Utopie und Dystopie in der zeitgenössischen Jugendliteratur - Zukunftsgestaltung und Gesellschaftskritik

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Utopie und Dystopie in der zeitgenössischen
 Jugendliteratur – Zukunftsgestaltung und
            Gesellschaftskritik

 Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades
                     Master of Arts
        an der Karl-Franzens-Universität Graz

                   eingereicht von

              Mag. Bernadette Wilhelm

                         bei

     Univ.-Prof. Mag. Dr.theol. Leopold Neuhold

       Institut für Ethik und Gesellschaftslehre
           Katholisch-Theologische Fakultät
            Karl-Franzens-Universität Graz

                      Graz 2019
Mag. Bernadette Wilhelm                                                                                              Utopie und Dystopie

Inhaltsverzeichnis
Vorwort ...................................................................................................................................... 4
1     Einleitung ............................................................................................................................ 5
2     Utopie und Dystopie ........................................................................................................... 8
    2.1 Bedeutung und Entstehungskontext der Begriffe ............................................................. 8
    2.2 Genauere wissenschaftliche Verortung .......................................................................... 10
    2.3 Entwicklung und aktuelle Bewertung............................................................................. 14
3     Grundlagen der Jugendliteratur ......................................................................................... 19
    3.1      Bedeutung und Einfluss des Lesens für Jugendliche................................................. 19
    3.2      Zielgruppe und Verlagsvorgaben .............................................................................. 23
    3.3      Traditionelle und aktuelle Themen der Jugendliteratur ............................................. 25
4     Klassifizierung der Jugendliteratur-Dystopien: Utopie oder Dystopie? ........................... 27
5 Ethisch relevante Problembereiche in ausgewählten Werken der dystopischen
Jugendliteratur .......................................................................................................................... 35
    5.1      Begründung der Auswahl .......................................................................................... 35
    5.2      Inhaltlicher Überblick über die ausgewählten Werke ............................................... 36
      5.2.1         Jennifer Benkau: Dark Canopy (2012)............................................................... 36
      5.2.2         Katja Brandis: Floaters (2015) ........................................................................... 36
      5.2.3         Suzanne Collins: Die Tribute von Panem [The Hunger Games] (2008-2010) .. 36
      5.2.4         Ally Condie: Die Auswahl (2011) ..................................................................... 37
      5.2.5         Sarah Crossan: Breathe (2012) ........................................................................... 37
      5.2.6         Jostein Gaarder: Noras Welt (2013) ................................................................... 37
      5.2.7         Emmi Itäranta: Der Geschmack von Wasser (2012) .......................................... 37
      5.2.8         Sophie Jordan: Infernale (2016) ......................................................................... 38
      5.2.9         Saci Lloyd: Euer schönes Leben kotzt mich an [The Carbon Diaries 2015]
      (2008)        ............................................................................................................................ 38
      5.2.10        Lois Lowry: Hüter der Erinnerung (1993) ......................................................... 38
      5.2.11        Gudrun Pausewang: Die Wolke (1987) ............................................................. 38
      5.2.12 Ursula Poznanski: Die Verratenen, Die Verschworenen, Die Vernichteten
      [Eleria-Trilogie] (2012-2014) ........................................................................................... 39
      5.2.13        Neal Shusterman: Scythe (2016) ........................................................................ 39
      5.2.14        Neal & Jarrod Shusterman: Dry (2018) ............................................................. 40
      5.2.15        Mats Wahl: Sturmland. Die Reiter (2016) ......................................................... 40
      5.2.16        Scott Westerfeld: Ugly – Pretty – Special (2005-2006) ..................................... 40
    5.3      Gerechtigkeit/Güterverteilung/Umgang mit Ressourcen .......................................... 41

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       5.3.1        Wasser ................................................................................................................ 41
       5.3.2        Sauerstoff ........................................................................................................... 45
       5.3.3        Kunststoff ........................................................................................................... 46
       5.3.4        Globale Aufgaben- und Güterverteilung ............................................................ 46
    5.4      Umweltschutz und Klimawandel/-erwärmung .......................................................... 48
       5.4.1        Die ökologische Dystopie .................................................................................. 48
       5.4.2        Plastikmüll und der Great Pacific Garbage Patch ............................................ 50
       5.4.3        Klimawandel ...................................................................................................... 50
    5.5      Forschungsethik ......................................................................................................... 54
    5.6      Biomedizinische Fragen ............................................................................................ 57
       5.6.1        Menschliche „Ersatzteillager“ ............................................................................ 57
       5.6.2        Schönheit und Enhancement .............................................................................. 57
       5.6.3        Macht und Kontrolle über Leben und Tod I: Fortpflanzung .............................. 58
       5.6.4        Macht und Kontrolle über Leben und Tod II: Euthanasie ................................. 59
    5.7      Überwachung und Kontrolle vs. Freiheit des Individuums ....................................... 63
    5.8 Gesellschaftsentwürfe – Autonomie des Einzelnen vs. Ansprüche der Gesellschaft
    und Diktatur eines Systems .................................................................................................. 66
       5.8.1        Totalitäre Regime und Systemkritik .................................................................. 66
       5.8.2        Gesellschaftliche Gruppen, Elite, Wertesysteme ............................................... 69
       5.8.3        Partnersuche und Familie ................................................................................... 72
    5.9      Opportunismus oder Widerstand? ............................................................................. 74
    5.10 Vorurteile und Feindbilder ........................................................................................ 76
6 Dystopische Jugendliteratur im Spannungsfeld von Gesellschaftskritik und
Zukunftsgestaltung ................................................................................................................... 78
    6.1      Thematisierung von und Kritik an gegenwärtigen Problemen und Phänomenen ..... 78
    6.2      Die Rolle von Autorinnen und Autoren .................................................................... 81
    6.3      Heldenfiguren – Vorbild oder Gefahr? ...................................................................... 83
    6.4      Motivation zu aktiver Zukunftsgestaltung ................................................................. 87
7      Zusammenfassung............................................................................................................. 89
8      Literaturverzeichnis .......................................................................................................... 92
    8.1      Primärliteratur ............................................................................................................ 92
    8.2      Sekundärliteratur ....................................................................................................... 94

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Vorwort
Großer Dank gebührt meinen Eltern, die meine Freude am Lesen von Beginn an gefördert und
mich in Bildung und Ausbildung immer unterstützt haben. Sowohl Gespräche über Bücher als
auch philosophische Auseinandersetzungen bereichern viele Familienessen.

Ein herzliches Dankeschön möchte ich auch meinen Freundinnen und Freunden sowie meinen
Kolleginnen und Kollegen aussprechen, mit denen ich mich immer über die wichtigen Dinge
des Lebens und interessante Bücher austauschen kann.

Bei meinen Professorinnen und Professoren des Ethik-Studiums, allen voran natürlich bei
Herrn Univ.-Professor Leopold Neuhold, möchte ich mich für die spannenden Inhalte und die
Unterstützung bedanken. Es war nicht immer einfach, das Studium neben Vollzeitarbeit zu
absolvieren, doch so war es eine interessante Zeit und eine große Freude. Danke für die
vielfältigen Einblicke, die eindrucksvollen Gespräche und das ausführliche und konstruktive
Feedback!

