschen leben heute in Städ-       geteilten Deutschland parallel zwei verschiedene
ten. Und die städtische Bevölkerung wächst wei-      Wege: einerseits der soziale Miet- und Genossen-
ter, die Zahl der Haushalte nimmt ebenfalls zu.      schaftsbau und die soziale Wohneigentumsförde-
Ursache dieser (Re-)Urbanisierung sind ökonomi-      rung in der Bundesrepublik, andererseits der – in
sche, technologische und kulturelle Veränderun-      unterschiedliche Qualitätsstufen einzuordnende –
gen. Städte sind die Zentren von Bildung und         Massenwohnungsbau der DDR.
Ausbildung, Wertschöpfung und Innovation in ei-
ner global vernetzten Informationsgesellschaft.      Von funktionalistischen Wohnblöcken zu
­Eine Konsequenz dieser Entwicklung: Die Im­mo­      Problemvierteln
 bilienpreise in wachsenden urbanen Regionen stei­
 gen immer schneller und bezahlbarer Wohnraum        Die gesetzlichen Grundlagen für die Expansivpha-
 wird dort knapp.                                    se des sozialen Wohnungsbaus in der Bundesrepu-
 So verwundert es nicht, wenn die Frankfurter All-   blik wurden durch das erste und zweite Woh-
 gemeine Zeitung eine „politische Renaissance“ des   nungsbaugesetz zu Beginn der 1950er Jahre
 sozialen Wohnungsbaus feststellt. Und es stimmt:    gelegt. Die in der Folge besonders in den 1970er
 Der soziale Wohnungsbau in Deutschland hat ei-      und 1980er Jahren errichteten Großwohnanlagen
 ne wechselvolle, von Brüchen gekennzeichnete        mit ihren funktionalistischen Wohnblöcken und
 Geschichte. Und dennoch ist er unersetzlich.        -türmen im Westen formten ein – schon damals
                                                     nicht immer zutreffendes – negatives Bild von
Blüte in der Weimarer Republik                       Großsiedlungen als „Problemquartiere“. Ab den
                                                     1990er Jahren galt Ähnliches auch für die Platten-
Seine frühesten Vorläufer werden gegen Ende des      bausiedlungen der ehemaligen DDR.
15. Jahrhunderts in Nürnberg (Siebenzeilen-Sied-     Nach der Jahrtausendwende zog sich der Bund
lung) verortet. Ohne schon als „sozial“ gekenn-      aus der sozialen Wohnraumförderung zurück und
zeichnet zu werden, erlebte der Siedlungsbau in      einige Bundesländer, darunter Berlin, stellten (im
den Großstädten der Weimarer Republik seine          Gegensatz zu Nordrhein-Westfalen) die Förderung
erste Blütephase. Es entstanden Siedlungstypen,      komplett ein.
die einkommensschwächeren Bevölkerungsgrup-
pen einen Mindestwohnkomfort in einem gesun-         Anspruchsvoller und maßstäblicher: der
den Umfeld bieten sollten (Berliner Moderne,         soziale Wohnungsbau heute
Neues Frankfurt). Im Nationalsozialismus wurde
mit Robert Ley ein „Reichkommissar für den sozi-     Heute kehrt der soziale Wohnungsbau zurück.
alen Wohnungsbau“ ernannt. Der Zweite Welt-          Anspruchsvoller, maßstäblicher und gleichzeitig,
krieg brachte die entwickelte Programmatik zum       so bleibt zu hoffen, neben quantitativen ebenso
Erliegen. Nach Kriegsende entwickelten sich im       qualitativen Zielen folgend. Nur mit der Auswei-

8                    
Ursula Kleefisch-Jobst Peter Köddermann Karen Jung (Hg.)
tung des sozialen Wohnungsbaus kann es in den          Einrichtungen wie Cafés und (Schnell-)Restau-
wachsenden Städten gelingen, eine gemischte            rants bestimmen zunehmend die öffentlich sicht-
Stadtbevölkerung zu erhalten. Nordrhein-Westfa-        bare Infrastruktur innerstädtischer Quartiere. Dies
len geht diesen Weg – mit einem Milliardenpro-         gilt gleichermaßen für Angebote von Dienstleis-
gramm der sozialen Wohnraumförderung.                  tungen und Kommunikation aller Art.
Bezahlbarer Wohnraum gehört zu den Fundamen-           Für Stadtentwicklung und die Zukunft des Woh-
ten des sozialen Zusammenhalts in einer Gesell-        nens ist die zeitliche Entgrenzung von Arbeit be-
schaft. Bei den Anforderungen an die Wohnstät-         sonders relevant. Veränderungen im Hinblick auf
ten von Menschen gilt auch im 21. Jahrhundert:         Raumansprüche, Wohnvorstellungen und Haus-
Sie haben die Grundbedürfnisse nach Schutz, In-        haltstätigkeiten, kurz: veränderte Lebensstile
timität und Privatheit zu befriedigen.                 bedingen Wohnformen jenseits der klassischen ab-
Die quantitative Ausweitung des (sozialen) Woh-        geschlossenen Klein­wohnung mit Wohn-, Schlaf-
nungsbaus muss die qualitativen Aspekte von            und Kinderzimmer. Der Variantenreichtum des
Stadtentwicklung im Auge behalten. Dazu gehört,        Wohnens wird flexiblere Grundrisse notwendig
neben Nutzungsmischung und einem angemesse-            machen. Letztlich: „Schlichtwohnen“, Luxuswoh-
nen Verhältnis von Dichte und Grünflächen, auch        nen, Alleinwohnen oder Mehrgenerationenwoh-
die Gestaltung des öffentlichen Raums in den           nen sind nur einige der derzeitigen Varianten und
neuen Wohnquartieren. Nicht selten in den ver-         – wahrscheinlich – gleichzeitig neue Polaritäten
gangenen Jahrzehnten war dieser öffentliche            des Wohnens.
Raum (im eigentlichen Sinne also erweiterter           Je mehr sozialer und bezahlbarer Wohnraum in
Wohnraum) ein Stiefkind der Planung. Das sollte        den nächsten Jahren entsteht, desto schwacher
sich nicht wiederholen.                                werden diese Polaritäten ausfallen. Das wäre zu
                                                       wünschen.
Aufgaben für die Siedlungsentwicklung

Wohnungsbau und Siedlungsentwicklung stehen
heute vor mannigfaltigen Aufgaben. Für das Woh-
nen relevant ist dabei vor allem die Singularisie-
rung als freiwillige oder unfreiwillige Form des Al-
leinwohnens und damit die Schrumpfung der
Zahl von Haushaltsangehörigen. Die Entwicklung
zum Ein- und Zweipersonenhaushalt bedingt
neue haushaltsbezogene Verhaltensweisen und Be-
dürfnisse, diese verändern wiederum die Infra-
struktur in den Innenstädten: Außerhäusliche