Graz, im Oktober 2019

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       1 Einleitung
Eine zerstörte Erde, ein repressives Regime, Überwachung und Selbstoptimierung,
drakonische Strafen. Jugendliche, die in diesem Umfeld ihren Platz und ihren Weg suchen –
und dabei mitunter zu Heldinnen und Helden werden. In dystopischen Welten angesiedelte
Jugendromane und deren Verfilmungen ‚boomen‘ schon seit einigen Jahren. Werke wie Die
Tribute von Panem oder The Maze Runner – Im Labyrinth sind spätestens seit dem
Erscheinen ihrer Verfilmungen weithin bekannt. Oder, wie es Johannes Rüster formuliert:
„Die Lust am Untergang ist ungebrochen, und sie wächst derzeit immer weiter mit anderen
Erzählelementen, Subgenres und Jugendbuchtraditionen zusammen.“1

Zwar provozieren derlei Romane vielfältige ethische Diskussionen und Überlegungen,
wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dystopischer Jugendliteratur aus ethischer
Perspektive findet man jedoch neben dem wachsenden literaturwissenschaftlichen Interesse
kaum. Während es mittlerweile einige – typischerweise „transdisziplinäre“2 – Projekte und
Arbeiten       in    der   Utopieforschung        und   eine   zunehmende    literaturwissenschaftliche
Auseinandersetzung mit der Thematik – hauptsächlich im englischsprachigen Raum – gibt
sowie regelmäßige philosophische Beschäftigungen mit dem Phänomen, ist eine
umfassendere         Untersuchung        aus    ethischer   Perspektive   noch   ausständig.   In   der
Forschungsliteratur werden moralische Fragestellungen und ethische Ansätze zwar immer
wieder gestreift, jedoch meist nicht zentral behandelt. Einzelne Romane sind mittlerweile
Gegenstand universitärer Abschlussarbeiten.

In dieser Arbeit soll das Phänomen dystopische Jugendliteratur daher nun aus ethischer Sicht
untersucht werden. Dabei soll nach einer umfassenden Begriffsklärung, bei der auch kurz auf
die Geschichte und Spezifika des Genres eingegangen werden muss, erstens untersucht
werden, ob nur Dystopien oder auch Utopien in der aktuellen Jugendliteratur zu finden sind
und wie jene in diesem Zusammenhang zu verstehen sind.

Ein Schwerpunkt der Arbeit ist, zu erheben und zu analysieren, welche ethisch relevanten
Themen in den Dystopien der zeitgenössischen Jugendliteratur aufgegriffen und wie sie
behandelt werden. Stehen etwa bestimmte Herrschaftssysteme im Fokus des Romans, werden
katastrophale Folgen des Klimawandels dargestellt oder bildet die persönliche Entwicklung
eines jugendlichen Protagonisten das Zentrum der Handlung, die nur in einer dystopischen

1
    Rüster, Love, S. 8.
2
    Baccolini/Moylan, Introduction, S. 8, übers. B.W.

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Welt angesiedelt ist, um Exotik und Spannung zu steigern? Dies soll anhand einer
Romanauswahl bzw. einiger Aspekte beispielhaft herausgearbeitet werden.

In weiterer Folge wird auch darauf eingegangen, inwiefern die untersuchten Werke
zeitgenössische Gesellschaftskritik beinhalten bzw. ob die Autorinnen und Autoren diese
explizit einbringen möchten. Hierzu ist es wichtig, die Aufgabe(n) von (Jugend-) Literatur zu
thematisieren. Haben Autorinnen und Autoren die Aufgabe, durch die Auswahl ihrer Themen
aktuelle Probleme und mögliche problematische Entwicklungen zu thematisieren,
gegebenenfalls davor zu warnen und alternative Entwicklungen/Lebensentwürfe aufzuzeigen?
Kann, möchte oder soll zeitgenössische Jugendliteratur zu aktiver und positiver
Zukunftsgestaltung sowie zu Gesellschaftskritik motivieren?

Obwohl diese Arbeit in erster Linie keine fachdidaktische Arbeit ist, können derartige
Aspekte aufgrund des Themas natürlich nicht völlig außer Acht gelassen werden.
Anmerkungen zur Verwendung der untersuchten Texte im Unterricht werden daher
gelegentlich ebenfalls in die vorliegende Arbeit einfließen.

Im Sinne einer umfassenden Betrachtung wurde versucht, eine repräsentative Auswahl aus
der aktuellen Jugendliteratur zu treffen, welche einerseits bekannte und beliebte Werke und
andererseits Bücher mit interessanten Inhalten enthält. Da übersetzte Werke im Bereich der
Kinder- und Jugendliteratur schon lange von großer Bedeutung sind 3 und auch aktuell sehr
populär, werde ich mich in dieser Arbeit nicht ausschließlich auf ursprünglich
deutschsprachige Werke beziehen. Auch im Rahmen des Unterrichts werden vermehrt
übersetzte und fremdsprachige Werke der Jugendliteratur gelesen. Steckt man einmal in der
Materie, kann man bald nicht mehr aufhören: Man gelangt von einer Buchempfehlung zur
anderen, findet Bücher in anderen Sprachen, Werke von Selfpublishern, Filme, Serien auf
Streamingportalen, Belletristik für Erwachsene und vieles mehr. Diese Werke enthalten meist
originäre Ideen, aber viele Gemeinsamkeiten und typische Muster, Figurentypen oder
gleichartige Gesellschaftselemente, weil viele auf den ‚Zug‘ dieses sich gerade so gut
verkaufenden Genres aufspringen wollen.

Den Fragestellungen entsprechend wird mit Literatur gearbeitet, wobei die Analyse
ausgewählter Werke einen Schwerpunkt bildet. Zusätzlich zu Sekundärliteratur über
dystopische Literatur, Kinder- und Jugendliteratur sowie ausgewählte Werke werden auch
Äußerungen von Autorinnen und Autoren, etwa aus Interviews, herangezogen, um

3
    Vgl. Weinkauff/Glasenapp, Jugendliteratur, S. 14.

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Motivationen und Hintergründe zu erforschen. Um den Überblick zu wahren, werden
primärliterarische Werke mit Kurztitel (siehe Literaturverzeichnis) und Seitenzahl zitiert.

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    2 Utopie und Dystopie
2.1 Bedeutung und Entstehungskontext der Begriffe
Das Wort Utopie stammt aus dem Griechischen und trägt die Bedeutung Nicht-Ort.4 Unter
einer Utopie versteht man im Deutschen laut Duden einen „undurchführbar erscheinende[n]
Plan; [eine] Idee ohne reale Grundlage“5. In der Alltagssprache steht der Begriff auch für „un-
wirklich“ oder „nicht-realisierbar“6 und wird daher meist in einem negativen Sinne bzw. mit
negativer Konnotation verwendet.7 Hin und wieder spricht man auch von einer Eutopie,
einem guten, schönen8 Ort.

Im engeren literarischen Sinne handelt es sich bei einer Utopie um die Beschreibung einer
‚idealen‘ Gesellschaft, welche entweder in einem abgeschlossenen Raum oder in der Zukunft
liegt. Dieses Motiv basiert auf dem Werk Libellus vere aureus nec minus salutaris quam
festivus de optimo reipublicae statu deque nova Insula Utopia9, kurz Utopia des englischen
Humanisten Thomas Morus aus dem 16. Jahrhundert. Es trägt „[d]ie Spannung zwischen
normativem Anspruch (Morus kritisiert im ersten Teil die sozialen Zustände im England
seiner Zeit) und Bericht von einem phantastisch-unwirklichen Land“10.