                                                                                                        9
Ursula Kleefisch-Jobst Peter Köddermann Karen Jung (Hg.)
Einführung

ALLE WOLLEN WOHNEN.
Gerecht. Sozial. Bezahlbar

Ursula Kleefisch-Jobst, Peter Köddermann
und Karen Jung

Das Recht eines jeden auf eine „menschenwürdige      einen Beitrag zu einer gerechteren Gesellschaft zu
Wohnung“ ist im Artikel 25 der UN-Menschen-          leisten. Die Bauherren waren vor allem Woh-
rechtscharta von 1948 verankert. Doch bezahlba-      nungsbaugesellschaften und Baugenossenschaften.
ren und sozialen Wohnungsbau zu schaffen, ist in     Letztere erleben derzeit eine Renaissance. Genos-
den vergangenen Jahren wieder zu einer großen        senschaften und Baugruppen ermöglichen vielen
Herausforderung für die Gesellschaft geworden.       Menschen bezahlbaren Wohnraum – bis weit in
Und das nicht erst, seitdem mehr Menschen Zu-        die Mittelschicht hinein. Vor allem im genossen-
flucht in Deutschland suchen. Wir müssen woh-        schaftlichen Wohnungsbau wird momentan mit
nen – und wollen wohnen. Jedoch wohnen nur           neuen Formen des gemeinschaftlichen Wohnens
die wenigsten Menschen so, wie sie wollen. War-      experimentiert. Die tradierte Kleinfamilie, an der
um ist das so? Einfache Antworten gibt es nicht.     sich die Wohnungskonzepte des 20. Jahrhunderts
Um bezahlbaren, lebenswerten Wohnraum für alle       orientiert haben, ist heute nicht mehr das Leitbild.
zu ermöglichen, sind viele Aspekte zu bedenken       Die immer stärker individualisierte Gesellschaft
und viele Akteure involviert.                        sucht neue Wohnformen, die sowohl Privatheit als
Derzeit ist in Deutschland die Förderung des sozi-   auch Gemeinschaft ermöglichen.
alen Wohnungsbaus Ländersache. Die Bestände
des geförderten Wohnungsbaus sind seit den           Wohnen – eine soziale Frage
1980er Jahren erheblich geschrumpft. Die Ab­
erkennung der Gemeinnützigkeit der Wohnungs-         Politiker, Stadtplaner, Architekten und Bauherren
baugesellschaften Ende der 80er Jahre und der        haben heute dieselben Ziele wie in den 1920er
Umstand, dass viele Wohnungen mittlerweile aus       Jahren. Wie kann der soziale und bezahlbare
der Mietbindung herausgefallen sind, führten da-     Wohnungsbau einen Beitrag zu einer gerechteren
zu, dass große Teile des sozialen Wohnungsbestan-    Gesellschaft leisten? So gedacht, wird der Woh-
des in den freien Markt übergegangen sind. In der    nungsbau zu einem Schlüssel für soziale Vielfalt,
Folge haben sich die Wohnungsunternehmen neu         Chancen auf Integration, für selbstbestimmtes Le-
am Markt positioniert. Angesichts des aktuellen      ben bis ins hohe Alter, die Vereinbarkeit von
Bedarfs an bezahlbarem Wohnraum ist dies eine        Wohnen und Arbeiten, aber auch für den Zugang
schwere Hypothek. Hinzu kommt: viele Kommu-          zu Bildung und Freizeitangeboten. Unsere Städte
nen verfügen nur noch über wenige Flächen.           und das Umland werden sich mit dem neuen
                                                     Massenwohnungsbau wieder einmal verändern.
Wohnungsbau der 1920er Jahre als Vorbild
                                                     Alle wollen wohnen – das Buch
Die Weimarer Republik hat durch staatliche För-
derprogramme in der kurzen Zeitspanne zwischen       Das Museum für Architektur und Ingenieurkunst
1919 und der Weltwirtschaftskrise 1929/30 einen      NRW entwickelte gemeinsam mit vielen Partnern
vorbildlichen Massenwohnungsbau realisiert.          im Jahr 2016 die Ausstellung „Alle wollen woh-
Architekten und Stadtplaner entwickelten neue        nen. Gerecht. Sozial. Bezahlbar“1, die sich mit den
Siedlungs- und Wohnkonzepte in der Zuversicht,       vielen Facetten und Herausforderungen des be-

10                   
Ursula Kleefisch-Jobst Peter Köddermann Karen Jung (Hg.)
zahlbaren und geförderten Wohnungsbaus be-            Veränderungen der Wohngrundrisse vom 20. zum
schäftigt. Das vorliegende Buch spiegelt die fünf     21. Jahrhundert, die stets ein Spiegel des gesell-
Ausstellungsbereiche, die sich den gesellschaftli-    schaftlichen Wandels sind. Viele Kommunen ver-
chen Anforderungen an das Wohnen widmen,              fügen nicht mehr über ausreichend Baugrund für
den Akteuren, den rechtlichen Grundlagen und          den geförderten Wohnungsbau. Um dennoch
neuen Wohntypologien sowie den Siedlungsgebie-        Menschen mit mittleren und kleinen Einkommen
ten in den Stadtzentren und -rändern.                 das Wohnen in der Stadt zu ermöglichen, gehen
Die Ausstellungstexte wurden ins Buch übernom-        Städte wie Wien, München und Zürich sehr unter-
men und bestehen aus verschiedenen Elementen:         schiedlich mit ihren Flächenreserven um. ­Elisabeth
Einführungen, Erläuterungen und Vertiefungen.         Merk, Stadtbaurätin in München, erklärt das dor-
Dabei setzen sich Texte und Bilder wie ein Puzzle     tige „München Modell“.
zusammen, das es den Lesern ermöglicht, sich ei-      Die hohen Baustandards in Deutschland treiben
nen Überblick zu verschaffen und sich dort zu         die Baukosten in die Höhe. In der Debatte um
vertiefen, wo sie besonderes Interesse haben. Zu-     bezahlbares Wohnen geraten daher die Normen
sätzlich erweitern und ergänzen Autoren unter-        und Richtlinien zunehmend auf den Prüfstand.
schiedlicher Fachrichtungen, aber auch Politiker,     Olaf Bahner und Matthias Böttger haben für eine
Vertreter der Wohnungswirtschaft, der Architek-       Ausstellung im Deutschen Architektur Zentrum
tenkammer und von Förderinstitutionen einzelne        in Berlin zehn Architekten aufgefordert, sich den
thematische Aspekte in begleitenden Beiträgen.        Fragen der Standards zu stellen; in ihrem Beitrag
Sabine Kraft, langjährige Mitherausgeberin der        fassen sie die Ansätze zusammen.
Zeitschrift Arch+, die leider im Mai 2016 ver-
storben ist, hatte zur Vorbereitung der Ausstellung   Das M:AI NRW bedankt sich an dieser Stelle
im Rahmen eines Workshops einen Vortrag zur           noch einmal herzlich für die großzügige Unter-
Geschichte des sozialen Wohnungsbaus gehalten.        stützung des Ministeriums für Bauen, Wohnen,
Sie schöpfte dabei aus ihrer jahrzehntelangen Aus-    Stadtentwicklung und Verkehr des Landes Nord-
einandersetzung mit dem Thema. Wir haben uns          rhein-Westfalen, der NRW.BANK, der Architek-
entschieden, diesen komprimierten Überblick pos-      tenkammer NRW, des Verbands der Wohnungs-
tum zu veröffentlichen.                               und Immobilienwirtschaft Rheinland Westfalen
Für die Internationalen Bauausstellungen des 20.      sowie vieler Partner vor Ort.
Jahr­hunderts waren Lösungen für den Massen­
wohnungsbau stets eine besondere Herausfor­de­        1 Das M:AI zeigte die Ausstellung bisher in
rung. Werner Durth geht diesem Thema nach und           Köln auf dem Clouth-Gelände vom 14. Sep-
ergänzt die Zeitleiste zu den Internationalen Bau-      tember bis zum 30. Oktober 2016 und in Düs-
ausstellungen. Annette Becker und Laura Kien­           seldorf im Landtag NRW vom 29. März bis
baum, Kuratorinnen der Ausstellung „Bauen und           zum 9. April 2017.
Wohnen in Gemeinschaft“ im Deutschen Archi-
tekturmuseum analysieren das neue Phänomen der
Baugruppen. Gerd Kuhn wirft einen Blick auf die

                                                                                                     11
Ursula Kleefisch-Jobst Peter Köddermann Karen Jung (Hg.)
Blick zurück nach vorn.
Einige Überlegungen zur
Frage der Wiederbelebung
des sozialen Wohnungsbaus

Sabine Kraft († 2016)