Der Begriff Utopie fand Eingang in viele Sprachen, wurde zur „Bezeichnung für ein
literarisches Genre, später ein allgemein gebräuchlicher Begriff, letztlich ein vieldeutiges
Schlagwort.“11 Der Begriff war besonders seit dem 19. Jahrhundert auch im politischen Sinne
bedeutsam. Hier wurde er meist verwendet, um konträre politische Positionen anzugreifen.12

Im Gegensatz dazu handelt es sich bei einer Dystopie im literaturwissenschaftlichen Sinne um
eine „fiktionale, in der Zukunft spielende Erzählung o. Ä. mit negativem Ausgang“13. Die
Wurzeln des Begriffs liegen ebenfalls im Griechischen und ergeben gemeinsam die
Bedeutung schlechter14 Ort. Der literaturwissenschaftliche Begriff stammt aus dem
Englischen und stellt gewissermaßen das Gegenteil einer Utopie dar.15 In der zeitgenössischen
(Jugend-) Literatur muss das Ende nicht zwingend (komplett) negativ sein, doch die

4
  Vgl. Dierse, Utopie, Sp. 510. Auch die Idee ist mit Platons Politeia griechischen Ursprungs. Vgl. ebda.
5
  Duden: Utopie. Online unter: URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Utopie [Stand: 29.08.2019].
6
  Schölderle, Geschichte, S. 10.
7
  Vgl. ebda, S. 11.
8
  Duden, Herkunftswörterbuch, S. 166.
9
  Dierse, Utopie, Sp. 510.
10
   Ebda.
11
   Schölderle, Geschichte, S. 9.
12
   Vgl. ebda, S. 9, 12.
13
   Duden: Dystopie. Online unter: URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Dystopie [Stand: 29.08.2019].
14
   Duden, Herkunftswörterbuch, S. 143.
15
   Vgl. Duden, Dystopie.

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geschilderten Umstände sind es auf jeden Fall bzw. erweisen sich für die Protagonistinnen
und Protagonisten nach einiger Zeit als negativ, wenn sie auch anfangs als Utopie, als
wunderbare – vielleicht gar perfekte – Welt präsentiert und erlebt wurden.

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2.2 Genauere wissenschaftliche Verortung
Die       Wissenschaft      kommt    bei   genauerer    Betrachtung   zu    keiner   einheitlichen
Begriffsbestimmung der Utopie. Schölderle verweist auf die einflussreichsten:

      •   „klassische“, auf Morus‘ Werk basierend, mit literarischem Schwerpunkt;

      •   „sozialpsychologische“, für eine „Art Bewusstseinsform oder bloße Intention“;

      •   „totalitarismustheoretische“,    eine   „geistige   Vorwegnahme    späterer   totalitärer
          Herrschaftsformen“16

Dem Inhalt und Ziel dieser Arbeit entspricht am ehesten die erste Sichtweise, welche auch
Schölderle für seine geschichtliche Betrachtung gewählt hat. Welcherart sind nun diese
klassischen Utopien im engeren Sinne?

Sie „beschreiben [nach Schölderle, B.W.] fast allesamt ein fiktives Gemeinwesen […], das
auf eine Insel projiziert ist. Eine Rahmenhandlung dient der literarischen Vermittlung.“17
Weitere Kennzeichen sind:

      •   „wenig Kontakt zu anderen Völkern“,

      •   „eine geschlossene Gesellschafts- oder Staatsordnung“

      •   „Schutz- und Abwehrbereitschaft vor weniger harmonischen Gesellschaften“

      •   „statisch und konfliktfrei“18

Durch diese Konstruktion lassen sich sozioökonomische oder politische Zusammenhänge
entsprechend verdeutlichen bzw. darstellen.19

Schölderle befasst sich mit Utopien im Sinne „rationale[r] Fiktionen menschlicher
Gemeinwesen, die in kritischer Absicht den herrschenden Missständen gegenüber gestellt
sind.“20 Weitere Merkmale sind demnach:

      •   Keine vergangenen Zeiten oder außerweltliche Versionen,

16
   Schölderle, Geschichte, S. 12f.
17
   Ebda, S. 13.
18
   Ebda, S. 13f.
19
   Vgl. ebda, S. 14.
20
   Ebda, S. 17.

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     •    „Sozialkritik“ und „Anders-Sein-Können“,

     •    keine „möglichst treffgenaue Vorhersage kommender Entwicklungen auf der Basis
          einer empirisch-wertneutralen Methode“ und der

     •    „normative[…] Anspruch, die Zukunft zum Besseren zu wenden.“21

Somit befassen sich Utopien weniger mit der Zukunft, sondern in ihrem Zentrum steht die
Gegenwart. Es geht um das Ausloten von Alternativen, das Verorten der eigenen
Gesellschaftsorganisation bzw. Person und das mögliche Aufzeigen von Alternativen.
Dadurch, dass keine real existierende Situation abgebildet wird, ergeben sich zudem für die
Autorin bzw. den Autor möglicherweise weniger konkrete Kritikpunkte oder sogar Gefahren,
denen sie oder er durch die Publikation ihres oder seines kritischen Werkes ausgesetzt sein
könnte.

Allerdings muss es immer auch Übereinstimmungen mit einer ‚Ausgangswelt‘ geben, „um
einen Vergleich zwischen beiden gesellschaftlichen Ordnungen nahezulegen und so die
emanzipative und gesellschaftskritische Wirkung des utopischen Gegenbildes freizusetzen.“22
Demnach würden Romane, welche in fantastischen Welten spielen, wegfallen, da sie von
teilweise stark verschiedenen Prämissen ausgehen – wie magischen Kräften oder fremden
Wesen.

Lucy Sargisson betont, dass Utopien Gegenwart und Zukunft betreffen. Sie lenken den Blick
in die Zukunft, dafür spielt es aber auch eine Rolle, was (ab) jetzt passiert.23 Im utopischen
Werk muss eine Balance geschaffen werden zwischen dem Möglichen, dem (theoretisch)
Machbaren und der ästhetischen Umsetzung.24

Hintz/Ostry führen aus, dass Utopien sich mit „sozialer Organisation“25 befassen müssen, die
alleinige Darstellung einer wunderbaren Welt reiche nicht aus, um ein Werk so zu
klassifizieren. Zudem müsse sich die dargestellte Gesellschaft deutlich von der der
Leserin/des Lesers unterscheiden.26 Es steht also nicht die Entwicklung einer Person allein im
Fokus, sondern das gesellschaftliche Ganze macht den Reiz und Inhalt des Werkes aus.

21
   Ebda, S. 17.
22
   Leiß, Heterotopie, S. 208.
23
   Vgl. Levitas/Sargisson, Utopia, S. 20.
24
   Vgl. Voßkamp, Möglichkeitsdenken, S. 22.
25
   Hintz/Ostry, Introduction, S.4 [„social organization“, übers. B.W.].
26
   Vgl. ebda.