Es gibt, was das Wohnen betrifft, trotz aller demo-   mietet. Was ebenfalls Tradition hat, sind die Er-
grafischen und sozialstrukturellen Veränderungen,     fahrungen mit einem freien Wohnungsmarkt, wie
die die Gesellschaft über die Jahrhunderte hinweg     ein zeitgenössisches Zitat von Martin Luther
transformiert haben, eine historische Konstante:      (1483–1546) verdeutlicht: „Aber an jhenem tage
Es war nie möglich, dass die Schichten am unte-       werden sie den mund auftun und sagen: ‚Jhener
ren Rand der Gesellschaft, die Armen und/oder         ist mein Haussherr gewest, hat mich von jar zu jar
Diskriminierten, sich aus eigener Kraft mit Wohn­     mit den zinss gesteigert.’“
raum versorgen konnten. Das ist ein auch heute        In dieser Zeit lassen sich die Anfänge der kommu-
noch gültiges Faktum.                                 nalen Wohnungsversorgung anhand der Mietein-
Die eigentliche Geschichte des sozialen Woh-          nahmen der Städte ausmachen. So wurden die un-
nungsbaus beginnt erst zwischen den beiden Welt-      terschiedlichen Einnahmen für die Wohnungen
kriegen. Aber die unterschiedlichen Wurzeln rei-      der Stadtbediensteten wie Nachtwächter, Stadt-
chen weit in die Geschichte zurück. Sie zeigen,       schreiber, Medicus et cetera zusammen mit den
wie die Gesellschaft in den verschiedenen Epo-        „Gehältern“ in den städtischen Haushaltsbüchern
chen mit dem Problem des Armenwohnens umge-           festgehalten. Bei der jeweiligen Festlegung der
gangen ist.                                           Miethöhe wurde offensichtlich der Anteil des
Es lassen sich vier Wurzeln nach der jeweils unter-   Mietzinses am Einkommen bereits berücksichtigt.
schiedlichen Trägerschaft der Wohnungsvorsorge        Ein herausragendes Beispiel für frühen kommuna-
bzw. des Wohnungsbaus benennen:                       len Wohnungsbau ist Venedig.
1. Die kommunale Wohnungsversorgung bzw.              Der Höhepunkt des kommunalen Wohnungsbaus
   der kommunale Wohnungsbau                          liegt in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhun-
2. Der Stiftungswohnungsbau                           derts mit den berühmten Siedlungen in Wien,
3. Der Werkswohnungsbau                               Stuttgart, Berlin oder Frankfurt (die teilweise zum
4. Wohnungsbau in Regie der Landesherren              Weltkulturerbe ernannt worden sind). Aber es gibt
5. Alternative Modelle                                in diesem Zeitraum nicht nur die Highlights der
                                                      Moderne, sondern es finden sich in fast jeder
Der kommunale Wohnungsbau                             Stadt mittlerer Größe expressionistische und kon-
                                                      servative Ensembles aus den 1930er Jahren in
Die kommunale Wohnungsversorgung ist eng mit          kommunalem Besitz.
dem Wohnen zur Miete verbunden, das eine lan-         Nach dem Subsidiaritätsprinzip entstehen die ge-
ge Tradition hat. Es war bereits im 13. Jahrhun-      meinnützigen kommunalen Wohnungsbauunter-
dert aufgrund der Konzentration des Haus- und         nehmen, die als Vorläufer der gemeinwirtschaftli-
Grundbesitzes weit verbreitet. Es gibt für einige     chen Trägerschaft des sozialen Wohnungsbaus
Städte Zahlen über das Verhältnis des Wohnens         nach dem Zweiten Weltkrieg fungieren. Das be-
zur Miete und im Eigentum, zum Beispiel die           kannteste Beispiel ist die Gemeinnützige Heim-
Kölner Pfarrei St. Columba. Dort wurden 161           stätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft, kurz
Häuser von Eigentümern bewohnt und 661 ver-           GEHAG.

14                   
Der Stiftungswohnungsbau                               chungen (zum Beispiel englische Surveys, Woh-
                                                       nungs-Enquête der Ortskrankenkassen) oder den
Im 16. Jahrhundert beginnt der Stiftungswoh-           staatlichen Regulierungen sowie zum Unterneh-
nungsbau reicher Patrizier. Am bekanntesten ist        merdiskurs (Bonner Konferenzen). Aber auch zu
davon die Fuggerei aus dem Jahr 1521 – eine            den Werkssiedlungen, die zuerst an Standorten
Reihenhaussiedlung für bedürftige Augsburger           des Bergbaus und der Stahlverhüttung in Eng-
Handwerker und Tagelöhner, die aus eigener             land, Deutschland, Belgien und Frankeich ent-
Kraft keinen eigenen Haushalt führen konnten.          standen, sowie zu den Lebensbedingungen und
Weniger bekannt, aber wahrscheinlich für Jakob         der Entwicklung einer eigenen Arbeiterwohnkul-
Fugger ein Vorbild sind die niederländischen           tur in restriktiven Verhältnissen gibt es reichlich
Hofjes, um einen Hof gruppierte, meist zweige-         aufgearbeitetes Material.
schossige Reihenhäuser, häufig mit einem pracht-
vollen Eingangsportal ausgestattet. Hofjes wur-        Wohnungsbau durch Landesherren
den auch als „Seelgerät“ bezeichnet, da sie durch
die Gebete der Nutznießer die Aufnahme des             Unter der Regie der Landesfürsten beginnt der
Stifters im Jenseits freundlicher gestalten sollten.   Wohnungsbau „auf Vorrat“. Beispiele dafür sind
Sie dienten aber auch pragmatischen Zwecken wie        unter anderem die neu errichteten Residenzstädte
der Unterbringung der alten Bediensteten. Heute        mit den Wohnungen für das Beamtentum oder
gibt es noch Hunderte davon.                           das Nyboder Viertel in Kopenhagen für Seeleute
Auch die Kleinhäuser der Gängeviertel in den           (in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Bau-
Hansestädten, häufig für die Unterbringung alter       herr war Christian IV.).
Seeleute bzw. deren Witwen geplant, orientieren        Besonders interessant sind auch die Alberghi dei
sich am niederländischen Beispiel.                     Poveri, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts in den
                                                       Seestädten Neapel, Palermo und Genua gebaut
Der Werkswohnungsbau                                   werden. In ihrer Größe übertreffen diese Anlagen
                                                       das Schloss von Versailles. Die landesfürstlichen
Wo sich eine Hausindustrie entwickelte, entstan-       Initiativen im zersplitterten deutschen Feudalstaat
den auch frühe Formen des Werkswohnungsbaus,           sind Vorläufer des staatlichen Engagements im
wie zum Beispiel die um das Jahr 1500 gebauten         Wohnungssektor.
Weberhäuser in Nürnberg. Ein anderer Beleg sind
die ersten Nebenerwerbssiedlungen für die Arbei-       Alternative Modelle
ter der Manufakturen und des an Bedeutung ge-
winnenden Bergbaus. Dabei ist zu beachten, dass        Die Geschichte anderer Formen des Wohnungs-
der Werkswohnungsbau zwar überwiegend, aber            baus speist sich im Wesentlichen aus zwei Moti-
nicht nur aus Unternehmerhand erfolgte.                ven: erstens der Lösung der Wohnungsfrage im
Viele Quellen und Beispiele gibt es zum Woh-           Kontext eines neuen Verhältnisses von Arbeiten
nungselend des 19. Jahrhunderts, zu den Untersu-       und Wohnen und noch weitergehender: der Ent-

                                                                                                      15
22   
Küche. Diele. Bad

Wohnbautypologien und -grundrisse sind stets ein Spiegel
der Gesellschaft. Im 20. Jahrhundert war der Massenwoh-
nungsbau eine der zentralen Herausforderungen in ganz
Europa. Die Wohnungsfrage war nicht nur ein Thema der
Quantität, sondern auch ein gesellschaftliches Problem.
Die Weimarer Verfassung von 1919 verbürgte zum ersten
Mal „allen“ das Recht auf eine menschenwürdige Wohnung.
Damit übernahm der Staat die Verpflichtung, ein gemein­
wirtschaftliches System der Wohnungsversorgung aufzu­-
bauen. Nur im großen Maßstab und in neuen Siedlungsan-
lagen konnte die Wohnungsfrage beantwortet werden. Die
ab­­ge­schlossene Familienwohnung wurde zum Ideal des
Wohnens – und sie ist es bis heute.