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Uneinigkeit über die genaue Definition einer Utopie besteht unter anderem darin, ob man den
Status Utopie an der Form, an der Botschaft, an den Absichten der Autorin/des Autors oder
denen der Figuren oder an der Reaktion der Leserinnen und Leser festmachen solle.27

Hintz/Ostry beschreiben in ihrer Einleitung zum Band Utopian and Dystopian Writing for
Children and Young Adults die Schwierigkeit der klaren Definition und Abgrenzung der
Begriffe Utopie und Dystopie. Diese können in verschiedenen Formen (Textsorten)
ausgeführt sein, sind aber in ihrer Bewertung etwa auch abhängig von unterschiedlichen
Standpunkten und historischen Entwicklungen. Eine Möglichkeit wählt etwa Lyman Tower
Sargent, der unter Utopie eine „non-existent society described in considerable detail“28
versteht und zwischen eutopia (sollten zeitgenössische Leserinnen und Leser als bessere
Gesellschaft im Vergleich zur eigenen bewerten) und dystopia (als schlechter betrachten)
unterscheidet.29 Darko Suvin schließt sich dieser Unterteilung an, wobei er die Dystopie
genauer in Dystopie und Anti-Utopie unterteilt.30

Unterteilung der Utopien (Nicht-Orte) nach Suvin:31

     1. Eutopie (besser organisierte Welt)

     2. Dystopie (schlechtere Welt)

        2.1. Anti-Utopie

        2.2. „einfache“ Dystopie

Bei der Anti-Utopie entpuppt sich eine Eutopie als Dystopie.32 Während bei einer Eutopie die
„Reise [einer Figur] durch eine utopische Gesellschaft“33 im Zentrum steht, wird die Leserin
bzw. der Leser bei einer Dystopie direkt mit der dystopischen Welt konfrontiert. Der Weg der
Figur führt hier von der Rolle eines Gesellschaftsmitglieds zu einer Gegenperspektive.34

Die Unterscheidung zwischen Utopie und Science Fiction besteht laut Suvin darin, dass
Utopien eine andere „soziopolitische [Übers. B.W.]“ Ordnung haben, während Science-
Fiction-Welten auf fundamental verschiedenen („radically different“), etwa „biologischen

27
   Vgl. Hintz/Ostry, Introduction, S. 2f.
28
   Lyman Tower Sargent, zit. nach Hintz/Ostry, Introduction, S. 3.
29
   Vgl. Ebda.
30
   Vgl. Suvin, Theses, S. 188f.
31
   Ebda.
32
   Vgl. ebda.
33
   Baccolini/Moylan, Introduction, S. 5, übers. B.W.
34
   Vgl. ebda.

                                                                                           12
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oder geologischen Prinzipien [Übers. B.W.]“35 („biological or geological“ „principles)“
beruhen. Hier gibt es natürlich auch entsprechende mögliche Überschneidungen.36

35
     Suvin, Theses, S. 188.
36
     Ebda.

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2.3 Entwicklung und aktuelle Bewertung
Utopien und Dystopien befassen sich mit dem, was möglich wäre. Nach Voßkamp sei
„Möglichkeitsdenken          […]     die     Voraussetzung        für    jede     Form      philosophischer,
anthropologischer, gesellschaftlicher und künstlerischer Utopie oder Dystopie.“37 Es gehe
schon in der „aristotelischen Kategorienlehre“ um „das Noch-nicht-Seiende. Es steht am
Anfang jedes Werdens, Entstehens, jeder Bewegung, Veränderung und ist in den
Materialursachen begründet“38. Dies beinhaltet auch den Aspekt, dass etwas noch nicht
Realität ist, in der Zukunft aber werden könnte.

Hier ist anzumerken, dass sich literarische Werke grundsätzlich mit der Frage nach dem
Möglichen befassen, allerdings meist in Gegenwart oder Vergangenheit angesiedelt sind.

Dass aktuelle gesellschaftliche Probleme, Diskurse und Wunschvorstellungen die Gestalt von
Utopien beeinflussen, formuliert etwa Schölderle im Vorwort zu seiner Geschichte der
Utopie: „Die Geschichte der Utopie ist eine Geschichte der Defizite und Missstände ihrer
Herkunftsgesellschaften.“39 Seit der Begriff geläufiger verwendet wird, liegt in ihm eine
„Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit“40, Utopien riefen jedoch in Ansätzen seit dem
16. und insbesondere seit dem 18. Jahrhundert aufgrund ihrer Irrealität vehemente Kritik
hervor. Im 19. Jahrhundert verwendete man den Begriff für Gesellschaftsentwürfe, die der
eigenen Ideologie widersprachen. Erst im 20. Jahrhundert nahm das Ansehen der Utopie
wieder zu, für Bloch galt sie etwa als besser als die Gegenwart.41 Nach Voßkamp sind
Utopien nicht tot, sondern wieder höchst aktuell. Er nennt als Beispiel etwa die
Transhumanismus-Debatte und sieht hier auch eine Verbindung zur Literatur, die diese
aufgreift.42 Utopien gelten als Motor für Veränderung und Fortschritt, aber auch als
unerreichbar.43

Vor Morus‘ genrebildendem Werk gab es bereits antike und mittelalterliche Vorläufer bzw.
Versionen von Utopien.44 Frühneuzeitliche Utopien betrachtet Schölderle als „rationale
Gedankenexperimente, die in erster Linie der zeitgenössischen Gesellschaft den Spiegel
vorhalten.“ Sie wollen und sollen zum Nachdenken „über die Grundlagen der
37
   Voßkamp, Möglichkeitsdenken, S. 13.
38
   Horst Seidl: Möglichkeit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried
Gründer. Bd. VI. Darmstadt 1984, Sp. 72–92, hier Sp. 77. Zit. nach Voßkamp, Möglichkeitsdenken, S. 13.
39
   Schölderle, Geschichte, S. 7.
40
   Dierse, Utopie, Sp. 512.
41
   Vgl. ebda, Sp. 512, 516, 519.
42
   Vgl. Voßkamp, Möglichkeitsdenken, S. 18-21.
43
   Vgl. Dierse, Utopie, Sp. 521.
44
   Vgl. Schölderle, Geschichte, S. 51-65. Dazu zählt insbesondere Platons Politeia, worauf sich auch Morus
beruft. Vgl. hierzu Dierse, Utopie, Sp. 510.

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zeitgeschichtlichen Wirklichkeit“45 anregen, nicht eine ideale Wirklichkeit oder einen idealen
Staat zeigen, die bzw. der erreicht werden soll. Bereits Morus‘ Utopia versteht etwa Seeber
aufgrund „des offenen Dialogs […] nicht etwa als Reformprogramm, sondern als
Diskussionsangebot, als Denkanstoß und Unterhaltung“46. Auch das Kindheitsbild der
Romantik war gewissermaßen utopisch – man stellte Kinder der negativ geprägten Welt der
Erwachsenen gegenüber.47

Dystopien entwickelten sich im Westen im 20. Jahrhundert – unter anderem durch die Werke
von H.G. Wells, E.M. Forster, Yevgeny Zamyatin, Aldous Huxley (Brave New World) und
George Orwell (1984). Als verwandte Werke sehen einige Forscherinnen und Forscher auch
Werke von Franz Kafka (besonders Die Verwandlung), Ayn Rand, C.S. Lewis, Vladimir
Nabokov und anderen.48 Stark vertreten waren dystopische Werke im Genre der Science
Fiction nach dem 2. Weltkrieg.49 Daneben gab es immer wieder „eutopische“ Werke und die
neuen „kritischen Utopien“, eine postmoderne Form mit ökologischen, feministischen und
„New Left“-Aspekten, welche etwa Ursula K. Le Guin, Joanna Russ oder Ernst Callenbach
verfassten. Diese „kombinieren Vision und Praxis“.50 In den 1980er Jahren entwickelte sich
das Cyberpunk-Genre (wie etwa im Film Bladerunner), und viele Schriftstellerinnen und
Schriftsteller wandten sich wieder den traditionellen Dystopien zu.51 Die Werke dieses Genres
waren immer stark verbunden mit gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen und
Phänomenen.52 Dystopien nahmen nach Seeber überhand, als man begriff, „dass mögliche
Zukunft wegen der Erfolgsdynamik der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation machbare
Zukunft sein könnte.“53 Jedenfalls lassen sich der Meinung mehrerer Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler nach viele der Romane aus den letzten Jahrzehnten nicht eindeutig im
klassischen Utopie-Dystopie-Schema einordnen.54