Die derzeit paradoxe Situation einer zunehmenden
Individualisierung der Gesellschaft und eines neu
erwachenden Bedürfnisses nach Gemeinschaft stellt
dieses Wohnmodell jedoch infrage. Zurzeit wird mit
sogenannten Clusterwohnungen vor allem im ge­nos­sen­
schaftlichen Wohnungsbau experimentiert. Eine Kombi­-
nation aus Privaträumen und gemeinschaft­lich zu
nutzenden Flächen ist eine neue Antwort auf ver­änderte
soziale Strukturen über die klassische Familie hinaus.

                                                           23
DIE MINDESTSTANDARDS

Für viele Menschen, die in die Städte drängten, reichte der
vorhandene Wohnraum nicht aus. Die Wohnungen waren
überfüllt und viele Familien teilten sich zwei und immer öfter
sogar nur ein Zimmer. Meist waren die Zimmer unbeheizt
und selbst ein eigenes Bett besaß kaum jemand. Wenn das
Einkommen nicht ausreichte, wurden Untermieter und vor
allem in den Arbeiterfamilien sogenannte „Schlafgänger“
aufgenommen. Das waren Menschen, denen nur ein Bett
vermietet wurde, das der Schlafgänger sich manchmal sogar
mit einer anderen Person teilen musste. Besonders betrof­
fen waren Haushalte mit Kindern, die ihre Betten für die
Schlafgänger aufgeben mussten. In Essen betraf dies um
1900 drei Viertel aller Haushalte. Das Ideal der abgeschlos­
senen Familienwohnung – sei es im Siedlungsbau oder als
Etagenwohnung – schien vielen bürgerlichen Sozialrefor­
mern daher ein wichtiger Ansatz nicht nur zur Lösung der
Wohnungsfrage, sondern auch zur Stabilisierung der Gesell­
schaft insgesamt.

                                                     Eine überbelegte Wohnung in
                                                     Glasgow, Schottland, 1848
                                                     Diese Wohnungen waren oftmals
                                                     nicht mehr als Schlafstellen und
                                                     Depots für die wenigen Habseligkei-
                                                     ten. Privatsphäre gab es in diesem
                                                     „Durcheinanderwohnen“ nicht.

26              Küche. Diele. Bad
Arbeiterwohnhäuser, Berlin-Prenzlauer Berg, Grundrisse 1. und 2. OG,
                                        Architekten: Alfred Messel und Paul Kolb, 1899
                                        Der Reformwohnungsbau Alfred Messels um 1900 wies eine der fort­
                                        schritt­lichsten Wohnungslösungen auf. Die Wohnungen bestanden aus
                                        ein oder zwei Stuben, einer Küche mit kleiner Speisekammer und hatten
                                        jeweils eine eigene Toilette.

Die Familienwohnung

Das als sittlich verwerflich empfundene „Durchei-      und Wohnen und die Kleinfamilie als disziplinie-
nanderwohnen“ wie auch die extreme Mobilität           render Bezugsrahmen. Die Kleinfamilie basiert auf
der Zuwanderer sollten beschränkt und eine bes-        einer klaren Rollenverteilung: Während der Mann
sere Integration in die Stadtgesellschaft ermöglicht   die außerhäusliche Erwerbsarbeit übernimmt, ar-
werden. Die abgeschlossene Familienwohnung             beitet die Frau als Mutter und versorgt als Haus-
sollte dazu einen wichtigen Beitrag leisten. In den    frau das „traute Heim“. Diese Vorstellung vom
neuen Kleinwohnung zu leben, bedeutete für die         Wohnen und der ihr zugrunde liegende Woh-
vom Land zugewanderten Menschen jedoch eine            nungsgrundriss „Diele – Zimmer – Küche – Bad“
völlig neue Lebensweise: die Trennung von Arbeit       ist bis heute vorherrschend.

                                                                                                           27
DIE ZWECKMÄSSIGE WOHNUNG

Die abgeschlossene Familienwohnung blieb auch für die
Architekten des „Neuen Bauens“ in ihren Siedlungsanlagen
der Maßstab. Jedoch betrachteten sie die Wohnung und ihre
Grundrisslösungen nicht von den individuellen Bedürfnissen
ihrer Bewohner her, sondern als gebrauchstüchtige Funk­
tionseinheiten. Erstmals wurden Bewegungsabläufe in Woh­
nungen analysiert, um daraus die drei Hauptvorgänge des
Wohnens – Kochen/Essen, Wohnen/Ruhen und Schlafen/
Waschen – funktional mit wenigen Wegstrecken anzuordnen.

                                                                „Zu gutem Wohnen gehört
                                                                unter anderem die ganze
                                                                Summe von Bedingungen,
                                                                die den Ablauf unseres
                                                                täglichen Lebens reibungs­los
                                                                gestalten, die die Abwicklung
                                                                der Alltäglichkeit zusammen­
                                Max Laeuger, Skizzen,           drängen auf ein Minimum
                                Sichtbarkeit des Men-           an Kraft- und Zeitaufwand.“
                                schen im Raum, abhän-
                                gig von den Formen der          Erna Meyer, 1928.
                                Umgebung, o.J.                  Sie entwickelte die „Münchner Küche“
                                Der Keramiker und               als Kombination aus Arbeits- und
                                Architekt Max Laeuger           Wohnküche.
                                (1864–1952) hatte ab
                                1898 an der Technischen
                                Hochschule Karlsruhe
                                eine Professur für
                                Figuren­zeichnen inne,
                                später für Innenarchi-
                                tektur und Gartenkunst.

Architektur und Mobiliar

Der funktionalen Anordnung der Räume folgten          tung erschwinglich machen. Diese Notwendigkeit
Überlegungen und Entwürfe für zweckmäßige             wurde von den Architekten aber nicht als pragma-
Möbel. Die Kargheit der Wohnungen sollte zur          tische Lösungen dargestellt, sondern als Ausdruck
„Vermeidung ständigen und unproduktiven Ver-          für eine neue Zeit, veränderte Lebensweisen und
lustes an Nervenkraft“ beitragen. Vielfach wurden     als Sinnbild einer neuen, demokratischen Gesell-
für die Kleinwohnungen gleich Typenmöbel mit          schaft überhöht. Die Bewohner jedoch konnten
entworfen. Denn nur mit diesen neuen Möbeln           diese Askese meist nicht genießen und zwängten
waren die minimalistischen Grundrisse überhaupt       ihre schweren, überbordenden Möbel der Kaiser-
zu nutzen. So wie sich die Baukosten durch stan-      zeit in die Kleinwohnungen. Oft sicherlich auch,
dardisierte Elemente verringern sollten, so wollte    weil sie sich keine neuen Möbel leisten konnten.
man mit Typenmöbeln auch die neue Einrich-

30                   Küche. Diele. Bad
Musterwohnung, Köln, um
1920, Bauherr: GAG, Köln
In Musterwohnungen zeigte
die GAG ihren Mietern die
neue funktionale Einrichtung.

                                Alexander Klein, Ganglinien in negativen und positiven Wohnbeispielen, um 1928
                                Der ab 1920 in Berlin als Architekt tätige Alexander Klein (1879–1961) beschäftigte
                                sich systematisch mit der Funktionalisierung von Grundrissen.

                                                                                                              31
DIE KÜCHE

An keinem anderen Raum lässt sich so deutlich zeigen,
welchen Einfluss der gesellschaftliche Wandel auf die
Wohnkultur hatte wie an der Küche. Bis zur Mitte des
19. Jahrhunderts bestand die Küche lediglich aus einer
Kochgelegenheit in der Diele, die sich mehrere Familien
teilten. Mit dem Wandel der Wohnungen zu einer abge­
schlossenen Einheit wurde die Küche zu einem festen
Bestandteil des Raumprogramms.
Die Küche, die die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky
für die Frankfurter Siedlungen der 1920er entwarf, spiegelt
deutlich auch das neue Verständnis der Hausarbeit. Im
Sinne einer gleichberechtigteren Arbeitsteilung von Mann
und Frau wurde die Hausarbeit nun als Arbeit verstanden
und die Küche als Arbeitsstätte der Frau angesehen.
In der Küche hantierte die Frau mit Maschinen wie der Mann
in der Fabrik. Die Küche wurde Zeit- und Arbeitsstudien und
ergonomischen Untersuchungen unterworfen. Das Buch Die
rationelle Haushaltsführung von Christine Frederick, das 1922
erschien, avancierte zum Standardwerk für die Architekten.