In seinem Vorwort Utopia, Dystopia, and the Quest for Hope verortet Jack Zipes die
Ursprünge von utopischer und dystopischer Literatur bei der Kritik an postmodernen
Gesellschaftsentwicklungen und dem Ruf nach Veränderungen in der Gesellschaft. Gerade
angesichts der aktuellen Probleme bräuchten wir, so Zipes, diese Literatur – auch und gerade

45
   Schölderle, Geschichte, S. 14.
46
   Seeber, Handeln, S. 189.
47
   Vgl. Hintz/Ostry, Introduction, S. 5.
48
   Vgl. Baccolini/Moylan, Introduction, S. 1.
49
   Vgl. ebda.
50
   Ebda, S. 2. [„the critical utopia of the 1970s […] combines vision and practice“, übers. B.W.]
51
   Vgl. ebda, S. 2-3.
52
   Vgl. ebda, S. 3.
53
   Seeber, Handeln, S. 189.
54
   Vgl. Baccolini/Moylan, Introduction, S. 3.

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für Jugendliche. Der zentrale Aspekt dieser Literatur sei der der Hoffnung auf Veränderungen
zum Positiven.55

Michael Hutter, Ökonom und Soziologe, weist auf den „autoritäre[n]“56 Aspekt von Utopien
hin. Gemeinsame Ziele seien schnell gefunden, die Schwierigkeit bestehe in der Frage, wie
diese gut zu erreichen seien. Dabei werde es von uns heute im Allgemeinen nicht akzeptiert,
wenn es sich um einen von einer bestimmten Gruppe aufoktroyierten Weg handle. Dafür
seien auch historische Ereignisse ausschlaggebend, die er an dieser Stelle jedoch nicht
genauer ausführt. Während die Umsetzung von Morus‘ Utopia, so Hutter, heute von einigen
sogar als „Polizeistaat“ verstanden würde, bilden „Selbstorganisation und Selbstmotivierung“
sowie „Freiräume“ aus            seiner Sicht heute wichtige Aspekte des                     menschlichen
Zusammenlebens. Laut Hutter existiere „die Idee einer idealen Welt“57 nicht, was er positiv
bewertet. Andere Wissenschaftler klassifizieren Utopien als unerreichbar und betonen
ebenfalls, dass die Umsetzung einer Utopie „Totalitarismus“58 bedinge, was nicht akzeptabel
sein kann.

Nach Martin Seel sollen Utopien – „in Raum und Zeit unerreichbare Zustände“ – als
erreichbar imaginiert werden, „um innerhalb des Wirklichen den Sinn für das Mögliche zu
schärfen […]. Alle Utopien lassen ferne Möglichkeiten absehbar werden, um hier und jetzt
ergreifbare Möglichkeiten sichtbar werden zu lassen [...].“59 Sie beinhalten also die
Auseinandersetzung mit aktuellen Gegebenheiten ebenso wie den Aspekt der (möglichen)
Zukunft und den Gedanken an die Veränderung bestimmter Gegebenheiten. Durch die
Befassung mit der           utopischen Gedankenwelt soll die Aufmerksamkeit auf das
Handlungsspektrum der Gegenwart gelenkt werden und bisher nicht bedachte Aspekte
freilegen.

Voßkamp verknüpft Möglichkeitsdenken und Utopien mit der Moderne, die seines Erachtens
die Zukunft gegenüber der Vergangenheit stärker in den Fokus nimmt. Dennoch würden wir
in der Gegenwart verhaftet bleiben, da die Zukunft noch nicht stattfindet. „Utopien sind
deshalb, wie oft und zu Recht betont worden ist, stets hervorragende Indikatoren für das
Verständnis jener Gegenwart, die sie hervorbringt.“60 Entscheidungen „über Zukunft“ werden

55
   Vgl. Zipes, Foreword, Utopian Writing, S. ix.
56
   Hutter, ideale Welt.
57
   Ebda.
58
   Dierse, Utopie, Sp. 521.
59
   Martin Seel: Drei Regeln für Utopisten. In: Merkur-Sonderheft 5 (2001): Zukunft denken. Nach den Utopien,
S. 747–755, hier S. 747 und S. 753, zit. nach Voßkamp, Möglichkeitsdenken, S. 14.
60
   Voßkamp, Möglichkeitsdenken, S. 15.

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„nur im Hier und Jetzt einer Gesellschaft“61 gefällt. Daraus ergibt sich, dass man bei
dystopischen Jugendbüchern immer dem zeitgenössischen Blick auf der Spur ist, die
Autorin/der Autor derzeitige gesellschaftliche Aspekte aufgreift.

Zukunftsentwürfe beinhalten stets utopische und dystopische Aspekte, deren Bewertung auch
nicht immer eindeutig ist/sein muss.62 Bei literarischen Werken muss man sich zudem im
Klaren sein, dass hier ja nicht die Meinung der Autorin oder des Autors explizit
ausgesprochen wird, sondern dass die Leserinnen und Leser die Welt und die dort gesetzten
Handlungen aus der Perspektive von Protagonistinnen und Protagonisten wahrnehmen,
welche sich in dieser Welt bewegen und durch die dort geltenden Grundsätze mehr oder
weniger geprägt worden sind.

Suvin meint 2001, „We live morally in an almost complete dystopia – dystopia because anti-
utopia – and materially (economically) on the razor’s edge of collapse, distributive and
collective.”63 Daher müssen für ihn aus den Überlegungen zum Thema konkrete Handlungen
folgen.64 Obwohl diese Notwendigkeit mehrfach angedeutet wurde, folgen auch knapp 20
Jahre später auf die Publikation von dystopischen Werken bzw. auf die Diskussion über deren
Inhalte – sofern überhaupt präsent – kaum Taten. Wenn überhaupt, bewegen sich diese auf
einer sehr individuellen Ebene.

Seeber nennt „vier konkrete Hauptfunktionen“ von Dystopien:

     •   „Unterhaltung und Erkenntnis“

     •   „kritische Diagnose mittels Satire und Diskussion“

     •   „Appell zum präventiven Handeln mittels warnender Schreckbilder“

     •   „Erkundung zukünftiger Möglichkeiten negativer Art.“65

Während die Utopie „konstruktives Handeln“ auslösen sollte, sollten klassische Dystopien
„präventives Handeln“66 zur Folge haben. Dementsprechend findet sich im ersten Fall eine
positiv bedingte, im zweiten Fall eine negative Motivation. Bei aktuellen Formen der

61
   Ebda.
62
   Vgl. ebda, S. 16.
63
   Suvin, Theses, S. 187.
64
   Vgl. ebda.
65
   Seeber, Handeln, S. 195.
66
   Seeber, Handeln, S. 198.

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Dystopie lässt sich dies nicht immer generell sagen, auch bedingt durch die größer gewordene
Formenvielfalt.

In Hinblick auf den apokalyptischen Ursprung von Utopie und Dystopie verortet Voßkamp

     •   „durchgehend einprägsame Topoi“,

     •   „Veranschaulichung“ und

     •   „eine Sprache, die das Visionäre betont“67.

Er stellt auch die Frage: „Überleben Utopien heute vornehmlich in apokalyptischen
Dystopien?“68 Christina Ulm betont die „Verbindung von Postapokalypse und Dystopie“69,
welche etwa in den Tributen von Panem oder in dark canopy auszumachen ist. Jennifer
Benkaus Roman ist ein Zitat von Albert Einstein vorangestellt: „Ich weiß nicht, womit die
Menschen im dritten Weltkrieg kämpfen, aber im vierten werden es Keulen und Steine sein.“
(Canopy S. 5) Dieses Zitat nimmt Bezug auf die nahezu apokalyptischen Szenarien, die der
Romanhandlung vorangehen, und stellt zugleich eine Warnung dar: Ein nächster Krieg,
vermutlich      mit      Massenvernichtungswaffen      geführt,   würde   viele   menschliche
Errungenschaften zunichtemachen und die menschliche Gesellschaft um Jahrtausende
zurückwerfen.

Leiß beobachtet eine neue Ausprägung der Utopie: die Heterotopie, wo zwei Welten
gegenübergestellt werden und von der Prämisse ausgegangen wird, dass es keine für alle
perfekte Gesellschaft geben kann.70

67
   Voßkamp, Möglichkeitsdenken, S. 17.
68
   Ebda.
69
   Ulm, Future Fiction.
70
   Vgl. Leiß, Heterotopie, S. 207, 220f.

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        3 Grundlagen der Jugendliteratur
        3.1 Bedeutung und Einfluss des Lesens für Jugendliche
Wie gerne und was Jugendliche lesen, darüber gehen die Meinungen in der öffentlichen
Wahrnehmung oft weit auseinander. Im Folgenden wird kurz erörtert, wie die Bedeutung des
Lesens aus wissenschaftlicher Sicht bewertet wird und welche Faktoren für die
Lesemotivation entscheidend sind. Dies ist wichtig in Bezug auf die potenzielle Zielgruppe
bzw. Rezeption von dystopischer Jugendliteratur.

Literatur ist nach Abraham und Kepser sowohl „individuell“ als auch „sozial“ und „kulturell“
bedeutsam bzw. wichtig.71 Man findet also sowohl den persönlichen Aspekt als auch die
Einbettung in das gesellschaftliche Umfeld, wozu etwa auch der Austausch über Gelesenes
oder bestimmte Trends gehört.

Das Erlernen und Verfeinern des Lesens sowie die Festlegung der Bedeutung im eigenen
Leben subsummiert man unter dem Begriff der literarischen Sozialisation. Zur literarischen
Sozialisation führen Abraham und Kepser aus: „Auf diese Weise werden politische, soziale,
ökologische und moralisch-ethische Normen bzw. Werturteile aufgebaut oder einer kritischen
Überprüfung unterzogen.“72 Zudem sollen Menschen über Literatur „Weltwissen“ erlangen.73
LeserInnen „[l]ernen am Modell“. Als Teil des durch Lesen entwickelten „Weltwissen[s]“
vermuten Abraham/Kepser auch „(scheinbare) psychologische Intuition.“74 Mit dem Lesen
verbunden ist auch umfassendes Lernen. Unter dem Begriff „literarisches Lernen“
subsummieren Abraham/Kepser viele Aspekte, begonnen bei der „Persönlichkeitsbildung“
über die Entwicklung von Kreativität und „emotionaler Intelligenz“75 zu „soziale[m] und
ethische[m] Lernen“76. Beim Lesen handelt es sich somit um eine äußerst vielfältige
Tätigkeit, die mit verschiedensten Ebenen des Lernens verbunden ist.

Die Kinder- und Jugendliteratur war lange Zeit stark pädagogisch geprägt, was heute
Autorinnen und Autoren meist nicht wollen. Dennoch kann der pädagogische Aspekt nicht
außer Acht gelassen bzw. gänzlich vermieden werden. Dies thematisieren Abraham/Kepser
unter dem Stichwort „Spannungsverhältnis von Pädagogik und Ästhetik“77.

71
   Abraham/Kepser, Literaturdidaktik, S. 13-19.
72
   Ebda, S. 16.
73
   Ebda, S. 73.
74
   Ebda, S. 99.
75
   Goleman 1996, zit. nach Abraham/Kepser, Literaturdidaktik, S. 98f.
76
   Abraham/Kepser, Literaturdidaktik, S. 98f.
77
   Ebda, S. 146f.

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In der Schule nimmt das Lesen einen (unterschiedlich) wichtigen Platz im Deutsch- bzw. auch
im Fremdsprachenunterricht ein. Auch hier hat es unterschiedliche Funktionen. Abraham und
Kepser verstehen unter den „[g]rundlegende[n] Aufgaben des Literaturunterrichts“:

•        „Unterstützung von Individuation, Sozialisation und Enkulturation“,

•        „Leseförderung“,

•        „Literarisches Lernen und Literarische Bildung“ sowie

•        „Sprach- und Medienreflexion“.78

Der Literaturunterricht umfasst demnach ein vielfältiges Aufgabenspektrum, das über die
reine Lesefertigkeit weit hinausgeht und neben dem Erwerb von Wissen auch Bereiche der
Persönlichkeitsbildung umfasst.

Dass Jugendliche die Lust am Lesen verloren haben, wird allerdings auch oft [„meistens“] der
Schule zugeschrieben.79

Wenn Jugendliche ihre Lektüre auswählen, lesen sie sowohl Bücher aus dem engeren Bereich
der Jugendliteratur als auch Bücher aus dem gesamten Buchmarkt.80 Die persönlichen
Entwicklungen bzw. Präferenzen sind hier sehr heterogen und teilweise sprunghaft.
Literaturtipps erhalten Jugendliche hauptsächlich von Freundeskreis und Schule. Einige
verlieren in diesem Alter das Interesse am Lesen.81 Es gibt auch geschlechtsspezifische
Unterschiede: Während Leserinnen tendenziell fiktionale Texte bevorzugen, werden
Sachbücher hauptsächlich von männlichen Jugendlichen gelesen.82 Nur wenige bewegen sich
in allen Varianten bei fiktionalen Texten und Sachbüchern.83

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Lesen unterschiedliche Funktionen erfüllen
kann. Graf unterscheidet folgende „Lesevarianten“, mit denen Jugendliche an fiktionale Texte
herangehen:

       - „Leichte Unterhaltung“

78
   Ebda, S. 5-7.
79
   Vgl. Graf, Sozialisation, S. 57f.
80
   Vgl. ebda, S. 55.
81
   Vgl. ebda, S. 56.
82
   Vgl. ebda, S. 56f.
83
   Vgl. ebda, S. 60.

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      - „Wunscherfüllendes, intimes Lesen“ („hohe[…] emotionale[…] Involviertheit“,
          Abenteuer-, SF-, Fantasybücher u.a.)