                                                     „Jeden Handgriff sollte man
                                                     abmessen, jeden Schritt sollte
                                                     man zählen und sozusagen auf
Die Frankfurter Küche                                die Waagschale legen.“
                                                     Margarete Schütte-Lihotzky
Die Frankfurter Küche misst nur 1,90 mal 3,44
Meter. Einbauschränke, Arbeitsplatte, Spüle, Herd
und die berühmte Kochkiste, in der das Essen
nachgaren kann, sind so angeordnet, dass sie einen
Wege und Zeit sparenden Arbeitsablauf ermögli-
chen. Aber es gab nicht nur die Frankfurter Kü-
che, sondern für alle Großsiedlungen wurden ei-
gens entworfene Einbauküchen geschaffen.
Neben dem separaten Raum waren es vor allem
zwei technische Neuerungen, die die Küche und
damit die Hausarbeit revolutionierten: fließendes
Wasser und ein Anschluss an die Kanalisation. Im
Grundriss des städtischen Mietshauses erhielt die
Küche jedoch meist einen zum Hof gewandten
Platz mit wenig Licht und schlechter Belüftung.

32                   Küche. Diele. Bad
Frankfurter Küche, Architektin: Margarete Schütte-Lihotzky, 1926

                                                                   33
Hufeisensiedlung, Berlin-Britz,
Masterplan: Bruno Taut, 1925–1933
Die Hufeisensiedlung war Berlins erste Groß-
siedlung. Bauherr war die gewerkschaftsnahe
Baugesellschaft GEHAG (Gemeinnützige
Heimstätten Aktiengesellschaft). Die Siedlung
auf dem Ge­l ände des ehemaligen Rittergutes
Britz entstand in sieben Bauabschnitten. Es
wurden 21.374 Wohneinheiten gebaut, davon
679 Einfamilienhäuser. Das Kernstück der
Anlage ist die hufeisenförmig gekrümmte
Zeile um eine historische Teichanlage.

                                                Nach den Vorschriften der Wohnungsfürsorgege-
                                                sellschaft musste eines der Zimmer mindestens
                                                20 Quadratmeter groß sein. Taut lehnte eine Ver-
                                                kleinerung der Schlafräume auf ein Mindestmaß
                                                ab: „Die Wohnung hat heute längst ihren reinen
                                                Wert als Schlafgelegenheit verloren, sie muss heu-
                                                te noch weit wichtigere Funktionen erfüllen, sie
                                                muss so angelegt sein, dass sie wirklich zu einer
                                                Ruhe- und Erholungsstätte für alle Mitglieder der
                                                Familie wird.“
                                                Bruno Taut im Berliner Stadtblatt vom 5.9.1926

36                      Küche. Diele. Bad
Grundrissvarianten, Hufeisensiedlung, Berlin-Britz,
Masterplan: Bruno Taut, 1925–1933
Für die 1000 Wohnungen im Kernbereich der Hufeisensied-
lung in Berlin-Britz entwarf Bruno Taut nur vier Grund-
risstypen, alle nach den gleichen Grundsätzen: Ein kurzer
Flur erschließt alle Räume, so werden Durchgangszimmer
vermieden. Die Zimmer werden möglichst gleich groß be-
messen.
Die Britzer Grundrisse wurden in den nachfolgenden Sied-
lungen der GEHAG „technisch und ökonomisch schrittwei-
se verbessert“, blieben aber in den Grundsätzen gleich. Sie
wurden in vielen Siedlungen der 1920er Jahre in ganz
Deutschland übernommen.

                                                       37
Von der Familienwohnung
zum Clusterwohnen.
Wohngrundrisse im Spiegel
des gesellschaftlichen Wandels

Gerd Kuhn

Das Postulat der Weimarer Verfassung, jeder deut-       der neuen Wissenschaft, Gustav Wolf, nicht mehr
schen Familie eine gesunde Wohn- und Heimstät-          nur Hohlräume und das Knochengerüst des Hau-
te zu sichern, war ein Meilenstein der sozialstaatli-   ses zu entwerfen; der Architekt dürfe auch nicht
chen Wohnungspolitik und führte zur Form des            mehr nur in Zimmern und Fluren denken und
abgeschlossenen Wohnens in der Kernfamilie, die         planen, vielmehr solle er „das Wohnen, die Le-
uns noch heute so vertraut erscheint. Erstmals war      bensform selbst“ entwerfen.2 Es ging in dem sozial­
es in der Weimarer Republik für Arbeiterhaushalte       orientierten Wohnungsbau der Zwischenkriegszeit
nicht mehr notwendig, familienfremde Menschen           um eine Verwissenschaftlichung der Grundrissbil-
in die kleinen Wohnungen aufzunehmen. Da-               dung, die auf einer Objektivierung der Grundriss-
durch konnte die Wohnung zum intimen Ort der            eigenschaften beruhte. Die funktionale Wohnung
Familie werden. Arbeit und Konsum fanden außer­         im sozialen Wohnungsbau wurde jetzt zum wissen-
häuslich statt.                                         schaftlichen Laboratorium der Architekten. Sie
Der in der Weimarer Verfassung formulierte Vor-         führten Bewegungsstudien durch, um möglichst
rang für abgeschlossene Familien-Kleinwohnun-           kurze Wegstrecken zu ermitteln. Dies hatte zur
gen war keineswegs nur durch die Notwendigkeit          Folge, dass die für vielfältige Nutzungen offenen
zum kostengünstigen Bauen begründet, sondern            Wohnküchen häufig durch funktionale Küchen er-
auch aus der Struktur der städtischen Bevölke-          setzt wurden. Während heute Wohnküchen oder
rung. Bereits Mitte der 1920er Jahre lebten über        offene Wohnsphären eine neue Wertschätzung er-
60 Prozent der Menschen in Kleinfamilien mit bis        fahren und von den exklusiven Küchenherstellern
zu vier Personen.1 Die Suche nach angemessenen          als Orte des Erlebnisses und der Kommunikation
Grundrissen für die Kleinwohnungen spiegelte so-        ästhetisiert werden, blieben die funktionalen Kü-
mit den gesellschaftlichen Wandel in der Indust-        chen ausschließlich Orte der Nahrungszuberei-
riegesellschaft.                                        tung. Die Haushaltswissenschaftlerin Erna Meyer,
                                                        die eng mit Bruno Taut zusammengearbeitet hatte,
Die funktionale Wohnung                                 forderte eine „innere Umstellung der Hausführung
                                                        durch Erziehungsarbeit an uns selbst“3.
Wichtige Impulse für die Entwicklung der moder-         All diese Bestrebungen der Architekten wurden
nen Kleinwohnung gingen in den 1920er Jahren-           durch Wohngesetze und Förderrichtlinien ge-
von der neuen Grundrisswissenschaft aus. Der Ar-        stützt. Die Standardwohnung hatte nun eine In­
chitekt habe, so einer der profiliertesten Vertreter    nen­­­toilette und ein kleines Bad zur Körperrei­

46                    Küche. Diele. Bad
Römerstadt, Frankfurt am Main, Masterplan: Ernst May,
                                                     Umzeichnung Gerd Kuhn

nigung, eine funktionale Küche zur Nah­rungs­­       Neue Haushaltstypen – vielfältige Grund-
zubereitung und für die Geschwister kleine, nach     risslösungen
Geschlecht getrennte Schlafräume. Alle Räume
waren funktional durchdrungen und hierarchisch       Seit den 1980er Jahren ist es Allgemeingut gewor-
gegliedert. Die Erwerbsarbeit fand außerhäuslich     den, dass an die Stelle der früheren abgeschlosse-
statt.                                               nen Kleinfamilie eine Vielzahl unterschiedlicher
                                                     sogenannter neuer Haushaltstypen getreten ist. In-
Die Normalwohnung                                    sofern stellt der standardisierte Grundriss-Normal-
                                                     typ inzwischen zunehmend einen Anachronismus
Die Wohnexperimente der 1920er Jahre führten         dar.
schließlich zu den Grundrissen, die auch nach        Es entstanden deshalb besonders in den vergange-
dem Zweiten Weltkrieg im sozialen Wohnungsbau        nen Jahren neue Wohnquartiere, die der sozialen
massenhaft umgesetzt wurden. Dabei sahen diese       und lebensweltlichen städtischen Vielfalt in unse-
stets die Beachtung gewisser Normen in Größe,        ren Stadtregionen entsprechen wollen. Statt einer
Schnitt und Ausstattung der Wohnungen vor. Die       homogenen Siedlungsgemeinschaft werden nun
Akzeptanz der Normalwohnung als standardisierte      le­b en­d ige Quartiere errichtet, die eine breite
und konfektionierte Massenware für „nivellierte“,    Durch­mischung der Bewohnerschaft nach Alter,
breite Mittelschichten der 1950er und 1960er         Geschlecht, Bildung, Herkunft, Einkommen,
Jahre wird verständlich vor dem Hintergrund des      speziel­len Bedürfnissen und Lebensformen anstre-
nur langsam abgebauten Wohnungselends der            ben. Die soziale Vielfalt verlangt auch nach einer
Aufbaujahre einerseits und einer sozialen Realität   baulichen Vielfalt. Die Grundrisswissenschaft er-
andererseits, in der beispielsweise 95 Prozent der   lebt daher eine neue Blüte.
einschlägigen Jahrgänge verheiratet waren und        In dem generationsübergreifenden Wohnprojekt
mehr als 90 Prozent dieser Eheleute Kinder hat-      Giesserei in Winterthur entstanden auf der Basis
ten. Jedoch verlor die standardisierte Normalwoh-    einer modularen Bauweise 155 Wohnungen mit
nung ihre normative Kraft durch anwachsenden         43 verschiedenen Wohnungstypen in den unter-
Wohlstand und die damit einhergehende zuneh-         schiedlichsten Wohnungsgrößen von Ein- bis
mende Individualisierung und Ausdifferenzierung      Zehnzimmerwohnungen.
der Gesellschaft nach unterschiedlichen Milieus      Die Grundrissvielfalt in den neuen Wohnprojek-
und selbstdefinierten Lebensstilen.                  ten, wie in der Kalkbreite oder im Hunziker-Areal

                                                                                                         47
1871–1918:                                                                     1918–1933:
Deutsches Kaiserreich                                                          Weimarer Republik

1901                      1913                                  1914           1924
„Ein Dokument             Internationale                        Deutsche       Bauausstellung,
Deutscher Kunst“,         Bauausstellung,                       Werkbund­      Stuttgart
Mathildenhöhe,            Gartenstadt                           ausstellung,
Darmstadt                 Marienbrunn,                          Köln
                          Leipzig

1927
Werkbundausstellung „Die Wohnung“,
Siedlung Weißenhof, Stuttgart

Auf städtischem Areal unter der künstlerischen Leitung
von Ludwig Mies van der Rohe und mit Richard Döcker als
Bau­leiter entstanden 21 Musterhäuser von 17 europäi-
schen Architekten. Sie vertraten überwiegend die Ideale
des Neuen Bauens. Ursprünglich war beabsichtigt, Häuser
„für die dringenden Wohnbedürfnisse“ zu errichten. Am
Stuttgarter Killesberg aber entstanden größtenteils frei-
stehende Häuser für den bürgerlichen Anspruch. Mies
zeigte mit seinem Wohnblock, dass die Stahlskelettbau-
weise variable Grundrisse auch im Geschosswohnungsbau
ermöglicht. Die Reihenhäuser des Holländers Pieter Oud
fanden Anerkennung wegen ihrer durchdachten Grund­
risse und der Rhythmisierung der Zeilen durch einge-
schnittene kleine Wirtschaftshöfe. Die Resonanz auf den
Weißenhof war jedoch sehr verhalten. Paul Bonatz be­
zeich­­nete sie als „Vorstadt Jerusalems“, die Nationalsozia-
listen verunglimpften die Siedlung später als „Araberdorf“
– vor allem wegen der flachen Dächer und des weißen
­Putzes der Häuser. Heute ist die Weißenhof-Siedlung eine
Inkunabel der Architekturgeschichte.

56                        Küche. Diele. Bad
1927                     1928                                  1929
Werkbundausstellung      Ausstellung                           Ausstellung
„Die Wohnung“,           „Bauen und Wohnen“,                   „Wohnung und Werkraum“,
Siedlung Weißenhof,      Siedlung Fischtalgrund,               Versuchssiedlung Grüneich,
Stuttgart                Berlin-Zehlendorf                     Breslau

1928                                                           1929
Ausstellung „Bauen und Wohnen“,                                Ausstellung „Wohnung und Werkraum“,
Siedlung Fischtalgrund, Zehlendorf, Berlin                     Versuchssiedlung Grüneich, Breslau

Die Siedlung Fischtalgrund unter der Federführung von          Die Ausstellung „Wohnung und Werkraum“ wurde ver­
Heinrich Tessenow wurde anlässlich des zehnjährigen            anstaltet vom Deutschen Werkbund und der Breslauer
­Bestehens der Gagfah (Gemeinnützige Aktiengesellschaft        Messe- und Ausstellungsgesellschaft. Die zeitgenössi-
für Angestellten-Heimstätten) errichtet. Die Siedlung sollte   schen Kommentatoren verglichen die Ausstellung mit dem
­einen Beitrag im Kampf gegen die Wohnungsmisere leis-         Stuttgarter Weißenhof, jedoch bauten in Breslau nur deut-
ten, angepasst an die wirtschaftlichen Bedingungen des         sche Architekten. Besondere Beachtung fanden das Wohn-
Mittelstandes. Daher waren den Architekten Grenzen für         hochhaus von Adolf Rading und das Ledigenwohnheim von
Kosten und Größe der Häuser vorgegeben. Die Sattel­            Hans Scharoun. Bei diesem Projekt erweiterten Gemein-
dächer – wohl eine Forderung der Gagfah –, die glatt           schaftsräume, eine Großküche, ein Speisesaal sowie
­geputzten Fassaden sowie die Klappläden und Pergolen          Sonnen­terrassen und Loggien das knappe persönliche
wurden von den Kritikern als rückwärtsgewandt verhöhnt.        Raumangebot der nur 27 bis 34 Quadratmeter großen
                                                               Apartments.