      - „Partizipation“ („Die subjektive Disposition und ein entsprechendes Buchangebot
          treffen im problemorientierten Lesen zusammen, das die thematisch weit gefächerte
          Auseinandersetzung mit persönlichen, gesellschaftlichen und historischen Fragen
          befördert.“

      - „Selbstkonzeptionelle Leseinteressen“

      - „Ästhetisches Lesen“

      - „Informatorischer Gebrauch der Fiktion“84

Bei Letzterer geht es darum, „auf angenehme, unterhaltende Weise Wissen und begriffliche
Erkenntnisse durch Romanlektüre zu erwerben, und zwar vorzüglich über fremde Kulturen
[…], über Themen des human interest […], Philosophie u.ä.“85. Bettelheim betonte den
„Einfluss [des Lesens] auf die gesamte Identitätssuche“86.

Kinder- und Jugendliteratur wird hauptsächlich in der Freizeit konsumiert, aber oft durch
Familie, Kindergarten, Bibliotheken und Schulen vermittelt,87 weshalb diesen Institutionen
auch eine entsprechende Rolle bei der Auswahl und Empfehlung von Jugendliteratur
zukommt. Im Unterricht nahm etwa in den letzten Jahrzehnten das Einbeziehen von aktuellen
Werken der Jugendliteratur sowohl im Deutsch- als auch im Fremdsprachenunterricht sehr
stark zu.88 Aus diesen Faktoren, wie Jugendliche auf Bücher aufmerksam werden, ergibt sich,
dass schulische Lektüre oder zumindest Empfehlungen – eventuell in Form von
Literaturlisten – durchaus entscheidend dafür sein können, dass Jugendliche ein bestimmtes
Buch lesen und sich in weiterer Folge mit den darin aufgerissenen Problemen bzw. Themen
auseinandersetzen.

„In   Anbetracht      des    Wertepluralismus        entbrennt     eine    neue     Diskussion      um     die
Erziehungsdimension und den ethischen Auftrag literarischen Lernens (vgl. KAMMLER

84
   Ebda, S. 57f.
85
   Ebda, S. 58.
86
   Ebda, S. 56.
87
   Vgl. Weinkauff/Glasenapp, Jugendliteratur, S. 13.
88
   Dies zeigt sich etwa in schulischen Leselisten, den Beständen von Klassensätzen und Schulbibliotheken, dem
fachlichen Austausch von Lehrpersonen in sozialen Medien oder den Unterrichtsmaterialien, die Verlage zu
ausgewählten Büchern zur Verfügung stellen.

                                                                                                            21
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2000, 6ff.) sowie um die Gefahr der Instrumentalisierung von Literatur für pädagogische
Zwecke (ROSEBROCK 1999).“89

89
     Büker: Literarisches Lernen, S. 129.

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        3.2 Zielgruppe und Verlagsvorgaben
Wie auch bei anderen Bereichen im Buchmarkt gibt es von Verlagsseite genaue
Zielgruppenvorstellungen und Vorgaben. Bei der Jugendliteratur ist die Zielgruppe in erster
Linie durch das Alter definiert, allerdings kommen auch Erwachsene als Leserinnen und
Leser infrage. Weiters gibt es Bücher, die eher für Mädchen oder für Jungen konzipiert sind,
wobei dies bei der Jugendliteratur oft nicht so eindeutig zugeschnitten ist wie im
Kinderbuchbereich. Mitunter ist hier der Trend zu beobachten, dass in Jugendromanen
tendenziell aus mehreren Perspektiven erzählt wird, wobei dann sowohl Mädchen als auch
Jungen in einem Buch zu Wort kommen, um beide Zielgruppen anzusprechen.

Die Kinder- und Jugendliteratur sorgt für 15,8 % des Umsatzes im Buchhandel und liegt
somit an zweiter Stelle hinter der Belletristik. Innerhalb dieser Gruppe machen Romane und
Erzählungen für Jugendliche ab 12 Jahren 24,7 % aus.90 Einige Jugendbücher richten sich an
Jugendliche und Erwachsene, diese bezeichnet man mit dem Begriff All-Age.91

Kinder- und Jugendliteratur beinhaltet immer zwei Perspektiven, die der Kinder und die der
Erwachsenen. Meistens hat sie daher (auch) einen pädagogischen Anspruch.92

Auch wenn Jugendbücher inhaltlich allgemein heftiger geworden sind (insbesondere Thriller),
gibt es dennoch gewisse Einschränkungen im Vergleich zu Büchern, die rein auf eine
erwachsene Zielgruppe ausgerichtet sind: Für Leserinnen und Leser ab 12 „sollte man
trotzdem noch vorsichtig sein mit extremer körperlicher oder seelischer Gewalt.“ 93 Zudem
werden Liebe und Verliebtsein thematisiert, aber noch nicht im körperlichen Sinne
beschrieben. Sehr wohl möglich ist dies in den Romanen für Jugendliche ab 14 oder im Young
Adult-Bereich. Eine weitere Faustregel ist, dass die Protagonistin bzw. der Protagonist des
Buches etwa ein bis zwei Jahre älter als die Zielgruppe der Leserinnen und Leser sein soll.94
Diese Branchenvorstellungen sollten Autorinnen und Autoren beachten, wenn sie in
(größeren) Publikumsverlagen veröffentlichen.

Huxley, Bradbury und Orwell stellten einen männlichen Protagonisten ins Zentrum ihrer
Dystopien, der „die Gesellschaft hinterfragte und letztendlich scheiterte“95. An dessen Stelle
rücken in den aktuellen jugendliterarischen Werken [entsprechend dem allgemeinen Trend

90
   Vgl. Buch und Buchhandel in Zahlen 2014, S. 19, 81f. Zit. nach Heinold, Warengruppen, S. 428f.
91
   Vgl. Heinold, Warengruppen, S. 429.
92
   Vgl. Hintz/Ostry, Introduction, S. 7.
93
   Englert, Handbuch, S. 64.
94
   Vgl. ebda.
95
   Mikota, Dystopie.

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des Buchmarkts, B.W.] weibliche (Haupt-)Figuren, welche schlussendlich „tatsächlich auch
Veränderungen schaffen“96. Einhergehend mit einem derartigen positiven Ende, das Hoffnung
vermitteln soll, finden sich am Schluss von dystopischen Jugendromanen auch öfters
Beschreibungen von einem mehr oder weniger gelungenen Zusammenleben in einer kleineren
Gemeinschaft.

96
     Ebda.

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        3.3 Traditionelle und aktuelle Themen der Jugendliteratur
Literatur kann, wie oben bereits ausgeführt, viele Funktionen erfüllen. So dient sie meist der
Unterhaltung, mitunter auch der Erbauung, kritischen Reflexion, Selbstoffenbarung der
Autorin/des Autors oder Verarbeitung von Erlebtem, der Information, der Meinungsbildung,
der Orientierung, der Erziehung u.v.m. Bei der Jugendliteratur, die natürlich auch immer
entsprechenden Trends unterworfen war, stehen oder standen oft besonders die Aspekte
Unterhaltung und Erziehung im Vordergrund. Lange Zeit als qualitativ eher minderwertig,
aber teilweise pädagogisch wertvoll betrachtet, entwickelte sich die Jugendliteratur in den
letzten Jahren zu einem Bereich der Literatur, dessen Werke teilweise auch von Erwachsenen
verschlungen werden.

Von der Forschung und in der Lehrer-/-innenausbildung wurde dieser Bereich bis zur
Jahrtausendwende im deutschsprachigen Raum kaum behandelt, seither gewann er allerdings,
nicht zuletzt auch durch strukturelle Änderungen, immer mehr an Gewicht: einerseits durch
die Institutionalisierung der Kinder- und Jugendliteraturforschung und damit verbunden der
Lehre und Lehrerausbildung in diesem Bereich, andererseits durch die stärkere Beachtung der
schulischen Praxis.97

Die Entstehung einer eigenen deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur verortet die
Forschung im Spätmittelalter bzw. in der Frühen Neuzeit. Umfangreichere Informationen zu
den (gelesenen) Werken fehlen.98 Allerdings kann man in Bezug auf Mittelalter und Frühe
Neuzeit nicht von einem mit heute vergleichbaren Kindheits- und Jugendbegriff sprechen.99
Zudem muss man beachten, dass über viele Jahrhunderte nur ein geringer Prozentsatz an
Menschen lesen konnte bzw. Zugang zu Literatur hatte. Dies änderte sich erst im Laufe des
19./20. Jahrhunderts grundlegend. Mit öffentlichen Bibliotheken und dem Internet sowie
steigender Mobilität vervielfachen sich die Möglichkeiten, Literatur zu konsumieren, zu
veröffentlichen und zu verbreiten.

An Themen und Formen waren historisch insbesondere die Erziehungsliteratur der
Aufklärung, Abenteuerromane, Volksbuchstoffe wie Sagen oder Legenden, bildende Werke,
Kinderlieder, Märchen und Phantastik sowie realistische Erzählweisen in verschiedenen
Ausprägungen von Bedeutung.100

97
   Vgl. Weinkauff/Glasenapp, Jugendliteratur, S. 12.
98
   Vgl. ebda, S. 18.
99
   Vgl. ebda, S. 23.
100
    Vgl. u.a. ebda, S. 20-49, 58, 60, 76.

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Neben der anvisierten Zielgruppe und den oben erwähnten weiteren Verlagsvorstellungen
spielen bei der Entstehung von Jugendliteratur auch „often conflicting literary influences
[und] political ideologies“ eine große Rolle.101

Die zeitgenössische Jugendliteratur ist immer auch bestimmten Trends unterworfen. Während
in den 1990er und frühen 2000er Jahren etwa Krimis und Geschichten über in den
Lebensrealitäten von Jugendlichen präsente Problembereiche wie Essstörungen, Sekten oder
erste Liebe dominierten, erlebten seit der Jahrtausendwende die Genres Fantasy und Science
Fiction (hier speziell die Dystopien) einen rasanten Aufschwung. Auf erfolgreiche
Buchreihen wie Harry Potter, Die Tribute von Panem, Twilight oder den wiederentdeckten
Klassiker Der Herr der Ringe folgten aufwendige, sehr oder auch weniger erfolgreiche
Verfilmungen und Merchandise-Artikel sowie zahlreiche weitere (oft ähnliche) Romane in
diesen Genres. Dystopische Jugendliteratur wurde von den Verlagen teilweise immens
beworben.102 Durch die Verfilmungen erreichten die Geschichten bzw. Inhalte natürlich ein
noch viel größeres Publikum. Basu/Broad/Hintz führen den Boom der Dystopien besonders
auf den Erfolg von Suzanne Collins‘ The Hunger Games zurück.103

Der Jugendbuchautor John Green verfasste 2008 ein New York Times Sunday Book Review, in
dem er auf die zu dieser Zeit plötzlich zahlreich erscheinenden Werke dystopischer
Jugendliteratur einging:

      “The past year has seen the publication of more than a dozen postapocalyptic young adult
      novels that explore what the future could look like once our unsustainable lifestyles cease
      to be sustained. (Spoiler alert: It’s gonna be bad).“104

Der von Green hier pointiert zusammengefasste Trend hält sich mittlerweile bereits über zehn
Jahre und hat noch zahlreiche dystopische Werke hervorgebracht.

101
    Basu/Broad/Hintz, Introduction, S. 2.
102
    Vgl. hierzu Voigts, S. 411.
103
    Vgl. Basu/Broad/Hintz, Introduction, S. 1.
104
    John Green: Scary New World, in: The New York Times vom 07.11.2008, zit. nach Basu/Broad/Hintz, S. 1.

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          4 Klassifizierung der Jugendliteratur-Dystopien: Utopie oder
            Dystopie?
In den 2000er Jahren erschienen zahlreiche Dystopien für Jugendliche, etwas später begann
sich auch die Forschung mit diesem Phänomen zu befassen.105 Der Ursprung der
jugendliterarischen Dystopien dürfte in Zusammenhang mit dem problemorientierten
Jugendroman in den 1970er Jahren zu sehen sein. Seither fanden verschiedene im
gesellschaftlichen Diskurs sehr präsente Themen ihren Eingang in die Jugendliteratur:
beginnend mit der „Entindividualisierung“ in Michael Endes Momo, Atomenergie bei Gudrun
Pausewang, „Überwachung und totalitäre Gesellschaftsformen“, „Klonen und gentechnische
Experimente“ 106.

Jugenddystopien befassen sich mit brennenden Problemen der Gegenwart und den
Grundfragen des Erwachsenwerdens – hier besonders mit der Suche nach der eigenen
Identität und der Rolle in der Welt. „Warnungen“107 werden zu fesselnden Geschichten,
welche den Leserinnen und Lesern möglichst nah erzählt werden, bevorzugt mittels Ich-
Erzählern und –Erzählerinnen und mit viel Dialog.108 Man macht sich auf die Suche danach,
„was den Menschen jenseits des kulturellen Cocons einer intakten Zivilisation ‚in
Wirklichkeit‘ ausmacht“109 und:

      „Es erweist sich, welche Bindungen halten, welche Werte und Güter wirklich zählen,
      welche Eigenschaften und Verhaltensformen in der schlimmsten denkbaren Situation
      hervortreten werden. Und vor allem: welche das Überleben sichern und welche nicht. Die
      Katastrophe schält eine Essenz der Menschen und der Dinge heraus – genau darin liegt ihr
      apokalyptischer, das heißt offenbarender Wert auch jenseits aller Erlösung.“110

Einerseits beinhalten jugendliterarische Dystopien die Möglichkeit, Gesellschaftskritik zu
üben, und beziehen sich auch auf die klassischen Dystopien bzw. übernehmen Elemente aus
diesen. Doch sie sind auch sehr stark in der Adoleszenzliteratur verwurzelt, deren typische
Themen sie ebenfalls behandeln. Die Leserinnen und Leser begleiten die Protagonisten auf
ihrem Prozess des Erwachsenwerdens:111 Es wird ihr Familienleben gezeigt, Freundschaften
und erste Liebe, die Suche nach dem Sinn oder der Aufgabe im Leben, das Aufbegehren
gegen Autoritäten oder die Elterngeneration u.v.m.

105
    Vgl. Basu/Broad/Hintz, Introduction, S. 2.
106
    Vgl. Mikota, Dystopie, S. 1f.
107
    Basu/Broad/Hintz, Introduction, S. 1.
108
    Vgl. ebda.
109
    Eva Horn: Enden des Menschen. Globale Katastrophen als biopolitische Fantasie. In: Reto Sorg und Stefan
Bodo Würffel (Hg.): Utopie und Apokalypse in der Moderne. München: Fink 2010, S. 101-118, S. 105, zit. nach
Kalbermatten, Rewiring, S. 378.
110
    Ebda, S. 106, zit. nach Kalbermatten, Rewiring, S. 378.
111
    Vgl. Mikota, Dystopie, S. 1.

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