                                                                                                                       57
Die Wohnungsfrage als Thema der
Internationalen Bauausstellungen

Werner Durth

„Eine Stadt müssen wir erbauen, eine ganze Stadt!     Eine neue Idee vom Haus
Alles andere ist nichts!“ Mit diesen Worten for-
derte der junge Architekt Josef Olbrich 1898 im       Unter dem Titel Ein Dokument deutscher Kunst
Künstlerkreis der Wiener Sezession den Entwurf        wurde die Siedlung auf der Mathildenhöhe vor
einer neuen Welt, in der künftiges Wohnen zu-         Darmstadt ab Mai 1901 mit vollständig ausge-
gleich das Erleben eines Gesamtkunstwerks er-         statteten Wohnungen als Ausstellung präsentiert.
möglichen würde. „Die Regierung soll uns ein          Begeistert beschrieb der damals berühmte Kunst-
Feld geben, und da wollen wir dann eine Welt          schriftsteller Alfred Lichtwark die „Stimmung
schaffen. Das heißt doch nichts, wenn Einer bloß      freudigen Staunens“, in der die Besucher die neu-
ein Haus baut. Wie kann das schön sein, wenn          en Häuser bewunderten: „Was sie nun mitneh-
daneben ein hässliches ist? Was nützen drei, fünf,    men, ist eine neue Idee vom Haus. Kommen sie in
zehn schöne Häuser, wenn die Anlage der Straße        ihre alte Wohnung, so werden sie den ungeheuren
keine schöne ist? Was nützt die schöne Straße mit     Abstand fühlen, werden sehen, werden fragen und
schönen Häusern, wenn darin die Sessel nicht          werden hören, daß diese neuen Häuser mit all ih-
schön sind oder die Teller nicht schön sind? Nein     rer Traulichkeit, all ihrem Komfort und ihrem
– ein Feld; anders ist es nicht zu machen. Ein lee-   Behagen sogar billiger sind als die haarsträubende
res weites Feld; und da wollen wir dann zeigen,       Banalität, in der sie sich bisher wohlgefühlt ha-
was wir können; in der ganzen Anlage und bis ins      ben. So wird diese Ausstellung auch in meiner Er-
letzte Detail. Alles von demselben Geist be-          innerung als erster Versuch stehen bleiben, den
herrscht, die Straßen und die Gärten und die Pa-      Deutschen an einem praktischen Beispiel zu zei-
läste und die Hütten und die Tische und die Ses-      gen, was ein Wohnhaus leisten kann.“2
sel und die Leuchter und die Löffel Ausdrücke         1908 wurden in einer nächsten Ausstellung auf
derselben Empfindung.“1                               der Mathildenhöhe gleich neben der Künstlerko-
Diese Vision einer Vereinigung von Stadt und          lonie Musterhäuser für Arbeiterfamilien gezeigt,
Landschaft, Kunst und Natur sollte Wirklichkeit       1914 waren es Mietwohnungen in Geschoss-
werden. 1899 wurde Olbrich vom Großherzog             wohnbauten, großzügig mit Loggien und Vorgär-
Ernst Ludwig in die Hessische Residenzstadt           ten ausgestattet – als Alternative zum Elend in den
Darmstadt berufen, um mit den Häusern für die         Mietskasernen. Der Anspruch auf Baukultur sollte
neu gegründete Künstlerkolonie die weltweit erste     für alle Schichten der Gesellschaft gelten.
Internationale Bauausstellung auf Dauer zu schaf-
fen. Tatsächlich gelang es, in Abkehr von den         Karge Sachlichkeit auf dem neuesten Stand
Bautraditionen der Kaiserzeit ein Ensemble von        der Technik
Wohnhäusern mit funktionalen Grundrissen und
vergleichsweise schlichter Gestaltung im Sinne        Der Erste Weltkrieg beendete die Entwicklung
des gerade aktuellen Jugendstils zu errichten.        der Bauausstellung in Darmstadt, die internatio-

66                   Küche. Diele. Bad
nal neue Maßstäbe für künftiges Wohnen gesetzt       Bauausstellungen der Nachkriegs­moderne
hatte. Als im Jahr 1925 die Stadt Stuttgart ent-
schied, in einer Siedlung neueste Tendenzen des      Die Constructa in Hannover 1951 war eine Bau-
Wohnens durch gebaute Beispiele zu demonstrie-       fachmesse, zu der bereits moderne Siedlungsbau-
ren, bezog sich der beauftragte Architekt Ludwig     ten im Umfeld gezeigt werden konnten. Im selben
Mies van der Rohe ausdrücklich auf das Vorbild       Jahr präsentierte Darmstadt zum 50-jährigen
in Darmstadt bei seinem Versuch, trotz deutlicher    Jubiläum der Ausstellung 1901 eine Reihe von
Unterschiede zwischen den einzelnen Häusern          Meisterbauten als Anregung für die kommende
durch Vorgaben für schlichte Kubaturen und fla-      Nachkriegsmoderne. Beide Ausstellungen gaben
che Dächer ein einheitliches Bild der Versuchs-      Impulse für die inzwischen dritte Internationale
siedlung Am Weissenhof zu erzielen. Nun war es       Bauausstellung, nun im Westen Berlins, kurz In-
nicht mehr der schwungvolle Jugendstil, sondern      terbau Berlin 1957 genannt. Auf den Trümmern
karge Sachlichkeit, mit der unter dem Titel Die      eines im Luftkrieg zerstörten Quartiers der Grün-
Wohnung moderne Architektur 1927 in Stuttgart        derzeit sollte als Alternative zur baulich verdichte-
vorgestellt wurde, in Materialien und Konstrukti-    ten Steinernen Stadt durch Erweiterung des Tier-
onen auf neuestem Stand der Technik, entworfen       gartens eine Stadtlandschaft mit aufgelockerter
von prominenten Architekten aus verschiedenen        Bebauung im Grünen angelegt werden. Durch ei-
Ländern Europas. Hier war nach dem Grauen des        ne große Gestaltungsvielfalt im Entwurf von
Ersten Weltkriegs und dem wirtschaftlichen           Haustypen und Grundrissen im breiten Spek­
Elend der folgenden Jahre die erste Zwischenbi-      trum zwischen flachen Reihenhäusern, Geschoss-
lanz eines international Neuen Bauens zu sehen,      wohnungsbau und schlanken Hochhäusern soll-
das durch Normen, Typen und rationelle Bauwei-       ten zugleich Zeichen gesetzt werden gegen den
sen für die Entwicklung eines sozialen Woh-          Rückgriff auf nationale Bautraditionen. Diese
nungsbaus neue Maßstäbe setzte, die bis heute        nahmen im Osten der Stadt nach Weisung Stalins
Gültigkeit haben.                                    beispielsweise in der großen Magistrale der Stalin­
Die Herrschaft des Nationalsozialismus setzte dem    allee Gestalt an. Als kulturelles Gegenmodell
Aufbruch der Moderne ein jähes Ende. Anstelle        wurde im Kalten Krieg durch das neue Hansa-
eines Internationalen Stils wurde nun die Wieder-    viertel im Westen mit weltweiter Anerkennung
belebung nationaler Bautraditionen propagiert,       unter Leitung von Otto Bartning die Pluralität
statt Industrialisierung waren wieder Handwerk-      der Lebensformen und die Freiheit der Gestaltung
lichkeit und regionale Bindung gefragt. Die Prota-   demonstriert, doch waren damit zugleich auch die
gonisten der Moderne emigrierten oder überlebten     Grenzen des Leitbilds einer weiträumig aufgelo-
ärmlich in der sogenannten inneren Emi­gra­tion.     ckerten Stadtstruktur sichtbar geworden.
Erst 1950 konnten erneut Bauausstellungen vor-       So war es kein Zufall, dass einige der jungen Ar-
bereitet werden.                                     chitekten aus Berlin, die an der Interbau 1957

                                                                                                      67
Weiße Stadt, Köln, 1929–1932, Architekt:
               Wilhelm Riphahn, Bauherr: GAG, Köln
               Wie kein anderer personifizierte der
               Kölner Architekt Wilhelm Riphahn die
               Siedlungsbaupolitik der Domstadt in den
               1920er und frühen 1930er Jahren. Als
               „Hausarchitekt“ war Riphahn mit der
               Konzeption, Planung und Realisierung der
               meisten wichtigen und vor allem heraus-
               ragenden Siedlungen der Gemeinnützigen
               Wohnungsgesellschaft AG (GAG) befasst.

80   Akteure
Die gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften

In der Weimarer Republik leisteten die gemein-        stände in den freien Wohnungsmarkt über. Die
nützigen Wohnungsbaugesellschaften neben den          erste Welle der auslaufenden Sozialbindungen
Baugenossenschaften einen wichtigen Beitrag zum       führte in den 1980er Jahren zu einem Einbruch in
sozialen Wohnungsbau. Mit bescheidenem Eigen-         der staatlich geförderten Wohnungsvorsorge. 1982
kapital ausgestattet, mussten sich die Gesellschaf-   erschütterte ein Skandal um die gewerkschaftsei-
ter Investitionskapital auf dem privaten Geld-        gene Wohnungsbaugesellschaft Neue Heimat die
markt leihen. Den entscheidenden Teil der             Wohnungswirtschaft. Die Neue Heimat war mit
Finanzierung aber machten die staatlichen Zu-         etwa 400.000 Wohnungen damals die größte
schüsse aus der Hauszinssteuer aus. Diese Unter-      Wohnungsbesitzerin in der Bundesrepublik. Ver-
stützung erhielten die Baugesellschaften aufgrund     untreuung und Missmanagement machten die
ihrer Gemeinnützigkeit.                               Neue Heimat zu einem Sanierungsfall. Aus dieser
Nach dem Zweiten Weltkrieg wandelte sich die          Erfahrung heraus wurde 1988 die Gemeinnützig-
staatliche Förderung der Gesellschaften hin zu ei-    keit der Wohnungsbaugesellschaften abgeschafft
ner Förderung der Bauprojekte. Die Mietbindung        und die direkten staatlichen Subventionen im so-
und die Belegungsvorgaben wurden für einzelne         zialen Wohnungsbau wurden eingestellt. Das hat-
Gebäude festgelegt und zwar für die Länge der         te den Verkauf von großen Beständen des sozialen
Laufzeit der öffentlichen Darlehen. Dies sind in      Wohnungsbaus an private Investoren zur Folge.
der Regel 15 oder 25 Jahre, danach gehen die Be-

Die Gemeinnützigkeit                                  Die Hauszinssteuer

In der Weimarer Republik basierte die Gemein-         Diese Sondersteuer geht auf einen Vorschlag des
nützigkeit der Wohnungsbaugesellschaften auf          Berliner Stadtbaurats Martin Wagner aus dem Jahr
vier Grundlagen. Diese hatten bis zur Abschaf-        1916 zurück. Nach dem Ersten Weltkrieg waren
fung der Gemeinnützigkeit der Wohnungsbauge-          die Mieten als Friedensmiete auf das Niveau vor
sellschaften 1988 in der Bundesrepublik weitge-       dem Krieg eingefroren worden. Aus Solidarität mit
hend Bestand:                                         den Wohnungssuchenden sollten die Mieter einen
• Bauverpflichtung – in der Weimarer Republik         zweckgebundenen Mietzuschlag leisten, einkom-
   war es der Kleinwohnungsbau.                       mensschwächere Mieter wurden befreit. Ab dem­­
• Gewinnbegrenzung – sie wurde in der Wei-            1. Juli 1921 betrug diese Mietsteuer zunächst fünf
   marer Republik auf maximal vier Prozent des        Prozent der Friedensmiete. 1924 erfolgte aufgrund
   Gesellschaftskapitals begrenzt.                    der Inflation eine Neuregelung, bei der die Länder
• Vermögensbindung – ausscheidende Gesell-            und Kommunen das Recht erhielten, den Satz
   schafter erhielten nur den Nominaleinsatz zu-      selbst zu bestimmen – in der Regel 20 bis 25 Pro-
   rück. Die Wertsteigerung der Wohnungsbe-           zent der Friedensmiete. Diese Hauszinssteuer bil-
   stände wurde nicht kapitalisiert.                  dete die grundlegende Basis für die staatliche Un-
• Kostenmiete – die Miete orientierte sich nicht      terstützung des Wohnungsbaus. 1926 betrug die
   am Markt, sondern diente der Kostendeckung.        Gesamtinvestition in den Wohnungsbau 1,9 Mil­
                                                      lio­nen Reichsmark (entspricht heute 6,84 Millio-
                                                      nen Euro). 35 Prozent davon wurden aus der
                                                      Hauszinssteuer aufgebracht. Ab den 1930er Jahren
                                                      allerdings wurde die Steuer immer häufiger für an-
                                                      dere staatliche Belange eingesetzt.

                                                                                                    81
Recht und Gesetz.
Zur Entwicklung
der Wohnraumförderung

Karl Hofmann

In den Jahren nach 1945 herrschte wegen der          von der Bundesregierung die gesetzliche Grundlage
Kriegszerstörungen wirkliche Wohnungsnot. Nur        für die Wohnraumförderung geschaffen geworden
noch etwa 1,3 Millionen Wohnungen waren in           war, wurde im Jahr 1958 für eine effizientere Orga-
Nordrhein-Westfalen bewohnbar; eine weitere          nisation der Darlehensverwaltung und zum Aufbau
knappe Million konnte zwar bewohnt werden,           eines revolvierenden Fonds eine Vollbank gegrün-
war jedoch stark beschädigt. Gleichzeitig wuchs      det – die Wohnungsbauförderungsanstalt Nord-
die Bevölkerung unter anderem durch Rückkehrer       rhein-Westfalen. Heute ist dies die NRW.BANK.
und Vertriebene deutlich an, was unter anderem       Bis zu diesem Zeitpunkt wurden Fördermittel in
die Bewirtschaftung des verfügbaren Wohnraums        Nordrhein-Westfalen durch 180 Städte und Land-
erforderlich machte. Durch Bereitstellung erhebli-   kreise vergeben und verwaltet. Die bei den Kom-
cher finanzieller Mittel und die Konzentration der   munen verwalteten Darlehen wurden auf die
Baukapazitäten wurden bis 1948 etwa 1,2 Millio-      NRW.BANK übertragen und bilden zusammen
nen Wohnungen in Nordrhein-Westfalen wieder-         mit den bis jetzt vergebenen Mitteln ein revolvie-
aufgebaut und bewohnbar gemacht.                     rendes Vermögen, aus dem die Wohnraumförde-
Im Jahr 1948 erfolgt auf Drängen der Alliierten      rung finanziert wird.
die Gründung der Kreditanstalt für Wiederauf-        Bis heute sind kommunale Behörden als Bewilli-
bau, heute KfW Bankengruppe. Mit Hilfe auslän-       gungsstellen für die Mittelvergabe zuständig, die
discher Gelder wurde bundesweit über die KfW         NRW.BANK zahlt die Fördermittel aus und ver-
unter anderem der Wiederaufbau von Wohnraum          einnahmt die Rückflüsse in das Wohnungsbau-
gefördert. Ein Teil dieser Hilfsgelder wurde fünf    vermögen, das gleichzeitig Stammkapital der
Jahre später, 1953, in einen revolvierenden Fonds1   NRW.BANK ist. Die Finanzierung der meist um-
(ERP-Sondervermögen) zur Finanzierung der            fangreichen jährlichen Förderprogramme erfolgte
deutschen Wirtschaft übertragen. Mehrere westli-     bis Anfang der 2000er Jahre aus Haushaltsmitteln
che Bundesländer haben in den 1950er Jahren un-      von Land und Bund. Danach kam der hauptsäch-
selbstständige sogenannte Treuhandstellen für die    liche Finanzierungsanteil aus dem Vermögen der
Wohnraumförderung gegründet und erst später          NRW.BANK; für 2016 und 2017 stehen so etwa
die aufgelaufenen Kapitalien als revolvierende       1,1 Milliarden Euro bereit.
Fonds eingesetzt.
                                                     Aktuelle Maßnahmen der Wohnungspolitik
Von der Wohnbauförderungsanstalt zur
NRW.BANK                                             Wohnungspolitisch wurde festgestellten Problemen
                                                     mit entsprechenden Maßnahmen begegnet, aktuell
Aus diesen Erfahrungen heraus hat die nordrhein-     auch mit einem Wohnungsbauprogramm für
westfälische Politik der Wohnraumförderung stets     Flüchtlinge. Im Lauf der Jahre wurden verschie­
besondere Beachtung geschenkt. Nachdem die           dene Finanzierungsmodelle ausprobiert, die aller-
Wohnungsnot deutlich abgenommen hatte und            dings nicht immer nachhaltigen Erfolg ­h atten:

92                   Akteure
Sie können auch lesen